Fake for your life! von Mounira ================================================================================ Kapitel 16: { 16. | Unverhofft kommt oft } ------------------------------------------ Der Stuhl blieb schon wieder leer. Zwar stand das Mittagessen noch nicht auf dem Tisch, aber da Arthur normalerweise immer überpünktlich war, war Alfred klar, auch die kommende Mahlzeit ohne seinen Tischnachbarn einnehmen zu müssen. Das konnte doch irgendwie kein gutes Zeichen sein, oder? Nein, definitiv nicht... Langsam trat Alfred weiter in den Aufenthaltsraum hinein und ließ den Blick vom Fenstertisch aus zu Lili hinüber wandern. Wie so oft in den vergangenen Tagen saß sie auf dem Sofa, das filigrane Gesicht auf ihre Näharbeit konzentriert. Die Tätigkeit puderte ihre ohnehin schon zierlichen Züge mit einer besänftigenden Milde ab. Doch ihr Körper schien sich nicht sonderlich gut mit der Couch arrangieren zu können. So als sei trotz der bequemen Polsterung irgendwo eine Erbse in den Kissen verborgen, die Lili aufgrund ihres niedrigen Körperfettanteils schmerzlich spürte. Auch jetzt rutschte sie auf der Suche nach einer halbwegs bequemen Sitzhaltung wieder leicht und sah dabei kurz auf, genau in Alfreds Richtung. Ihre unscheinbare Stupsnase kräuselte sich, als sie ihm ein scheues Lächeln zuwarf, eher einem zaghaften Nicken gleich. Aber sie lächelte immerhin – und das war schon mehr Herzlichkeit, als er von vielen anderen Patienten kannte. Ganz von alleine faltete sich sein Lächeln auseinander wie eine zusammen geknüllte Papiertüte. Ein ungeahnter Anflug von Spontaneität wirbelte besagte Tüte zum Sofa hinüber. Alfred sank neben Lili auf die Couch, einen höflichen Abstand einhaltend und einen Blick auf das strahlendweiße Taschentuch werfend. Sie war dabei, das Motiv in einer der Ecken auszuarbeiten: Eine angedeutete Waldlandschaft, durch die ein treuer Terrier flitzte. Das Tier war in schlichter Schönheit genauestens zu erkennen und trug ein rot leuchtendes Halstuch. „Hey, das sieht echt super aus!“ Nicht, dass Alfred großartig etwas für Taschentücher übrig hatte, aber ihn faszinierte Lilis Können. Sie hatte das Motiv zweifelsohne selbst entworfen und obwohl sie die Nähutensilien nur zu bestimmten Zeiten ausgehändigt bekam – und das Personal ein jedes Mal genauestens kontrollierte, was sie damit tat und ob sie auch jede Nadel und jede Schere zurückgab –, konnte sie noch nicht all zu lang an dem Taschentuch arbeiten. Deutlich rot werdend, erwiderte Lili etwas. Ihr Mund bewegte sich, das Danke war jedoch so leise, dass Alfred es gedanklich ergänzen musste. „Es-es ist aber noch gar nicht ganz fertig...“, genierte sie sich und betrachtete den Stoff, so als scanne sie ihn nach Mankos ab. Als würde ihr jeden Moment die Naht ins Auge springen, die ihr ein erbarmungsloses Du hast es schon wieder versaut! entgegen schrie. Plötzlich wirkte sie traurig und Alfred erschreckte es, wie deutlich der Emotionswechsel über ihr Gesicht hinweg flutete. „Dann mach es doch fertig?! Sieht dann sicher noch besser aus!“ „Meinst du?“ Überrascht starrte Lili ihn an, das Taschentuch gänzlich vergessend. Ihre Lippen, die Alfred so papierrissig in Erinnerung hatte, sahen glatter aus. Weniger spröde, mehr rosig. Auch ihre eingefallenen Wangen lagen nicht mehr so tief. „Na klar!“, bestätigte er ihr übermütig, nicht den geringsten Zweifel hegend. „Ist das eigentlich ’n besonderer Hund?“ Lilis Blick folgte zu dem pfiffigen Vierbeiner. „Unsere Nachbarn haben so einen. Der heißt Oskar. Früher bin ich manchmal mit ihm Gassi gegangen, aber dann...durfte ich nicht mehr.“ Sorgfältig legte Lili das Taschentuch zusammen und begann, das Nähkästchen besten Gewissens einzuräumen. Mehr als würde sie die Erinnerung akkurat verstauen, um sich nicht die Seele blutig zu stechen. „Oh, wieso denn nich’?“ Die Nadeln stießen ein verschworenes Klicken aus. „Ich hab’s nicht mehr geschafft...“ „Hattet ihr zu viel zu tun in eurem Laden?“ Alfred war Lilis Tagebucheintrag im Gedächtnis geblieben, allerdings schüttelte die Blondine rasch den Kopf. Die Hände legte sie brav in den Schoß. Ihre Füße, eingepackt in zwei Paar Socken, steckten in Hausballerinas. Trotz all der Stoffschichten war das Wackeln ihrer Zehen deutlich erkennbar. Sie war wie Feliciano: sie saß nicht still. Aber bei ihr musste man ganz genau hinschauen, damit es einem auffiel. Alles an ihr war so heimlich, als fände es im Verborgenen statt. Im Schatten. Im Hintergrund. Lili könnte sich kinderleicht in diesem Übergang zwischen Hell und Dunkel verstecken und niemandem würde es zunächst auffallen. „Nein, zu dem Zeitpunkt nicht. Ich hab’s nur einfach nicht mehr geschafft...“ Ihre Mundwinkel hatten etwas Herbsüßes an sich, als sie ihre schmalen Lippen anspannten. „Also Spazierengehen, das hab ich nicht mehr geschafft. Ich bin häufig einfach umgekippt, bevor sie mich hier her gebracht haben.“ Gegen einen drückenden Kloß anschluckend, wurde Alfred klar, dass das Mädchen neben ihm einfach zu schwach gewesen war, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihr Körper hatte in Anbetracht des Energiemangels schlicht und ergreifend gestreikt. „Bist du so richtig ohnmächtig geworden?“, wisperte er ehrfürchtig und ließ den Blick schweifen, obwohl sie nach wie vor alleine im Raum waren. Neben ihm rutschte Lili erneut auf dem Polster. Ihre spitzen Schultern bildeten den Rahmen ihrer Erscheinung und trugen ihre Bluse wie ein Kleiderbügel. Die Beine anziehend, kauerte sie sich gegen die Rückenlehne und wandte sich Alfred zu. Jener drehte sich ebenfalls um etwa 45 Grad und stützte den linken Ellbogen auf die Rückenlehne. Das Kinn legte er auf den Unterarm. Sein Kopf war bleischwer. Prall gefüllt mit der rückblickend doch sehr anstrengenden Therapiestunde und dem aktuellen Gesprächsthema. „Ja, aber zum Glück hat Oskar so laut gebellt, dass jemand gekommen ist. Wir waren schon auf dem Feldweg. Er ist wirklich ein prima Kerlchen und hat gut auf mich aufgepasst... Ich hab ihm versprochen, dass wenn ich wieder Zuhause bin, wir den Spaziergang nachholen.“ „Find ich gut! Das heißt ja, du willst wieder mehr essen, ne!?“ Lilis Miene stürzte entsetzt zusammen. So schweigsam und still sie an und für sich auch war, wenn man sich näher mit ihr beschäftigte, wenn man sie zum Reden brachte, dann war sie enorm aufrichtig und zugänglich. In ihrer Krankenakte mochte die gleiche Diagnose geschrieben stehen wie bei Arthur oder Feliciano, aber alle drei handhabten ihr Gefühlsleben vollkommen anders. Lili verschrieb sich für üblich der Stille, Feliciano tratschte über seine Sorgen munter hinweg und Arthur überspielte sie kalkuliert. Aber all diese Wege hatten letzten Endes ins Nichts geführt. „Ich möchte schon mehr essen, ja...es-es ist nur einfach so schwer, Alfred. Ich esse aber trotzdem, weil..sonst wird es ja nicht besser. Du musst ja auch aufhören mit dem vielen Essen und Erbrechen, damit’s dir besser geht, nicht wahr?“ Ihr scheues Auflachen berührte ihn, irgendwo zwischen Herz und Seele. „Ähm ja...ichmussirgendwieWegefinden“, nuschelte er und wiederholte im Grunde, was ihm seine Therapeutin vorhin zu verstehen gegeben hatte. Es war immer noch absurd: wie konnte er so groß sein und Lili so klein, und wie konnte er so viel mehr Probleme mit diesen ehrlichen Worten und Gefühlen haben als sie? Wieso war dieses ‚über Dinge sprechen’ so schwierig für Alfred? Lag es daran, dass weder seine Mutter noch sein Vater je viel über die eigentlichen Probleme sprach? Und dass ihm keiner von beiden beigebracht hatte, wie das ging? Dass sie ihm fortwährend versicherten, alles sei in bester Ordnung und er müsse sich keinen Kopf machen? Oder lag es gar nicht an seinem Elternhaus und seiner Erziehung, sondern schlicht an seinem Charakter? „Das wird schon. Du hast doch auch deine Einzeltherapie bei Frau Brooke? Ich find sie sehr nett und sie hilft mir auch wirklich gut. Oder hast du, seit du hier bist, noch mal...?“ „Ne...!“ Dafür hielten sie ihn ja essenstechnisch an einer zu kurzen Leine. Alfred wusste nicht, wie er das sagen sollte und bevorzugte es deswegen, seine Nasenspitze in seinem Ärmel zu vergraben. Sein Gesicht schien sich schamhaft aufzuwärmen. Lili fiel es entweder nicht auf oder sie sah gütig darüber hinweg. „Das freut mich!“ Ihr Augenmerk sprang von ihm herunter und huschte zum Fenstertisch hinüber. Es schien ihr jedoch nicht bewusst, denn als Alfred wieder zu sprechen begann, zuckte sie zusammen. „Ich glaub, Arthur kommt wieder nich’ zum Essen.“ „N-Nein, ihm scheint’s nicht besonders gut zu gehen... Möchtest du dich denn dann vielleicht zu Feli und mir setzen?“ Die letzte Silbe wurde vom hereinrollenden Essenswagen überfahren. Alfred sah zwischen Lili und Schwester Nancy hin und her. Ihm war deutlich leichter zumute, als ihm so recht bewusst wurde, soeben von seiner Mitpatienten an den Tisch eingeladen worden zu sein. Natürlich, der Tisch gehörte weder ihr noch Feliciano, aber trotzdem war sich Alfred bislang immer so furchtbar unwillkommen vorgekommen. Womöglich da jeder Patient auf seine Weise in seinem eigenen Loch hockte und eher allergisch auf Neulinge reagierte. Vor allem, wenn diese Neulinge so taten, als seien sie grundlos hier. Wenn Alfred in der Beziehung einen besseren Start hingelegt hätte, dann hätte er eventuell mehr Kontakte geknüpft... Ändern konnte er das nun nicht mehr. Fürs erste freute Alfred sich aber über Lilis Vorschlag und schenkte ihr ein dankbares Lächeln, bei dem er von der Couch aufstand und ihr mit einem gespielt vornehmen „Darf ich bitten?“ eine Hand hinhielt, um sie zum Tisch zu geleiten. {  +  +  +  +  +  } Es war immer noch unangenehm, derjenige zu sein, der selbst bei gedrosseltem Esstempo als Erster fertig war. Alfred hatte sich mit seinen Vollkornnudeln, der Gemüse-Minigarnelen-Soße und dem Salat arrangiert. Die Meeresfrüchte waren ihm zunächst nicht geheuer gewesen, hatten den Geschmackstest allerdings bestanden und nun saß er wieder hier, vor dem leeren Teller, und ließ seine halbe Stunde verstreichen. Lili arbeitete mit unverdrossenem Durchhaltevermögen an ihrer Nachspeise. Der Eifer stand ihr gut. Bei ihr hatte sich eindeutig etwas verändert, seit Alfred zuletzt neben ihr eine Mahlzeit eingenommen hatte. Obwohl jeder Bissen für sie eine Herausforderung darstellte, hielten ihre Finger den Dessertlöffel wacker fest und ließen ihn nicht eher los, bis das ganze Vanillemousse verputzt war. Alfred wünschte, Feliciano würde auch nur ansatzweise diesen Kampfgeist an den Tag legen. Doch wie so häufig schien der Italiener stumpf durch sein Essen hindurch zu sehen. Um Zeit zu schinden, hatte er die Soße von den Nudeln gestrichen, welche jetzt nackt und langgezogen auf dem Soßenbett ruhten. Alfred konnte sich sogar vorstellen, wie dieser Teller aussehen würde, wenn Arthur jetzt hier wäre. Alles wäre bausteinartig auseinander klamüsert worden, da es nicht zusammen zu passen schien. Als sei es nicht essbar. Als sei es unverdaubar. Als sei es nicht für den menschlichen Körper geeignet. Wie lange wollten Feli und Arthur noch so weitermachen? Alfred tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Gabel, die blank auf seinem Tablett lag. Mittlerweile hatte sich die Lage im Speisesaal so weit zugespitzt, dass nur noch auf Felis Teller Essen übrig war. Alle anderen waren fertig und warteten, Natalia und Anya unterhielten sich im Flüsterton über etwas, das Alfred nicht hören konnte. Tino hatte sich weit in seinem Stuhl zurückgelehnt und schien in seinem naturfarbenen Pullover mit dem dunkelblauen Ankerprint untergegangen. Im Vergleich zu sonst war er nicht mal entfernt daran interessiert, sich in irgendeiner Form ins Tischgespräch einzuklinken. Zwangsläufig musste Alfred an den voll gekotzten Kissenbezug denken. Ob Tino auch jetzt wieder so enorme Probleme damit hatte, sein Essen unten zu behalten? Aus der Ferne betrachtet, wenn die Zeit verstrich, wirkte Tino eigentlich nur blass und gutmütig. Sogar während der heutigen Sportstunde hatte er meistens verschüchtert den Mund gehalten; womöglich weil er nicht noch mal von Mathias zusammen gestaucht werden wollte. Oder weil er es gar nicht so gemeint hatte, als er Alfred neulich angegangen war... Alfred blinzelte verdutzt, als Schwester Nancy unerwartet einen flachen, weißen Gegenstand vor ihn auf den Tisch legte. Zu ihr aufguckend wurde ihm bewusst, dass soeben die Post ausgeteilt wurde. Die Schwester hatte ihr berüchtigtes, aufmunterndes Schmunzeln ausgepackt und hielt für ein paar gedehnte Sekunden Blickkontakt mit ihm, ehe sie sich dem nächsten Brief zwischen ihren Fingern widmete. Trotzdem, irgendwie konnte das hier doch nicht mit rechten Dingen zugehen, oder? Alfreds Sichtfeld stürzte auf das Postgut hinab. Es war ein Brief. Ein Brief für ihn! Wie konnte das sein? Alfred vergaß glatt zu atmen, seine Hand ruhte bewegungsunfähig auf der Gabel. An ihm nagte die scheußliche Befürchtung, der Brief würde wie eine Illusion zerstäuben, sobald er ihn berührte. Und dann wäre alles wie immer: er wäre wieder alleine. Denn wer sollte ihm schon schreiben? Die Frage ließ ihn tief im Inneren zu frieren beginnen. Die Handschrift, die die Klinikadresse und seinen Namen so kryptisch auf dem stinknormalen Umschlag verewigt hatte, kam ihm in keiner Weise bekannt vor. Die Buchstaben hatten einen eigenartigen Charakter, schienen pixelig und sich auf schwer zu beschreibende Art selbst zu verschlingen. Ganz so als stürzten sie ineinander ein. Das war weder die Handschrift seiner Mutter noch die seines Vaters. Aber wer schrieb ihm bitte sonst? Es wusste doch eigentlich niemand, dass er hier war, außer-! Hastig grabschte er sich den Brief und drehte ihn herum, doch ein Absender fehlte. Das Papier ratschte laut, als Alfred den Umschlag ungestüm aufriss und gleich darauf ein gefaltetes DinA4 Blatt entdeckte. Kariert. Mit blauer, dünner Tinte beschrieben. Die Buchstaben waren so schwer zu entziffern wie auch auf dem Umschlag. Hey dude! :-) It’s Tony, bitch! Jo, ich bin’s wirklich. Gib’s zu: damit hast du null gerechnet! Sorry, ich würd hier ja irgendwas total Cooles schreiben, aber es ist 3h nachts und ich bin immer noch voll geplättet von dem, was du mir da gestern (naja, eher vorgestern) erzählt hast! Echt jetzt! Hab da heute den ganzen scheiß Tag lang drüber nachdenken müssen. Ich hab dir auch online noch voll den Roman getextet, nachdem du mir geschrieben hast, dass du in die Klinik musst und dann so schnell off gegangen bist. Aber dann ist mir heute so eingefallen: ich könnt dir ja auch ’nen Brief schreiben! Auf der HP der Klinik steht zumindest ’ne Adresse. Werd ja sehen, ob der Brief zurück kommt oder nicht. Wie geht’s dir denn so? Schmorst da ja jetzt schon ein paar Tage. Inet hast du keins (sonst wärst du doch on gekommen, denk ich mal?!). Das suckt sicher gewaltig. Ich versteh eigentlich immer noch nicht ganz genau, was bei dir los ist? Du hast mir ja eigentlich nur gesagt, dass du zugenommen hast und deine Mom dich beim Kotzen erwischt hat. Machst du das eigentlich schon sehr lange? Ich hab erst mal recherchiert, weil ich mal so überhaupt keinen Plan von Essstörungen hab, geb ich ja zu. Ich leb ja eh nur von Nudelsnacks und Tiefkühlpizza und so ’nem Scheiß. Aber für mich ist Essen irgendwie keine große Sache. Ich ess einfach und denk da gar nicht drüber nach. Bei dir ist das wohl nicht so einfach? Jedenfalls ist das was ich so gelesen/gefunden hab voll derb! Also ich versteh jetzt, dass Bulimie ’ne Suchterkrankung ist (was mir nie so bewusst war! Obwohl’s ja eigentlich logisch ist. Heißt ja nicht umsonst Ess-Brech-Sucht. Bin halt voll die Leuchte, ne?) und dass Leute Normalgewicht oder Untergewicht oder Übergewicht haben können, wenn sie Bulimie haben. Und dass sie auch Abführmittel oder Hormonpillen schlucken oder jede Menge Sport treiben. Machst du das alles auch? Sorry, ich hoffe mein Gelaber kommt nicht irgendwie falsch bei dir rüber. Ich check’s nur einfach nicht wirklich :-( Was machst du genau und warum? Falls ich irgendwann mal was Doofes gesagt hab und du deswegen dachtest, du könntest mir nix erzählen, dann tut mir das total leid! Das war dann keine Absicht, ok? Wie gesagt, ich denk einfach nicht viel über Essen nach... Tut mir übrigens auch leid, dass du meine Sauklaue ertragen musst. Ich schreib ja sonst nur am PC (außer in der Schule). Ich hab die Adresse von meinem Postfach auf die Rückseite von dem Blatt hier geschrieben (ganz super sorgfältig. Ich schwör’s!). Also wenn du Bock hast, schreib zurück. Schreib mir auf jeden Fall zurück!! Ok? Ich verlass mich auf dich und wünsch dir gute Besserung, damit du schnell wieder nach Hause kannst! :-) Liebe Grüße Tony Alfreds blaue Augen entspannten sich, indessen sein Puls konstant heftig aufmuckte. Sauklaue war noch eine sehr nette Bezeichnung für Tonys Handschrift; sie glich schon fast einem Code, verfasst in Lettern, die nicht von dieser Welt waren und dem menschlichen Auge dementsprechende Scherereien bereiteten. Davon abgesehen, war Alfred allerdings sprachlos. In seinem Gedächtnis wallte die Erinnerung an das unglückliche, kurze Chatgespräch auf, was er am Abend vor seiner Fahrt in die Klinik notgedrungen mit Tony geführt hatte. Sie beide kannten sich über youtube, weil Alfred einer der ersten Abonnenten von Tonys doch recht bizarrem Kanal gewesen war. Seither chatteten sie ab und zu abends miteinander, wobei sich die Themen in erster Linie auf Videospiele, andere youtube-Videos und Filmneuheiten beschränkten. Alfred hatte nicht gewusst, wie er diesem Jungen, den er noch nie zu Gesicht bekommen hatte und der durch und durch paranoid wirkte, den anstehenden Aufenthalt in der Klinik und die Essstörung beichten sollte. Am liebsten hätte er es gar nicht getan. Weil er aber nicht hatte abschätzen können, wie lange er sein Dasein an diesem tristen Ort fristen musste, hatte er Tony zähneknirschend mitgeteilt, auf unbestimmte Zeit nicht online sein zu können. Dass man ihm in der Klinik Internet zur Verfügung stellte, hatte er schon vor seiner Anreise arg bezweifelt. Aber dass sie ihm auch so vieles Andere verbieten würden, hatte ihn dann bei seiner Ankunft wirklich geschockt. Was die letzte Unterhaltung mit Tony betraf, hatte Alfred nur zögerlich ein Bröckchen Wahrheit nach dem anderen preisgegeben. Oft hatte er einfach nur auf den Bildschirm gestarrt, sich in Schweigen gehüllt und Tony unnötig lang auf Antworten warten lassen. Alle Worte waren letztlich karg und abstreitend ausgefallen, da Alfred sich unbeschreiblich geschämt hatte. Tony kannte ihn kaum und würde ihn doch, genau wie seine ehemaligen Teamkollegen, für vollkommen gestört halten, sobald er die Wahrheit erfuhr. Das waren die beißenden Hintergedanken von Alfred gewesen. Er hatte befürchtet, selbst einen Freak wie Tony zu vergraulen. Deswegen war er Hals über Kopf off gegangen, nachdem er die Wahrheit angeschnitten hatte. Aber hätte er Tony sein Off-Sein verschwiegen, hätte jener sich womöglich große Sorgen gemacht. Und das wär nicht fair gewesen... Unter diesen Aspekten betrachtet, war Tonys Nichtverstehen wenig überraschend. Aber was Alfred überraschte, war, dass ihm dieser Junge einen Brief geschrieben hatte. Und dass sich dieser Junge wegen ihm das Hirn zermartert hatte. Dass er hingegangen war und sich über Essstörungen informiert hatte und dass er Alfred darum bat, ihm alles zu erklären. Das war so viel mehr, als Alfred sich je hätte träumen lassen... Wieso schaffte es jemand, den Alfred kaum kannte, all diese Dinge zu tun, während die Menschen in seinem sozialen Umfeld in dieser Hinsicht auf ganzer Linie versagt hatten? Gerührt nahm Alfred die Adresse des Postfachs in Augenschein. Tatsächlich schien sich Tony hier überaus viel Mühe beim Schreiben gegeben zu haben und da der Bundesstaat New Mexico nicht gerade um die Ecke lag, bestand auch nicht die Möglichkeit, dass Tony mal eben auf einen Plausch vorbei kam. Musste er auch nicht. Alfred war schon glücklich über die paar Zeilen. Er würde zurückschreiben, heute noch! Anscheinend wollte Tony ja nach wie vor mit ihm befreundet sein – obwohl er die hässliche Wahrheit kannte. Die Tatsache ließ Alfred sorgsam den Brief zurück in den Umschlag schieben, doch noch während er dabei war, wallte plötzlich eine Stimme vom Flur aus auf. Dort haderte ein Pfleger mit einer faden Erscheinung von Frau, deren unförmige Jacke schief geknöpft war und eine Nummer zu groß für ihre ausgemergelte Gestalt ausfiel. Das platinblonde Haar war praktisch, aber unattraktiv kurz geschnitten und bürdete ihr etliche Jahre mehr auf als sie vertragen konnte. „..natürlich dürfen Sie zu ihrem Sohn! Aber es ist gerade noch Mittagszeit und-!“ „Na das ist doch nicht weiter schlimm!“ Achtlos schlängelte sie sich an Josh vorbei und stand gleich darauf mitten im Speisesaal, zwischen den Tischen, an denen noch alle Patienten saßen und sie mit perplexer Neugier musterten. „Tino!“ Sämtliche Blicke folgten ihr, als sie auf den Angesprochen zusteuerte. Jener schien in höchstem Maße entsetzt und sprang sogleich von seinem Stuhl auf, ihn deutlich zwischen sich und der aufgeregten Frau postierend. „Mama! Was-was machst du denn jetzt hier?!“ Als erwarte er, dass sich eine Falltüre unter ihm auftat und ihn aus der Situation befreite, sah Tino einmal prüfend auf den Boden hinab, bevor er zurück zu seiner Mutter schaute. Diese breitete die Arme aus. „Was wohl?! Dich besuchen natürlich!“ Sie kicherte, als sei es witzig. Aber ihre alten, abgelatschten Lederschuhen schienen über keine feste Bodenhaftung zu verfügen. Alles an ihr machte einen unpassenden Eindruck, wie Alfred fand. Die Frisur, die triste Kleidung, das leicht runde Gesicht, in dem Augen lagen, die Tinos Augen verdächtig ähnelten, bloß dass sie von leidvollen Altersfältchen zusammen gestaucht wurden. Tinos Brustkorb blähte sich unnatürlich weit auf, so dermaßen tief holte er Luft. „Besuchen?!“ Er klang halb wütend, halb bestürzt. Letzteres dominierte eindeutig. „Der Besuchstag war gestern. Das weißt du doch...“ „Was?“ Sie schien nicht zu verstehen, sondern hielt nach wie vor die Arme für ihn offen, wenngleich die Geste allmählich der Irritation wich. „Gestern war Sonntag.“ „Gestern? Nicht heute?“ Hinter ihrer Stirn schien es zu arbeiten. Tino für seinen Teil zog den Kopf zwischen die Schultern und war die personifizierte Enttäuschung. Also war seine Mutter gestern auch nicht hier gewesen, sondern hatte sich prompt im Wochentag vertan! Aber das war nicht alles, wie die scheinbar sorglose Art der Frau bewies. „Ach, Sonntag, Montag, was soll’s! Ich bin ja jetzt hier!“ Lachend machte sie abermals einen Schritt auf ihren Sohn zu, der den Stuhl los ließ. „Gott, du musst doch heute arbeiten, Mama...“ „Das kann ich doch morgen auch noch machen!“ Im Gegensatz zu ihr klang Tino durchweg vernünftig und pflichtbewusst. Etwas in ihm wollte sogleich zu ihr hinüber eilen, aber etwas Anderes schien es zu vereiteln. Ließ ihn den Rückzug statt den Angriff antreten. So als könne er sie gar nicht attackieren. Jede Silbe klang wie eine Entschuldigung. So als schäme er sich dafür, ihr die Realität unnötig nahe bringen zu müssen. „Aber du verlierst doch deinen Job, wenn du da einfach nicht hingehst...“ Die Worte waren von solch bedrückendem Kummer, dass sie drauf und dran waren Löcher in den grau melierten Fußboden zu sprengen. Tinos Mutter schien für einen kurzen Moment aus der Fassung gebracht, bevor sie lapidar abwinkte und beinahe das Gleichgewicht verlor. Im letzten Moment krallte sie sich an dem massiven Holzstuhl fest, der wiederum krachend aufjaulte, als ihr Knie ihn halb herumschleuderte. „Ups!“, fiel ihr amüsierter Kommentar dazu aus. Tino wurde immer weißer um die Nase. „Mama, bitte...“, trat er nun doch dicht genug an sie heran, um ihr die Hand auf den Unterarm zu legen. Die Geste ließ sie zufrieden strahlen. „Frau Väinämöinen, Sie sollten jetzt wirklich besser gehen. Der nächste Besuchstag ist kommenden Sonntag. Sie wissen doch, dass wir nur in absoluten Ausnahmefällen Besuche zwischendurch erlauben. Kommen Sie einfach am Sonntag wieder, ja?“ Besänftigend mischte sich nun auch Schwester Nancy in das Gespräch ein. „Gehen? Jetzt? Aber-aber..ich bin doch gerade erst gekommen! Ich könnte Tino doch mitnehmen bis Sonntag. Und dann bring ich ihn wieder zurück!?“ „Mama...“, mahnte Tino unautoritär. Seine Mutter zeigte sich allerdings anhaltend bestürzt. „Willst du etwa nich’ mehr zurück nach Hause kommen, Tino? Ich bin immer traurig, wenn ich abends nach Hause komme und niemand da ist...“ „Doch, ich will nach Hause, aber..wir hatten doch eine Abmachung...“ Tinos Verzweiflung ließ ihn die Sprache wechseln. Alfred verstand kein einziges Wort von dem, was Tino da in erstaunlicher Geschwindigkeit von sich gab. Aber es klang nach einer begrabenen Hoffnung. Zumal Frau Väinämöinen sich nervös durch die gerupften Haare strich und wie ein unbeholfenes Schulmädchen lächelte. Sie war wenig aufnahmefähig, dafür aber extrem verstört. Obendrein verlor sie ihren Willen, sich durchzusetzen. Alfred hatte ein solches Verhalten schon unzählige Male miterlebt. Nicht bei Tinos Mutter, sondern bei seiner eigenen. Auch sie zerbrach binnen kürzester Zeit in emotionale Splitter, anstatt einem Streit oder einer Diskussion die Stirn bieten zu können. Nur dass Frau Väinämöinen nicht mit einer deutlich stärkeren Partei konfrontiert war. Tino redete weder besonders laut noch schwang etwas Aggressives in seiner Stimme mit. Stattdessen schien er insgeheim noch immer nach der Falltüre zu suchen, die ihn von der Bühne und aus dem schlechten Drama zu erretten vermochte. Schwester Nancy bewerkstelligte es indes geschickt, sich bei Tinos Mutter unterzuhaken und diese dann, nachdem das Gespräch zwischen ihr und Tino in trostloser Stille ertrunken war, aus dem Raum zu dirigieren. Zum Abschied warf Frau Väinämöinen ihrem Sohn noch einen verdatterten Blick über die Schulter zu, der Tino wie Pfeffer in den Augen brannte. Ihm war es nicht nur peinlich, dass seine Mutter überhaupt hier aufgetaucht war. Es war vor allem der Zustand, in dem sie sich befand, der ihm Unbehaglichkeit bereitete. Alfred tippte darauf, dass die Frau ziemlich angetrunken war. Auf was für eine Abmachung Tino auch immer angespielt hatte, wusste Alfred zwar nicht, aber sie schien ihm unantastbar wichtig. Mit leicht zitternden Fingern griff er nach dem Stuhl und schob ihn ordnungsgemäß an den Tisch zurück, um sich wieder hinauf zu setzen. Im Speisesaal lagerte das betretene Schweigen in dicken, unsichtbaren Schwaden und unterstrich den Kontrast zwischen Tinos schwarzen, langen Wimpern und seinen bleichen Wangen zusätzlich. Als Tino das Kinn hob, schien es ihm ein unermessliches Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Die Zähne bekam er dennoch nicht auseinander und auch die übrigen Patienten blieben still. Alfred wunderte sich zwangsläufig, ob Tinos Mutter etwa schon häufiger solche Auftritte hingelegt hatte? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)