Von Drachen und Zauberern von Nifen ================================================================================ Kapitel 6: VI. -------------- Wochen vergingen, und obgleich eine gewisse Grundwachsamkeit Hermione nie verließ, spürte sie, wie sie langsam ihre innere Ruhe wiederfand und nicht mehr krankhaft häufig den Zwang verspürte, sich nach etwaigen Verfolgern umzublicken. Zumal ihr die Mörder von Viktor und Sofiya wohl eher vor ihr auflauern würden als ihr hinterherzulaufen, um sie schließlich einzuholen und zu ergreifen. Dann aber erhielt ihre Furcht neue Nahrung. Das Archiv hatte mittlerweile Grundzüge angenommen und Hermione konnte sich zunehmend Kisten widmen, die fünfzig Jahre und älter waren. Dabei stieß sie unter anderem auf ein altes Züchtungsprogramm, das wohl erst mit der Machtergreifung des Muggels Ceausescu aufgegeben worden war. Die sozialistischen Einschnitte jener Zeit waren auch an der Zaubergesellschaft nicht spurlos vorüber gegangen. Da Hermione glaubte, dass dieses Züchtungsprogramm sich vielleicht eignete, in einer Wiederaufnahme dem Reservat als Einstieg in die internationale Forschung zu helfen, nahm sie alle entsprechenden Unterlagen mit, um sie Charlie zu zeigen. „Ich versteh nur Bahnhof“, sagte Charlie. „Ich mein, klar, es geht um Drachenzüchtung. Aber diese wirren Ketten kleiner und großer Buchstaben?“ „Ein weiterer Beweis dafür, wie rückständig Zauberbritannien in vielerlei Hinsicht ist“, schnaubte Hermione. „So werden Neuzüchtungen einfach als zu gefährlich verboten, ohne zu erklären, warum es zu gefährlich ist. Dabei ist die Sache mit Mendel und den Erbsen so einfach, dass jeder Muggel das Prinzip kennt.“ Sie griff nach einem Stück Pergament und skizzierte die Grundregeln der Vererbungslehre. Dann wies sie wieder auf die Aufzeichnungen des Züchtungsprogramms. „Was du hier siehst, ist nichts anderes als eine Notation der Eigenschaften, die sich bei den Züchtungen als dominant oder rezessiv herauskristallisiert haben.“ Charlie nahm sich noch mal die Notizen vor. „Also, ich hätte zwar nicht gewusst, wie ich es aufschreiben sollte, aber welche Eigenschaften in einem bestimmten, neugeborenen Drachen auftreten sollen, hätte ich auch benennen können. Faszinierend, es so komprimiert ausgedrückt zu sehen. Aber was ist mit den Zahlen und Runen?“ Er wies auf die Zeichen, die als Indizes die Buchstaben begleiteten. Hermione lächelte, auch wenn in ihren Augen eine leichte Wehmut lag. „Erblehre ist weit mehr als dominante und rezessive Faktoren. Es gibt Chromosomen, Gene, DNS... Nach der Art der Aufzeichnung zu urteilen, hatten sie die Chromosomen-Struktur der Drachen weitestgehend erfasst, waren sich aber bei den magischen Einflüssen nicht sicher. Denn als magische Wesen wird bei Drachen auch die Vererbung von Magie beeinflusst. Sofiya hätte dir das viel genauer erklären können...“ „Klingt, als sollten wir erst einmal sehen, was der heutige Stand dieser Forschung ist“, meinte Charlie, „um dann zu sehen, in welcher Form wir dieses Programm vielleicht wieder aufleben lassen können. Bringt ja schließlich nichts, ein Erinnermich zweimal erfinden zu wollen.“ „Sicher abonniert das Reservat eine Reihe Fachzeitschriften, so dass wir darüber in den zugehörigen Archiven anfragen können“, schlug Hermione enthusiastisch vor, nur um ein trauriges Lachen von Charlie zu ernten. „Hermione, wenn das Reservat Zeitschriften abonniert hätte, meinst du nicht, dass du beim Archivieren nicht auf diverse Ausgaben hättest stoßen müssen? Nein, was an Zeitschriftenabonnements hier existiert, sind die privaten Abonnements der einzelnen Drachenhüter. Ich selbst beziehe ‚Fliegen mit Drachen’, was sechs Mal im Jahr erscheint, aber darin geht es überwiegend um den Einfluss der Habitate auf Drachen, so wie Drachenheilkunde.“ „Selbst wenn die Zeitschrift sich nicht mit Genetik beschäftigt, hat sie vielleicht doch ein paar kurze Berichte als Übersicht veröffentlicht, die uns als Ausgangspunkt dienen können.“ So schnell wollte Hermione nicht aufgeben. „Und bestimmt haben deine Kollegen noch andere Zeitschriften abonniert. Bloß, weil die Verantwortlichen auch hier in ihrer Pflicht dem Reservat gegenüber eher nachlässig waren, heißt das nicht, dass wir keine Möglichkeiten haben.“ Charlie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Dass wir nicht eher daran gedacht haben! Statt jeder für sich seine Zeitschriften zu horten und sie einander nur auf persönliches Anfragen hin zu leihen, hätten wir schon längst alle Zeitschriften, nachdem der jeweilige Besitzer sie ausgelesen hat, in einem gemeinsamen Raum für alle zugänglich machen können!“ „Lass mich raten: Weil es kein allgemeines Archiv gab, kam euch so etwas wie ein Zeitschriftenarchiv nie in den Sinn?“, fragte Hermione lachend und ihre Augen funkelten vergnügt. Es war schon erstaunlich, welche Dinge man bewegen konnte und was man zu Tage förderte, wenn man erst mal anfing aufzuräumen. Was mit dem Archivieren einzelner Kisten begonnen hatte, zog schnell immer weitere Kreise. Für Hermione selbst war es die größte Genugtuung zu sehen, wie das Reservat langsam die behäbige Atmosphäre eines Dornröschenschlafes abstreifte. Dabei waren es weniger die Reservatmitarbeiter, die sich änderten – sie hatten schon immer sehr gute Arbeit geleistet –, es waren mehr die Reaktionen von außen. Dass das Reservat und seine Mitarbeiter nach Jahren der Stille auf einmal Fachartikel zu ausgewählten Themen – nicht nur Erblehre – aus den Archiven anforderten, hatte sich in Windeseile in der Fachwelt herumgesprochen und nicht wenige der angefragten Artikel trafen mit Briefen der Autoren ein, die zusätzliche Erläuterungen und Angebote, Fragen zu beantworten, enthielten. Es schein als ob die internationale Gemeinschaft nur auf ein Zeichen der Bereitschaft zur engeren Zusammenarbeit gewartet hätte. Nicht ganz uneigennützig natürlich, verfügte das rumänische Reservat doch über den größten Drachenbestand, aber dennoch war diese Reaktion beinahe überwältigend. Stumm fragte sich Hermione, ob die Zaubergemeinschaft des Vereinigten Königreichs wohl auf einen ähnlichen Empfang hoffen durfte, wenn sie endlich von der Vergangenheit den Schritt in die Gegenwart und damit heraus aus der selbstgewählten Isolation wagte. Denn die bloße Mitgliedschaft in der Internationalen Zaubervereinigung und die Existenz der Abteilung für internationale Zusammenarbeit reichten nicht, wenn sie nicht auch aktiv gelebt wurden. Aber abgesehen von internationalem Quidditch begnügte man sich in England in Punkto internationaler Zusammenarbeit meist mit bürokratischem Unsinn wie Importverboten für fliegende Teppiche. Dinge, wie das trimagische Turnier stellten Ausnahmen dar, und auch wenn nach den Ereignissen des letzten Turniers an eine Neuauflage nicht zu denken war, hatte niemand in Großbritannien den Versuch unternommen, die friedlichen Aspekte wie etwa den Julball vom Turnier getrennt zu veranstalten und so die internationalen Beziehungen zu festigen. Von all den anderen Dingen und Möglichkeiten, die man hier ungenutzt ließ, ganz zu schweigen. Doch die vielen Artikel, die eintrafen, ließen Hermione kaum Zeit für Gedanken an England, auch wenn sei nur jene Artikel, die sich mit Genetik und Erblehre befassten, las. Sie war immer wieder froh darüber, dass Sofiya ihr so bereitwillig Einblick in die Grundlagen ihrer Forschungen gewährt und geduldig die unzähligen Fragen Hermiones beantwortet hatte. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie mühsam das Verständnis der Artikel erst gewesen wäre, wenn sei nicht schon ein Grundverständnis der Notation gehabt hätte. So aber konnte sie es meist kaum abwarten, mit Charlie abends über das zu diskutieren, was sie den Tag über – meist während Mias Mittagsschlaf, wo sie still las, um das Kind nicht durch Kistengepolter zu wecken – neues erfahren hatte. Als sie an jenem Tag Mia zum Schlafen hinlegen wollte, entdeckte Hermione, dass das Kind offenbar bei einer Krabbeltour durch das Archiv mit dem goldenen Armband, das Sofiya ihrer Tochter im letzten Teil der Taufzeremonie um das kleine Handgelenk gelegt hatte, irgendwo hängen geblieben war, denn es schien beschädigt zu sein. Als sie das Armband näher untersuchte, staunte sie nicht schlecht, als sie feststellte, dass das Schmuckstück gar nicht wirklich beschädigt war, Mia es nur irgendwie geschafft hatte, eines der zylinderförmigen Glieder des Armbandes zu öffnen. Der Zylinder war hohl, doch offenbar hatte jemand einen kleinen Zettel hineingesteckt. Zuerst vermutete Hermione, dass der Goldschmied dies als Herkunftsnachweis für Gold und Schmuck in dem Zylinder hinterlegt hatte, aber als sie das gerollte Papier herauszog und sah, wie dick die kleine Rolle war, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Als sie dann aber sah, was auf dem Papier stand, schnappte sie erschrocken nach Luft. Es waren Erblehrezeichen, komplexer als alles, was Hermione bis dato gesehen hatte. Dennoch begann ihr Verstand, geprägt von der jüngsten Lektüre, die Zeichen zu analysieren, beginnend bei den einfachen Buchstaben und von dort aus die nächstkompliziertere Ebene und so weiter, bis sie schließlich feststellen musste, dass der Text abrupt abbrach. Zunächst irritiert, erkannte Hermione gleich darauf, warum der Text nicht weiterging: Das aufgerollte Papier hätte sonst schlicht nicht mehr in den Zylinder gepasst! Doch das Armband hatte noch zwei weitere Zylinderglieder. Hermione war sich sicher, dass Sofiya den Rest des Textes darin versteckt hatte. Mia quengelte bereits müde, doch das hielt Hermione nicht davon ab, auch noch die beiden anderen Zylinder zu leeren, ehe sie Mia endlich zum Schlafen zudeckte. Sie bekam kaum mit, wie das Kind friedlich die Augen schloss, zu sehr war sie von dem gefesselt, was sich da in Sofiyas klarer, charakteristischer Schrift offenbarte. Doch in dem Maße, wie Hermione die Bedeutung der Zeichen verstand, wuchs die Furcht in ihr. Wenn sie den Text richtig entzifferte, dann... Das war ungeheuerlich! Und plötzlich gaben Sofiyas Worte während der Taufzeremonie einen ganz neuen Sinn: „Möge dir und denen, die dir folgen, die Weisheit gegeben sein, mit dem Wissen eurer Vorväter verantwortungsbewusst umzugehen.“ Sofiya hatte ihrer Tochter nichts geringeres als den genetischen Schlüssel zur Magiebefähigung eines Menschen vermacht. Jene Formel, nach der die Mörder gesucht hatten und für die Sofiya in den Tod gegangen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)