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Von Drachen und Zauberern

von

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I.

Frustration. Sie schien zum ständigen Begleiter ihres Lebens geworden zu sein.

Mit einem resignierten Seufzer legte sie die Haarbürste beiseite und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Das Antlitz, das ihr aus dem Glas entgegenblickte, war das selbst Gesicht Hermione Jean Grangers, das ihr jeden Tag im Spiegel begegnete. Und doch war es an diesem Abend anders. Das lag gewiss nicht an ihrer Frisur, denn ihre Haare sahen aus wie eh und je, sofern sie nicht Stunden und Unmengen magischer Haarpflegeprodukte darauf verwendete, es zu zähmen. Ihre Eltern hatten immer schmunzelnd gemeint, dass sie nun mal bis in die Haarspitzen magisch sei und die Magie jedem einzelnen ihrer Haare ein Eigenleben verlieh. Hermione Granger war nämlich eine Hexe. Sie galt sogar als die intelligenteste Hexe ihres Jahrgangs, doch bedeutete das im wahren Leben, außerhalb der schützenden Mauern Hogwarts’ – jener Schule für Hexerei und Zauberei, die seit mehr als einem Jahrtausend den magisch begabten Nachwuchs Britanniens in den Grundlagen der Magie ausbildete –, herzlich wenig. Was mit dazu beitrug, dass Hermione sich derzeit eher als frustrierteste Hexe ihres Jahrgangs, vielleicht sogar ihrer ganzen Generation, betrachtete.

Noch vor fünf Jahren hatte alles so hoffnungsvoll ausgesehen. Gemeinsam mit ihren beiden besten Freunden Ron und Harry hatte sie gegen den dunklen Lord Voldemort, der all das Gute, wofür die Zaubergesellschaft stand, vernichten wollte, gekämpft und gesiegt, nachdem Harry Voldemort im finalen Kampf getötet hatte. Sie waren Helden gewesen. Und der Gesellschaft hatte sich die Gelegenheit für einen Neuanfang geboten. Ein Neuanfang, an dem Hermione sich aktiv beteiligen wollte. Dafür war sie sogar bereit, lange Stunden Büroarbeit in ihrem neuen Job zu leisten; Stunden, die sie sonst auch liebend gerne mit Ron verbracht hätte. Denn in dem Jahr, das sie gegen Voldemort gekämpft hatten, war ihnen klar geworden, dass sie beide füreinander mehr empfanden als bloße Freundschaft und sie die Energie, die sie zum Streiten verwendeten, doch genauso gut weit angenehmer nutzen konnten. Sie war sicher gewesen, dass Ron ihr Engagement im Ministerium verstehen würde. Schließlich ging es hier um ihre Zukunft. Und am Anfang hatte er es auch verstanden. Genauso, wie sie es verstanden hatte, als er die Aurorenausbildung an den Nagel gehängt und stattdessen einen Job im Ministerium für magische Sportarten angenommen hatte. Sie hatte es auch verstanden, als er seine Schiedsrichterlizenz erworben hatte und seither fast jedes Wochenende irgendwo in Großbritannien ein Quidditchspiel pfiff. Denn es war das, was ihn glücklich machte. Auror hatte er nur wegen Harry werden wollen, die Begeisterung für Quidditch, Zauberschach und all die anderen magischen Sportarten aber war etwas Ureigenes für Ron.

Dann aber war jener Punkt gekommen, wo Ron die wenigen Stunden, die sie sich, obgleich sie zusammen wohnten, sahen, nicht mehr genügten. Zuerst hatte er ihr vorgeschlagen, dass sie ihn doch zu den Spielen am Wochenende begleiten sollte, mit der Aussicht auf ein gemeinsames Abendessen hinterher. Dabei ignorierte er total, dass sie sich herzlich wenig aus Quidditch machte. Während der Schulzeit war sie nur zu den Hausspielen gegangen, weil entweder ihre besten Freunde spielten oder neben ihr auf der Tribüne saßen. Wenn Ron aber lediglich Schiedsrichter war und sie vielleicht für Stunden zwischen Fans, die für Teams fieberten, mit denen Hermione nicht das Geringste verband, eingepfercht war, verlor der Sport für sie jeglichen Reiz. Da man aber nie voraussagen konnte, wie lange ein Spiel dauerte, konnten sie sich auch nicht einfach nur zum Abendessen verabreden. Dreimal hatten sie es versucht und dreimal hatte Hermione alleine zwischen einer halben und drei Stunden in dem jeweiligen Restaurant warten müssen. Sogar Ron hatte eingesehen, dass das keine Lösung war. Dann hatte er begonnen, ihr die vielen Überstunden, die sie unter der Woche, Abend für Abend, leistete, vorzuwerfen. Dass sie häufig sogar noch Arbeit mit nach Hause nahm und auf die Weise so etwas, wie abends mal spontan auszugehen, unmöglich war. Da mochte sie ihm noch so oft erklären, dass im Ministerium für magische Gesetzgebung Recherche und Vorbereitung alles waren, wenn man verhindern wollte, dass Gesetzeseingaben gekippt wurden, oder wenn man die Abschaffung archaischer Gesetze bewirken wollte. Kurz, wenn sie die Gesellschaft zum Positiven ändern wollte, musste sie bereit sein, dafür zu arbeiten. Hart zu arbeiten. Denn die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam und es gab Tage, da Hermione sich wie Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen fühlte. Nach fünf Jahren überwogen leider mittlerweile diese Tage und trugen nicht unwesentlich zu ihrer Frustration bei. Ein Umstand, der auch Ron nicht verborgen geblieben war, und den er gnadenlos in den unvermeidlichen Streits einsetzte. Wenn sie so unzufrieden mit ihrem Job war, wieso suchte sie sich nicht etwas anderes? Etwas, das es ihr erlaubte, zu einer vernünftigen Zeit heimzukommen und mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Oder besser noch, sie gab ihren Job endgültig auf und willigte endlich ein, Mrs. Ron Weasley zu werden. Als seine Frau bräuchte sie nicht zu arbeiten und überhaupt würden sie dann sicher bald Kinder haben, um die Hermione sich würde kümmern wollen. Wie wenig er sie doch kannte! Wie selbstverständlich er davon ausging, dass sie ein Leben wie seine Mutter führen wollte, die ihre Erfüllung in Heim und Familie fand. Nicht, dass Hermione eine solche Lebensweise falsch fand oder verurteilte. Es entsprach nur nicht ihrer eigenen Persönlichkeit. Wenn sie je einwilligte Mrs. Hermione Granger-Weasley zu werden, würde sie nicht nur ihren Namen behalten, sondern auch weiterhin arbeiten. Und sie würde erwarten, dass sie und ihr Mann sich die Hausarbeit teilten und sich gemeinsam um eventuelle Kinder kümmerten. So, wie sie es von ihren eigenen Eltern kannte, die die Zahnarztpraxis gemeinsam als Dr. Granger und Dr. Granger führten. Ron verstand auch nicht, dass es nicht der Job an sic war, der sie frustrierte, sondern die Einstellung der Zaubergesellschaft, die sich in der Borniertheit der meisten Ministeriumsangestellten – besonders jenen der Führungsebenen – manifestierte. Bloß weil etwas bereits seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit Jahrhunderten, auf eine bestimmte Art gemacht wurde, hieß das nicht, dass man es auf ewig so machen musste, dass es die einzig richtige Art war. Aber genau der Ansicht waren die Meisten im Ministerium. Dinge angesichts des Voldemort-Desasters in Frage zu stellen und zum Besseren ändern zu wollen, wie Hermione es tat, war ihnen fremd. Es war diese bornierte Stagnation, die der nächsten Katastrophe Vorschub leistete, die Hermione so frustrierte, und in deren Überwindung sie so viel Zeit und Energie investierte. Doch solange sie keinen anderen, besseren Weg gefunden hatte, die Gesellschaft zum Positiven zu verändern, würde sie in diesem Job weitermachen.

An diesem Punkt ihrer Betrachtung angelangt, fiel ihr ein alter Sinnspruch von Franz von Assisi ein, den ihr Vater gerne zitierte:

„Herr, gib mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

Die Gelassenheit, das Unabänderliche zu ertragen

Und die Weisheit, zwischen diesen beiden Dingen die rechte Unterscheidung zu treffen.“

Die Borniertheit ihrer Vorgesetzten gehörte offenkundig in die zweite Kategorie. Und sie würde sie ertragen, wenn es bedeutete, dadurch ihren Gesetzesentwürfen eine Chance zu erkämpfen. Ron aber… Sie wusste, dass es illusorisch war, eine andere Person ändern zu wollen. Das hieß aber nicht, dass sie deswegen seine Vorwürfe ertragen musste. Schon gar nicht solche Aussagen, dass sie ohne ihn doch gar kein Leben hätte. Eine Aussage, die er erst am vorigen Abend geäußert hatte, als sie sich einmal mehr gestritten hatten. Die Herablassung, die aus diesen Worten sprach, hatte Hermione bis ins Mark getroffen. Nein, ihre Beziehung mit Ron gehörte wohl eindeutig in die erste Kategorie. Und so fasste Hermione Jean Granger an jenem Abend den Entschluss, sich von Ronald Bilius Weasley zu trennen.

II.

Auch sechs Monate später fühlte Hermione keinerlei Reue, wenn es um die Trennung von Ron ging. Sicher, es war nicht leicht gewesen. Besonders, wenn sie spät am Abend in ihr eigenes, einsames Apartment heimgekommen war, aber letztlich war es so besser. Sie hatte es sogar geschafft, nicht der Versuchung nachzugeben, die Einsamkeit mit noch mehr Überstunden zu kompensieren. Stattdessen hatte sie sich jenes Teils ihrer Selbst besonnen, den sie für gewöhnlich in der magischen Welt beiseite schob: ihre Muggelherkunft. Zuerst war es nur der eklatante Mangel an Essbarem in ihrem Kühlschrank gewesen, der sie zu reichlich später Stunde noch auf die Straße getrieben hatte. Doch sie hatte bei diesem Abend weit mehr gefunden als nur den nächstgelegenen Fish&Chips-Laden. Etwa einen Buchladen, der auch am Sonntag geöffnet hatte. Oder einen Supermarkt, der erst um zehn Uhr abends schloss. Weshalb sie jetzt Mitglied in einem Buchclub war, der sich alle zwei Wochen am Sonntag zum Brunch traf, um hinterher besagten Buchladen heimzusuchen. Und mit dem netten Supermarktkassierer der Spätschicht tauschte sie fleißig Kochrezepte, die wenig Zeit in Anspruch nahmen und in Mahlzeiten resultierten, die nicht bloß das Prädikat ‚nahrhaft’ verdienten. Hin und wieder flirteten sie auch miteinander, doch war es mehr ein Spiel für sie beide. Denn Aaron, der Kassierer, war schwul. Mit Hermione zu flirten, hielt ihm aber besonders aufdringliche Kundinnen, die ihn ‚bekehren’ wollten, auf höfliche Weise vom Hals. Alles in allem schien es, als habe sie nun, da sie sich endlich von Ron getrennt hatte, ein deutlich ausgefüllteres Leben als zuvor! Dabei hatte sie es nicht einmal darauf angelegt, Ron oder sonst irgendjemandem etwas zu beweisen.

Ein bekanntes Klopfen am Fenster ließ Hermione von ihrem aktuellen Buch aufsehen. Und tatsächlich flatterte vor dem Fenster ihrer kleinen Dachgeschosswohnung eine Eule. Auf den zweiten Blick stutzte sie kurz, denn es war keine Eule aus ihrem Bekanntenkreis, sondern eine jener gewöhnlichen Eulen, wie man sie in Postämtern antraf. Postämter aber zogen es vor, die allgemeine Post am Vormittag auszuliefern, weshalb sie für andere Lieferzeiten Extragebühren erhoben. Gebühren, die die wenigsten Menschen zu zahlen bereit waren, sondern sich für solche Fälle lieber eine eigene Eule leisteten. Wer also mochte ihr um diese Zeit einen Brief schicken?

Als sie den Brief endlich in Händen hielt, konnte sie ein glückliches Quietschen nicht unterdrücken. Er war von Viktor! Und angesichts des Vermerks ‚sofortige Zustellung’ konnte sie erahnen, was für Nachrichten der Brief enthielt.

Hastig brach sie das Siegel auf und überflog die Zeilen. Mit angehaltenem Atem folgten ihre Augen der markanten Schrift, bis sie schließlich jubelnd das Blatt sinken ließ. Sofiya hatte eine gesunde Tochter zur Welt gebracht!

Viktor und Sofiya… Fast drei Jahre war es her, dass Ron und sie auf der Hochzeit des bulgarischen Quidditch-Nationalspielers getanzt hatten… Damals, als sie noch geglaubt hatte, sie hätten eine ähnliche Zukunft wie das Brautpaar. Tatsächlich war Hermione wohl nie näher daran gewesen, Rons Antrag anzunehmen als an jenem Tag. Heute war sie froh, der Romantik des Augenblicks damals nicht nachgegeben zu haben.

Wie so vieles zuvor, hatte ihre über achtjährige Freundschaft mit Viktor auch die Trennung von Ron unbeschadet überstanden. Zwar hatte er in seinen Briefen nie größer darüber gesprochen, aber er hatte ihr zwischen den Zeilen zu verstehen gegeben, dass er ihre Entscheidung unterstützte. Dass er die Entscheidung verstand und ihr Engagement respektierte. Tatsächlich war es der Respekt, den er ihrer Leidenschaft und Hingabe für die Dinge, an die sie glaubte und für die sie eintrat, zollte, der die Grundlage für ihre Freundschaft bildete. Denn Viktor selbst war auch kein Mensch, der halbe Sachen machte. Wenn er Quidditch spielte, gab es für ihn nur das Spiel, nur die Jagd nach dem Schnatz. Auf die Weise war es ihm gelungen, sein Talent bereits in jungen Jahren so zu kultivieren, dass er der jüngste Nationalspieler Bulgariens wurde und bis heute seinen Platz nicht an einen talentierteren Nachwuchsspieler hatte abgeben müssen. Aber den gleichen Fokus hatte er auch dann an den Tag gelegt, wenn er seinen Hausaufgaben in der Bibliothek während des trimagischen Turniers hatte machen wollen, und entsprechend ungehalten war er über die ständigen Störungen durch seine Fans gewesen. Mit Hermione am Tisch aber schien sich so etwas wie eine unsichtbare Sperrzone um sie gelegt zu haben, so dass er endlich in Ruhe hatte lernen können. Sie damals zum Julball einzuladen, war folglich so etwas wie die logische Konsequenz gewesen. Denn wenn Viktor schon ein Mädchen auf den Ball einladen musste, dann wollte er wenigstens auch der Aufmerksamkeitsfokus seiner Begleiterin sein und nicht ständig mit ansehen müssen, wie diese sich nach ihren Freundinnen und Konkurrentinnen umsah, um sich zu vergewissern, dass sie auch ja alle mitbekamen, dass sie es geschafft hatte, sich Viktor Krum zu angeln. Der Abend mit Hermione hatte ihn nur in seiner Entscheidung bekräftigt und so verwunderte es Hermione überhaupt nicht, dass die Frau, die er letztlich heiratete, vom gleichen Schlag war: intelligent, leidenschaftlich engagiert und fokussiert. Ebenso wenig verwunderlich war es daher wohl auch, dass Sofiya und Hermione sich auf Anhieb gut verstanden. Jede war von der Arbeit der anderen fasziniert und so war es Sofiya, die nach Hermiones Trennung von Ron klipp und klar sagte: Wenn er deine Ziele nicht anerkennen kann, verdient er dich nicht!

Dass Viktor und Sofiya jetzt aber ihre Freundschaft in dem Maße zum Ausdruck brachten, dass sie Hermione baten, die Patenschaft für ihre neugeborene Tochter zu übernehmen, damit hatte Hermione beim besten Willen nicht gerechnet. Eine solche Ehre gebührte für gewöhnlich nur nahen Verwandten, zumindest im traditionsbehafteten Zauberbulgarien. Hermione mochte kaum glauben, dass Viktors und Sofiyas Eltern mit dieser Wahl einverstanden wären. Schließlich hatte sie anlässlich der Hochzeit sowohl Gheorgi und Ivanka Krum als auch Hristo und Ana Ristic kennengelernt. Und obgleich alle freundlich, höflich und nett zu den Hochzeitsgästen gewesen waren, hatte man doch deutlich merken können, wie sie zwischen Familie und Freunden unterschieden. Vor dieser Differenzierung traten sogar Nationalität und Blutsstatus zurück.

„Wir haben lange überlegt, wem wir unser Kind anvertrauen wollen, sollten wir nicht in der Lage sein, für es zu sorgen. Traditionell wären unsere Geschwister diejenigen, welche als erste Wahl in Frage kämen. Aber sowohl Sofiya als auch ich sind Einzelkinder. Andererseits bist du wie eine Schwester für uns, eine gute Freundin und Schwester im Geiste. Bei dir, wissen wir, würde der Mensch Mia Viktoria im Mittelpunkt stehen, und nicht die Tatsache, dass sie die Tochter des Quidditchspielers Viktor Krum oder der Magieforscherin Doktor Sofiya Ristic-Krum ist. Daher, Hermione, weil wir das Beste für unsere Tochter wünschen, bitten wir dich, Mia Viktorias Patin zu werden.“

III.

Trotz aller Recherche war Hermione überwältigt, als sie drei Monate später an der Zaubertaufe von Mia Viktoria Krum teilnahm und im Laufe der vielschichtigen Zeremonie ihre Patin wurde. Während man sich in England meist darauf beschränkte im Ministerium für Familienangelegenheiten einen entsprechenden Eintrag in die Geburtsurkunde vornehmen zu lassen, zog sich die traditionelle, bulgarische Zaubertaufe über drei Tage hin.

Am ersten Tag gedachte man der Vergangenheit, den Wurzeln der Traditionen und bat in einem althergebrachten Ritual die Naturgeister um ihren Segen für das Kind. Hermione war sich sicher, dass dieser Teil in Form der segenspendenden Feen Eingang in die Muggelmärchen gefunden hatte. Von den Märchen hingegen nicht übernommen worden war das Stammbaum-Ritual, wo auf ein Pergament, das den magisch generierten Stammbaum der beiden Familien enthielt, ein Tropfen Blut des Kindes geträufelt wurde und es dadurch, dass alle Anwesenden laut den Namen des Kindes intonierten, an den Stammbaum gebunden und in die Familie aufgenommen wurde. Auch Hermione hatte in diesem Ritual Blut lassen müssen, denn da sie kein Familienmitglied war, hatte sie direkt ihren Schutz an Mia Viktoria binden müssen, um als Patin in die Familie aufgenommen zu werden. Aufgrund der Haltung gegenüber archaischer und dunkler Magie, Blutrituale eingeschlossen, die Hermione in Hogwarts kennengelernt hatte, war dies der Teil der Zeremonie, dem sie mit dem meisten Argwohn begegnet war. Nichts aber hatte sie darauf vorbereitet, dass ein solches Ritual sich so gut, so richtig und so natürlich anfühlen konnte. Dagegen fühlte sich das Ritual der Gegenwart, wo sie vor einem Zauberpopen und der versammelten Familie und weiteren geladenen Gästen schwor Mia Viktoria zu schützen und zu leiten, fast schon wie heuchlerischer Pomp an. Tatsächlich, so erklärte ihr Viktor beim anschließenden Fest, war dieser Teil der Zeremonie gleichzusetzen mit einer öffentlichen Bekanntmachung des Rituals am Vortag. Da aber zum ersten Teil der Taufe nur enge Familienmitglieder und die Paten zugelassen waren, hatte man die Bekanntmachung, wo auch Freunde und weitläufigere Verwandte zugegen waren, im Laufe der Zeit zu einem eigenen Ritual ausgeschmückt, damit die übrigen Gäste gleichfalls das Gefühl hatten, wertgeschätzt zu werden und ein Bestandteil der Gesamtzeremonie zu sein.

Der letzte Teil der Zeremonie bestand aus einem ausgedehnten Frühstück, wiederum im engsten Familienkreis, einschließlich Paten, bei dem die Familie und Paten ihre Segenswünsche aussprachen und in Form eines Geschenks für das Kind überreichten. Das war der Teil, auf den Hermione sich am meisten freute. Sie hatte lange überlegt, was wohl ein angemessener Segen und ein entsprechendes Geschenk sein könnte und sogar diverse Überstunden geopfert, um jenes Kleinod zu finden, das ihren Wunsch repräsentieren sollte. Jetzt aber war sie sicher, dass das Medaillon, das im Deckel ein Bild von Sofiya und Viktor – aufgenommen auf ihrer Hochzeit – und im Boden eine magische Weltkarte enthielt, sich nicht hinter den übrigen Geschenken verstecken musste. Tatsächlich hörte sie das ein oder andere anerkennende Raunen, als sie Mia Viktoria das Medaillon mit den Worten „Mögest du stets der Welt gegenüber offen sein, aber nie vom Weg abkommen“ umhängte.

Nachdem auch das letzte Geschenk überreicht war, trug Hermione in ihrer Funktion als Patin das mittlerweile quengelig-müde Baby in das angrenze Schlafzimmer der großen Suite des Warenska-Hotels, die Viktor für das Frühstück gemietet hatte, um die Kleine schlafen zu legen. Und obgleich Mia Viktoria scheinbar zu den Kindern gehörte, die problemlos einschliefen, sobald sie in ihrem Bett lagen – oder war das ein Zauber, der als Bestandteil des letzten Rituals wirkte? – schaffte es Hermione nicht sofort sich vom Anblick ihres Patenkindes loszureißen. Es kam ihr irgendwie so unreal vor, jetzt, wenn auch nur aus zweiter Reihe, für einen anderen Menschen verantwortlich zu sein.
 

Später würde sie erkennen, dass genau diese Verwunderung und damit einhergehend ihr Zögern zu den anderen zurückzukehren, ihr und Mia das Leben gerettet hatte. In dem Moment aber war es lediglich so, dass in dem Augenblick, da im Wohnzimmer der Suite die Hölle losbrach, in Hermione tief schlummernde und beinahe vergessene Instinkte erwachten. Instinkte, die vor fast über sechs Jahren ihr Überleben gesichert hatten.

Schon beim ersten Krachen der schweren Doppelflügeltür zur Suite hatte sie ihren Zauberstab in Händen. Doch noch ehe sie einen Schritt in Richtung Wohnzimmer hatte tun können, um ihren Freunden zu helfen, hörte sie jene tödlichen Worte, gefolgt von dem ekelerregenden grünen Schein, den sie nie wieder in ihrem Leben hatte sehen wollen.

„Avada Kedavra!“

„Gheorgi!“, hörte Hermione Viktors Mutter schmerzerfüllt rufen und man musste nicht die klügste Hexe ihres Jahrgangs sein, um zu wissen, dass wer auch immer die Feier gestört hatte, soeben Krum Senior umgebracht hatte.

„So“, sagte eine harte Männerstimme, „nun da wir die Fronten geklärt hätten, wo ist die Formel, Doktor Ristic?“

„Welche Formel?“, verlangte Viktor zu erfahren.

„Ihre Frau weiß genau, welche Formel ich meine!“

Eine zweite Stimme, jünger, weiblich, mischte sich ein. „Professor Petrovic hat uns mit seinem letzten Atemzug versichert, dass Sie die einzige wären, die die Formel kennt!“

Ein Schluchzen ertönte, und Hermione, die wie angewurzelt im Schlafzimmer stand und alles mit anhörte, ahnte, dass das Sofiya war, die um ihren Doktorvater und Forschungspartner trauerte.

„Also, wo ist die Formel? Oder soll Sergej hier noch ein Familienmitglied umbringen?“

Als habe ihr Geist ein Eigenleben entwickelt, registrierte Hermione, dass sich im Zimmer nebenan nicht weniger als drei Eindringlinge, zwei Männer und eine Frau, befinden konnten. Vermutlich waren es jedoch weit mehr, denn sonst hätte Viktor es auf einen Kampf ankommen lassen. Oder war es die Sorge um Mia, die ihn lähmte?

Mia! Wenn es ihr gelang, ihr Patenkind in Sicherheit zu bringen und Viktor dies wissen zu lassen…

Ein neuerlicher grüner Strahl schreckte Hermione aus ihren Gedanken. Doch sie wartete nicht länger, um an den Reaktionen zu hören, wen diese Monster jetzt umgebracht hatten. Sie richtete all ihre Konzentration auf Mia und den Schweigezauber, den sie stumm über das Kind legte. Wenn sie Mia retten wollte, durfte sie nicht riskieren, die Aufmerksamkeit der Eindringlinge durch Babygeschrei auf sich oder das Kind zu lenken. Der nächste Schritt bestand darin, ein geeignetes Versteck zu erschaffen, ehe man auf die Idee kam, nach Mia zu sehen und sie eventuell als Druckmittel einzusetzen. Denn was auch immer das für eine Formel war, die die Eindringlinge von Sofiya verlangten, sie musste so wichtig sein, dass Sofiya dafür sogar bereit zu sein schien, das Leben ihrer Eltern und Schwiegereltern aufs Spiel zu setzen. Und Hermione kannte Sofiya. Sie war einer der liebevollsten Menschen!

Hermione zwang sich tief durchzuatmen und ihren Geist zu klären, ehe sie stumm begann, die unterste Schublade der Kommode mit einem komplizierten Muster an Zauberstabbewegungen zu vergrößern. Es war der gleiche Ausdehnungszauber, wie sie ihn seinerzeit bei ihrer Handtasche eingesetzt hatte. Nur, dass sie ihn mittlerweile so gut beherrscht, dass in die so erschaffenen Räume sogar Menschen passten. Zumindest für einen gewissen Zeitraum – etwa eine Stunde. Denn irgendwie schien die Anwesenheit von Menschen innerhalb des Zaubers selbigen zu schwächen und letztlich zum Kollabieren zu bringen. Wie genau es also möglich war, aus einem 3-Mann-Zelt eine 3-Zimmer-Wohnung zu machen, war Hermione immer noch ein Rätsel, zumal jedes dieser magischen Zelte mit einem Patentzauber versiegelt war, was nähere Untersuchungen unmöglich oder gar strafbar machten. Sie vermutete, dass die Schwächung mit dem Kohlendioxid zusammenhing, das der Mensch ausatmete, und die Hersteller eine Möglichkeit gefunden hatten, dieses Gas durch die Zeltwände zu entfernen und so den Zauber stabil zu halten. Doch jetzt war nicht die Zeit, diese Theorie zu testen. Sie wusste, dass ihr Zauber eine Stunde halten würde und das musste reichen.

Wieder leuchtete es im Wohnzimmer grün auf und Hermione ahnte, dass es ihr nicht mehr gelingen würde, Viktor ein Zeichen der Kampfbereitschaft zu signalisieren. Kurz schoss ihr die Möglichkeit, einfach mit Mia zu disapparieren, durch den Kopf, doch Hermione wäre nicht Hermione gewesen, wäre ihr nicht sogleich eingefallen, dass Zauberhotels über eine Appariersperre, ähnlich wie in Hogwarts, wenngleich schwächer, verfügten. Und sie bezweifelte, dass sie magisch stark genug war, eine solche Sperre zu brechen. Oder wenn es ihr gelang, hinterher noch genug Kraft zu haben, zu apparieren, ohne Körperteile zu verlieren.

Rasch fasste Hermione einen Entschluss. Sie griff sich Mia mitsamt dem Reisebett, in dem sie lag, dazu die Tasche, in der Sofiya die übliche Baby-unterwegs-Ausstattung verstaut hatte, und stieg dann selbst in die nunmehr bedingt, jedoch hinreichend geräumige Schublade. Dennoch brachte sie es nicht über sich, die Schublade sofort mit ihrem Zauberstab zu schließen. Ein makaberer Teil ihrer Selbst verlangte Gewissheit, wollte erfahren, dass ihre Freunde tatsächlich in diesem Moment umgebracht wurden.

Der gleiche Drang veranlasste sie, eine knappe Stunde später das Wohnzimmer zu betreten und die sechs leblosen Körper mit eigenen Augen sehen zu müssen. Doch selbst wenn das Verhalten der Mörder noch einen Funken Hoffnung gelassen hätte, die Position und der Gesichtsausdruck der Leichen sowie die unheilschwangere Atmosphäre des Raums ließen keinen Platz für Hoffnung oder Zweifel. Stumm rannen Tränen über Hermiones Wangen und sie musste den Impuls unterdrücken, die Augen ihrer Freunde zu schließen und sei es nur, um den gebrochenen Blick nicht länger ertragen zu müssen. Doch sie durfte nichts tun, was später, wenn die Leichen entdeckt und die hiesigen Auroren an den Ort des Geschehens gerufen wurden, Hinweise auf ihre Anwesenheit bot.

Sie dankte Gott, dass sie daran gedacht hatte, nicht nur Mia im Bett, sondern auch die Tasche mit in die Schublade zu nehmen. Sie zweifelte nicht daran, dass die Mörder, hätten sie auch nur das geringste Anzeichen für die Anwesenheit des Babys entdeckt, nicht eher geruht hätten, ehe sie nicht das Kind gefunden hätten. So aber gingen sie davon aus, Täufling und Patin seinen auf einem Spaziergang. Zu Hermiones Erleichterung hatte man beschlossen, nicht in der Suite auf ihre Rückkehr zu warten, sondern ihnen später aufzulauern, wenn sie als Patin ihre Aussage bei den Auroren gemacht hätte und sich in Sicherheit wähnte. Aber auf keinen Fall würde man sie und Mia entkommen lassen. Denn, so die Meinung einiger der Gruppe, was wenn Dr. Ristic die Formel an ihrem eigenen Kind angewendet hatte und dieses Kind somit der Schlüssel war? Eine Theorie, für die in den Augen dieser Mörder um so mehr sprach, als sie nirgendwo in der Suite die Formel, die sie suchten, hatten finden können. Und dass sie gründlich gesucht hatten, das bezeugte der Zustand der Suite.

Doch Hermione hatte keine Zeit zu verweilen und sich die Verwüstung näher zu betrachten. Sie hatte noch nicht einmal Zeit, wirklich Abschied von ihren Freunden zu nehmen. Sie und Mia waren immer noch in Gefahr und es war nur eine Frage der Zeit, ehe das Hotelpersonal das Chaos entdeckte und die Fragen beginnen würden. Sie mussten fort von hier. Doch wohin? Und wie? Die Mörder hatten gewusst, dass Sofiya und ihre Familie wegen der Taufe hier gewesen waren, weshalb Hermione davon ausgehen musste, dass sie auch um ihre Identität wussten. Weshalb eine Rückkehr nach England, wie es ihre erste Idee gewesen war, nicht in Frage kam. In Bulgarien aber konnten sie auch nicht bleiben.

Mias Medaillon fiel ihr ein und kaum hatte sie die Karte aktiviert, um ihren Standort zu visualisieren, als sie wusste, was sie tun würde. Widin, die Stadt aus der Sofiya stammte und wo die Taufe stattgefunden hatte, war lediglich durch die Donau von der rumänischen Stadt Calafat getrennt. Und Rumänien war für Hermione gleichbedeutend mit Charlie Weasley. Zwar war Charlie der Weasley, den sie am wenigsten kannte, aber sie zweifelte keine Sekunde daran, dass der Drachenhüter ihr helfen würde, selbst wenn sie nicht länger über Ron so etwas wie Familienzugehörigkeit für sich beanspruchen konnte.

Sie würde also eine der Muggelfähren, die mehrmals am Tag zwischen Widin und Calafat verkehrten, nehmen und sich von dort aus zusammen mit Mia zum Drachenreservat durchschlagen.

IV.

Was auch immer Charlie Weasley in Bezug auf Hermione Granger für Gedanken gehabt haben mochte, die Idee ihr im Gasthaus des kleinen Orts inmitten der rumänischen Karpaten, wo er nach dem wöchentlichen Einkauf für das Reservat auf ein Bier einkehrte, zu begegnen, war wohl kaum dabei gewesen. Und doch erkannte er sie sofort, als er den Gastraum betrat. Noch weniger dürfte er wohl erwartet haben, dass Hermione unter diesen Umständen ein Kleinkind dabei hatte, das, nach Hermiones Gebaren zu urteilen, zu ihr gehörte und sie nicht bloß kurz darauf aufpasste, während die Mutter eben mal auf der Toilette war. Dabei war er sich sicher, die letzten Neuigkeiten, die er in Bezug auf Hermione gehört hatte, nicht falsch verstanden zu haben. Dafür war schließlich so etwas wie die Trennung von seinem kleinen Bruder wie Ron zu eindeutig. Und von Schwangerschaft war in den Briefen von zu Hause nie die Rede gewesen. Charlie bezweifelte sehr stark, dass seine Mutter nichts darüber hätte verlauten lassen, wenn Hermione von Ron schwanger gewesen wäre – Trennung hin oder her. Andererseits sah das Baby aber auch nicht gerade wie ein Weasley-Baby aus.

„Charlie!“ Hermione hatte ihn entdeckt und kam freudig auf ihn zu. Da war noch etwas in ihrem Gesichtsausdruck, das Charlie nicht sofort entziffern konnte, aber ehe der diesem Eindruck auf den Grund gehen konnte, wurde er vom Wirt des Gasthauses angesprochen.

„Du kennst die junge Dame, Carol?“

Charlie nickte. Er war an das Misstrauen, das die Dorfbewohner Fremden entgegenbrachten, gewöhnt. Er wusste sogar die Vorteile darin zu erkennen, bildete dieses Misstrauen doch einen gewissen Schutz für das Drachenreservat. Fremde konnten so nicht unentdeckt in die Nähe der Drachen gelangen. „Sie ist eine alte Freundin“, gab er nun dem wartenden Wirt als Erklärung, die dieser mit einem Grunzen akzeptierte und sich wieder seinen Gläsern und den anderen Gästen widmete.

„Hermione! Was machst du hier? Ich meine, ich freue mich natürlich, dich zu sehen, aber...“ Charlie brach ab und sah auf das Baby.

Hermione grinste verlegen. „ich wusste nicht, wo ich sonst mit Mia hingekonnt hätte.“ Da sie sich sehr wohl der Aufmerksamkeit bewusst war, die sie in der Gaststätte erregten, sagte sie: „Wenn du uns vielleicht vorübergehend bei dir Unterschlupf gewähren könntest, wäre ich dir sehr dankbar. Ich verspreche auch, dir alles zu erklären, wenn wir im Reservat sind. Und nein, Mia ist weder dein noch mein Kind, auch wenn ich es versäumt habe, den Wirt über seinen diesbezüglich intuitiven Irrtum aufzuklären.“ Sie hatte sogar den Anstand ein wenig schuldbewusst dreinzublicken, Charlies Ruf dergestalt missbraucht zu haben.

Charlie konnte nicht anders als den Kopf zu schütteln und mit einem Grinsen ein Lachen zu unterdrücken. „Lass mich raten: Indem du den Wirt hast glauben lassen, die Kleine – Mia – wäre das Ergebnis einer meiner Affären, hast du ihn dazu gebracht, dich hier zu dulden, bis ich komme?“

Hermione nickte. „So ungefähr... Aber ich konnte ja kaum zu Fuß ins Reservat und riskieren, den falschen Pfad zu erwischen, nur um dann als Drachenfutter zu enden. Das hätte mir V...“ Abrupt brach sie ab.

„Ich sehe schon, das wird eine interessante Geschichte, die du mir heute Abend zu erzählen hast. Und du hast Glück, mein Gästezimmer ist derzeit frei.“
 

Zuerst hatte Charlie gestutzt, als Hermione einen unbrechbaren Schwur von ihm verlangte, ehe sie ihm alles erzählte.

„Charlie, es ist nicht so, dass ich dir nicht vertraue, aber das, wo ich hineingeraten bin, ist gefährlich. Der Schwur dient mehr deinem Schutz als meinem. Denn wenn sie dich kriegen und es offensichtlich ist, dass ein Schwur dich hindert, etwas zu sagen, werden sie dich vielleicht am Leben lassen. Aus eigenem Willen aber zu schweigen, wäre dein Todesurteil.“

„Langsam frage ich mich, ob es so klug war, dich hierher mitzunehmen“, sagte Charlie nachdenklich.

Hermione schluckte und blickte zu Boden. „Ich verstehe, Charlie. Wenn du es willst, werde ich gleich morgen früh mit Mia wieder verschwinden. Es sei denn, wir sollen gleich aufbrechen.“

Charlie berührte Hermione am Arm und zwang sie, ihn anzusehen. „Hermione, so habe ich das nicht gemeint. Ich würde nie eine Freundin der Familie und eine Hauskameradin im Stich lassen. Das war eher als Scherz gemeint. Ein ziemlich schlechter, zugegeben…“

„Lass mich raten: Die Drachen kennen den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Scherz nicht und deine Kollegen sind deinen Humor gewöhnt?“
 

Am Ende leistete Charlie den Schwur und Hermione blieb. So abgelegen das Reservat auch war, so hatte Charlie doch vom Massaker an den Krums gehört. Und er stimmte Hermione zu, dass ein Drachenreservat vermutlich der sicherste Ort für sie und Mia war.

Über das Weasley-Familiennetzwerk konnte Hermionen auch dafür sorgen, dass ihr Arbeitgeber erfuhr, dass sie vorerst nicht zurückkommen würde, und dass die Sachen aus ihrer Wohnung eingelagert wurden. Schließlich hatte sie keine Ahnung, wann sie nach England zurückkehren würde.

Wie gut sie daran getan hatte, England vorerst zu meiden, zeigte sich, als Charlie einen Brief von seinen Eltern erhielt und sie darin berichteten, dass Hermiones Wohnung buchstäblich auf den Kopf gestellt worden war. Als Hermione das hörte, brach sie in Tränen aus.

„Schhh, Hermione… Alles halb so schlimm. Dad schreibt, dass kein irreparabler Schaden angerichtet worden ist“, versuchte Charlie sie zu trösten.

„Das ist es nicht“, schluchzte Hermione leise. „Es ist deine Familie… Immer seid ihr für mich da. Damals, als ich nach dem Krieg meine Eltern aus Australien heimholen wollte, nur um zu erfahren, dass sie im Monat zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Dann, als ich mich von Ron getrennt habe… Sicher, Molly war zuerst enttäuscht, aber Arthur hat mir im Ministerium nie die kalte Schulter gezeigt. Und nicht lange danach, vielleicht drei höchstens vier Wochen später, hat Arthur mir Boxen mit Mollys köstlichem Essen mit auf die Arbeit gebracht. Sie hatte erkannt, dass wenn Ron und ich nach all den Jahren noch nicht einmal den Schritt der Verlobung gewagt hatten, es wohl nicht hatte sein sollen. Sie ließ mir ausrichten, dass sie mich dennoch als eine Tochter betrachte. Sie wisse auch, dass ich oft bis spät in den Abend arbeite und dann sicher keine Lust mehr zum Kochen habe…“ Ein kleines Lachen mischte sich in die Tränen ob dieser Wahrheit. „Und jetzt das hier… du, deine Eltern…“

„Du hast es selbst gesagt: Für meine Elstern bist du nach wie vor wie eine Tochter.“ Charlie grinste. „Kannst du dir das Donnerwetter vorstellen, das mich erwarten würde, wenn meine Mutter erführe, dass ich dich im Stich gelassen habe? Dagegen wäre dann von einem Drachen gegrillt zu werden das reinste Zuckerschlecken.“

Selbst Hermione musste bei diesen Worten lächeln. Sie wusste nur zu gut, dass Charlie in Punkto von einem Drachen gegrillt werden aus leidvoller Erfahrung sprach. Es tat gut, ihn darüber scherzen zu hören, war doch der Unfall, auf den er damit anspielte, etwas, über das er nur ungern redete. Tatsächlich wussten noch nicht einmal seine Eltern etwas von dem vollen Ausmaß jenes Vorfalls. Hermione selbst hatte zuerst nur das leichte Hinken bemerkt, aber es hatte der Unbedarftheit Mias bedurft, ihm die ganze Geschichte zu entlocken.
 

An einem besonders nasskalten Tag, wie er in den Bergen selbst in der schönsten Jahreszeit immer wieder auftreten kann, hatte Charlie nach seiner üblichen Runde nur daran gedacht, so schnell wie möglich aus den nassen Klamotten zu kommen. Nur in Boxershorts gekleidet und in eine Decke gehüllt, saß er im Wohnzimmer der Hütte, die er als Reservatmitarbeiter bewohnte, vor dem prasselnden Kaminfeuer und wärmte sich auf, ohne sich bewusst zu sein, dass seine Narben an den Beinen, die er sonst sorgfältig verbarg, offen sichtbar waren. Mia, just im Krabbelalter, war dabei, das Wohnzimmer zu erkunden. Und ein im Wohnzimmer sitzender Charlie gehörte nach Auffassung des Babys zum Erkundungsterrain. Anders aber als Erwachsene, die gelernt hatten, bei schweren Narben den Blick abzuwenden, kannte Mias Neugier noch keine solche gesellschaftliche Hemmung. Entsprechend eifrig waren die kleinen Hände dabei, die zerfurchte Haut zu erforschen.

Als Hermione aus dem Gästezimmer kam, um nach Mia zu sehen, erschrak sie und wollte Mia von Charlie wegholen, damit dieser sich nicht durch das Baby belästigt fühlte. Doch Charlie wehrte ab. „Lass sie ruhig!“ Mit einem Lächeln beugte er sich zu Mia hinunter. „Na du kleiner Teppichdrache… das hier“, er wies auf seine Narben, „passiert, wenn du unvorsichtig einem Drachen zu nahe kommst.“

Hermione, die das ganze natürlich beobachtet hatte, schluckte, als sie erkannte, dass sich die vieladrigen Narben am rechten Bein bis weit über das Knie hinaufzogen und auch am linken Bein den halben Unterschenkel bedeckten. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass Narbengewebe unangenehm spannen konnte, und dass besonders Narben dieses Ausmaßes durch regelmäßiges Auftragen von Zaubersalben elastisch gehalten werden mussten. Sie wollte sich nicht erst vorstellen, wie stark Charlie diese Narben manchmal schmerzen mussten. Oder wie sehr das Drachenfeuer ursprünglich gewütet hatte, wenn trotz aller Medimagie noch solche Narben zurückgeblieben waren.

Als hätte Charlie ihre Gedanken erraten, blicke er auf und sagte mit ruhiger, beinahe tonloser Stimme: „Ich hätte es besser wissen müssen… Brütende Drachenweibchen sind ja schon aggressiv, aber Drachenweibchen mit Neugeborenen… Ich hatte Glück, dass mein Flugpartner umsichtiger war als ich und mich dann schnellstmöglich zur Krankenstation des Reservates gebracht hat. Wir haben hier die besten Heiler, wenn es um drachenbedingte Verletzungen geht. Dennoch lag ich fast einen Monat im magischen Koma, in das man mich hatte versetzen müssen, um zu verhindern, dass meine Magie sich gegen die notwendigen magischen Eingriffe wehrt. Zeitweise waren die Heiler sich wohl nicht einmal sicher, ob sie mein rechtes Bein würden retten können. Als ich wieder aufwachte, war der Krieg vorbei und Fred war tot. Ich war sogar zu ramponiert, um zur Beerdigung zu kommen. Dass ich nicht an eurer Seite hatte kämpfen können, war leichter zu verschmerzen als das. Zumal ich mit der Abschottung der Inseln durch Voldemort wohl eh nicht nach Hogwarts hätte gelangen können. Aber danach, als die magischen Reisesperren wieder aufgehoben waren… Ich denke heute noch, dass es besser gewesen wäre, vielleicht die ein oder andere Verschlimmerung der noch heilenden Wunden zu riskieren, um bei Freds Beerdigung dabei zu sein.“ Trauer spiegelte sich deutlich in Charlies Antlitz wieder.

Hermione schüttelte den Kopf. Sie kniete sich neben Charlies Sessel auf den Boden und blickte ihm ins Gesicht. „Nein, es war richtig, dass du in dem Zustand nicht bei der Beerdigung warst. Zumindest, wenn du so schlimm zugerichtet warst, wie ich es mir vorstelle…“ Charlie wollte aufbegehren, doch Hermione schüttelte nur erneut den Kopf. „Ich war da. Ich habe gesehen, was es deiner Familie angetan hat, Fred zu verlieren. Und nun stell dir vor, wie deine Familie, besonders deine Mutter reagiert hätte, wenn du mehr tot als lebendig vor ihnen gestanden hättest. Sicher, sie wären froh gewesen, dich zu sehen, zu wissen, dass du lebst. Aber zugleich hätten sie erkannt, dass sie dich beinahe auch verloren hätten. Molly hätte all ihren Schmerz über den Verlust von Fred in beschützende Mutterliebe umgewandelt und dich dermaßen umhegt und mit ihrer Liebe letztlich so erdrückt, dass du, nachdem du wieder hergestellt gewesen wärest, dich nur hättest befreien können, indem du sie verletzt hättest. Und das hätte deine Mutter, aber auch deinen Vater zerbrechen können. So wissen sie nur, dass du wegen eines Unfalls nicht kommen konntest, wissen aber nicht, wie schwer der Unfall war. Du hast ihnen den Glauben an die Stärke ihrer Kinder erhalten und es damit ermöglicht, dass sie ein eigenständiges Leben führen können. Ein Leben, in dem ihre Eltern eine Rolle spielen, aber nicht alles dominieren. Es war gut so, dass du in dem Zustand nicht reisefähig warst!“

Benommen sah Charlie Hermione an. So hatte er das Ganze noch nie betrachtet. Er wusste, dass seine Mutter dazu neigte, eine Glucke zu sein. Er wusste auch von Bill, dass ohne Fleurs vehementes Eingreifen seine Mutter ihn nach Fenrir Greybacks Angriff wohl keinen Moment aus den Augen gelassen hätte, dass sie Bill nur deswegen in Ruhe gelassen hatte, weil sie wusste, dass Fleur über ihn wachte. Er selbst hatte aber keine Verlobte, die ihn vor den mütterlichen Übergriffen hätte schützen können. Hermione hatte Recht – er hätte seine Mutter irgendwann verletzt, wenn er seine Freiheit mit aller Macht zurückverlangt hätte. Und es war auch möglich, dass Molly ihr Gluckengehabe auch auf seine jüngeren, noch ungebundenen Brüder übertragen hätte… sie wären alle unglücklich geworden. Trotzdem war es schwer, die Schuldgefühle, die er in Bezug auf Fred empfand, loszulassen.

Doch die Narben und die Schuldgefühle waren nicht das einzige, was Charlie von jener verhängnisvollen Begegnung mit dem Drachen zurückbehalten hatte. Seit jenem Tag begleitete ihn auch stets ein Gefühl der Verwundbarkeit, wenn er auf einem Besen flog, hatte sich der Unfall doch bei einem Patrouillenflug ereignet und von dem Besen, auf dem er gesessen hatte, war in dem Flammenstoß des Drachen nichts übrig geblieben. Zwar weigerte er sich, diesen Angstgefühlen so viel Macht über ihn einzuräumen, dass er es nicht mehr schaffte, einen Besen zu besteigen und seiner Arbeit nachzugehen, aber er zog es vor, eher in Bodennähe zu fliegen und die weniger riskanten Patrouillen zu fliegen.

V.

Hermione war kein Mensch, der lange untätig sein konnte. Zwar hielt Mia sie reichlich auf Trab, aber die geistige Herausforderung, die sie so liebte, fehlte. Außerdem mochte sie es nicht, anderen auf der Tasche zu liegen, und so fragte sie schließlich Charlie, ob es nicht irgendwelchen Papierkram im Reservat gab, bei dessen Bewältigung sie sich vielleicht nützlich machen konnte. Charlie wusste zwar auf Anhieb nichts, versprach aber, sich in der Verwaltung zu erkundigen.

Am nächsten Tag kam er grinsend mit einem überquellenden Pappkarton zurück. „Also, sofern du dir nicht zu fein für Archivarbeit bist, hätten wir laut Verwaltung jede Menge Arbeit für dich. Denn obgleich jeder Mitarbeiter seine entsprechenden Berichte verfasst und bei der Verwaltung einreicht, kümmert sich die Verwaltung nur um jene Berichte, die mit dem Finanzwesen zusammenhängen. Der Rest landet unsortiert in solchen Kartons, denen dann nur eine Jahreszahl zugewiesen wird. Eine Praxis, die laut Verwaltung, seit Anbeginn des Reservats gepflegt wird. Was natürlich das Wiederfinden bestimmter Aufzeichnungen nicht wirklich erleichtert. Das meiste Wissen wird innerhalb des Reservats deswegen wohl mündlich weitergegeben, was ja auch schön und gut ist, solang wir nur auf unser Reservat beschränkt operieren. Aber auf die Weise bleiben wir forschungstechnisch ziemlich isoliert und erfahren meist erst aus Fachzeitschriften von neuen Erkenntnissen. Einzig, die Tatsache, dass wir das größte Reservat Europas sind, sichert uns einen gewissen Ruf, doch wir würden gerne auch Anschluss an die internationale Gemeinschaft bekommen.“

Hermiones Augen leuchteten, als Charlie geendet hatte. Eine solche Herausforderung war genau nach ihrem Geschmack. Und wer wusste schon, auf welche Schätze sie in diesen Berichten stieß? Aber... „Wenn so viel von dem Archiv abhängt, wieso stellt das Reservat nicht einen Archivar ein?“

„Tja“, erwiderte Charlie etwas verlegen, „das ist ein Selbstläufer, den die Verantwortlichen zu lange ignoriert haben. Neben privaten Spenden und einem festen Etat im Zauberhaushalt des jeweiligen Landes finanzieren sich solche Reservate auch über Forschungsgelder aus der internationalen Gemeinschaft für Drachenwesen. Zu dieser internationalen Gemeinschaft gehören natürlich auch eine ganze Reihe Staaten, die zwar kein eigenes Drachenreservat unterhalten, aber finanziell einen Beitrag leisten. Und diese Länder sind, verständlicherweise, an Ergebnissen interessiert, Erkenntnissen, die aufgrund ihrer Unterstützung gewonnen wurden. Entsprechend sind Zuwendungen für international forschende Reservate mit zugehörigen Publikationen höher – deren Aufwand ist ja auch größer – als bei rein erhaltenden Reservaten, worunter unseres leider fällt. Sprich, weil man den Aufbau eines Archivs zu lange vernachlässigt hat, die internationalen Zuwendungen für erhaltende Reservate aber immer weiter gekürzt werden, ist man jetzt an dem Punkt angelangt, wo man sich keinen Archivar mehr leisten kann, aber eigentlich dringend auf höhere Zuwendungen angewiesen ist, die man nur mit einem Archiv bekommt.“

Hermione grinste. „Da zeigt sich mal wieder, wie schön man sich mit der Praxis ‚Das haben wir schon immer so gemacht’ ins Aus manövrieren kann. Etwas, wo ich ja auch in England versucht habe, gegen anzukämpfen. Umso schöner also, die Möglichkeit zu haben, hier ernsthaft etwas zu bewegen und zu wissen, dass die Arbeit auch gewürdigt wird.“ Ihr ganzer Körper vibrierte förmlich vor Verlangen, sofort anzufangen.

Charlie lachte. „Dann habe ich also gut daran getan, dir gleich eine Kiste mitzubringen, damit du dir einen Überblick verschaffen kannst, was für Arten an Aufzeichnungen es zu erfassen, sortieren und archivieren gilt.“
 

Von da an verbrachte Hermione fast ihre ganze Zeit in jenen Kellerräumen, die die Archiv-Kisten beherbergten. Mia war dabei stets an ihrer Seite, entweder in einem mit Schutzzaubern versehenen Laufstall, wo sie vor eventuell herabfallenden Akten und zu viel Staub sicher war, oder aber, was dem Kind natürlich weit besser gefiel, in einem der bereits aufgeräumten Räume, wo Hermione Akten, die in die entsprechenden Rubriken passten, einsortierte. Diese Räume zu erkunden war natürlich weit aufregender als der Laufstall.

Die Verwaltungsangestellten hatten sich schnell an ihre Anwesenheit gewöhnt, doch Hermione war sich durchaus der Blicke bewusst, die man ihr zuwarf, besonders wenn Charlie sie am Abend abholte. Häufig schwang er Mia dann hoch über seinen Kopf, was diese fröhlich Krähen ließ und auf die darauf folgende Frage, wie ihr Tag gewesen sei, brach über ihn ein wahrer Sturzbach kindlichen Gebrabbels ein. Wer es nicht besser wusste, hätte Charlie ernsthaft für Mias Vater halten können.

„Stört es dich nicht?“, fragte Hermione eines Abends, als sie eine der Verwaltungsangestellten mit einer Drachenhüterin tuscheln sah. „Ich mein, es war eine Sache, die Annahme des Gastwirts im Dorf nicht zu korrigieren, aber das hier sind deine Kollegen und Freunde...“

Charlie grinste. „Warum sollte es mich stören, wenn sei eine hübsche und brillante junge Frau wie dich für meine Lebensgefährtin halten? Oder dieses aufgeweckte Energiebündel her für meine Tochter? Du hast es doch auch nie richtiggestellt, wenn die Leute dich für Mias Mutter halten.“

„Bei mir ist das ja auch was anderes. Ich bin ihre Patin und nun, da ihre Eltern tot sind, tatsächlich ihre Ersatzmutter. Mia gehört zu mir. Abgesehen davon, dass es momentan sicherer ist, wenn niemand etwas von Mias Herkunft weiß. Aber bei dir ist es etwas anderes“, widersprach Hermione. „Wenn die Leute hier glauben, dass wir zu dir gehören, obwohl dem nicht so ist, dann behindern wir doch deine... sozialen Aktivitäten.“

Charlie sah Hermione zuerst perplex an, dann konnte er ein Lachen nicht unterdrücken. „Hermione, du bist einmalig! Hast du dich nie gefragt, warum die anderen hier so ohne weiteres die Annahme akzeptiert haben, du seiest eine intime Bekanntschaft von mir und Mia meine daraus resultierende Tochter?“

„Weil du ein Foto von mir im Nachttisch aufbewahrst?“, konterte Hermione ironisch.

„Wäre eine Überlegung wert. Würde aber voraussetzen, dass jemand anderes außer mir Zugang zu meinem Nachttisch hätte. Was aber niemand hat. Denn trotz aller Flirtangebote, habe ich mich nie mit jemandem aus dem Reservat eingelassen. Das hätte einfach die Zusammenarbeit unnötig verkompliziert, spätestens wenn die Beziehung nicht funktioniert hätte. Und wir sind hier letztlich eine zu kleine Gemeinschaft, um uns solche Spannungen leisten zu können. Weshalb all meine Affären außerhalb des Reservats stattfanden, meist in Bukarest. Sie glauben jetzt vermutlich, dass eine dieser Affären, in diesem fall eben eine aus England, mich wie die sprichwörtliche Vergangenheit eingeholt hat. Zumal sie keine Ahnung bezüglich der tatsächlichen Zahl meiner Affären haben und ich sie, zugegeben, in dem Glauben gelassen habe, es wären mehr als es tatsächlich waren. Und was das ‚zu mir gehören’ betrifft, was würdest du sagen, wenn ich dir erklärte, dass ich nichts dagegen hätte, wenn dem so wäre? Das ich es mir im Gegenteil sogar wünschen würde?“

Tausend Emotionen schienen sich bei diesen Worten in Hermiones Gesicht wiederzuspiegeln. Gewiss, sie hatte sich von Anfang an, seit sie Charlie in dem Gasthaus gesehen hatte, zu ihm hingezogen gefühlt. Zuerst hatte sie geglaubt, es liege daran, dass er sie an Ron erinnerte. Aber Charlie war in vielen Dingen ganz anders als Ron, so dass eine bloße Familienähnlichkeit hierfür nicht der Grund sein konnte. Dann hatte sie vermutet, dass das Gefühl der Geborgenheit, das sie in seiner Gegenwart empfand, damit zusammenhing, dass er ein Weasley war. Und die Weasleys waren das Einzige, was ihr an Familie geblieben war. Dass also ihre Gefühle rein familiärer Natur waren. Doch je länger sie hier war, je mehr Zeit sie mit Charlie verbrachte, desto mehr musste sie sich eingestehen, dass ihre Gefühle weit über das hinausgingen, was sie etwa für Bill oder George, die ja genau wie Charlie als ihre Weasley-Brüder ehrenhalber betrachtet werden mussten, empfand. Bei Charlie hatte sie das Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein. Auch die körperliche Anzierung die sie spürte, war eine andere als bei Ron... weniger jugendlicher Drang, sondern reifer, erwachsener, tiefer gehend. Die Frage, ob Charlie vielleicht ähnlich fühlte, hatte sie stets weit von sich geschoben, schien es ihr doch zu gefährlich, sich in ihrer Situation auf eine Beziehung einzulassen. Lieber wollte sie sich erst gar keinen illusorischen Hoffnungen hingeben. Doch als sie jetzt in Charlies offenes Gesicht blickte, wusste sie, dass er Einwände bezüglich seiner Sicherheit nicht würde gelten lassen. Denn als Freund, ganz gleich, wie man den Begriff definierte, würde er sie nicht im Stich lassen und somit so oder so die Gefahr mit ihr teilen. Das es also keinen triftigen Grund gab, nicht den Schritt vom getrennten Sessel beim abendlichen Zusammensein im Wohnzimmer zum gemeinsamen Sofa mit Anlehnerlaubnis zu wagen. Zumal sie es ja wohl beide wollten, wie Hermione Charlie schließlich gestand.
 

Tatsächlich änderte sich mit dieser Aussprache kaum etwas im gemeinsamen Zusammenleben. Sicher, es gab immer wieder Küsse, kurze wie lange, leidenschaftliche, zärtliche – Küsse in allen Variationen, die beide überaus genossen. Aber wie das nun mal so war, wenn zum Zusammenleben auch ein Krabbelkind gehörte, war ungestörte Zweisamkeit eher selten. Dennoch hätte keiner von beiden Mia in ihrem Leben missen mögen. Und zumindest für den Moment genügte es ihnen, sich der Nähe des anderen sicher zu sein.

VI.

Wochen vergingen, und obgleich eine gewisse Grundwachsamkeit Hermione nie verließ, spürte sie, wie sie langsam ihre innere Ruhe wiederfand und nicht mehr krankhaft häufig den Zwang verspürte, sich nach etwaigen Verfolgern umzublicken. Zumal ihr die Mörder von Viktor und Sofiya wohl eher vor ihr auflauern würden als ihr hinterherzulaufen, um sie schließlich einzuholen und zu ergreifen. Dann aber erhielt ihre Furcht neue Nahrung.

Das Archiv hatte mittlerweile Grundzüge angenommen und Hermione konnte sich zunehmend Kisten widmen, die fünfzig Jahre und älter waren. Dabei stieß sie unter anderem auf ein altes Züchtungsprogramm, das wohl erst mit der Machtergreifung des Muggels Ceausescu aufgegeben worden war. Die sozialistischen Einschnitte jener Zeit waren auch an der Zaubergesellschaft nicht spurlos vorüber gegangen. Da Hermione glaubte, dass dieses Züchtungsprogramm sich vielleicht eignete, in einer Wiederaufnahme dem Reservat als Einstieg in die internationale Forschung zu helfen, nahm sie alle entsprechenden Unterlagen mit, um sie Charlie zu zeigen.
 

„Ich versteh nur Bahnhof“, sagte Charlie. „Ich mein, klar, es geht um Drachenzüchtung. Aber diese wirren Ketten kleiner und großer Buchstaben?“

„Ein weiterer Beweis dafür, wie rückständig Zauberbritannien in vielerlei Hinsicht ist“, schnaubte Hermione. „So werden Neuzüchtungen einfach als zu gefährlich verboten, ohne zu erklären, warum es zu gefährlich ist. Dabei ist die Sache mit Mendel und den Erbsen so einfach, dass jeder Muggel das Prinzip kennt.“ Sie griff nach einem Stück Pergament und skizzierte die Grundregeln der Vererbungslehre. Dann wies sie wieder auf die Aufzeichnungen des Züchtungsprogramms. „Was du hier siehst, ist nichts anderes als eine Notation der Eigenschaften, die sich bei den Züchtungen als dominant oder rezessiv herauskristallisiert haben.“

Charlie nahm sich noch mal die Notizen vor. „Also, ich hätte zwar nicht gewusst, wie ich es aufschreiben sollte, aber welche Eigenschaften in einem bestimmten, neugeborenen Drachen auftreten sollen, hätte ich auch benennen können. Faszinierend, es so komprimiert ausgedrückt zu sehen. Aber was ist mit den Zahlen und Runen?“ Er wies auf die Zeichen, die als Indizes die Buchstaben begleiteten.

Hermione lächelte, auch wenn in ihren Augen eine leichte Wehmut lag. „Erblehre ist weit mehr als dominante und rezessive Faktoren. Es gibt Chromosomen, Gene, DNS... Nach der Art der Aufzeichnung zu urteilen, hatten sie die Chromosomen-Struktur der Drachen weitestgehend erfasst, waren sich aber bei den magischen Einflüssen nicht sicher. Denn als magische Wesen wird bei Drachen auch die Vererbung von Magie beeinflusst. Sofiya hätte dir das viel genauer erklären können...“

„Klingt, als sollten wir erst einmal sehen, was der heutige Stand dieser Forschung ist“, meinte Charlie, „um dann zu sehen, in welcher Form wir dieses Programm vielleicht wieder aufleben lassen können. Bringt ja schließlich nichts, ein Erinnermich zweimal erfinden zu wollen.“

„Sicher abonniert das Reservat eine Reihe Fachzeitschriften, so dass wir darüber in den zugehörigen Archiven anfragen können“, schlug Hermione enthusiastisch vor, nur um ein trauriges Lachen von Charlie zu ernten.

„Hermione, wenn das Reservat Zeitschriften abonniert hätte, meinst du nicht, dass du beim Archivieren nicht auf diverse Ausgaben hättest stoßen müssen? Nein, was an Zeitschriftenabonnements hier existiert, sind die privaten Abonnements der einzelnen Drachenhüter. Ich selbst beziehe ‚Fliegen mit Drachen’, was sechs Mal im Jahr erscheint, aber darin geht es überwiegend um den Einfluss der Habitate auf Drachen, so wie Drachenheilkunde.“

„Selbst wenn die Zeitschrift sich nicht mit Genetik beschäftigt, hat sie vielleicht doch ein paar kurze Berichte als Übersicht veröffentlicht, die uns als Ausgangspunkt dienen können.“ So schnell wollte Hermione nicht aufgeben. „Und bestimmt haben deine Kollegen noch andere Zeitschriften abonniert. Bloß, weil die Verantwortlichen auch hier in ihrer Pflicht dem Reservat gegenüber eher nachlässig waren, heißt das nicht, dass wir keine Möglichkeiten haben.“

Charlie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Dass wir nicht eher daran gedacht haben! Statt jeder für sich seine Zeitschriften zu horten und sie einander nur auf persönliches Anfragen hin zu leihen, hätten wir schon längst alle Zeitschriften, nachdem der jeweilige Besitzer sie ausgelesen hat, in einem gemeinsamen Raum für alle zugänglich machen können!“

„Lass mich raten: Weil es kein allgemeines Archiv gab, kam euch so etwas wie ein Zeitschriftenarchiv nie in den Sinn?“, fragte Hermione lachend und ihre Augen funkelten vergnügt.
 

Es war schon erstaunlich, welche Dinge man bewegen konnte und was man zu Tage förderte, wenn man erst mal anfing aufzuräumen. Was mit dem Archivieren einzelner Kisten begonnen hatte, zog schnell immer weitere Kreise. Für Hermione selbst war es die größte Genugtuung zu sehen, wie das Reservat langsam die behäbige Atmosphäre eines Dornröschenschlafes abstreifte. Dabei waren es weniger die Reservatmitarbeiter, die sich änderten – sie hatten schon immer sehr gute Arbeit geleistet –, es waren mehr die Reaktionen von außen. Dass das Reservat und seine Mitarbeiter nach Jahren der Stille auf einmal Fachartikel zu ausgewählten Themen – nicht nur Erblehre – aus den Archiven anforderten, hatte sich in Windeseile in der Fachwelt herumgesprochen und nicht wenige der angefragten Artikel trafen mit Briefen der Autoren ein, die zusätzliche Erläuterungen und Angebote, Fragen zu beantworten, enthielten. Es schein als ob die internationale Gemeinschaft nur auf ein Zeichen der Bereitschaft zur engeren Zusammenarbeit gewartet hätte. Nicht ganz uneigennützig natürlich, verfügte das rumänische Reservat doch über den größten Drachenbestand, aber dennoch war diese Reaktion beinahe überwältigend. Stumm fragte sich Hermione, ob die Zaubergemeinschaft des Vereinigten Königreichs wohl auf einen ähnlichen Empfang hoffen durfte, wenn sie endlich von der Vergangenheit den Schritt in die Gegenwart und damit heraus aus der selbstgewählten Isolation wagte. Denn die bloße Mitgliedschaft in der Internationalen Zaubervereinigung und die Existenz der Abteilung für internationale Zusammenarbeit reichten nicht, wenn sie nicht auch aktiv gelebt wurden. Aber abgesehen von internationalem Quidditch begnügte man sich in England in Punkto internationaler Zusammenarbeit meist mit bürokratischem Unsinn wie Importverboten für fliegende Teppiche. Dinge, wie das trimagische Turnier stellten Ausnahmen dar, und auch wenn nach den Ereignissen des letzten Turniers an eine Neuauflage nicht zu denken war, hatte niemand in Großbritannien den Versuch unternommen, die friedlichen Aspekte wie etwa den Julball vom Turnier getrennt zu veranstalten und so die internationalen Beziehungen zu festigen. Von all den anderen Dingen und Möglichkeiten, die man hier ungenutzt ließ, ganz zu schweigen.

Doch die vielen Artikel, die eintrafen, ließen Hermione kaum Zeit für Gedanken an England, auch wenn sei nur jene Artikel, die sich mit Genetik und Erblehre befassten, las. Sie war immer wieder froh darüber, dass Sofiya ihr so bereitwillig Einblick in die Grundlagen ihrer Forschungen gewährt und geduldig die unzähligen Fragen Hermiones beantwortet hatte. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie mühsam das Verständnis der Artikel erst gewesen wäre, wenn sei nicht schon ein Grundverständnis der Notation gehabt hätte. So aber konnte sie es meist kaum abwarten, mit Charlie abends über das zu diskutieren, was sie den Tag über – meist während Mias Mittagsschlaf, wo sie still las, um das Kind nicht durch Kistengepolter zu wecken – neues erfahren hatte.

Als sie an jenem Tag Mia zum Schlafen hinlegen wollte, entdeckte Hermione, dass das Kind offenbar bei einer Krabbeltour durch das Archiv mit dem goldenen Armband, das Sofiya ihrer Tochter im letzten Teil der Taufzeremonie um das kleine Handgelenk gelegt hatte, irgendwo hängen geblieben war, denn es schien beschädigt zu sein. Als sie das Armband näher untersuchte, staunte sie nicht schlecht, als sie feststellte, dass das Schmuckstück gar nicht wirklich beschädigt war, Mia es nur irgendwie geschafft hatte, eines der zylinderförmigen Glieder des Armbandes zu öffnen. Der Zylinder war hohl, doch offenbar hatte jemand einen kleinen Zettel hineingesteckt. Zuerst vermutete Hermione, dass der Goldschmied dies als Herkunftsnachweis für Gold und Schmuck in dem Zylinder hinterlegt hatte, aber als sie das gerollte Papier herauszog und sah, wie dick die kleine Rolle war, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Als sie dann aber sah, was auf dem Papier stand, schnappte sie erschrocken nach Luft. Es waren Erblehrezeichen, komplexer als alles, was Hermione bis dato gesehen hatte. Dennoch begann ihr Verstand, geprägt von der jüngsten Lektüre, die Zeichen zu analysieren, beginnend bei den einfachen Buchstaben und von dort aus die nächstkompliziertere Ebene und so weiter, bis sie schließlich feststellen musste, dass der Text abrupt abbrach. Zunächst irritiert, erkannte Hermione gleich darauf, warum der Text nicht weiterging: Das aufgerollte Papier hätte sonst schlicht nicht mehr in den Zylinder gepasst! Doch das Armband hatte noch zwei weitere Zylinderglieder. Hermione war sich sicher, dass Sofiya den Rest des Textes darin versteckt hatte.

Mia quengelte bereits müde, doch das hielt Hermione nicht davon ab, auch noch die beiden anderen Zylinder zu leeren, ehe sie Mia endlich zum Schlafen zudeckte. Sie bekam kaum mit, wie das Kind friedlich die Augen schloss, zu sehr war sie von dem gefesselt, was sich da in Sofiyas klarer, charakteristischer Schrift offenbarte. Doch in dem Maße, wie Hermione die Bedeutung der Zeichen verstand, wuchs die Furcht in ihr. Wenn sie den Text richtig entzifferte, dann... Das war ungeheuerlich! Und plötzlich gaben Sofiyas Worte während der Taufzeremonie einen ganz neuen Sinn: „Möge dir und denen, die dir folgen, die Weisheit gegeben sein, mit dem Wissen eurer Vorväter verantwortungsbewusst umzugehen.“

Sofiya hatte ihrer Tochter nichts geringeres als den genetischen Schlüssel zur Magiebefähigung eines Menschen vermacht. Jene Formel, nach der die Mörder gesucht hatten und für die Sofiya in den Tod gegangen war.

VII.

Seit Hermiones Ankunft gehörte die wöchentliche Einkaufstour zu Charlies ungeliebtesten Aufgaben. Man hätte annehmen können, dass angesichts der Abgeschiedenheit des Reservats eine solche Einkaufstour sich allgemeiner Beliebtheit erfreute und fast jeder der Angestellten nur zu gerne bereit wäre, diese Aufgabe zu übernehmen. Aber zu den zu besorgenden Dingen gehörten auch Zutaten für spezielle Heiltränke, sowohl für die Drachen selbst als auch für die drachenbedingten Verletzungen der Drachenhüter, die gesetzlichen Beschränkungen unterlagen. Zwar besaß das Reservat die notwendige Lizenz, diese Zutaten zu erwerben, doch das änderte nichts daran, dass die Zutaten von meist eher zwielichtigen Gestalten verkauft wurden, bei denen man wohl zu Recht annehmen durfte, dass sie von ihren Käufern nicht immer die Vorlage einer Lizenz verlangten. Entsprechend waren diese Läden auch eher in den weniger feinen und definitiv weniger sicheren Zaubervierteln zu finden. Und obgleich an die Gefahr und Berechenbarkeit der Drachen gewöhnt, ließ sich dieses Gefahrenbewusstsein nicht wirklich auf Menschen übertragen. Kurz, die Einkaufstour war nicht ungefährlich, und wenn sie die Wahl hatten, zogen die Reservatsmitarbeit die Drachen allemal vor.

Seit seinem Unfall hatte Charlie das Einkaufen auch deswegen übernommen, um einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass er die gefährlicheren Patrouillen seinen Kollegen überließ. Im Laufe der Zeit, nachdem man sich in den schäbigen Gassen mit ihren lukrativen Geschäften an ihn gewöhnt und er sich einen gewissen Ruf erworben hatte, hatte er sogar so etwas wie Gefallen an dieser Aufgabe gefunden. Nun aber bedrückte ihn der Gedanke, Hermione an diesen Tagen allein im Reservat zurücklassen zu müssen. Zwar versuchte er sich mit dem Argument zu beruhigen, dass sie ja auch sonst den Großteil des Tages voneinander getrennt verbrachten, wenn er seiner Arbeit als Drachenhüter nachging und Hermione mit Mia im Archiv war, aber es war eine Sache, sich an einem seinen Kollegen bekannten Ort innerhalb des Reservats aufzuhalten, wo man ihn jederzeit finden und benachrichtigen konnte, wenn etwas vorfiel, und eine ganz andere Sache, wenn man überall und nirgendwo in Rumänien mit Einkaufen beschäftigt und für diese Zeit unauffindbar war. Da trug Hermiones Entdeckung von Sofiyas Formel nicht gerade dazu bei, sich weniger Sorgen zu machen.

Beide hatten sie sofort erkannt, dass es mit Hilfe von Magie bei entsprechendem Wissen um die Formel nur noch ein kleiner Schritt bis zur magischen Genmanipulation war. Sie wollten sich erst gar nicht vorstellen, was für Unheil damit in den falschen Händen heraufbeschworen werden konnte. Hermione wusste, dass Sofiya gehofft hatte, mit ihren Forschungen eine Möglichkeit zur Heilung lebensbedrohlicher magischer Erbkrankheiten zu finden, aber man musste nicht über hellseherische Fähigkeiten verfügen, um das weitere, weniger gesundheitsbestimmende Potenzial zu erkennen, das skrupellose Menschen auszunutzen nur allzu bereit wären. Skrupellose Menschen wie die Mörder von Viktor und Sofiya. Die Bandbreite dabei reichte von der Garantie magisch begabten Nachwuchses für begüterte reinblütige Familien bis hin zur Züchtung magischer Superkrieger...

Was, wenn die Mörder ausgerechnete an einem Einkaufstag zuschlugen? Aber Charlie sah keinen Weg, seine Aufgabe an einen seiner Kollegen abzugeben, ohne nicht ungewollte Aufmerksamkeit auf Hermione und Mia zu lenken, was aber ebenfalls ihre Sicherheit gefährden würde. Aus dem gleichen Grund konnte er seine Kollegen auch nicht bitten, zusätzlich ein Auge auf Hermione zu haben. Das einzige, was ihm blieb, war sich mit dem Einkaufen zu beeilen.
 

Rückblickend war Charlie dankbar, dass er trotz aller Eile nicht auf das Abschlussbier in dem Dorfgasthaus verzichtet hatte. Denn noch ehe der Wirt mit dem Zapfen des Bieres fertig war, sprach ihn einer der Stammgäste bezüglich eines Fremden an, der sich vor ein paar Tagen in der Kneipe herumgetrieben und Fragen gestellt hatte.

Der Wirt nickte. „Das war ein echt komischer Typ, irgendwie unheimlich. Auf den ersten Blick sah er normal aus, ein bisschen wie ein Stadtfrack. Aber seine Haltung hatte was Militärisches an sich.“

„War aber keiner vom Militär“, mischte sich der Stammgast wieder ein. „War selber lange genug in der Armee, um solche Leute selbst in einem Misthaufen noch am Gestank zu erkennen. Der roch aber eher wie ihr Hippies vom Naturschutzgebiet.“

Zu jeder anderen Zeit hätte Charlie darüber geschmunzelt, wie die Dorfbewohner die Zauberer und das Reservat wahrnahmen und die Unterschiede, die sie bemerkten, mit Dingen erklärten, die sie aus ihrer Muggelwelt kannten. Doch heute versetzten ihn die Worte in höchste Alarmbereitschaft. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, während er fragte, was der Fremde denn so alles habe wissen wollen.

„War merkwürdig. Außer einer Bestätigung, dass sich hier in der Nähe ein Naturschutzgebiet befindet, schien er sich kaum für euch da oben zu interessieren. Dann aber hat er sich gezielt nach der jungen Dame von neulich erkundigt. Wusste sogar von dem Kind“, erzählte der Gast.

Charlie musste an sich halten, um nicht aufzuspringen und den Mann zu packen. „Und was dann? Was wollte er noch wissen?“

„Na, wohin Mutter und Kind gegangen sind. Dachte zuerst, er sei vielleicht der Vater der Dame, aber er hatte so einen lauernden Ausdruck in den Augen. Das gefiel mir nicht, also hab ich gesagt, sie sei nach Norden weitergezogen. Hätte was von Freunden in der Ukraine erzählt. Aber so intensiv, wie der Kerl mich angesehen hat, denke ich nicht, dass er mir geglaubt hat.“

Charlie fluchte innerlich. Was der Mann da beschrieb, klang für ihn ganz nach Legilimentik!

„Hoffe, ich hab nichts Falsches gesagt“, meinte der Gast ein wenig verängstigt, war ihm doch keineswegs entgangen, wie sich Charlies Gesicht zunehmend verfinstert hatte. Die Hippies waren ihm irgendwie unheimlich. Wer wusste schon, was sie mit einem anstellten, wenn man extrem verärgerte.

„Nein, nein, im Gegenteil“, beeilte sich Charlie dem Mann zu versichern. In der Tat musste der Mann in seiner Aussage wohl harmlos genug gewirkt haben, dass der Fremde es für unnötig befunden hatte, ihn mit einem Vergessenszauber zu belegen. Denn dann hätte er Charlie wohl kaum mehr von dieser Gefahr erzählen können.

Alles in ihm sehnte sich danach, möglichst schnell ins Reservat zurückzukehren, aber er wusste, dass er erst sein Bier austrinken musste, wenn er die Dorfbewohner nicht vor den Kopf stoßen wollte. Das hatten sie nicht verdient und gerade der heutige Tag hatte bewiesen, wie wertvoll die Beziehung zu ihnen war. Dennoch konnte er den Impuls, das Bier ein wenige schneller als sonst zu trinken, nicht unterdrücken. Endlich erblickte er den Boden des Glases und legte ein paar Münzen auf die Theke. „Bis nächste Woche!“ Dann war er auch schon zur Tür hinaus. Die Abschiedsworte, Grüße an Frau und Kind, sowie spöttische Kommentare über junge Liebe hörte er schon nicht mehr. Hastig blickte er sich nach einer verlassenen Seitengasse um, wo er es wagen konnte, zu disapparieren, doch es war wie verhext: Hier leerte eine Hausfrau einen Eimer Schmutzwasser in den Gully, dort hielt jemand durch das geöffnete Fenster ein Schwätzchen mit dem Nachbarn auf der Straße, dann wieder waren es spielende Kinder. Erst außerhalb des Dorfes bot im eine von Büschen gesäumte Baumgruppe ausreichenden Schutz. Er drehte sich auf der Stelle und war im nächsten Moment verschwunden, noch ehe ihn der Nebelfetzen, der soeben durch das Gesträuch gebrochen kam, erreichen konnte.
 

Stolpernd und ein wenig benommen, so dass er im ersten Moment befürchtete, nicht ganz vollständig zu sein, fand sich Charlie im Reservat wieder. Überraschenderweise war er gleich darauf von Kollegen umringt, deren Verhalten ihn aber zumindest in Bezug auf eventuell zurückgelassene Körperteile beruhigte. „Gott sei Dank, dass du schon da bist! Wir waren uns nicht sicher, wie schnell der Patronus dich erreichen würde.“

„Wir waren uns überhaupt nicht sicher, ob der Patronus überhaupt hundert Meter weit halten würde!“, klang es ihm entgegen.

Alarmiert sah Charlie seine Kameraden an. „Ihr habt mir einen Patronus geschickt?“ Der Patronuszauber war nicht gerade leicht, und um damit eine Nachricht zu senden, musste er zudem noch eine stabile Gestalt aufweisen. Dadurch war der Zauber zu kompliziert, um im Drachenreservat bei Notfällen eingesetzt zu werden, denn bei den meisten Notfällen handelte es sich um Verletzungen und mit Schmerzen war es unmöglich, einen Patronus heraufzubeschwören. Weshalb die Drachenhüter sich für die Notfallkommunikation lieber auf Zwei-Wege-Spiegel verließen. Das wiederum bedeutete, dass die Fähigkeit, einen Patronus heraufzubeschwören, mangels Übung verkümmerte. Sogar Charlie, der in seinen UTZ-Prüfungen mit einem erstklassigen Patronus geglänzt hatte, bezweifelte, heute noch einen brauchbaren Patronus zustande zu bringen. Und dann war da noch das Risiko, dass ihn der Patronus im Umfeld der Muggel hätte erreichen können. All das verhieß nichts Gutes.

„Wir wusste nicht, wie wir dich sonst hätten erreichen sollen“, bekam er als Erklärung.

„Egal! Ist ebenso egal, ob du den Patronus gesehen hast oder nicht. Hauptsache, du bist jetzt hier!“

„Was ist geschehen?“, fragte Charlie und in ihm krampfte sich alles zusammen, als er wie in Zeitlupe die Lippen seines Kollegen den geliebten Namen formen sah: Hermione. Die dumpfe Befürchtung wurde düstere Gewissheit.

„Sie ist entführt worden. Sie und Mia haben gerade draußen die Sonne genossen, als plötzlich eine Gruppe von vielleicht fünf oder sechs Leuten auf Besen angeschossen kam und sie und das Kind schnappten. Selbst wenn wir gekonnt hätten, wollten wir nicht riskieren, Hermione oder Mia zu treffen. Alles ging so schnell.“ Bedauern und Wut sprach aus der Stimme des Drachenhüters.

„Keine Ahnung, wie sie es geschafft haben, hier einzudringen. Aber sie werden es ganz gewiss nicht so leicht haben, wieder herauszukommen. Nachdem klar wurde, dass sie, wohl um den Vorteil der Geschwindigkeit nicht zu verlieren und um uns kein Ziel zu bieten, einfach weiterflogen, haben wir das Reservat vollkommen abgeriegelt.“

Charlie nickte. Er konnte die grimmige Genugtuung seiner Kollegen bei diesen Worten nachempfinden. Die vollkommene Abriegelung war eine Art kuppelförmiges, magisches Siegel, das sich bei Aktivierung über das ganze Reservat legte. Um dann noch in das Reservat zu kommen, oder es zu verlassen, musste das Siegel einen als autorisiert erkennen, sprich die eigene magische Signatur musste mittels Blut in das Siegel integriert sein. Eine Prozedur, der sich alle Reservatsangestellten einmal im Jahr unterziehen mussten, da andernfalls nach zwei Jahren ihre Signatur verblasste und das Siegel sie nicht mehr erkannte. Das Siegel war eigentlich dafür gedacht, falls notwendig, einen Quarantänezustand über das Reservat zu verhängen, sollte bei einer Drachenkrankheit eine Pandemie zu befürchten sein. Denn dann galt es entweder die eigene Drachenpopulation vor der Gefahr von außen hu schützen oder die Krankheit im eigenen Reservat einzudämmen. Charlie hatte in all den Jahren erst einmal erlebt, dass das Siegel aktiviert worden war: Anfang der neunziger Jahre, als die Drachenkolonie in Island einen Ausbruch des Hohenzollernvirus gemeldet hatte. Auf die Idee, das Siegel auf die Art einzusetzen, wäre er vermutlich nicht gekommen, war aber froh, dass seine Kollegen diesbezüglich aufgeweckter waren. Das Siegel erklärte auch, warum er sich nach dem Apparieren so benommen gefühlt hatte. Eines aber bereitete ihm im Hinblick auf das Siegel Kopfschmerzen: Das Siegel beschnitt die Drachen in ihrer Flugfreiheit und ließ sie somit in ihrem Temperament noch unberechenbarer werden. Und Hermione und Mia waren irgendwo da draußen!

„Irgendeine Ahnung, wo wir mit der suche anfangen sollen?“ Schließlich war das Reservat nicht gerade klein.

Es war das erste Mal seit seiner Ankunft, dass Charlie so etwas wie ein Grinsen in den Gesichtern seiner Kollegen aufblitzen sah. „Mehr als eine Ahnung!“ Jemand warf ihm einen Zwei-Wege-Spiegel zu. „Anja hat das Gegenstück. Sie und Craig waren gerade auf Patrouille und meldeten sich, weil sie fremde Flieger gesichtet hatten. Sie folgen ihnen in sicherer Entfernung.“

Endlich spürte er so etwas wie Hoffnung in sich aufsteigen.
 

Charlie fluchte. Und fluchte. Und fluchte.

Erst hatte es scheinbar ewig gedauert, genug Besen für alle, die sich an der Rettungsaktion beteiligen wollten, aufzutreiben, denn wie sich herausstellte, hatten sich die Entführer am Besenbestand des Reservats bedient. Aber Charlie wusste, dass er alleine gegen die skrupellosen Mörder keine Chance hatte.

Dann hatte Anja ihren aktuellen Standort durchgegeben und die Mienen aller hatten sich verfinstert. Wenn brütende Drachenweibchen schon aggressiv waren, so traf das doppelt für Drachen mit Jungtieren zu. Addierte man noch die Wirkung des Siegels...

Um den Drachenmüttern mit ihrem Nachwuchs möglichst viel Ruhe zu gewähren, war ‚das Kinderzimmer’, wie die Drachenhüter diesen Bereich scherzhaft nannten, zudem der entlegenste Winkel des Reservats. Eine schier endlos scheinende Flugstrecke!

Endlich aber tauchte vor den Drachenhütern die Felsformation auf, die den Eingang des Kinderzimmers markierte. Anja und Craig gesellten sich zu ihnen. „Sie sind in Igors Balm“, berichtete Anja. Igors Balm war ein markanter Felsüberhang, benannt nach einem der ersten im Reservat geschlüpften Drachen, dessen Mutter sich diesen Platz als Kinderstube für ihr Junges ausgesucht hatte. Seither war kaum ein Jahr vergangen, wo diese Halbhöhle nicht durch eine Drachenfamilie bewohnt gewesen war. Zwar war der ebene Felsboden nach einem langen Besenritt ein verlockender Landeplatz, besonders wenn man wie die Entführer durch das Siegel am Weiterfliegen gehindert wurde und erst einmal versuchen musste, sich einen Weg durch die Barriere zu hexen, aber es war zugleich der denkbar gefährlichste Landeplatz.

Ohne sich zu besinnen oder mit den anderen bezüglich einer Strategie abzusprechen, schoss Charlie davon. Obwohl er seit Jahren nicht mehr in diesem Teil des Reservats gewesen war, kannte er den Weg genau. Zu sehr hatte sich Igors Balm im wahrsten Sinne des Wortes in sein Gedächtnis gebrannt. Doch für Erinnerungen an den Unfall war jetzt kein Platz. In diesem Moment kannte Charlie nur einen Gedanken: Er musste Hermione und Mia dort herausholen, ehe die Drachen ihm zuvorkamen!

Schon von Weitem sah Charlie die Menschengruppe unter dem Felsüberhang. Er erkannte Hermione, die sich mit Mia etwas abseits hielt, direkt am Rand der steil abfallenden Klippe, scheinbar unbewacht. Aber schließlich war eine Flucht aus dem Abri kletternd, noch dazu mit Kind, unmöglich. Dann sah Charlie, dass die Gruppe bald ungebetenen Besuch bekommen würde, denn vom Himmel senkte sich die unverkennbare Gestalt eines turkmenischen Teufelhorns herab. Charlie lehnte sich weiter vor, um auch noch das Letzte an Geschwindigkeit aus seinem Besen herauszuholen. Er wusste, dass es ein Wettlauf mit der Zeit werden würde.

Im buchstäblich letzten Moment packte er Hermione samt Mia und zog sie vor sich auf den Besen, während er im Nacken die Hitze des ersten Feuerstoßes des Teufelhorns spürte. Schreie gellten auf, doch Charlie hatte keine Zeit auch nur einen Blick nach hinten zu verschwenden, wo die Entführer soeben zu Drachenbarbecue wurden, zu sehr war er damit beschäftigt, ob des zusätzlichen Gewichts nicht die Kontrolle über den Besen zu verlieren. Doch dann waren auch schon seine Kollegen zur Stelle und halfen ihm.
 

Es war vorbei. Die Gefahr war vorüber. Hermione und Mia waren in Sicherheit und die Mörder von Viktor und Sofiya hatten ihre gerechte Strafe erfahren. Und alles war gut.
 

FIN



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  BaD_LuCk
2015-04-04T21:10:42+00:00 04.04.2015 23:10
Eine tolle FF von dir, danke.
Es war schön mal eine Geschichte mit Drachen zu lesen und vorallem mit Charlie.
Meiner Meinung nach passt dieses Pairing ganz gut und die kleine Mia ist einfach zuckersüß.
Von:  Stoff
2013-04-11T17:56:20+00:00 11.04.2013 19:56
Oh was für eine wunderschöne Geschichte!!! :)
Die Spannung war zum Greifen nah und sehr gut geschrieben. Ich hab richtig mitfiebern können.
Du hast Hermine gut getroffen, wie ich finde und es war süß wie sie und Charlie mit einander umgegagen sind.
Es würde mich nur interessieren wie du sie hättest weitermachen lassen?
Bleibt Hermine im Reservat bei ihrem Charlie, der Archivierung und ihren Bemühungen die Forschung anzutreiben oder kehrt sie später doch wieder nach Groß Britannien zurück um sich noch mal an der Modernisierung der Gesellschaft zu probieren?
Aber ansich hast du der Geschichte das passende Ende gesetzt.


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