Finera - Dawn of the Dark von Kalliope ================================================================================ Kapitel 16: Familie kann man sich nicht aussuchen ------------------------------------------------- 5. bis 6. Oktober - Rain - Camille und Rain saßen nebeneinander am Kanal und ließen ihre Beine baumeln. Eine frische Brise wehte durch ihre offenen Haare und wirbelte sie Camille ständig ins Gesicht, doch diese schien sich nicht daran zu stören. Gerade hatte Rain ihre Reisebekanntschaft über die aktuellen Geschehnisse informiert und mit ihr über Kitty und Rocco diskutiert, nun ließen sie sich sprichwörtlich die Sonne auf den Pelz scheinen und hörten den schreienden Wingull zu, die sich ein Stück entfernt um ein Stück Kuchen stritten. „Was wirst du jetzt tun?“, fragte Camille und blinzelte der Sonne entgegen. Noch immer bescherte das Hoch Tiffany Zentralkalos Anfang Oktober einen zweiten Hochsommer. Rain zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter hat mir geschrieben, dass sie Kontakt zu ihrer Cousine hier in Illumina City aufnehmen möchte. Irgendeine Überraschung für Summer und mich, die wir uns bei ihr abholen sollen.“ „Eine Überraschung?“ Camille drehte den Kopf und ihre Augen leuchteten wie bei einem kleinen Kind. „Klingt aufregend.“ „Näh, mal sehen, was meine Mutter sich da ausgedacht hat. Manchmal greift sie bei Überraschungsgeschenken richtig daneben. Zu meinem letzten Geburtstag habe ich von ihr eine XXL-Packung Sinelbeerenschokolade bekommen, dabei mag ich die gar nicht. Hat dann alles Summer gegessen.“ „Schokolade!“ Camille strahlte. „Ich könnte sterben für Schokolade! Beim nächsten Mal denkst du an mich, ja?“ Rain grinste. „Klar.“ Die Pokémoncenter der Stadt waren nun, da das dritte Center geschlossen hatte, überfüllt. Rain hatte keinen Platz mehr bekommen, konnte aber in Camilles kleinem Hotelzimmer auf der Couch schlafen, bis sie einen anderen Platz gefunden hatte. Nun wusste sie zumindest, was sie Camille als kleine Wiedergutmachung kaufen konnte. „Hast du auch so einen Hunger wie ich? Komm, lass uns Abendessen gehen.“ „Es ist noch nicht einmal sechs Uhr.“ „Ach, komm schon, Rain.“ Camille zog sich an der Brüstung hoch, klopfte sich den Dreck von der Kleidung und rief ihr Elfun zu sich, das wie immer außerhalb seines Pokéballs war und verträumt durch die Gegend schwebte. Das kleine Pflanzen-Feen-Pokémon liebte die Sonne und kostete jeden einzelnen Sonnenstrahl voll aus, ließ sich nun jedoch auf Camilles Schultern nieder und kuschelte sich in ihre braunen Haare. Rain ließ sich nicht zweimal bitten, holte Froxy und Karpador, die beide im Kanal ihre Runden drehten, zurück in die Pokébälle und schloss sich Camille und Elfun an. „Du ziehst Elfun nie in den Pokéball zurück oder?“ „Ziemlich selten.“ Camille kraulte das Pokémon auf ihrer Schulter, das einen wohligen Seufzer ausstieß. Dort, wo Camilles Finger das flauschige, helle Fell berührten, fielen ein paar der baumwollartigen Fasern aus und landeten auf dem Boden. „Elfun ist lieber an der frischen Luft. Außerdem ist es relativ klein und leicht und fällt dadurch nicht auf.“ „Kann man von Karpador nicht behaupten, der Fisch braucht Wasser.“ Camille warf ihr einen undefinierbaren Seitenblick zu. „Vielleicht solltest du aufhören immer nur das Negative an Karpador zu sehen. Ich bin sicher, dass es sich freuen würde, wenn du ihm mehr Aufmerksamkeit schenkst.“ Rain ließ das unkommentiert und wechselte stattdessen lieber das Thema. „Wo wollen wir denn essen gehen?“ Ihr Bargeld neigte sich dem Ende zu, aber ihr Vater wollte sich in den nächsten Tagen um die Formalitäten kümmern, damit sie auch in den Banken von Kalos auf ihr Konto zugreifen konnte. Bestimmt hatte Summer nicht daran gedacht und verzweifelte bereits, so wie sie ihre Schwester einschätzte. „Wie wäre es mit Pizza?“ „Klar, gerne. Ich liebe Pizza.“ Vor allem die von Henry. Ach ja, Henry … Der Gute war jetzt mit Summer unterwegs und die beiden müssten schon hier in Illumina City angekommen sein. Wie sie zusammen lachten, sich die Auslagen in den Schaufenster anguckten … Moment! Rain blieb wie angewurzelt stehen und hielt Camille am Arm zurück. „Hey, was ist los?“ „Psst!“ Schnell huschte Rain hinter einen Baum und spähte vorsichtig um den Baumstamm herum. „Ich fasse es nicht, das sind sie wirklich!“ „Wer denn?“ Camille kauerte sich neben sie, ohne zu wissen, was eigentlich los war. „Das da vorne ist meine Schwester Summer und der schwarzhaarige Junge daneben ist Henry. Ich habe dir doch von den beiden erzählt. Kaum zu fassen, dass sie mir ausgerechnet jetzt über den Weg laufen müssen.“ „Wow, ziemlich muskulöse Schulterpartie. Aua!“ Camille hielt sich die Stelle, an der Rain sie mit dem Ellbogen erwischt hatte. „Sollen wir nicht einfach zu ihnen gehen?“ Rain zischte: „Nein, bloß nicht.“ Dann stellte sie sich gerade hin. „Weißt du, mir ist doch nicht nach Pizza. Lass uns Nudeln essen.“ „Aber der Nudelladen liegt in einer ganz anderen Richtung.“ „Ganz genau“, erwiderte Rain und ihr Lächeln hatte etwas Haifischartiges an sich. Am nächsten Morgen frühstückte sie mit Camille im Hotel und studierte die Adresse, die ihre Mutter ihr an den Comdex gesendet hatte. Ihre Mutter und deren Cousine Ivy Loraire hatten kaum Kontakt, aber irgendetwas gab es, was Ivy Summer und ihr dringend überreichen sollte. „Ich mache mich gleich jetzt auf den Weg, dann verpasse ich Summer vielleicht.“ „Melde dich, wenn du die Überraschung hast, ich bin gespannt.“ „Mache ich.“ Rain verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von Camille, schulterte dann ihren Rucksack und lief einmal quer durch die Stadt zur Frühlingsallee. Über dem Salon PicoBello wohnte ihre Großcousine Ivy. Sie klingelte, wartete eine Minute, klingelte dann erneut und drückte die Haustür auf, als der Summer ertönte. Das Treppenhaus war hell und mit Blumen dekoriert. Es gingen zwei Wohnungen ab. An der, die zur Allee zeigte, klebte das gesuchte Namensschild und die Tür stand einen Spalt breit offen. „Komm rein, ich bin gleich soweit“, rief eine Frauenstimme von drinnen, also trat Rain ein und schloss hinter sich die Tür. Weißer Parkettboden, weiße Wände, helle Möbel und an jedem freiem Platz der Wand ein großer Bilderrahmen mit Fotoaufnahmen. Eine weitere Tür schwang auf und eine große, schlanke Frau mit denselben grünen Haaren wie sie trat in den Flur. „Du musst Rain sein, ja?“ „Ja, genau. Und Sie sind Ivy?“ „Du musst mich doch nicht siezen!“ Die Frau lachte, kam auf sie zu und umarmte sie herzlich, dann ließ sie Rain wieder los und zeigte auf einen halbleeren Kleiderständer. „Leg deine Sachen am besten hier ab.“ „Eigentlich wollte ich nicht so lange bleiben.“ „Unsinn, wir werden auf jeden Fall zusammen mit deiner Schwester zu Mittag essen.“ „Werden wir das?“ Rain streifte nur widerwillig ihre Sandalen ab. „Also du bist die Cousine meiner Mutter, ja? Du siehst viel jünger aus als sie.“ „Tja, so ist das.“ Ivy lächelte, band die langen, dunkelgrünen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz und winkte Rain zu sich ins Wohnzimmer, das durch bodenlange Fenster einen perfekten Blick auf das geschäftige Treiben in der Frühlingsallee bot. „Keine Angst, die Fenster sind von außen verspiegelt und nahezu schalldicht. So, möchtest du etwas trinken? Orangensaft? Wasser? Wasmelcola?“ „Wasser, danke.“ „Kommt sofort.“ Summend verließ Ivy das Wohnzimmer und Rain nutzte die Zeit, um sich genauer umzuschauen. Auch hier war alles sehr hell eingerichtet und unzählige Fotografien hingen an den Wänden. „Du magst Fotos oder?“ „Ich bin Fotografin“, antwortete Ivy ihr aus dem Nachbarraum, der Küche. „Hauptsächlich fotografiere ich Architektur und Panorama, aber ich mache auch Portraitaufnahmen.“ Als sie wiederkam, hielt sie zwei Gläser mit Wasser in den Händen und hatte eine Mappe unter den Arm geklemmt. „Hier, bitte.“ Dann reichte sie Rain die Mappe. „Das sind meine aktuellen Serien. Das da ist Illumina City bei Nacht und hier ist Mila Mayham, das war für eine Zeitungsausgabe letzten Monat.“ „Mila Mayham?“ Rain betrachtete die junge Frau mit den hellblonden, langen Haaren, den türkisblauen Augen und dem freundlichen Lächeln. „Ja, kennst du sie nicht? Ach, ich vergaß, dass sie in anderen Regionen nicht so bekannt ist wie hier in Kalos. Milas Cousinen sind die Kampf-Châtelaines. Mit vierzehn hat Mila eine Reportage über das Familienleben hinter den Kulissen moderiert und kam dabei so gut an, dass sie kurzerhand eine eigene kleine Sendung bekam. Die Menschen lieben sie. Wenn sie ein Kleid im Fernsehen trägt, ist es kurz danach in allen Läden ausverkauft. Was Mila mag, mögen die Leute. Sie ist ein richtiges Idol geworden. Letztes Jahr hat sie dann einen Selbstfindungstrip gemacht und war ein Jahr lang von der Bildfläche verschwunden. Seit sie zurück ist, ist sie noch gefragter als vorher. Die Menschen wollen wissen, wo sie war und was sie erlebt hat, aber sie schweigt beharrlich.“ Ivy zwinkerte Rain verschwörerisch zu. „Manche behaupten, dass sie einen Freund hat, den sie vor den Kameras verstecken möchte. Siehst du diesen Anhänger hier?“ „Der sieht aus wie ein Meisterball.“ Ivy nickte. „Genau. Mila trägt diesen Anhänger immer und überall unter ihrer Kleidung. Man kann diese Anhänger jetzt auch überall in der Stadt kaufen, achte mal darauf. So, genug davon.“ Ivy klappte das Album wieder zu. In diesem Moment klingelte es erneut an der Tür. „Ah, perfektes Timing.“ Sobald die Wohnungstür geöffnet war, hörte Rain die Stimmen von Summer und Henry. Beide klangen ziemlich müde und ließen sich gleich auf die weiße Sofalandschaft im Wohnzimmer fallen. „Mann, Rain, du hättest echt nicht einfach abhauen dürfen“, sagte Summer, schnappte sich Rains Wasserglas und trank es in einem Zug leer. „Wir haben ja so viel erlebt, seit wir hier in Kalos sind. Soll ich dir meinen neuen Orden zeigen?“ „Nein, danke.“ Rain funkelte ihre Schwester an, ging dann zu Ivy in die Küche und trug mit ihr drei weitere Gläser zum Couchtisch, von denen sie sich eins für sich nahm. „Henry, wie geht es dir?“ „Danke, alles bestens.“ Henrys aquablaue Augen musterten Rain von oben bis unten. „Du hast deinen Eltern einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Aber mir war klar, dass du auch gut alleine zurechtkommen würdest. Hast du Farbe bekommen? Sieht gut aus.“ „Ja, kann sein, ich war in den letzten Tagen viel in der Sonne.“ Rain lächelte und merkte, wie sie ein bisschen rot wurde. „Du siehst auch gut aus. Also, ich meine, nicht dass du sonst nicht gut aussehen würdest, du siehst immer gut aus. Also, ich, ich meinte, dass du wie immer gut aussiehst.“ Schnell trank sie einen Schluck Wasser und wandte sich an Ivy. „Du hast eine Überraschung für Summer und mich?“ „Genau.“ Ivy grinste und zog zwei Pokébälle aus ihrer Hosentasche. „Mein liebes Cousinchen Faith hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das hier von Professor Gary Eich aus Alabastia zu bekommen. Als sie in eurem Alter war, hat sie ein genmanipuliertes Glumanda vor Team Dark gerettet. Das kleine Ding hat Entei-Gene in sich. Na ja, jedenfalls befinden sich hier drin zwei direkte Nachkommen von ihrem ehemaligen Glumanda und der Professor ist der Meinung, dass die beiden bei Trainern besser aufgehoben sind als bei ihm, weil es zwei kleine Raufbolde sind. Das hier soll ich euch geben. Ein Glumanda für jeden von euch.“ „Glumanda?“, quietschte Summer und ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie wippte aufgeregt auf der Sofakante auf und ab, doch als sie nach den Bällen ihre Hand ausstreckte, zog Ivy ihre zurück und steckte die Pokébälle zurück in ihre Hosentasche. „Hey, du hast gesagt, wir kriegen jeder eines!“ „Ja, das tut ihr auch.“ Ivys Grinsen wurde noch breiter. „Aber zuerst werden wir alle zusammen Mittagessen gehen und ihr erzählt mir, was ich alles von meiner Familie in Finera verpasst habe.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)