Himmelsdrachen von Maliondarin ================================================================================ Kapitel 6: Green Emerald ------------------------ Schon am nächsten Tag war Arne wieder der Selbe. Seine schlechte Laune sprang schneller über, als sich Loraine in Sicherheit bringen konnte. Der funkelnde Blick und die versteinerte Miene ließ dem Mädchen das Blut in den Adern gefrieren. Was war nun schon wieder vorgefallen, dass er so schlechte Laune hatte? Natürlich gab es keine Begrüßung und ein Gespräch schon gar nicht. Schweigend blieb die Schülerin die gesamte Fahrt über sitzen und starrte in die Ferne. Als ihre blonde Freundin nicht vor der Schule auf sie wartete und auch nicht im Klassenzimmer anzutreffen war, wurde Loraine schnell klar, dass Miriam heute nicht in der Schule auftauchen würde. Es war zu vermuten, dass sie schwänzte, um ein wenig Ruhe zu bekommen. Immerhin reagierte sie auch nicht auf SMS und Anrufe. Loraine sah ihren Tag immer mehr und mehr vor sich zerbröseln. Als es dann auch noch anfing wie aus Eimern zu regnen, verschlechterte sich ihre Laune unter die Schmerzgrenze. Wo waren Freunde, wenn man sie brauchte? Weit entfernt oder entkräftet daheim. Gab es an dieser Schule niemanden, auf den sie sich verlassen konnte? Gerade an einem Tag, an dem der Himmel schwarz war, die Laune ebenso düster und die Schule so langweilig wie selten zuvor? Wenn man dann noch daran dachte, dass am Nachmittag eine Pflichtveranstaltung über AGs stattfand, konnte der Tag genauso gut direkt vergessen werden. Natürlich war es so trocken und selbst die Vorstellungen der einzelnen Arbeitsgruppen konnte die Versammlung nicht aufheitern. Loraine saß in der hintersten Reihe – ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Denn am Ende der Zusammenkunft, musste man sich in eine Liste eintragen. Entweder wählte man eine der Gruppen, die sich eben vorgestellt hatten oder versuchte, selbst etwas zum Leben zu erwecken. Dafür hätte man allerdings vorher einen Antrag einreichen müssen, als bestand auch keine Chance, so etwas wie eine modisch bewusste Gruppe zu gründen. Loraine war fast die Letzte, die die erlösenden Zettel erreichte. Sie haderte mit sich, entschloss sich dann aber doch für Ausdruckstanz. Es war nicht ihre Stärke, aber bei Weitem besser als alles andere. Mit hängenden Schultern und völlig am Ende, verließ die Schülerin als Letzte die Aula und schlurfte durch den prasselnden Regen in Richtung Bushaltestelle. Ihr Schirm war ihr rettender Gegenstand. Ohne ihn wäre sie bereits durchgeweicht und würde morgen mit einer Grippe im Bett liegen. Das Trommeln der einzelnen Tropfen war lautstark auf dem gespannten Stoff zu vernehmen. Loraine schloss für einen Augenblick die Augen. So ganz allein, fühlte sie sich gerade unwohl. Normalerweise hätte sie Miriam an ihrer Seite gehabt, aber die Stille, die sie wie ein dichter Nebelschwaden einhüllte, erdrückte ihre Seele. Durch die dichten Fäden des Regens sah das Mädchen mit den stechend grünen Augen eine weitere Person an der Bushaltestelle. Eigentlich hätte sie auch dort allein sein müssen, denn durch die Verzögerungen, hatte sie auch noch ihren Bus verpasst. Warum stand dort jemand? Und dann auch noch ohne einen Regenschirm? Eilig schritt Loraine auf die Wartende zu. Man konnte sehen, dass sie unterkühlt war, spätestens als Loraine ihre blauen Lippen und das aschfahle Gesicht betrachten konnte. Es war dieses Mauerblümchen, mit der sie schon öfter zusammengestoßen war. Ihr Bob hing wie ein Wischmob auf ihrem Kopf, die Kleidung war so durchweicht, dass selbst das heftige Reiben ihrer Hände über ihre Arme scheinbar wenig Wärme spendete. Ihre dünnen Beinchen zitterten und sie hüpfte unruhig von einem Fuß auf den Anderen. Es war aber auch eine Katastrophe, dass es hier nicht einmal ein Bushaltestellenhäuschen gab! Loraine hielt ihren Schirm über den nassen Kopf. Ein freundliches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus und versuchte so, ihre Gegenüber aufzumuntern. Es sah bizarr aus, wie ihre Brille beschlug dank Loraines Atem, während die Regentropfen über das Glas perlten. "Warum stehst du hier im Regen?", war die erste, völlig perplexe Frage, die über Loraines Lippen kam. Die Antwort war nicht mehr als ein Schulterzucken. Dieses Mädchen wollte wohl nicht mit ihr reden, was man ihr nicht einmal verübeln konnte. Immerhin hatten sie und Loraine keine all zu positiven Erlebnisse geteilt. Diese legte nun den Kopf schief und runzelte die Stirn, während ihr Blick den frierenden Körper des Mädchens musterte. "Wann kommt dein Bus?", immerhin wusste Loraine, dass sie hier morgens immer aus einem Bus ausstieg, da war die Annahme, sie würde Abends in einen Bus einsteigen, nicht weit hergeholt. "Gar nicht mehr.", war die stockende Antwort. Loraine dachte einen Moment nach. Ihr Bus fuhr jede halbe Stunde und sie hier im Regen stehen lassen, dass war auch nicht ihre Art. Das Haus war groß und wie eine Diebin sah das Mädchen nicht gerade aus. Loraine holte tief Luft, ehe sie zu ihrer Antwort ansetzte. "Na gut, dann kommst du mit mir mit!", sprach sie in einem herrischen Ton aus, hakte sich bei ihrer Gegenüber unter und lächelte breit. "Aber ich kenne dich nicht einmal. Wie heist du überhaupt?", jetzt klang sie doch so, als könnte sie auch kratzbürstig sein, hatte sie eben noch kaum den Mund aufbekommen. Doch an Loraines Entschluss war bereits nicht mehr zu rütteln. "Loraine und du?", kam die energische Beantwortung dieser Frage. "Nadja.", so langsam fragte sich Loraine, ob Nadja nicht vielleicht doch ein wenig mehr Wörter verwenden könnte? Sie sah belesen aus und klug noch dazu, warum sprach sie dann so wenig? Die Augen ihrer neuen Bekanntschaft richteten sich monoton auf den Boden vor ihren Füßen. Seufztend ließ Loraine die Schultern hängen. "Dann kennen wir uns ja jetzt und du kannst mitkommen.", fuhr Loraine fort, gespielt naiv aber völlig durchdacht. Denn je eher sie dieses Mädchen aus der Reserve lockte, um so leichter hatte sie es später. "Nein.", hallten Nadjas Worte trocken und abweisend zurück. "Warum hilfst du mir überhaupt und ... wir kennen uns nicht!", das klang ja fast nach einem Gefühlsausbruch, diese hilflosen Worte mit einem zaghaften Anflug von Panik in der Stimme. "Ich helfe dir, weil du sonst krank wirst und ich das nicht möchte.", über den zweiten Teilsatz musste Loraine dann doch einen Moment nachdenken. Nadjas Augen ruhten nun auf ihrem Gesicht und folgten jeder Bewegung ihrer Mimik. "Ich bin neu, ich wohne allein und wäre froh, wenn ich Besuch hätte. Den Rest können wir da drin besprechen!", der dunkelbraune Bob federte sanft, als Loraine ihre Gesprächspartnerin unsanft ein Meter vor schob. Denn in diesem Augenblick näherte sich auch schon der Bus. Ihre Gesprächspausen, die sie auch zuvor gehabt hatten, setzten sich im Fahrzeug fort. Ein Gespräch kam nur stockend zustande, doch mit jedem Wort wurde Nadja ein wenig zutraulicher. Ihre klatschnasse Ledertasche, förderte so einige Bücher zu Tage, nachdem Loraine entsetzt gefragt hatte, warum diese so schwer sei. Am Haus angekommen, war Nadja froh, sich Loraine angeschlossen zu haben. Ihre Eltern waren nicht zu erreichen gewesen und hätten sie nicht abholen können und im Regen bis Morgen an der Haltestelle gestanden zu haben wäre alles, aber nicht gesund. Eilig suchte die Gastgeberin ein Handtuch, reichte es Nadja und verwieß auf die Dusche. Der Gast nahm alles dankend an und verschwand für eine halbe Stunde. Loraine nutzte die Zeit und deckte den Tisch, damit sie etwas essen konnten. Insgeheim wünschte sie sich jetzt noch Miriam und das Ganze hätte wirklich Spaß gemacht. Wenn Nadja auftaute, könnte sie zu einer spannenden Gesprächspartnerin werden. Hier und da hatte ihr wahres Gesicht bereits durchgeblitzt, das kein Blatt vor den Mund nahm. Vincent streifte durch den Regen und sog die frische Luft zwischen seinen Nasenflügeln ein. Ihn erfreute es sehr, wenn es dunkel und regnerisch war. Dann konnte er endlich wieder seine frühere Kraft spüren, als er noch die Macht der Tropfen kontrolliert hatte. Immerhin war er nicht immer ein schäbiger Hase gewesen. Einzig das Pech, dass seine Schützlinge nie den erhofften, finalen Erfolg erreicht hatten, war der Grund für seinen Zustand. Seine Recherche hatte ergeben, dass er Recht mit seiner Annahme gehabt hatte, dass eine größere Kraft hinter den Schattenwesen die Fäden zog. Vielleicht bestand die Chance, dass er dieses Mal erlöst wurde? Als das Haus seiner neuen Schutzbefohlenen in Sicht kam, konnte das Tier bereits den hellen, grünen Schein erkennen, der durch die Wohnzimmerfenster heraus strahlte. Vincent blieb für einen Moment der Atem stehen. Wie hatte Loraine ihre Kraft, die anderen Mädchen zu erwecken, bloß entteckt? So schnell er nur hoppeln konnte, lief der Hase zum Fenster. Sofort wuchs er zu seiner originalen Größe an, drückte die Klinke der Terrassentür hinab und polterte durch das Zimmer, direkt auf Loraine zu. "Was habt ihr nur getan?", bellte er entsetzt. Loraine zitterte, ihre Fingernägel glühten grün wie eine Wiese, ganz von allein. Ihre Hände streckten sich, von einer ihr unbekannten Macht geleitet, direkt in Nadjas Richtung aus. Diese lehnte an der Wand und versuchte, sich dem Licht krampfhaft zu entziehen. "Woher sollen wir das denn wissen? Meine Nägel leuchteten plötzlich ganz von allein!", kreischte Loraine voller Panik. "Mach schon etwas dagegen!", befahl sie dem Hasen und hoffte, dass er eine Lösung parat hatte. Nadja hatte es gänzlichst die Sprache verschlagen. "Es tut mir Leid, Loraine, aber wir können hier nichts ausrichten. Die Drachen werden euch helfen, während ich Miriam hole.", der Hase ließ die beiden Schülerinnen ohne weitere Informationen ausharren. Er sprach die Worte, die Loraine bereits einmal gehört hatte, um die Lichtkreise unter den Mädchen zu öffnen. Dann verblasste sein Bild langsam vor Loraines Augen, als sie und Nadja durch das Tor hinüber gezogen wurden. Nadja wusste nicht, wie ihr geschah. Eben noch, waren unbekannte, neue Dinge in ihr vorgegangen. Diese Loraine hatte es geschafft, dass sie sich wünschte, einfach einmal tun zu können, was ihr gefiel. Sie war so herzlich gewesen, dass sie selbst sich wünschte, ohne ihre Regeln leben zu können. Jetzt saß sie hier, in einer steinernen Arena, in Mitten von Drachen, die es noch nicht einmal geben dürfte. Ihre mausgrauen Augen starrten zittrig über die Wesen vor ihr, während ihr Mund perplex offen stand. "Seid gegrüßt.", hallte Silver Diamonds Stimme über die Anwesenden. Seine ruhige, tiefe Stimme klang gereizt und Nadja verschluckte sich prompt. Dabei wusste sie doch nicht einmal, was sie falsch gemacht hatte. Warum waren diese Wesen so sauer auf sie? "Nicht so harsch, Diamond, siehst du nicht, dass du ihnen Angst machst?", die weibliche, fürsorgliche Stimme des blauen Drachens streichelte Nadjas Seele. Es gab ihr Mut und die Gewissheit, keinen Fehler begangen zu haben. Vorsichtig robbte sie zu Loraine hinüber. Diese schien nicht gerade überrascht ob dieses Anblicks. "Loraine? Was ... Wo sind wir hier?", ihre stotternden Worte kamen nur schwer über die Lippen des schüchternen Mädchens. "Keine Angst, die Drachen sind unsere Freunde und wir sind hier in ihrer Dimension.", im Nadjas Kopf begannen die Worte Kreise zu drehen. Fachliche Analysen wurden in Sekundenbruchteilen durchgeführt, die Situation genau durchdacht und doch, ergab all das keinen Sinn. "Nadja.", schlussendlich erhob auch der grüngeschuppte Drache das Wort. Ein unerklärlicher Bann wirkte von ihm auf Nadja, die ihren Blick prompt nicht mehr abwenden konnte, nachdem ihr Name über seine Lippen gekommen war. "Spürst du es nicht? Seid zwei Tagen schon, wache ich über dich. Du bist diesem Mädchen begegnet an jenem Tag, was mich dazu zwang, zu erwachen. Doch Furcht ist nicht angebracht. Du trägst einen Teil von mir in dir. Ich darf es nicht ändern, aber wir müssen prüfen, wie viel meiner Seele auf dich übergegangen ist. Deswegen werde ich dich nun einer Prüfung unterziehen.", Nadja empfand es nicht als sehr beängstigend, geprüft zu werden. Prüfungen waren das, was sie am besten in ihrem Leben beherrschte. Doch für die Prüfungen, denen sie bisher unterzogen wurde, hatte sie ausgiebig gelernt. So völlig unvorbereitet zu sein, so spontan und unaufgeklärt, fühlte sich mit einem Schlag doch schrecklich an. Zittrig streckte sie die Hände aus, wedelte mit den Händen herum und versuchte so, das Schicksal aufzuhalten. "Nadja, du schaffst das. Miriam und ich haben das auch hinter uns. Wenn du fertig bist, werden wir reden und ich erkläre dir alles. Jetzt musst du nur auf deinen Drachen hören, dann sehen wir uns gleich wieder.", noch während Loraine sprach, riss es Nadja erneut durch ein Loch in die Tiefe. Loraine war sich sicher, dass all das für Nadja ein unglaublicher Schock sein musste. Als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte es sie mehr als nur verängstigt. Sie hatte stark gespielt, vielleicht auch ein wenig, um Miriam zu schützen. Doch die Prüfung war viel schwerer und anstrengender gewesen, als sie Nadja vorgegaukelt hatte. Doch ihre neue Freundin jetzt zu verunsichern, während mehr als nur dumm gewesen. Gerade, als sie anfing, sich ihr zu öffnen. Es hatte sich so angefühlt, als könnte es sein, dass sie gar nicht so eine Streberin war, wie Loraine zu Beginn gedacht hatte. Das Mädchen mit den grauen Augen war intelligent und begriff Neues schnell. Dennoch konnte sie sich nur schwer daran gewöhnen und Angst schien sie zurück zu halten. Möglicherweise davor, nicht angenommen zu werden? Dabei hatte sie alle Etikette vergessen gehabt und sich fallen gelassen. Loraine war sich sicher, dass Nadja gerade in diesem Augenblick wieder versteift war. Womöglich war auch gerade das ihre Prüfung? Loraine hatten immer Probleme damit gehabt, allein stark zu sein. Immer hatte sie es nur in oder für die Gruppe getan, egal ob es nun für eine Freundin gewesen war oder für eine Fremde. Doch wenn sie allein und auf sich gestellt kämpfte, machte sich immer eine gewisse Nervosität in ihr breit. Jetzt war das anders. Seit sie das Fragment der Drachenseele in sich erweckt hatte, fühlte sie sich verantwortlich. Nicht nur für Miriam und neuerdings auch für Nadja, sondern auch für sich selbst. Sie spürte es, ganz tief in sich, dass sie es war, die die Kräfte der Mädchen erweckte, die ihnen Vertrauen und Trost spendete, ihnen Rückhalt und Kraft gab. Und obwohl ihr das früher zuviel gewesen wäre, fühlte es sich jetzt richtig an. Endlich hatte sie eine Aufgabe, die nur sie erfüllen konnte. Nadja befand sich in einem Klassenzimmer. Die Wände waren grün gestrichen und Bäume wiegten sich im Wind vor den Fenstern. Eine bedrohlich wirkende Tafel befand sich am anderen Ende des Raumes und als die Schülerin das nächste Mal die Augen aufschlug, liefen Regeln, Gesetze und Normen in Worte formuliert über den Schiefer. Es fühlte sich erdrückend an, wie all diese Ding ihr in rasender Geschwindigkeit vorgehalten wurden. Von außen, weit außerhalb des Zimmers hörte sie Stimmen, Lachen, Gespräche und all das, was sie nie tat. Sie war allein, in ihrer eigenen kleinen Welt. Genau wie jetzt. Doch warum eigentlich? Es machte sicherlich keinen Spaß, so allein zu sein. Ihr Kopf begann zu schmerzen, als ihre Augen verzweifelt versuchten, den Worten auf der Tafel zu folgen. Doch abwenden konnte sie sich nicht. Sie konnte nicht aus diesem Käfig entfliehen. Es war ihr persönliches Gefängniss, die Welt, die sie sich jahrelang aufgebaut hatte. "Du musst dich entspannen und die Welt mit positiven Augen sehen!", vibrierte die fröhliche und ausgelichene Stimme des grünen Drachen durch ihren Kopf. Nadja versuchte es, doch sie war nicht stark genug dafür. "Ich kann das nicht!", schrie sie gepresst hervor und stemmte ihre Hände gegen ihre Schläfen. All das war so beklemmend. Plötzlich öffnete sich eine Tür auf ihrer rechten Seite. Eine Person ohne Gesicht kam herein, sah sich um und ein bizarres Grinsen breitete sich mit einem Schlag auf dessen Gesicht aus. Ein dröhnendes Lachen erklang, ehe sich die Gestalt wieder in Bewegung setzte. Überall dort, wo dieses Wesen entlang lief, bildeten sich Schriftzüge auf dem Boden, die ihm folgten und bei genauerem Hinsehen, all seine Erwartungen an Nadja preis gaben. Es war genau das, was jeder immer von ihr erwartete, was sie tun musste und sollte, denn es hatte sich bereits ein Teufelskreis um sie herum gebildet. Eine schwere Mappe wurde auf Nadjas Tisch geworfen. Ihre grauen Augen fixierten das Papier, das sich von allein öffnete. Immer schneller blätterte sich der Stapel durch, während die Buchstaben begannen, sich in der Luft zu materialisieren, wie Äste, die aus dem Papier heraus wuchsen. Bei genauerem Hinsehen, erkannte Nadja auch, dass es Erde war, die dort über die grüne Schiefertafel kroch und die ihr so gut bekannten Worte bildete. Die Person veränderte sich, wurde zu einer Lehmfigur und blieb dann regungslos neben ihrem Pult stehen. Auf ihrem Gesicht befand sich noch immer das Grinsen, seine Erwartungen verästelten sich, lösten sich vom Boden und krochen über die Wände, wie Ranken eines Weinstockes. Warum spielte man hier ihr große Vorliebe gegen sie aus? Das Einzige, wo sie sich frei fühlte, war die Zeit, die sie mit Pflanzen in der Garten-AG verbrachte. Sie war allein dort, niemand störte sie und hier? Hier verfolgte man sie selbst bis dahin, wo bisher ihr geschützer Bereich gewesen war! Hölzerne Tränen rannen ihre Wange hinab. Immer mehr Personen, mit immer unterschiedlichen Gesichtsausdrücken marschierten in der Zimmer. Die Worte der Tafel huschten so schnell über den Untergrund, dass Nadja fast schon schwindelig wurde. Die ganzen Gedanken und Erwartungen der Figuren, die in den verschiedensten Erdmaterialien um sie standen und die Aufgaben und Gemeinheiten aus all ihren Mappen, hatten sich zu einem dornigen Gestrüpp um sie herum ausgebildet. Die Papiere hatten sich mittlerweile zu solch einem hohen Turm entwickelt, dass Nadja gerade noch die Tafel erkennen konnte, der Rest lag achtlos auf dem Boden und machte sich von dort aus bemerkbar. Nadja weinte, sie schrie und versuchte, die Augen zu schließen. Sie wollte das alles nicht mehr sehen, denn es war das Bild, was sie von ihrem Alltag hatte. All der Stress und der Druck, sowohl von ihren Mitschülern, als auch von ihren Eltern, war einfach erniedrigend. Miriam war hochgeschreckt, als plötzlich etwas an ihrem Fenster geklopft hatte. Nur schwer konnte sie den Hasen erkennen, der dort panisch an der Scheibe klopfte. Sie rutschte mit ihrem Schreibtischstuhl zurück und legte das Buch aus der Hand, welches sie bis eben gelesen hatte. Den Tag über hatte sie einfach eine Auszeit benötigt, der Kampf hatte sie einiges an Energie gekostet, was noch jetzt an ihren Kräften zeerte. "Vincent! Was willst du denn hier?", er war zu groß, als das sie ihn hätte herein heben können und das er jeden, der ihn so sah, schockiert hätte, war Miriam gerade auch egal. Noch immer in ihre Schuluniform gekleidet, mit den bunten Ringelsocken bis zu ihren Knien und der Strickmütze über ihren Locken, ließ sie sich auf das Bett fallen. Es war selten, dass der Hase hier herein sah. Bisher war es eigentlich nur passiert, als er sie zum Kampf abgeholt hatte. "Ich fürchte, ich muss dich abholen, Miriam. Die Nächste ist erwacht und wird gerade der Prüfung unterzogen. Du darfst nicht fehlen.", schloss Vincent in seiner gewohnt höflichen Art. Miriam runzelte die Stirn und sah das Tier unbeholfen an. "Na gut, ist Loraine auch dort? Oder müssen wir sie ...", doch der Hase schien wenig Geduld zu haben, denn noch während die Blondine fragte, wurde sie bereits durch das Dimensionstor gerissen und befand sich auf der anderen Seite. Loraine war tatsächlich schon da und begrüßte die Freundin nun erleichtert. "Loraine! Was ist denn hier los?", natürlich wollte Miriam wissen, was passiert war und bekam auch sofort eine kurze Zusammenfassung über das Geschehene. Es war erstaunlich, wie die Nägel ihrer Freundin reagierten, hoffentlich würde ihr so etwas Peinliches nicht auch passieren! Sie hatte viel mehr Selbstvertrauen entwickelt und fühlte sich nicht mehr so unwohl in ihrer Haut, gerade dadurch, nun auch eine wahre Freundin zu haben. Ganz zu schweigen von ihrer seelischen Verbundenheit mit Blue Saphire. Hoffentlich würde Nadja die Prüfung überstehen. Eine weitere Freundin und eine Verbündete im Kampf konnte nie schaden! Miriam und Loraine hielten ihre Hände und schauten sich entschlossen an. Sie würden einfach all ihre Kraft, ihr Selbstvertrauen und ihre Freundschaft im Geiste zu Nadja senden. Etwas anderes konnten sie nicht tun. Die Geprüfte zitterte am ganzen Leib. Sie hatte versucht, den Kopf zu neigen, damit der Pony ihre Augen verdeckte. Doch nichts half, noch immer bedrängten diese Pflanzen- und Erdwesen sie, die Äste hatten sich um ihren Körper gewoben und drohten, ihren dünnen Körper zu zerbrechen. Die Last auf Nadjas Schultern war unermesslich. Die Lehmfiguren hatten einen Wall um sie errichtet, zu keiner Seite hin konnte man ihnen entwischen. Ihre gehäßigen, herablassenden Fratzen waren unangenehm und stachen in Nadjas Seele. Ein lauter Schrei war zu hören, als sie versuchte, sich ihrer Fesseln zu entledigen. Auf einmal, sah Nadja Loraine vor ihrem geistigen Auge, zusammen mit einem blonden Mädchen, welches sie noch nie gesehen hatte. Dennoch strahlten sie Beide eine unglaublich Wärme und Ruhe aus. Gerade so, als ob sie es vollbringen könnten, ihre Ketten zu sprengen. Doch so plötzlich wie sie aufgetaucht waren, so schnell verschwanden sie auch wieder. Jedoch reichte dieser eine Augenblick der Erinnerung. Eine so frische wie knappe Erinnerung an die kurze Zeit in Loraines Haus. Dort hatte sie sich frei gefühlt, unbekümmert. Dieses merkwürdige Mädchen hatte keine Forderungen gestellt, ihr geholfen, obwohl sie sich nicht kannten. Eine solche Person wäre sie eben so gern, aber für jetzt, würde hoffentlich auch ein kleiner Schritt reichen. Man durfte, dies wusste Nadja, nie zu viel auf einmal verlangen. Ihr Charakter änderte sich nicht von Jetzt auf Sofort, sondern in winzigen Schritten. Tief holte sie Luft, immer das Gefühl von Freiheit in sich tragend. Sie atmete aus und wieder ein. Dies wiederholte sie, bis ein tiefenentspanntes Kribbeln sich in ihrem Bauch Platz geschaffen hatte. "Ich muss das nicht tun, ich kann Spaß haben!", sprach sie wie ein Mantra vor sich her. Ihre sonore, wohltuende Stimme klang so fremd für Nadja, dass sie sich fast beim ersten Wort erschreckte. Dann jedoch neue Kraft daraus schöpfte und die aufbauenden Worte weiter sprach. Ihr Mantra wurde lauter, schneller und fordernder. Sie legte Kraft hinein, Leidenschaft und mit jedem vollendeten Satz, fühlte sie sich freier. "Ich brauche euch nicht! Ich lebe nur für mich!", polterte es aus ihr heraus, mit aller Kraft sprengte sie die Fesseln um ihre Arme und zerriss so auch den Alptraum um sie herum. Sofort wandelten sich die Figuren zu Bäumen, den Ranken wuchsen Blätter und Blumen. Alles um sie wurde freundlich und unbeschwert. Selbst als der grüne Drachenkopf zwsichen dem Geäst auftauchte, blieb Nadja ruhig und in ihrer Mitte. "Ich wusste, du würdest es schaffen. Du kannst ohne sie leben, ohne dich selbst einzusperren.", die Augen des Drachen funkelten sanft, daraus bildete sich ein sanftes, grünes Leuchten, das einen kleinen Smaragd umgab. Er umkreiste das Mädchen spielerisch und verschmolz dann mit ihrem Nacken. Von dieser Stelle, breiteten sich Schuppen in einem zarten Blattgrün aus, bis sie Nadjas gesamten Körper bedeckten. Vincent war erstaunt, was Loraine und Miriam dort veranstalteten. Sie hatten sich an den Händen gehalten und die Augen geschlossen und noch ehe der Hase wusste, was dort vor sich ging, hatten sie sich bereits verwandelt und ein sanftes Licht schloss ihre Körper ein. Die Drachen sahen zufrieden aus, ihre Gesichter hatten einen zärtlichen, fast schon liebevollen Ausdruck, auch der von Green Emerald. Vincent wusste, dieses Mädchen hatte die Prüfung zu seiner Zufriedenheit bestanden und noch im selben Augenblick, erschien sie wieder. Mit einem dumpfen Aufprall machte sie ein zweites Mal Bekanntschaft mit dem steinigen Boden. "Nadja!", Loraine stürzte auf die Freundin zu und umarmte sie stürmisch. Diese sah erleichtert aus und schlang ebenso die Arme um die Scharzhaarige. Miriam brauchte einen Moment, ehe sie sich entschloss, zu ihnen zu gehen und es Loraine gleich zu tun. Wie ein kleiner Knäul standen die Mädchen einen Moment da, ehe Silver Diamond noch ein paar wohlwollende Worte sprach. Green Emerald begrüßte Nadja erneut und zwinkerte ihr keck zu. Augenblicklich breiteten sich kleine Ranken mit Dornen, Blüten und Blättern in Miniformat auf deren Fingernägeln aus, nachdem sich ihre Schuppen in Nichts aufgelöst hatten. Auch das Symbol in ihrem Nacken, dass ihre zwei neuen Freundinnen nun sehen wollten, ähnelte diesem Zeichen. Loraine streckte ihre Hand aus und Miriam tat es ebenso. Nur zögernd hielt auch Nadja ihre Hand dazu und musste doch lächeln, als sie die Ähnlichkeit entdeckte. Victor entsandte sie alle wieder zu Loraine, wo die Gastgeberin Nadja noch die halbe Nacht lang aufklärte, was sie bisher schon erlebt und in Erfahrung gebracht hatten. Der Hase spürte, dass er hier überflüssig war und zog sich still und heimlich in das Zimmer seiner Besitzerin zurück. Nun hatte er endlich das Bett mal für sich allein und genoss die Nacht. Die Mädchen, so entdeckte er beim nächsten Morgengrauen, waren auf der Couch eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. 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