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Memori3s

von

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Prolog: Mad World

Taro Motogawa schob vorsichtig die Trümmer zur Seite und sprang im nächsten Moment erschrocken zurück, als sich eine Schuttlawine löste. Staub wirbelte auf und er musste schrecklich husten.

Warum er?

Das hatte er sich in der letzten Stunde unzählige Male gefragt. Warum wurde ausgerechnet er geschickt, dieses dämliche Ding unter Augenschein zu nehmen? Warum jetzt? Dieses dumme Parkhaus stand schon fast ein halbes Jahrhundert hier und nachdem diese merkwürdige Organisation das Gebäude vor etlichen Jahren bezogen hat, war es komplett in Vergessenheit geraten. Niemand wollte davon etwas gewusst haben, aber es hatte schon seine Gründe gehabt, warum dieses protzige Ding nach dessen Schließung nicht sofort abgerissen worden war- Gründe im mehrstelligen Bereich…

Und als vor über einem Jahr diese Mafia- wie hieß sie noch gleich? Olymp? – in dem großen Bandenkrieg untergegangen war, (Gott, war das eine Schlagzeile gewesen!) war das Parkhaus von der Polizei gesperrt worden… als wenn das jemandem davon abhalten würde, in ein leer stehendes Gebäude zu gehen, das so eine Geschichte auf dem Buckel trug.

Tja, und nun kam sein Chef ins Spiel- dieser begnadete Bauherr, dieser in Geld badende Architekten- Aristokrat…

Dieser dämliche Idiot, der dieses dämliche Parkhaus gekauft hat, um es abzureißen und ein Kaufhaus seiner eigenen dämlichen Kette auf dieses schöne Fleckchen Erde zu pflanzen- umgeben von Striplokalen und Prostituierten. Als wenn die sich für Elektrogeräte, Küchen oder den schnell zu erreichenden Supermarkt um die Ecke interessieren würden…

Das würde sich schon etablieren, hatte sein Chef gesagt. Wenn er nicht vorhatte, aus dem restlichen Rotlichtviertel gleich eine Shoppingmeile mit zu machen, könnte ihm jeder Praktikant prophezeien, dass die Idee- mit Verlaub- für den Allerwertesten war.

Wäre die Stadt nicht so überglücklich gewesen, dieses verfluchte Ding, das eh nichts mehr wert war, für einen mehr als großzügigen Betrag losgeworden zu sein, hätte selbst sie Taros Chef ins Gesicht gelacht und ihn für bescheuert erklärt.

Hat sie aber nicht- sie konnte das Geld gut gebrauchen und wie sagte man so schön: einem geschenktem Gaul…

Die Krönung der ganzen Sache, weshalb Taro seinen Vorgesetztem in letzter Zeit nicht mehr für voll nahm, war allerdings seine Blitzidee, dieses Gebäude doch noch einmal vorher in Augenschein zu nehmen, bevor es dem Erdboden gleichgemacht werden würde, vielleicht findet man ja noch was wertvolles- das fiel ihm natürlich erst nach der ersten Sprengung ein.

Und wer durfte das wieder machen? Na? Nein, nicht seine persönlichen Stiefellecker, die zu allem Ja und Amen sagten, was ihr ach so toller Chef vor sich hinplapperte- natürlich nicht, die könnten ja dabei draufgehen und dann würde man ihn nicht mehr in allem bestätigen!

Stattdessen schickten sie den ehrlich und hart arbeitenden Angestellten mit Familie und Schulden. Ihn!

Sie sind doch ein geschickter und vernünftiger Mann, Ihnen wird da unten schon nichts passieren. Und haben Sie nicht schon oft den Gutachter bei früheren Projekten begleitet? Sie erkennen doch bestimmt sofort, wenn sich dort noch etwas Wertvolles befindet. Wer weiß- vielleicht machen wir noch die große Entdeckung, hatte sein Chef gesagt und ihm verschwörerisch zugezwinkert. Was dachte er da unten vorzufinden? Das war ein Parkhaus und nicht die Schatzhöhle der Vierzig Räuber! Und was sollte dieses ‚wir‘? Er war der einzige, der hier verschüttet werden würde, er sprach nicht von sich im Plural und er war auch ganz bestimmt nicht schizophren. Außerdem, seit wann arbeitete er für die Presse? Dieser Geldhai wollte doch nur wieder in die Nachrichten kommen…

Verdammt, er war Handwerker und kein Indiana Jones!

Taro hustete den letzten Staub aus seinen Lungen und leuchtete mit der Taschenlampe in den Gang, der durch den Einbruch freigeworden war.

Gut, er musste zugeben- dieses Ding war nicht einfach nur ein Parkhaus. Vielleicht war die Spitze des Eisbergs ein Parkhaus, so, wie ihn alle sahen, aber mit diesem unterirdischen Tunnelsystem hätte auch er nicht gerechnet. Als die Sprengmeister ihm davon erzählt hatten, hatte er sie mit gerunzelter Stirn angeschaut und sich gegen die Schläfe getippt. Aber jetzt? Er stand mitten drin, er konnte es also nicht länger bestreiten. Ob Olymp das alles gebaut hat?

Der Nebel aus feinem Staub hatte nachgelassen, sodass er über den Schutthaufen hinweg klettern und den Gang betreten konnte. Etliche Türen waren in die Wand eingelassen, ein paar standen offen, andere waren vollkommen aus ihren Angeln gerissen und lagen zerbeult auf dem Boden. Die erste Detonation, obwohl sie frühzeitig dank dem Chef wieder abgebrochen worden war, hatte deutliche Spuren hinterlassen. Unsicher leuchtete Taro zur Decke und schluckte.

Überall waren feine Risse zu sehen und ab und zu rieselte Putz und Betonstaub auf ihn herab, sodass er blinzeln musste.

„Ich bin wahnsinnig…“, murmelte er zu sich selbst. Was bekam er hierfür eigentlich? Eine Lohnerhöhung und Schmerzensgeld, das würde das mindeste sein- und danach würde er kündigen, jawohl! Sollte sich der große Bauherr für seine zukünftigen Geistesaussetzter einen anderen Idioten suchen!

Langsam schritt er den Gang hinab, leuchtete im Vorbeigehen in die Räume und blieb dann stirnrunzelnd vor einer der Türen stehen. Es musste sich um einen Vorraum handeln, zumindest sah es so aus, als würde es hinter dieser getönten Scheibe vor Kopf noch weitergehen. Eine merkwürdige Neugier kroch in Taro hoch und zögernd betrat er den Raum.

Er hatte Recht gehabt, da war tatsächlich eine weitere Tür und nun, wo er näher vor der Scheibe stand, erkannte er, dass sie gesprungen war. Glasscherben lagen auf dem merkwürdigen Schaltpult, das davor angebracht worden war, verstreut und selbst der Boden knirschte unangenehm. Die Tür, die zu dem anderen Raum führte, war verbogen und ließ sich wahrscheinlich nicht mehr öffnen- aber vielleicht konnte er ja etwas durch die Scheibe sehen…

Und er sah. Nicht sofort, aber er sah.

Dort unten stand ein elektrischer Stuhl. Man hatte ihn etwas verändert, aber er war sich sicher, dass es einer war.

„Mein Gott…“, keuchte Taro und ließ die Taschenlampe scheppernd zu Boden fallen, die durch den Aufprall augenblicklich erlosch. Wo war er hier gelandet? Was waren das für Leute gewesen, die hier gelebt haben?

Mit wild pochendem Herzen tastete er nach der Taschenlampe, hob sie auf und schaltete sie wieder ein. Er wollte hier weg und zwar ganz schnell!

Taro verließ den Raum, über dessen frühere Funktion er nicht weiter nachdenken wollte, und betrat wieder den Gang mit den vielen Türen, als plötzlich ein leichtes Zittern durch die Wände fuhr und das Rieseln von der Decke stärker wurde.

Erstarrt blieb Taro stehen und schaute sich mit weit aufgerissenen Augen um. Verdammt, woher kam auf einmal diese Erschütterung? Die Sprengmeister hatten klare Anweisungen erhalten, nicht zu sprengen, solange er hier unten war! Aber wahrscheinlich war das Gemäuer schon so brüchig geworden, dass schon ein vorbeifahrender Laster ausreichen würde, das Ding zum Einsturz zu bringen. Er musste hier unten raus, das Zittern war Warnung genug für ihn gewesen. Allerdings war die Warnung zu spät gekommen.

Taro hatte sich dem Ausgang, dem Schutthaufen, der vor ein paar Minuten in sich zusammengestürzt war, bis auf wenige Schritte genährt, als der Boden erneut und diesmal auch stärker zu zittern begann. Ein ohrenbetäubendes Geräusch folgte der Erschütterung. Plötzlich sah er nichts mehr und fand sich in einer Staubwolke wieder. Erschrocken riss er die Arme vors Gesicht und stolperte rückwärts. Nach Zehn Sekunden war der dann Spuk vorbei und er konnte das gesamte Ausmaß seines Dilemmas durch den hellen Dunst erahnen.

Die Decke war um den Ausgang herum heruntergekommen und hatte seinen Fluchtweg versperrt. Fortuna hatte es wohl gut mit ihm gemeint und verhindert, dass er bei lebendigem Leibe unter den Trümmern begraben wurde, aber viel hätte dazu wirklich nicht gefehlt.

Verstört plumpste Taro auf seinen Hosenboden und fluchte atemlos ein paar Mal vor sich hin. Irgendwann machte sich Verzweiflung in ihm breit und er zog die Beine an den Leib, umschlang seine Schienbeine und starrte weiterhin auf den verschütteten Gang vor ihm.

Es war aussichtslos. Er würde hier nie wieder rauskommen. Und dabei wollte er seine Frau und seine Tochter doch noch einmal in die Arme schließen- vor allem seine Frau.

Nach dem Streit gestern, war sie ihm konsequent aus dem Weg gegangen und hatte ihm nicht einmal viel Glück für den heutigen Einsatz gewünscht- gut, ob ihm das im Nachhinein nun etwas gebracht hätte, sei jetzt mal dahingestellt, aber das war ihm egal.

Wie nun alles egal war, dachte Taro verbittert und spürte die Tränen hochkommen.

Wieder rieselte es und diesmal stand er alarmiert auf. Okay, vielleicht war alles aus, aber das hieß ja noch lange nicht, dass er nicht an seinem Leben hing!

Er langte nach der Taschenlampe und nahm die Beine in die Hand. Keine Sekunde später ertönte erneut das Geräusch, das ihn an eine Mischung aus Wellenrauschen und dem Einstürzen einer Sandburg erinnerte- nur ungefähr hundertmal lauter und gefährlicher.

Taro drehte sich nicht um, er wusste auch so, dass der Gang noch weiter eingestürzt war. Mit Mühe unterdrückte er die Tränen. Weichei, schimpfte die Stimme seiner Frau in seinem Kopf, und zu mir sagst du immer, ich soll mich zusammenreißen, wenn Bambis Mutter stirbt.

Bambi war ein verdammtes Zeichentrickvieh mit zu großen Augen, keifte er in Gedanken zurück, das hier war was ganz anderes- hier ging es um sein Leben und das fühlte sich ziemlich echt an!

Nach ein paar Metern und einer imaginären Diskussion mit seiner Gattin später, blieb er stehen und sah keuchend zurück. Hinter ihm lagen nur noch Schutt und Trümmer. Hier draußen war er nicht mehr lange sicher. Als wenn er hier irgendwo sicher war, dachte er bitter und lachte freudlos. Aber wenn er schon draufgehen musste, konnte er sich ja wenigstens ein gemütliches Plätzchen zum Sterben suchen- so auf dem Gang herumzuliegen war doch wirklich nicht heldenhaft. Sollten sie sich ruhig die Füße nach ihm wund suchen- wenn sie überhaupt suchten…

Aber ein wenig Zeitvertreib konnte ja nicht schaden, dachte er. Wer weiß, vielleicht gab es hier unten ja noch etwas anderes als elektrische Stühle und Türen- mehr Foltergeräte zum Beispiel, oder aber auch Anzeichen auf einen halbwegs körperlich gesunden Menschen, der hier gelebt hat. Dass hier jemand geistig gesund gewesen war, bezweifelte Taro stark.

Willkürlich zog er Türen auf, untersuchte die Zimmer dahinter und fand zur seiner Erleichterung keine weiteren elektrischen Stühle oder eiserne Jungfrauen. Die meisten Räume ähnelten Krankenzimmern oder Büroräumen. Er fand sogar etwas, das wie ein OP aussah. War das hier eine Krankenstation gewesen?

Nun, Verletzte hatte man bestimmt immer zu versorgen gehabt. Laut dem Bericht, der damals durch die Nachrichten und Zeitungen gegangen war, war das Parkhaus das Hauptquartier von Olymp gewesen- warum dann nicht auch ein Lazarett untertage?

Taro hatte den zweiten Gang fast komplett durchquert, als er wieder zufällig eine Tür auswählte, die nicht ganz so instabil und zerbeult aussah, und sie aufzog. Diesmal schien es sich um ein Büro zu handeln- ein vollgestopftes Büro…

Überall lagen Blätter und Ordner auf dem Boden herum, die nicht mehr in die überfüllten Regale und Schubladen gepasst hatten- vielleicht hatte aber auch die Explosion dieses Chaos verursacht. Ein alter Eichentisch stand dort, den ersten, den er hier unten sah; das meiste hier war aus Metall gebaut worden. Er stellte den Stuhl wieder auf, der umgefallen war, und rückte ihn an den Tisch, sodass Jahre alter Staub aufwirbelte und ihn zum Husten brachte. Er hasste Unordnung und warum sich dieses Zwangsverhalten ausgerechnet jetzt bemerkbar machen musste, war ihm schleierhaft, aber hieß es nicht immer, dass der Mensch ein Gewohnheitstier sei? Marotten konnte man halt schwer ablegen, selbst, wenn es eigentlich egal war, ob man sie nun auslebte oder nicht, weil es eh keinen mehr juckte.

Sinnlosigkeit hin oder her, Taro konnte dieses Chaos hier nicht ertragen. Und vielleicht wäre er bis zum Ende seines Lebens- das ja nicht mehr so weit entfernt lag- damit beschäftigt gewesen, seine innere Putzfrau wüten zu lassen, hätte sich Fortuna nicht wieder in diesem Moment an ihn erinnert und ihn mit der Nase zuerst in die eine große Entdeckung gedrückt- oder besser gesagt: mit dem Oberschenkel voran…

Fluchend umklammerte er sein schmerzendes Bein und setzte sich auf den Stuhl. In dem spärlichen Licht der Taschenlampe hat er die vorstehende Schublade gar nicht gesehen. Taro nahm die untreue Funzel, leuchtete in die Lade hinein und legte augenblicklich die Stirn in Falten. Unzählige kleine Kassetten lagen in der hölzernen Schublade. Vorsichtig nahm er eine heraus und betrachtete sie näher. Solche steckten auch in seinem Anrufbeantworter…

Er drehte die Kassette in der Hand und entdeckte einen Schriftzug. In eckigen Buchstaben stand dort nur ein Wort: Vermächtnis.

Taro runzelte die Stirn noch mehr, legte die Kassette auf den Tisch vor sich und nahm eine weitere, doch was auf dieser stand, war noch verwirrender. In derselben krakeligen Schrift stand hier: Ares. Wieder schaute er in die Schublade und diesmal nahm er eine ganze Hand voll Kassetten heraus. Persephone und Äneas stand auf einer, auf der nächsten Orpheus, wieder eine andere war mit Apollon beschriftet und die letzte, die er in der Hand hielt, trug die Aufschrift Nero

Langsam begann es in seinem Hirn zu rattern. Bis auf Nero waren das alles Namen von Göttern und Personen der griechischen Mythologie, wenn er sich richtig erinnerte. Und hieß nicht der Berg, auf dem die ganzen Gottheiten saßen, Olymp? Er schüttelte den Kopf. Was war das hier nur für ein Verein gewesen? Nach diesen Kassetten zu urteilen, entweder eine Hochburg für Fanatiker des Fantasy- RPG und Cosplaying oder ein wissenschaftliches Zentrum für altertümliche Bräuche, Riten und Götterkult- es hörte sich beides in seinen Ohren absurd an, zumal nachgewiesen worden war, dass Olymp eine ernst zu nehmende Untergrundgröße gewesen war, die viele Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Taro würde vermutlich nur herausfinden, was es mit den Kassetten auf sich hatte, wenn er sie abspielte.

In seinem linken Augenwinkel blitzte etwas auf. Er griff danach und hielt es ins Licht der Taschenlampe. Ein Diktiergerät, wenn auch veraltet. Etwas machte Klick in seinem Kopf. Er schaute zu dem Stapel Kassetten und zurück auf das rechteckige Gerät in seiner Hand.

Vielleicht…

Taro nahm die Kassette mit der „Vermächtnis“- Aufschrift und steckte sie in das Diktiergerät. Sie passte perfekt, sodass er etwas grinsen musste. Wenn er jetzt noch Glück hatte und die Batterien des Gerätes etwas Saft übrig hatten, dann-

Aufregung machte sich in ihm breit, als er den Knopf des Diktiergerätes herunterdrückte und das Tape sich tatsächlich anfing zu drehen. Rauschen durchschnitt die Stille seines unterirdischen Gefängnisses und nach ein paar Sekunden ertönte die Stimme eines Mannes; ein tiefer, vernünftig klingender Bariton, der langsam und sachlich sprach.

„Wenn das hier jemand hört, heißt das, dass ich entweder nicht mehr zu Olymp gehöre oder tot bin… egal, was nun zutrifft, es bedeutet, dass Olymp dem Untergang geweiht ist oder schon gefallen ist.“

Stirnrunzelnd starrte Taro auf das Gerät hinab. So richtig verstand er dieses Gefasel nicht- wer war dieser Ich- Typ und was sollte dieses Gerede von „wenn das jemand hört“? Er versuchte sich eine Person vorzustellen, die kauernd in einer Ecke saß und ihren Monolog in das Diktiergerät stammelte, immer wieder nach links und rechts schauend, als hätte sie Angst, entdeckt zu werden, während um sie herum alles explodierte und zusammenstürzte. Zu seiner Enttäuschung klang die Stimme ganz und gar nicht gehetzt oder panisch- sie war sachlich kühl und formulierte ihre Worte so, dass ihn jeder Depp verstanden hätte.

„Wenn das der Fall ist, dann möchte ich einige Sachen mit diesem Tape festhalten und klarstellen. Ich möchte erklären, wie und warum Olymp gegründet wurde und wie es soweit kommen konnte, dass die Organisation zerbrach… nein, “, verbesserte sich die Stimme und Taro konnte ein Lächeln in den Zügen des gesichterlosen Mannes in seiner Phantasie erahnen. „Nein, den Grund werde ich Ihnen vermutlich nicht nennen können, lediglich Vermutungen, aber die gehören hier nicht her, denn hier soll es um Fakten gehen.

Ich habe die Schublade, in der sich dieses Tape befand, immer unter Verschluss gehalten und ich besaß den einzigen Schlüssel- nicht wegen diesem Tape, das Sie gerade abspielen; es soll, wie schon gesagt, lediglich eine Erklärung geben. Und eine Warnung…

Olymp ist- denn ich hoffe, dass mein Lebenswerk noch existiert und es noch nicht zu spät ist- nicht irgendeine Organisation, die Mitglieder anheuert, welche nebenbei ein normales Leben führen. Olymp übernimmt eine besondere Verantwortung für seine Mitglieder, denn sie ist das Einzige, was ihre Mitglieder noch haben. Ich habe zusammen mit meinem Partner Hades eine Maschine entwickelt, mit der wir Teile des Gedächtnisses löschen können- Teile, wie Namen, Familienangehörige oder Herkunft einer Person. Sie ist wohl einer der Gründe, warum Olymp so groß geworden ist, so mächtig.

Wir haben alle Mitglieder, jeden einzelnen, vorher über unser Vorhaben und über Olymp aufgeklärt und sie sind alle freiwillig in Olymp eingetreten. Und sie wussten von Memoria.

Sie sind alle aus den verschiedensten Gründen zu uns gekommen, jedoch waren alle damit einverstanden gewesen, sich das Gedächtnis löschen zu lassen.

Nun möchte man meinen, dass es grausam sei, den Menschen ihr altes Leben zu entreißen- denn nichts anderes haben wir getan- aber ich betone noch einmal: sie haben es alle so gewollt. Einige Mitglieder, denen wir besonders vertrauten, wussten von Memoria, dennoch hat niemand von ihnen nach der Zeit vor Olymp gefragt und das war auch gut so.

Trotz alledem will ich nicht als Dieb bezeichnet werden, denn ich hatte nie vorgehabt, jemandem seine Erinnerungen zu stehlen. Ich sehe mich mehr als Verwalter und Hüter. Ich habe mit jedem ein Gespräch geführt, dessen Mitschnitte auf den anderen Tapes zu finden sind, in dem sie mir erzählten, warum sie bei Olymp eintreten wollten. Ich habe diese Tapes gesammelt und aufbewahrt, denn es steht mir nicht zu, die Erinnerungen von anderen Menschen zu zerstören- ich nehme sie ihnen, weil sie es so wollten, aber es sind immer noch Teile eines früheren Lebens…“

Die Stimme machte eine Pause und wieder war nur das Rauschen der Stille zu hören.

Dann, als sei ihr noch etwas eingefallen, fuhr die Stimme fort:

„Ich überlasse Ihnen diese Tapes. Sie können mit ihnen tun, was Sie wollen, allerdings bitte ich Sie, sie vorher anzuhören und sich selber ein Bild zu machen. Vielleicht können Sie ja nachvollziehen, was der wahre Grund von Olymp war- zumindest, wie ich es immer gesehen habe. Ich will mich nicht verteidigen, ich will auch keine Vergebung für das, was ich getan habe, ich will nur die Wahrheit bewahren. Vielleicht- und das hoffe ich inständig- nimmt diese Geschichte ja noch ein gutes Ende...“

Das Tape brach mit einem ‚Klick’ ab.

Blinzelnd saß Taro da und schaute ins Nichts. Dann spulte er die Kassette zurück und hörte sich die Aufzeichnung noch einmal an, versuchte jedes Wort wirklich wahrzunehmen und zu verstehen, dann drehte er den Kopf zu dem Kassettenhaufen auf dem Tisch und in der Schublade.

Vermächtnis, echote es durch seinen Kopf. Er hatte das Vermächtnis dieser Organisation gefunden- die verlorenen Erinnerungen von Menschen. Von vielen Menschen… Er schluckte. Sie sind aus den verschiedensten Gründen gekommen, hatte die Stimme gesagt.

Was konnten das für Gründe sein, sich das Gedächtnis löschen zu lassen?

Was konnte so schlimm sein, dass man es einfach nur noch vergessen wollte?

Zögernd streckte Taro die Hand aus und nahm eine neue Kassette.

Der Anfang...

„Hände gegen die Wand und Beine schulterbreit auseinander.“, brummte der Wärter barsch und Hideki ging der Aufforderung eingeschüchtert nach. Sofort umklammerten die Pranken des Mannes seine linke Wade, tasteten sie ab und wanderten hoch bis zum Oberschenkel. Seine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an und wenn dieser Typ noch weiter an ihnen herumzog, würden seine Knie in spätestens drei Sekunden nachgeben, da war er sich sicher.

„Umdrehen.“

Hideki atmete die angehaltende Luft erleichtert aus und drehte sich um. Der Wärter hatte sich von ihm abgewandt und war zu seinem Kollegen gegangen.

„Welche Größe tragen Sie?“

Hideki blinzelte. „Nun… das kommt drauf an-“

„Ungefähr?“, fiel er dem jungen Mann genervt ins Wort. Hideki begann nervös an seinem Shirt zu spielen. „A… achtunddreißig?“, antwortete er leise.

Der Wärter drehte sich mit hochgezogenen Brauen zu ihm um. „War das eine Frage?“ Und an seinen Kollegen gewandt, sagte er dann: „Gib ihm Vierzig…“

Hideki holte Luft. „Aber…“

Langsam- und für Hidekis Geschmack viel zu langsam- drehte sich der Wärter erneut um. Wenn Blicke töten könnten…

„Was?“, fragte der Mann grimmig, dass Hideki zusammenzuckte. Verschreckt klappte er den Mund wieder zu und schaute zu Boden.

„Verzeihung…“, murmelte er und spielte mit dem Gedanken sich unterwürfig zu verbeugen, aber dazu ließ ihm der Wärter keine Zeit. Schnaubend kam er wieder auf ihn zu, drückte ihm einen Stapel Kleidung in die Hand und deutete nach rechts zu einer Art Umkleidekabine.

„Ziehen Sie sich dort um und legen Sie Ihre eigenen Sachen zusammen- auch Ihre Wertgegenstände.“

Hideki beeilte sich in die Kabine zu kommen und zog sich die graue Gefängnistracht an. Er hatte nicht viel Wertvolles bei sich- lediglich eine Uhr und das Lederarmband, das er vor ein paar Wochen von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Seine Geldbörse hatte er schon vorher bei der Polizei abgegeben. Er legte alles auf einen Stapel und überreichte es dem Wärter, der an einem Tisch saß und alles notierte. Seine Sachen kamen in einen Karton, auf dem sein Name stand, den der andere Wärter, der ihn die ganze Zeit über rumgescheucht hatte, sofort wegtrug.

Hideki wollte etwas sagen, doch der Wärter war wieder schneller. „Sie bekommen Ihr Eigentum bei Ihrer Entlassung wieder zurück.“, sagte er leicht gelangweilt ohne dabei aufzusehen, als habe er diesen Satz schon hunderte Male aufgesagt. Hideki nickte zögernd. Bei den Worten wurde ihm wieder bewusst, was ihm bevorstand…

Auf dem Tisch lag ein zweites Set Gefängniskleidung, die der Mann ihm demonstrativ entgegen schob und auch diese nahm Hideki stillschweigend an sich. Der andere Wärter war in der Zwischenzeit wieder zurückgekommen und baute sich vor ihm auf. „Bereit?“

Kein „Bitte folgen Sie mir“ oder „Bitte hier entlang“ -Er hatte bis jetzt kein einziges „Bitte“ aus dem Mund dieses Schrankes gehört.

Bereit? Nein, ganz sicher nicht, aber hatte er denn eine Wahl? Hätte er nein sagen können? Können ja, aber dann hätte der Wärter ihm nur einen bissigen Spruch gedrückt oder ihn ausgelacht. Wieder nickte der Junge bloß und ging in die ihm gezeigte Richtung.

Der Gang zum Galgen oder zur Schlachtbank könnte nicht weniger schlimm sein. Der Wärter führte ihn einen schmalen Flur entlang, an dessen Ende ein Gitter den Weg versperrte- das erste von vielen, dachte Hideki bitter und er verlangsamte seinen Schritt ungewollt, bis er die Hand des Wärters in seinem Rücken spürte, die ihn daran hinderte, noch langsamer zu gehen. Das Gitter wurde ratternd aufgezogen und der Wärter machte wieder eine auffordernde Handbewegung. Dabei war sein Gesicht wie eine neutrale Maske.

Nach diesem Verfahren ging es noch durch zwei weitere Gittertüren, bis sie von einem neuen Wärter in Empfang genommen wurden. Auch er stand vor einem Gitter, hinter dem man die gedämpften Geräusche anderer Menschen hören konnte. Sein Wärter zeigte seinem Kollegen ein Blatt Papier, das sich sein Gegenüber kurz durchlas, dann nickte und den Blick auf Hideki senkte. Dieser hier schien etwas freundlicher zu sein, zumindest guckte er nicht so böse und gereizt. Hideki versuchte ein Lächeln auf die Lippen zu fesseln, was ihm allerdings nicht sehr gut gelang. Der andere Wärter nahm ein Stück Papier aus seiner Jackentasche und einen Stift, schrieb eine Zahlenkombination darauf und übergab diesen Zettel Hideki.

„Ihre Zellennummer. Merken Sie die sich gut, die Dinger sehen hier nämlich alle gleich aus.“, sagte der Wärter und gluckste. Verwirrt schaute Hideki ihn an. „Kö- können Sie mir nicht zeigen, wo sie sich befindet?“, fragte er vorsichtig, woraufhin der Wärter ihn anschaute, als habe er einen schlechten Witz gemacht.

„Sind wir ein Hotel?“ Er schien zwar nicht böse zu sein, aber die Arroganz machte ihn auch nicht viel sympathischer, dachte Hideki grimmig. „Wenn du` s überhaupt nicht findest, dann frag nach Zeus, der wird dir helfen.“ Aha, jetzt war ihm schon das ‚Sie‘ zu viel…

„Bitte wer?“, fragte Hideki verwirrt, aber der andere Wärter kam ihm zuvor.

„Jetzt nennst du ihn auch schon so?“

Sein Kollege zuckte mit den Schultern. „Auf seinen bürgerlichen Namen reagiert Seine Durchlaucht schon gar nicht mehr.“

„Wie auch immer.“, schnaubte der Andere, klopfte Hideki auf die Schulter und wandte sich zum gehen. „Ciao.“, sagte er zu Hideki, hob die Hand zum Abschied und verschwand.

Hideki wusste gar nicht, wie ihm geschah und viel Zeit, um darüber nachzudenken, blieb ihm auch nicht, denn der arrogante Wärter hatte das Gitter geöffnet und wartete ungeduldig.

„Viel Glück.“, rief ihm der Wärter hinterher, als er durch das Tor getreten war und sich das Gitter hinter ihm wieder schloss. Hideki dachte nicht weiter darüber nach, ob der Wärter diesen Kommentar nun gut oder ironisch gemeint hatte, denn kaum war er um die nächste Ecke gebogen, stand er inmitten einer grauen Masse aus Menschen, Tischen und Stühlen.

Alles war hier grau- die Wände, der Fußboden, selbst das Licht schien dreckig grau von der Decke. Er würde hier garantiert nicht auffallen, dachte er etwas hoffnungsvoll, vielleicht schaffte er sich auch für die Dauer seines Aufenthalts irgendwo zu verstecken und diesen Albtraum hier so abzusitzen…

Vorsichtig ging er ein paar Schritte mehr in den großen Saal. Es schien sich um einen Aufenthaltsraum zu handeln. Überall standen Tische, an denen graue Gestalten saßen, Karten spielten oder redeten- er sah sogar ein paar Leute Bücher in den Händen halten. Weiter hinten und abgetrennt durch eine Glasscheibe, erkannte er ein Indoor- Sportfeld, auf dem Insassen Basketball spielten. Niemand beachtete ihn. Es hatte nicht mal einer aufgeschaut, als er den Saal betreten hatte. Erleichtert blies er die angehaltene Luft aus seinen Lungen. Vielleicht brauchte er sich ja gar nicht großartig zu verstecken, die Eintönigkeit ihrer Kleidung war wohlmöglich Schutz genug.

Eine Glocke erklang, ähnlich der Klingel einer Schule und wie auf ein Zeichen hin, hörten alle Männer um ihn herum auf zu spielen oder beendeten ihre Unterhaltungen und standen gemächlich auf. Ein Ruck ging durch Hideki und er verspürte den Drang, sich unter einen der Tische zu verkriechen. Doch noch bevor er auf das sichere Versteck zugehen konnte, wurde er von irgendwoher angerempelt und fiel stolpernd auf die Knie.

„Au…“, jammerte er und rieb sich die schmerzenden Stellen. Der Mann, der ihn angestoßen hatte, war weitergegangen, als habe er nichts bemerkt. Hideki holte Luft, um dem Mann etwas hinterher zurufen, als er auf einmal wieder etwas in den Rücken gerammt bekam- diesmal war es ein Bein, dessen Besitzer Mühe hatte, nicht komplett über Hideki zu stolpern.

„Pass doch auf!“, schnauzte der graue Riese und hob drohend die Faust, sodass Hideki instinktiv die Hände über den Kopf hielt. Zu seinem Glück kam in dem Moment ein anderer Insasse und packte den Mann am Arm.

„Komm, der is` es nicht wert.“, sagte dieser und schaute abschätzend auf Hideki herab. Der Mann ließ sich beruhigen, brummte etwas und ging dann mit dem Anderen mit. Schnell rappelte Hideki sich auf und tat wohl das einzig Richtige- eingeschüchtert folgte er dem Strom von Straftätern, die sich- teils gesittet, teils gereizt- alle in dieselbe Richtung bewegten und kurz darauf wusste er auch, wohin:

Die Kantine war ungefähr doppelt so groß wie der Aufenthaltsraum, in dem er gerade noch gestanden hatte. Überall hörte er Geschirr klappern, das Durcheinander von Gesprächen und er roch eine Mixtur von unterschiedlichen Gerüchen, die aus der angrenzenden Küche zu ihm herüber schwappte. Und da fiel ihm erst auf, wie hungrig er inzwischen geworden war…

Etwas unsicher stellte er sich in die Reihe von Männern, die an der Essensausgabe vorbeiwanderten. Ein Mann mit Oberarmen, die aussahen, als habe er in ihnen Bowlingkugeln versteckt, schaute ihn mit hochgezogener Braue über die Ausgabe hinweg an.

„Bist neu hier?“, knurrte er und kratzte den Rest des Auflaufs zusammen.

Hideki schluckte und versuchte ein Ja über die Lippen zu bekommen; im zweiten Anlauf klappte das dann auch- zumindest schien der Mann ihn verstanden zu haben. Breit grinsend platzierte er eine Portion Auflauf auf einem Teller und hielt diesen Hideki entgegen. „Wohl bekommt` s.“

„Danke.“, antwortete der Angesprochene verlegen, nahm den angebotenen Teller und brachte endlich ein Lächeln zustande. Der Saal war schon gut gefüllt, aber Hideki hatte Glück und fand direkt an einem vergitterten Fenster einen freien Platz. Die Sonne neigte sich in Richtung Erde und er schätzte, dass sie in zwei Stunden vollständig untergegangen war. Hideki wunderte sich, wie spät es schon war, immerhin war er am frühen Mittag zur Polizeistation gegangen, wo er von dort aus ins Gefängnis gefahren worden war. Das Zeitgefühl hatte ihn schnell in dieser grauen Hölle verlassen…

Mutlos und geknickt begann er zu essen- wenigstens war das hier genießbar. Es fehlte ein wenig Salz, aber sonst-

„Runter von meinem Platz…“

Es hätte nicht viel gefehlt und die Stimme wäre eine perfekte Imitation eines echten Knurrens gewesen- eines Dobermanns vielleicht oder eines Boxers…

Hideki beeilte sich, den Bissen runterzuschlucken, ansonsten wäre er ihm wahrscheinlich im nächsten Moment, in dem er sich zu dem Hund/Menschen umdrehte, aus dem Mund gefallen.

Der Mann hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Hund- einem zähnefletschenden Kampfhund. Kleine Augen schauten wutentbrannt aus einem fleischigen Gesicht, tiefe Zornesfalten hatten sich auf der Stirn gebildet und er hatte tatsächlich seine schmale Oberlippe leicht nach oben gezogen, die den Blick auf hässlich gelbe Zähne freigab. Es hätte Hideki nicht gewundert, hätte der Mann angefangen zu sabbern.

„E… es tut mir leid- ich … ich wusste nicht-“, begann Hideki zu stottern, aber viel weiter kam er nicht. Blitzschnell hatte ihn der Hund am Kragen gepackt und vom Stuhl gepflückt. Erschrocken schrie Hideki auf und umklammerte das mächtige Handgelenk des Mannes.

„Du wusstest nicht?“, schrie dieser und spie dabei Spucke in Hidekis Gesicht. „Du wagst es, mir so eine lächerliche Ausrede an den Kopf zu werfen?! Wer bist du, hä?“ Wild wurde der Junge hin und her geschüttelt. Hideki versuchte etwas zu sagen, aber ihm fehlte die Luft dazu.

„Das ist der Neue, Rex!“, rief plötzlich der Bowlingmann von der Ausgabe herüber.

Der Angesprochene hörte auf, sein Opfer zu schütteln, schaute erst den Mann an, dann wieder auf Hideki hinab und ein gefährlich wirkendes Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus, was noch mehr Falten in seinem Gesicht verursachte. „Tatsächlich? Der Neue.“

Hidekis Herz begann zu rasen. Dieses Grinsen gefiel ihm gar nicht…

Rex ließ auf einmal seinen Kragen los, sodass er wie ein nasser Sack auf den Boden plumpste. Doch der Mann ließ ihm keine Zeit, um zur Besinnung zu kommen, denn im nächsten Moment beugte er sich zu Hideki runter und holte mit der Rechten aus. Hideki hatte noch genügend Zeit die Augen zu schließen, ehe die Faust sein Gesicht zermahlen würde…

„Aus, Rex!“

Tatsächlich stoppte der Mann seine Faust Zentimeter vor Hidekis Gesicht und richtete sich wieder auf. Ängstlich schaute auch Hideki auf. Sein Herz raste immer noch, als habe er einen Marathon hinter sich.

Ein Junge, nicht viel älter als Hideki selbst, war aus der Menschenmasse hervorgetreten, die sich in der Zwischenzeit um Hideki und Rex gebildet hatte. Er hatte blasse Haut, die mit seinem pechschwarzen Haar einen ungesunden Kontrast bildete. Wütend drehte sich Rex zu dem Herannahenden um.

„Was mischst du dich her ein?“, knurrte er und Hidekis Nackenhaare stellten sich unweigerlich auf. Der Junge stellte sich neben Hideki und zuckte mit den Schultern.

„Siehst du denn nicht, dass er dir nur den Platz anwärmen wollte? Jeder weiß doch, dass du schnell `ne Blasenentzündung bekommst…“ Der junge Mann schaute zu Hideki herab und lächelte- das erste aufrichtige Lächeln, das er hier sah. „Hab ich Recht?“, fragte er und Hideki beeilte sich zu nicken. Sein Gegenüber wandte sich wieder an Rex. „Da hast du` s.“, sagte er im veränderten Tonfall. Jegliche Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden. „Also setz dich jetzt auf deinen verdammten Platz und lass ihn in Ruhe.“

Rex stand da, als müsse er sich beherrschen, nicht auf den Mann loszugehen, doch dann entspannte er sich und funkelte die beiden nur noch böse an.

„Du tust gut daran, wenn du mir heute nicht mehr über den Weg laufen würdest, Zeus…“, knurrte er durch aufeinander gebissene Zähne, dann drehte er sich um und verschwand durch die Menschenmenge, die ihm bereitwillig Platz machte. Nach ein paar Sekunden entspannte sich die Situation endgültig und auch die Schaulustigen zerstreuten sich wieder.

Sein Retter nahm Hidekis Teller vom Tisch und streckte Hideki die freie Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. Dankend ergriff er diese und kämpfte mit dem Gleichgewicht. Seine verdammten Beine waren wieder zu Wackelpudding geworden.

„Alles okay?“, fragte der junge Mann und lächelte aufmunternd.

„Ja… d…danke, für-“, stotterte Hideki und zeigte aus Mangel an artikulierbaren Worten hinter sich auf den Platz am Fenster. Der Blasse winkte ab.

„Schon gut. Du kannst ja nicht wissen, wie das hier läuft. Komm.“, sagte er dann und zog ihn am Ärmel. „Ich zeig dir ein paar Plätze, die nicht reserviert sind.“

„Um ehrlich zu sein, ist mir der Appetit vergangen…“, erwiderte Hideki kleinlaut und rieb sich den schmerzenden Nacken. Der Andere blieb stehen und musterte ihn kurz, dann zuckte er mit den Schultern. „Wie du meinst…“, antwortete er und deutete auf den Teller. „Hast du was dagegen, wenn ich-“

Hideki schüttelte den Kopf so vorsichtig, als befürchte er immer noch, dass sein Schädel gleich von seinen Schultern kullern könnte. „Nein, iss` ruhig.“, fiel er dem Älteren ins Wort, woraufhin dieser noch breiter grinste.

Er führte Hideki zu einem abseits stehenden Tisch und machte sich sofort über das Essen her. Nach drei, vier Bissen nahm der Schwarzhaarige wieder das Gespräch auf. „Du solltest in Zukunft dieser Töle aus dem Weg gehen.“, sagte er noch mit vollem Mund. „Ich glaub, der mag dich nicht.“

Hideki lachte bitter. „Ja, ich denke, Freunde werden wir ganz bestimmt nicht.“

„Vor allem, weil du jetzt der Neue bist…“

„Was hat das damit zu tun?“, fragte Hideki und gab ein freudloses Lachen von sich. „Ist das hier so üblich, dass die neuen Gefangenen von ihm begrüßt werden?“

Der junge Mann schluckte den Bissen hinunter und fuchtelte mit der Gabel vor Hidekis Gesicht herum. „Nein, nein, das meine ich nicht. Du bist jetzt offiziell der ‚neue’ Neue.“

Verwirrt runzelte Hideki die Stirn. „I- ich versteh nicht. Hier gibt es doch bestimmt viele Neuzugänge … oder?“

Sein Gegenüber seufzte und legte die Gabel beiseite. „Natürlich kapierst du das nicht…“, murmelte er mehr zu sich selbst, dann schaute er Hideki ernst in die Augen. „Hör zu. Der Neue ist hier so was wie der Sündenbock für alles. Du wirst ab jetzt für alles herhalten müssen, was anfällt, egal ob du wirklich daran schuld bist oder nicht, bis du dir einen eigenen Namen gemacht hast. So ist das hier leider.“, fügte er schulterzuckend hinzu, als ihn Hideki entsetzt anstarrte. Hidekis Herz rutschte ein paar Etagen tiefer und er spürte, wie ihm die Farbe aus dem sonst so gebräunten Gesicht wich. Er hatte doch vorgehabt, das hier lebend zu überstehen, er wollte sich in der grauen Masse dieses Gefängnisses verstecken und nun trug er die Zielscheibe mitten auf der Stirn? Ein Stöhnen entrang seine Kehle und er fuhr sich zitternd durch die Haare.

„Ich bin tot…“, wimmerte er und die Welt verschwamm vor seinen Augen- dämliche Tränen! Ein blasses Gesicht tauchte vor ihm auf. „Lass den Kopf nicht hängen, Neuer.“

„Hör auf mich so zu nennen!“, jammerte Hideki aufgebracht und der Andere begann hell zu lachen.

„Okay, schon gut. Wie soll ich dich denn nennen?“ Hideki schaute auf und musterte den Jungen einige Sekunden lang. „… ich heiße Hideki.“

„Echt?“ Die Braue des Anderen wanderte in die Höhe. „Da ist Neuer aber viel interessanter.“

„Ja und viel tödlicher!“, fauchte Hideki zurück, aber das schien den Jungen wenig zu beeindrucken; dieser zuckte nur grinsend mit den Schultern.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Hideki stattdessen. Er meinte sich zu erinnern, dass Rex ihn einmal beim Namen genannt hatte, aber Hideki glaubte, sich in dem Moment verhört zu haben, da ihm der Name auch nicht mehr über die Lippen kommen wollte. Der Schwarzhaarige wischte sich die rechte Hand am Hemd ab und hielt Hideki diese unter die Nase.

„Nenn mich Zeus.“, sagte er grinsend. Nun war es Hideki, der die Brauen ungläubig hob, dennoch ergriff er die dargebotene Hand.

„Äh… okay.“, entgegnete er vorsichtig und versuchte sich an einem Lächeln, ohne dabei loszulachen. „Und wie heißt du richtig?“ Sekunden verstrichen, bis Zeus ihm antwortete.

„Das ist mein richtiger Name.“ Bei diesen Worten begannen seine dunklen Augen zu funkeln; ein Funkeln, das nicht viel Gutes bedeuten konnte. Hideki ließ sofort Zeus` Hand los und wich ein paar Zentimeter auf seinem Stuhl vor ihm zurück.

„A- aber so heißt doch niemand, ich mein… Zeus, das-“, stotterte Hideki, doch dann brach er ab, als plötzlich etwas in seinem Kopf anfing zu läuten. Mit aufgerissenen Augen starrte er den Mann an, auf dessen Gesicht sich langsam Verwirrung breit machte. „Moment- Zeus?“

Der Angesprochene blinzelte. „Ja, bist du schwerhörig?“

Hideki begann wild mit den Armen zu fuchteln und schüttelte den Kopf- zu schnell, wie er im nächsten Moment sofort spürte, als es ungesund in seinem Nacken knackte.

„Nein, aber-“ Er stand auf und durchsuchte eilig seine Hosentaschen, bis er den kleinen Zettel fand und diesen Zeus hinhielt. „Ich sollte mich an dich wenden, wenn ich Hilfe bräuchte- zu…zumindest habe ich das so verstanden.“, fügte er kleinlaut hinzu, als Zeus ihn wie jemanden ansah, der behauptete, den Osterhasen gesehen zu haben.

Irgendwann nickte Zeus auf das Stück Papier. „Was soll ich damit?“

„Das ist meine Zellennummer.“, begann Hideki und nestelte an seinen zu großen Sachen. „Der Wärter hat mir den Zettel gegeben. A- aber ich habe keine Ahnung, wo ich diese Zelle finde und da-“ Hideki brach den Satz erneut ab. Zeus machte nicht den Eindruck, als interessierte er sich für seine Erklärungen. Er schaute noch ein paar Sekunden auf den Zettel, dann nickte er und stieß ein kurzes hartes Lachen aus.

„Du hast Glück, Neuer, verdammtes Glück, das du dir lieber einteilen solltest, als es am ersten Tag schon zu verpulvern.“ Er deutete auf den Platz, wo Hideki die ganze Zeit gesessen hat. „Setz dich. Ich will noch aufessen, dann zeige ich dir unsere Zelle.“

Hideki ging der Aufforderung nach, jedoch stockte er noch in der Bewegung, sich zu setzen und blinzelte Zeus an. „Unsere Zelle?“

Zeus, der sich gerade einen neuen Bissen in den Mund schieben wollte, grinste ihn an. „Zufällig war in meiner Zelle noch ein Bett frei gewesen und das hast du ja anscheinend zugeteilt bekommen. Wie gesagt: du hast heute Glück, denn wenn ich richtig informiert bin, wäre bei Rex auch noch ein Plätzchen zu vergeben gewesen…“

... einer Freundschaft?

Die Zelle war- wie eigentlich zu erwarten war- so klein und übersichtlich, das sie hart an der Grenze zum Menschenunwürdigen lag. An der einen Seite stand ein zweiteiliges Stockbett und ein paar Schritte davon entfernt, zur anderen Wand hinüber, befand sich ein hoher Schrank, daneben war ein kleines Waschbecken in die Wand eingelassen. Eine Toilette konnte Hideki nicht entdecken, wahrscheinlich gab es die nur draußen auf den Gängen.

Nervös stand er auf der Türschwelle und musterte verunsichert sein Heim auf Zeit. Er hatte nie Probleme mit Platzangst oder dergleichen gehabt und dennoch fiel es ihm auf einmal schwer, diesen Raum zu betreten. Vielleicht, weil ihm in diesem Moment wieder deutlich gezeigt wurde, in welcher Situation er sich gerade befand- dass er im Gefängnis saß, eingepfercht mit gefährlichen Männern und niemand würde sich darum kümmern oder sich gar dafür interessieren, wenn ihm hier etwas zustieße. Für die nächsten Monate würde er kein wirklicher Mensch mit wirklichen Rechten sein; das einzige Recht, was hier galt, war das Recht des Stärkeren und Ranghöheren.

Eine Hand legte sich auf Hidekis Schulter und holte ihn aus seinem Alptraum zurück in die kleine Zelle. „Home sweet home.“, sagte Zeus sarkastisch und auch wenn es dieser nicht beabsichtigt hatte, so hörten sich die Worte in Hidekis Ohren tröstend an. Zeus ließ ihn an Ort und Stelle stehen, kletterte auf das obere der beiden Betten und ließ die Beine wie ein kleiner Junge baumeln.

„Ich hoffe, es ist okay für dich, wenn du unten liegst?“

Hideki verstand die Zweideutigkeit und hob grinsend die Schultern.

„Ist mir egal, ich bin für alle Stellungen zu haben.“

Zeus` Brauen wanderten vielsagend in die Höhe. „Ein experimentierfreudiger Zellengenosse- so was hab ich mir schon immer gewünscht.“

Einen Moment lang versuchte Hideki noch ernst zu bleiben, doch dann fiel alles- die Nervosität, die Angst, der Kummer- von ihm ab. Er fing an zu lachen und kurz darauf fiel auch Zeus in das Lachen mit ein.
 

Während sie Hidekis spärliches Hab und Gut in dem übersichtlichen Schrank einräumten, erklärte Zeus ihm einige Grundregeln; an welche Zeiten er sich zu halten habe, wo er sich aufhalten dürfte und welche Gefangenen er meiden sollte- Überlebenstipps, dachte Hideki bitter.

„Warum bist du eigentlich hier?“, fragte Zeus dann irgendwann. Hideki blinzelte verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel und brauchte erst einige Sekunden, bis er Zeus` Frage verstand. Unsicher schaute er zu Boden und nestelte wieder an einem Stück seines Shirts.

„Ich habe etwas in einem Laden gestohlen…“, antwortete er kleinlaut. Zeus hob fragend eine dunkle Braue.

„Was hast du denn bitte großartiges geklaut, dass du dafür gleich sitzen musst?“, sagte er und konnte nur schwer ein ungläubiges Lachen verkneifen. „Nen Wagen? Ne Waffe?“

Schockiert riss Hideki die Augen auf und schüttelte den Kopf. „Nein!“, rief er empört, sah dann aber wieder schnell auf den Boden, als Zeus` Blick noch bohrender wurde. „Ich…“, begann Hideki wieder und holte tief Luft. „Ich habe eine externe Festplatte gestohlen…“

„So `ne stinknormale?“, entgegnete Zeus verwundert und malte mit den Fingern ein handliches Rechteck in die Luft, woraufhin Hideki vorsichtig nickte.

„Ich repariere Computer, um ein wenig Geld zu verdienen.“

„Scheint ja dann wohl nicht viel abzuwerfen.“, spottete Zeus glucksend und zog seine Braue weiter Richtung Haaransatz. „Gott, wegen sowas Banalem wird man heute schon hinter Gitter gesteckt?“

Hideki zögerte einen Moment, entschloss sich aber dann doch den Kopf zu schütteln. „Das… das war leider noch nicht alles.“

Zeus` Grinsen wurde breiter. „Warum? Haste noch `nen Paket Batterien mitgehen lassen?“ Beleidigt schaute Hideki auf und sah ihm wütend in die frech leuchtenden Augen, dass sich der Dunkelhaarige beeilte, die Hände schützend vor sich zu halten. „Sorry.“, sagte Zeus schnell und versuchte wieder ernst zu gucken. Für einen Moment blickte Hideki ihn noch warnend an, dann seufzte er und fuhr sich fahrig durch den braunen Schopf.

„Ich bin wegen Diebstahl und… Körperverletzung verurteilt worden.“, brachte er zögernd hervor und setzte sich auf sein Bett. Stirnrunzelnd folgte Zeus seinem Beispiel und setzte sich neben ihn.

„Körperverletzung…“, begann dieser langsam und deutete auf Hideki. „Du…?“ In seiner Stimme lag reinster Unglaube. Hideki spürte, wie ihm warm im Gesicht wurde und ungewollt sank er weiter in sich zusammen. Er nickte zustimmend.

„Als die Leute von dem Kaufhaus bemerkt haben, dass ich etwas gestohlen habe, bin ich in Panik geraten und weggerannt und-“ Hideki unterbrach sich und holte erneut tief und zittrig Luft. „Und dann bin ich durch die Stadt gelaufen und hab mich an den Leuten vorbeigedrängt und… dann war da diese alte Frau und- die Fußgängerampel war rot und dann kam dieser Wagen und-“

„Stopp!“, unterbrach Zeus seinen hysterisch gewordenen Redefluss und hob fassungslos die Augenbrauen. „Heißt das… du hast jemanden vor ein Auto gestoßen?“

„Es war keine Absicht gewesen! Sie ist gestolpert!“ Hidekis Stimme überschlug sich bei den Worten und mit Tränen in den Augen sah er zu Zeus auf, der sich, nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, nicht entscheiden konnte, ob er schockiert oder amüsiert sein sollte.

„Du verarschst mich. Du willst mir echt weismachen, dass du `ne Oma aufm Gewissen hast?“

„Ja… nein!“, erwiderte sein Gegenüber verzweifelt und vergrub seine Hände in den braunen Haaren. „Die alte Frau lag eine Woche auf der Intensivstation, aber ihr geht es wieder gut… das war alles ein Unfall- ich habe das nicht gewollt!“, schloss Hideki verzweifelt.

Zeus schaute ihn noch einen Moment unschlüssig an, dann verfiel er in schallendes Gelächter.

„Das glaub ich alles nicht- mein Mitbewohner muss sitzen, weil er jemanden angerempelt hat.“ Er brauchte einige Sekunden, bis er sich soweit von seinem Lachanfall beruhig hatte, dass er wieder Luft holen konnte. Immer noch lachend wischte er sich über die tränenden Augen. „Hideki, wenn du mich fragst, solltest du mal zu einem Psychologen gehen, du hast ein echtes Aggressionsproblem…“

Der Angesprochene schniefte kleinlaut und sah weg. Sein Gesicht war immer noch heiß. Er bereute seine Tat zutiefst. In seinen Augen war sein Verhalten unverzeihbar und er hatte es nicht anders verdient, als hier im Gefängnis zu sitzen- immerhin hätte die alte Frau ja auch bei dem Unfall sterben können. Dass sich Zeus allerdings nun so darüber lustig machte, fand er nicht richtig. Trotzig sah er wieder auf.

„Dann erzähl du doch mal, warum du hier bist…“, sagte er verärgert.

Zeus hörte augenblicklich auf zu lachen und musterte den Jüngeren. „Ich war so doof und hab mich bei einem Handel erwischen lassen.“, antwortete der Blasse schulterzuckend. Hideki blinzelte fragend, woraufhin Zeus verdutzt die Braue hochzog und hinzufügte: „Drogen? - meine Güte, bist du so naiv, dass ich dich erst mit dem Zaunpfahl erschlagen muss?“ Mit dem aufkommenden Verständnis weiteten sich Hidekis Augen. „Du… du hast sowas genommen?“

„Ich deale mit Drogen.“, korrigierte Zeus bissig. „Das ist ein himmelweiter Unterschied, klar? Mein scheiß Partner hat mich verpfiffen und an die Bullen ausgeliefert… und hör auf, in der Vergangenheit zu reden, als wenn ich das nie wieder tun würde.“

„Heißt das, du willst damit weitermachen, wenn du hier raus bist?“, schlussfolgerte der Braunhaarige fassungslos. Zeus` Braue wanderte erneut nach oben.

„Was hast du erwartet? Dass ich alles hinschmeiße, nur weil die Säcke mich einmal geschnappt haben?“, entgegnete Zeus und sah Hideki ungläubig in die Augen, als habe er einen schlechten Witz gemacht. Der andere deutete hilflos hinter sich zur Zellentür.

„Du hast doch gesehen, wohin das führt. Willst du, dass sie dich wieder gefangen nehmen?“

„Glaubst du wirklich, dass das hier sowas wie eine Besserungsanstalt ist?“, fragte Zeus nüchtern und breitete die Arme aus. „Glaubst du wirklich, dass Leute wie Rex hier nach ein paar Jahren Rumsitzen geläutert rausgehen und nie wieder bei Rot über die Ampel fahren?“ Zeus schüttelte den Kopf und stand auf, um auf sein eigenes Bett zu klettern. Vorher machte er noch das grelle Deckenlicht aus, sodass ihre kleine Zelle in dämmriges Zwielicht getaucht wurde, allein durch das kleine Fenster in der schweren Eisentür erhellt. Hideki hatte nicht auf die Uhrzeit geachtet, aber es schien schon sehr spät geworden zu sein.

„Verabschiede dich von dem Gedanken, dass die Leute das Gefängnis als Strafe ansehen, Neuer. Wir alle hier sitzen unsere Zeit relativ friedlich und geduldig ab und machen gute Miene zum bösen Spiel, bis die Deppen vom Gericht uns wieder entlassen wollen oder müssen. Bereue nie deine Taten; stehe zu ihnen und lerne aus deinen Fehlern- das ist es, wofür diese Irrenanstalt gut ist: dass du danach vorsichtiger bist!“

Hideki sah von unten, wie Zeus` Matratze sich knarrend ausbeulte, sodass er vermutete, dass sich der junge Mann auf ihr hinlegte. Von draußen hörte er, wie ein Wärter durch die Gänge brüllte, dass Nachtruhe sei, und keinen Augenblick später wurde ein Schlüssel von außen in dem Schloss ihrer Zellentür geräuschvoll umgedreht. Beide Jungen schwiegen und nach einigen Momenten tat es Hideki Zeus gleich und legte sich ebenfalls hin. Zeus` Worte hatten ihn zugleich schockiert, aber auch nachdenklich gemacht.

„Glaubst du tatsächlich, dass alle hier so denken?“, flüsterte Hideki und sah zu der grauen Matratze hinauf.

„Ich bin schon lang genug hier, um mir sicher zu sein. Vielleicht gibt es Ausnahmen, aber die sind selten.“, brummte der grobe Stoff über ihm.

„Wie lange dauert deine Strafe denn noch?“

„Weiß nich… nen Jahr, vielleicht anderthalb?“

Kurz überlegte er, wie hoch die Strafe für den Handel mit Drogen nach Zeus` Aussage vermutlich war und musste hart schlucken. Er würde die nächsten drei Monate hier sein und das reichte ihm schon vollkommen.

„Und du willst danach wirklich weitermachen wie bisher?“, fragte er vorsichtig und mit Besorgnis in der Stimme. Er fing an, Zeus zu mögen und bei dem Gedanken, dass er noch einmal im Gefängnis landen könnte, zog sich alles in ihm zusammen. Hideki hörte ein genervtes Seufzen, bevor Zeus brummend zur Antwort ansetzte.

„Ich war gut in dem, was ich tat… würdest du aufhören, an Computern rumzuschrauben, nur weil dich diese Tätigkeit dazu verleitet hat, etwas zu stehlen?“ Hideki senkte den Blick und schwieg. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr Zeus leise weiter fort: „Wenn ich hier raus bin, werde ich mir erst einmal den Dreckskerl vorknöpfen, dem ich diese ganze Scheiße zu verdanken habe…“

Beim Klang seiner tiefen Stimme stellten sich Hidekis Nackenhaare auf. Er überlegte, etwas zu erwidern, doch es fiel ihm nichts Sinnvolles ein, also drehte er sich auf die Seite und schloss müde die Augen. Diesen Mann von seiner Meinung abzubringen schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
 

Zeus schirmte seine Augen mit der Hand ab und schaute angestrengt über den Hof. Die Sonne stand tief und blendete ihn mit ihrem grellen Gelb, sodass es ihm schwer fiel, genaue Einzelheiten auszumachen. Es würde vielleicht noch eine halbe Stunde dauern, bis die letzten Strahlen hinter den dicken Betonmauern verschwunden waren.

Er gab es auf, von seinem Standpunkt aus etwas zu erkennen und stieg seufzend die Treppen in den Hof hinab. Jetzt, wo die meisten schon wieder in ihren Zellen oder im Speisesaal waren, war die mit Kies ausgelegte Außenanlage wie ausgestorben und das Knirschen, das bei jedem seiner Schritte entstand, schwoll zu unerträglichem Lärm an. Auch hier, mitten auf dem Platz, konnte er nichts sehen und stirnrunzelnd verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Hideki?“, rief Zeus und seine dunkle Stimme echote an den hohen Mauern wider. Es dauerte ein paar Sekunden und er wollte schon Luft für einen weiteren Versuch holen, als der Jüngere ihm endlich antwortete- auch wenn es zuerst danach aussah, als sei einer der großen Mülltonnen zum Leben erwacht.

„Das kann doch nicht wahr sein…“, murmelte Zeus augenverdrehend und setzte sich wieder in Bewegung. Er blieb vor dem rechten Container stehen und schob diesen auf. Nichts. Ein weiteres, weitaus genervter, klingendes Seufzen entrang grollend seiner Kehle.

„Hideki, sag mir bitte, dass du dich hinter den Tonnen versteckst.“

„…nein.“, murmelte der Container neben ihn, dass Zeus verwundert blinzelte. Der Schwarzhaarige zählte in Gedanken um Beherrschung bemüht bis drei, atmete noch einmal tief durch und öffnete dann den Müllcontainer für Plastikabfälle. Blinzelnd schaute der Braunhaarige zwischen stinkenden Beuteln zu Zeus hoch, der angewidert die Nase rümpfte.

„Alter, was habe ich dir gesagt, sollst du tun, wenn dir jemand an den Kragen will?“, fragte er tadelnd und reichte Hideki seine Hand.

„Ignorieren und weggehen…“, antwortete der Andere kleinlaut und kletterte staksig aus seinem Gefängnis.

„Ignorieren und weggehen.“, wiederholte Zeus betont und zog mahnend die Braue hoch. „Welchen Teil von meinem Rat hast du nicht verstanden?“

Hideki sah Zeus teils verzweifelt, teils wütend in die Augen. „Das sagst du so leicht! Ich komm doch nie weiter, als bis zum Teil mit dem Ignorieren.“ Der Dunkelhaarige unterdrückte angestrengt ein Augenrollen und versuchte es, mit einem Kopfschütteln zu vertuschen.

„Du raubst mir den letzten Nerv…“, brummte er, legte eine Hand an Hidekis Rücken und zwang ihn so, mit ihm mitzugehen. Der Jüngere versuchte erst gar nicht, sich dagegen zu wehren.

„Kannst du nicht die ganze Zeit in meiner Nähe bleiben?“, fragte er stattdessen und klopfte seine Sachen sauber.

Zeus lachte. „Klar kann ich das machen- gegen Bezahlung…“

„…ich kann dich aber nicht bezahlen.“

„Dann werde ich auch nicht vierundzwanzig Stunden um dich herumlaufen können…“, schlussfolgerte Zeus altklug und grinste, als er Hidekis Gesichtszüge ein Stockwerk tiefer rutschen sah. „Hör zu, es gibt zwei Möglichkeiten, wie du von nun an vorgehen kannst: entweder du bringst den Mut auf und stellst dich den Säcken entgegen oder du verkriechst dich in irgendeiner Zelle- wohlgemerkt nicht in unserer!“, fügte Zeus schnell hinzu. „Ich hab keine Lust die Metalltür wieder auszubeulen oder für das beschädigte Mobiliar geradezustehen, wenn die Typen dich gefunden haben.“ Er bemerkte, wie Hideki hart schluckte und wieder verängstigt Löcher in den Boden starrte und nun konnte Zeus ein tiefes Seufzen nicht mehr unterdrücken. „Du musst aufhören, so sensibel und ängstlich zu sein, Hideki- mit diesem Verhalten forderst du die doch geradezu auf, dir eine reinzuschlagen. Die wenigsten hier sind wirklich ernst zu nehmen oder gefährlich, glaub mir. Der Neue zu sein ist ein scheiß Gefühl, ich kenn das, aber du darfst dich nicht unterkriegen lassen.“

Unsicher schaute Hideki zu ihm auf.

„Warst du auch mal der Neue?“

Zeus nickte. „Fast jeder, der nicht schon mehrmals hier gesessen hat, war das.“

Hidekis Augen weiteten sich staunend und er öffnete, nach Worten suchend, den Mund. „Aber… Rex hat dir kein Haar gekrümmt.“, entgegnete er fassungslos, dass Zeus anfing zu lachen.

„Natürlich hat er das nicht, weil ich ihm sonst in den Hintern getreten hätte.“, sagte der Schwarzhaarige amüsiert und klopfte Hideki auf die Schulter. „Hör auf zu glauben, dass Rex ein harter Brocken sei. Er ist wie ein echter Wadenbeißer: reißt die Klappe auf, als sei er einer der Großen, und zieht den Schwanz ein, wenn jemand das Wort gegen ihn erhebt. Lästig, aber ungefährlich… Du stündest weit über ihm, wenn du ihm nur einmal ordentlich zwischen die Beine treten würdest.“

Hideki blieb stehen. „Glaubst du das wirklich?“, fragte er und legte ungläubig die Stirn in Falten. Auch Zeus verlangsamte seinen Schritt und drehte sich zu ihm um. Der Blasse begann wieder zu grinsen. „Klar glaub ich das, sonst würde ich so etwas doch nicht sagen.“ Er musterte den Jungen einen Moment lang mit schief gelegtem Kopf, dann ging er auf Hideki zu und blieb direkt vor ihm stehen. „Ich bin ehrlich zu dir: ich habe keinen Bock, die ganze Zeit an deinen Fersen zu kleben und ein Auge auf dich zu haben- zumal du unter meinem Schutz dein Opferimage wohl nie loswerden würdest. Aber wenn du willst, zeig ich dir ein paar Tricks, wie du Rex in seine Schranken weisen kannst.“ Hidekis Augen wurden noch größer, doch bevor er etwas sagen konnte, fiel ihm Zeus grinsend ins Wort. „Ich würde zu gern mit ansehen, wie diese Witzfigur von dir vorgeführt wird- und ja, ich traue dir das zu.“ Er hielt dem sprachlosen Braunhaarigen seine Hand hin. „Also, was sagst du?“

Schweigend sah Hideki auf die dargebotene Rechte. Er stellte sich den breitschultrigen Mann mit dem Hundegesicht wieder vor und wie er selbst vor ihm stand- ein kleiner, schmächtiger Jüngling, der nur ein Bruchteil des Kampfgewichtes dieses Hünen auf die Waage brachte. Was könnte er denn gegen so einen Gegner schon ausrichten? In seinen Gedanken nahm Rex die Größe einer gestandenen Eiche an, vor der er hilflos auf und ab hüpfte und mit kleinen Fäusten auf Rex` Schienbein eintrommelte. Die Vorstellung wurde von Sekunde zu Sekunde absurder.

Dann suchte Hideki verunsichert Zeus` Blick.

Die dunklen Augen sahen ihn selbstsicher und überzeugt an und mit einem Mal sprang ein Hauch dieses Selbstbewusstseins auch auf Hideki über. Zeus war kein Mann, der gedankenlos vor sich hin reden würde. Er log nicht, das wusste Hideki, und wenn er sich sicher war, dass Hideki es schaffen würde, dann würde er Zeus zumindest das nötige Vertrauen schenken und es wenigstens versuchen- was konnte er denn überhaupt großartig verlieren, was die letzten Tage ihm nicht schon längst genommen hatten? Hideki lächelte hoffnungsvoll, als er Zeus` Hand ergriff. Sein Gegenüber grinste noch breiter und nickte zustimmend.

„Sehr gut.“ Zeus trat einen Schritt rückwärts. „Das Problem ist, dass Rex größer ist als du- viel größer.“, erklärte er, ballte die Linke zur Faust und bewegte sie langsam an Hidekis Kinn, als wolle er einen Schlag ausführen. „Du wirst es nicht schaffen, ihm ins Gesicht zu schlagen und zwar nicht nur, weil du zu klein bist.“ Und damit ließ er einen abschätzenden Blick über Hidekis Statur gleiten, um daraufhin mit dem Kopf zu schütteln. Er senkte seine Faust und drückte sie stattdessen gegen den Solarplexus des Jüngeren. „Hier musst du ihn treffen…“ Zeus stellte ein Bein hinter Hidekis Wade. „Du musst ihm das Gleichgewicht nehmen und zu Fall bringen. Die Beinstellung wird nicht ausreichen, damit er fällt, dafür ist die Töle zu schwer. Aber wenn du diesen Griff anwendest-“, begann Zeus und umfasste mit beiden Händen Hidekis Oberarm. Der Jüngere hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder.
 

Hideki war seit ein paar Tagen nun schon Zeus` „Schüler“ und in jeder freien Minute, die Zeus bereit war, zu opfern, zeigte er ihm neue Methoden und Angriffstechniken und vertiefte die alten. Hideki konnte nicht beurteilen, ob er sich dabei vollkommen dumm oder sehr talentiert anstellte; Zeus geizte generell mit Lob oder Kritik während ihrer Übungen, sodass er es überhaupt nicht einschätzen konnte- er musste einstecken, teilte aber auch genauso gut aus, dass manchmal selbst Zeus überrascht war.

Ihr Training blieb nicht unbeachtet, mit dem Ergebnis, dass immer mehr Insassen den beiden bei ihren täglichen Einheiten zusahen und Hideki mit teils belustigten, teils misstrauischen Blicken begegneten. Allerdings ließ man ihn zunehmend mehr in Ruhe- was aber natürlich auch einfach nur daran liegen könnte, dass sich Zeus häufiger in seiner Nähe aufhielt.

Einen Nachmittag, den Zeus nicht mit Lehrstunden „verschwenden“ wollte, fand Hideki seinen Mitbewohner, wie der Blasse es immer gerne ausdrückte, in dem großen Gemeinschaftssaal an einem der unzähligen Tische sitzen. Der Schwarzhaarige hatte sich über ein Buch gebeugt und schien konzentriert zu lesen, als Hideki sich ihm näherte und neugierig auf die Seiten linste.

„Was liest du da?“, fragte Hideki und runzelte die Stirn. Über die Doppelseite zog sich eine grotesk wirkende, farbige Abbildung von etwas, das er nicht ganz zuzuordnen wusste. Zeus sah verspätet auf und schaute ihn mit einem leicht gereizten Gesichtsausdruck an, als schien er über die Störung verärgert zu sein, dennoch zuckte er nach einem Augenblick mit den Schultern.

„Neurobiologie.“, antwortete Zeus knapp und schob Hideki das aufgeschlagene Buch über den Tisch zu. Jetzt erkannte dieser auch, was das Bild darstellte- es war eine schematische Abbildung von einem Querschnitt durch das menschliche Gehirn; genauer gesagt durch den Frontallappen auf Höhe des Hippocampus- zumindest stand das in dem Titel des Bildes.

Hideki starrte auf das Bild und konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Angeekelt schob er das Buch wieder von sich weg. „Für sowas interessierst du dich?“ Seine Stimme hatte ungewollt abstoßend geklungen, sodass Zeus eine Braue hob und ihn argwöhnisch musterte.

„Was dagegen?“

Hideki beeilte sich, den Kopf zu schütteln und hob verteidigend die Hände. „Nein, nein! Es ist nur… ungewöhnlich. I- ich dachte… naja-“ Er unterbrach sein Gestotter, als sich Zeus` Gesicht noch weiter vor Skepsis verzog.

„Du hast mir nicht zugetraut, dass ich solche Bücher lese.“, schlussfolgerte dieser nüchtern und verschränkte die Arme vor der Brust. Hideki schluckte und zog es vor, nicht zu antworten- die Konsequenzen wären, egal was er nun gesagt hätte, unschön geworden…

„Wo… wo hast du das Buch überhaupt her?“, fragte Hideki stattdessen und hoffte somit, das Unheil abzuwenden. „Hat dieses Gefängnis eine Bibliothek, oder so?“

„Schön wär` s.“, lachte Zeus. „Ich hab mir das Buch vom Doc ausgeliehen.“

Die Augen des Jüngeren weiteten sich verstehend. ‚Der Doc’ war ihm ein Begriff- er selbst hatte auch schon das Vergnügen gehabt, bei diesem Mann auf der Couch zu liegen und ihm ausführlich seine Lebensgeschichte zu schildern. Es waren Routinesachen, die hier jeder über sich ergehen lassen musste. Der schlaksige, alte Mann war nicht gerade unsympathisch gewesen, aber Hideki konnte einfach nicht verstehen, wie man mit einem Typen, dessen Augen bei dramatischen Kindheitstraumata und Erzählungen von tragischen Todesfällen zu Leuchten beginnen, mehr Zeit als unbedingt nötig verbringen konnte.

„Gehst du deshalb so oft zu ihm?“, fragte Hideki deswegen und nahm gegenüber von Zeus Platz. Der Ältere nickte, legte ein Stück Papier zwischen die aufgeschlagenen Seiten und klappte das Buch zu.

„Er bringt mir ein bisschen was bei- hab ihn irgendwann mal darauf angesprochen und er hat sich einverstanden erklärt, mich zu unterrichten.“ Zeus streckte sich im Sitzen und gähnte. „Wer weiß- vielleicht schaff ich` s ja auch, ihn zu überreden, mir eine Referenz zu schreiben.“

Hideki runzelte die Stirn. „Wofür denn?“

„Für die Uni.“, antwortete Zeus schulterzuckend und seinem Gegenüber fiel die Kinnlade auf die Tischplatte.

„Uni?“, wiederholte Hideki ungläubig. „Du meinst `ne Universität?!“

Zeus` Braue wanderte erneut fragend in die Höhe. „Kennst du noch `ne andere Bedeutung des Wortes, von der ich nichts weiß?“

Hideki schluckte und schüttelte wieder den Kopf. Zeus` Stimme hatte zunehmend schneidender und drohender geklungen und somit war ihm klar, dass er Zeus` Geduldsgrenze langsam erreicht hatte und jedes weitere Wort die Situation nur noch verschlimmern würde. Zeus musterte ihn noch einen Moment eindringlich, dann sah er weg, als er merkte, dass Hideki seine Warnung verstanden hatte, und steckte das Buch zurück in einen mitgebrachten Stoffbeutel.

„Es reagieren viele wie du.“, sagte er auf einmal wieder ruhig und gelassen. Hideki brauchte eine Sekunde, um den Sinn seiner Worte zu verstehen, doch dann holte er Luft und wagte es, zu antworten.

„Naja… wenn man dich hier so sieht, glaubt man zuerst gar nicht, dass du vorhaben könntest zu studieren- ich mein… du sitzt immerhin im Gefängnis, weil du mit Drogen dealst …“, entgegnete er vorsichtig. Zeus begann zu grinsen und schüttelte lachend den Kopf.

„Wie gesagt: du bist nicht der Erste.“, sagte er und sah Hideki wieder an. Das Bedrohliche war aus seiner Erscheinung verschwunden und ihm saß wieder der hilfsbereite, wenn auch immer etwas genervt wirkende Schwarzhaarige gegenüber, dem Hideki in den letzten Wochen einiges zu verdanken hatte- unter anderem vielleicht sogar sein Leben. „Ich versteh nicht, warum alle Leute denken, dass sich das gegenseitig ausschließt.“, fügte Zeus seufzend hinzu.

„Naja… Studenten haben in der Regel andere Nebenjobs.“

Zeus begann wieder zu grinsen. „Du würdest dich wundern, Hideki. Auch Studenten sind in der Lage, Morde oder schwere Autounfälle zu begehen und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele meiner Stammkunden zur Uni gehen.“ Er machte eine kurze Pause und beugte sich über den Tisch zu Hideki. „Mein Schnitt war nicht gut genug für den Studiengang, weshalb ich erst einmal angefangen habe, zu arbeiten. Ich war Kurierfahrer und irgendwann bin ich halt den richtigen Leuten begegnet.“ Zeus` Grinsen wurde breiter. „Oder den falschen; je nach Standpunkt.“

Hideki wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte, weshalb er einfach nickte und versuchte, nicht ganz so entsetzt und verständnislos zu schauen. Er konnte nicht gerade von sich behaupten, in wohlbehüteten Familienverhältnissen aufgewachsen zu sein, aber auch so wusste er, dass Zeus` „Berufswahl“ weit ab von jedweder Moral und sein Verhalten im Grunde nicht vertretbar war.

„Also hast du nicht vor, dein ganzes Leben lang Drogen zu verkaufen…“

„Neurobiologie ist zwar nur ein Hobby von mir, aber es schadet nie, ein zweites Standbein zu haben.“, wich Zeus seiner Frage aus und zwinkerte. Nun verzog Hideki doch den Mund und schüttelte den Kopf.
 

Nach knapp einem Monat Aufenthalt in der Strafvollzugsanstalt erhielt Hideki den ersten Brief. Er hatte immer darauf gehofft, endlich ein Schreiben zu erhalten, doch daran geglaubt hatte er kein einziges Mal. Somit war die Überraschung, als man ihn eines Morgens bei der Postvergabe aufrief, umso größer. Strahlend hatte er den Brief entgegengenommen und sich sofort in eine stille Ecke verzogen. Er wäre zwar lieber in seine Zelle verschwunden, allerdings waren seine vier Wände auf Zeit um diese Uhrzeit abgeschlossen und Zeus, der dank „guter Führung“ vor kurzem einen Zellenschlüssel erhalten hatte, war gerade beim Doc, womit auch diese Möglichkeit, an den Luxus vom Alleinsein zu gelangen, wegfiel.

Mit hektischen Fingern riss er den Umschlag auf und ließ ihn achtlos zu Boden fallen. In ihm befanden sich mehrere Seiten weißen Papiers und Hideki erkannte sofort die filigrane und vertraute Schrift seiner Mutter, als er die gefalteten Blätter aufklappte.

Er begann zu lächeln, als er sich die vielen geschriebenen Zeilen durchlas und zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich wieder glücklich und zufrieden. Es waren keine atemberaubenden Themen, die seine Mutter in dem Brief schilderte, das meiste davon war eher belanglos und alltäglich: dass sie vor ein paar Tagen beim Einkaufen eine alte Freundin endlich wieder getroffen hat, ihre Nachbarn auf dem Balkon Geranien und Begonien gepflanzt haben, und dass sich der Hausmeister zum hundertsten Mal darüber beschwert habe, dass Hidekis Fahrrad im Hinterhof eine Stolperfalle sei. Sie fragte ihn, wie es ihm ginge und sie hoffe, dass er genug aß und sich ausreichend warme Kleidung anziehe, denn es würde ja wieder kühler werden und-

Hideki sah von den Zeilen auf, holte tief Luft und unterdrückte mit Mühe die Tränen.

Es waren belanglose, langweilige Dinge, ja, aber wenn man eine Zeit lang von dem normalen Alltag abgeschnitten war, so begann man diese Sachen zu schätzen und zu vermissen. Die Erzählungen seiner Mutter erschienen ihm hier, hinter dicken Betonmauern und Stacheldraht, so unwirklich, dass er sich nach seinem alten, nichts sagenden Leben sehnte, welches er am Eingang des Gefängnisses abgelegt hatte. Er hatte sich mit seiner Situation langsam abgefunden und arrangiert, doch nun wollte er sich mit seiner Mutter zusammen an den Blumen des Nachbarn erfreuen, mit dem Hausmeister die ewig gleiche Litanei abhalten und einfach seiner Mutter dafür danken, dass sie sich weiterhin um ihn sorgte, trotz der Enttäuschungen, die er ihr beschert hatte. Er wollte hier raus und zwar sofort…

Tränen nahmen ihm die Sicht, sodass er Rex zuerst gar nicht bemerkte. Erst, als ihm der Brief aus der Hand gerissen wurde, nahm er seine Umgebung wieder wahr. Erschrocken starrte er in Rex` grinsendes Hundegesicht.

„Sieh an! Der Neue hat Freunde, die sich an ihn erinnern können.“, lachte Rex und überflog die Zeilen des Briefes. Mit einem Satz war Hideki auf den Beinen.

„Gib das her!“, rief er zornig und wollte nach den Blättern greifen, doch der Mann war schneller und hielt den Brief, ohne dabei den Blick von den Seiten zu nehmen, aus Hidekis Reichweite. Sein Zähneblecken wurde immer breiter, dann begann er zu lachen.

„Das glaub ich nicht!“, platzte es aus Rex übertrieben laut heraus. Immer noch lachend wandte er sich an ein paar andere Gefangene, die um die beiden herumstanden. Mit der freien Hand hielt er den tobenden Hideki spielend auf Abstand. „Hört euch den Krampf an: ‚Hitomi lässt dir ganz liebe Grüße ausrichten und sie freut sich schon auf den Tag, an dem du wieder bei uns bist’…“, trug Rex mit gekünstelt herzerweichender Stimme vor und die Männer begannen theatralisch zu seufzen oder stießen hohe Pfiffe aus. Rex sah auf Hideki herab und zog erstaunt die Brauen hoch. „Sag bloß, du hast `ne Freundin, Neuer. Dann solltest du dich aber lieber gut benehmen, damit du schnell wieder rauskommst- die Kleine scheint` s ja ziemlich nötig zu haben, wenn sie schon nach einem Monat so heiß auf dich ist.“ Er brachte das Kunststück fertig, noch breiter zu grinsen, sodass er seine kompletten Zahnreihen entblößte. „Nicht, dass sie sich noch bei einem anderen austobt.“ Hideki wurde rot und presste wütend die Kiefer aufeinander.

„Das geht dich nichts an!“, knurrte er und sprang an dem Hünen hoch, doch Rex hielt die Zettel einfach über seinen Kopf und las weiter laut vor: „’Ich vermisse dich, mein Sohn, und ich hoffe, dass du bald gesund zurückkehrst.’ Wie süß!“ Rex lachte kehlig und fast alle um sie herum stimmten sofort mit ein.

„Hör endlich auf!“, schrie Hideki gegen das Gelächter an und ballte die Fäuste. „Ich will, dass du mir meinen Brief zurückgibst, oder-“

„Oder was?“, fragte Rex auf einmal düster und schaute abschätzend auf ihn herab. Jedes Geräusch um sie herum erstarb augenblicklich. Hideki spannte sich an und sah entschlossen zu Rex hoch. Der Mann wartete drei Sekunden geduldig auf eine Antwort, dann stahl sich wieder ein Grinsen auf seine Züge und er stieß den Jüngeren mit der Rechten so hart gegen die Schulter, dass dieser ein wenig zurückstolperte.

„Hä, was hast du vor?“, fragte er provokant. Hideki schwieg immer noch und so trat Rex erneut auf ihn zu, um ihm noch einmal einen Stoß gegen die Schulter zu verpassen. „Mir geht es am Arsch vorbei, was du willst, Neuer. Hock dich in eine Ecke und heul rum, oder schreib deiner Mami, wie gemein doch hier alle zu dir sind- mir scheißegal.“

Hideki zitterte vor Zorn. „Gib mir den Brief zurück, Rex…“, wiederholte er langsam und um Beherrschung kämpfend, doch das schien den Mann kalt zu lassen. Mit sichtlichem Genuss zerriss er im nächsten Moment die Zettel in mehrere Streifen und ließ dabei Hideki nicht aus den Augen.

„Hol sie dir, wenn du dir nicht vor Angst in die Hosen pisst.“, schnurrte Rex und warf die kläglichen Überreste des Briefes über seine Schulter.

Von da an setzte Hidekis Denken aus. Er ließ seinem Zorn mit einem lauten Aufschrei Luft und stieß Rex mit voller Wucht zurück. Er hörte, wie der Größere erstaunt nach Atem schnappte und sich leicht nach vorne beugte. Blitzschnell wandte Hideki einen Griff an, den Zeus mit ihm bis zum Umfallen geübt hatte, und riss Rex tatsächlich so von den Beinen. Der Mann war zu überrascht um sich zu wehren, sodass er es nur mit Mühe schaffte, sich im Oberkörper zu drehen und seinen Sturz mit den Händen abzufangen, doch Hideki ließ ihm keine Zeit, zu handeln.

Rex war vor ihm auf die Knie gegangen und stützte sich mit beiden Händen am Boden ab, sodass er mit weit aufgerissenen Augen Hidekis Tritt kommen sah und nichts dagegen tun konnte. Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr Rex` linke Gesichtshälfte und für einen Moment war alles um ihn herum schwarz. Er flog nun endgültig zu Boden, spürte den kalten Beton an seiner unverletzten Wange und schmeckte Blut. Sein Unterkiefer brannte und vor seinen Augen tanzten helle Lichtflecke. Er hatte nicht einmal mehr die Luft zu schreien, da der Kleinere ihm immer wieder in den Magen oder ins Gesicht trat. Niemand rührte sich, alle starrten fassungslos Hideki an, der zornig brüllend auf den viel größeren Mann einprügelte.

Dann plötzlich drängte sich Zeus durch die erste Reihe hindurch, packte Hideki unter den Armen und zog ihn von Rex weg.

„Bist du wahnsinnig geworden? Lass den Scheiß, Hideki!“, schrie Zeus den Jüngeren an und drückte den zappelnden jungen Mann zu Boden. Endlich erwachten auch die umstehenden Männer zum Leben; einige rannten auf Rex zu, um ihm zu helfen, andere liefen aus dem Gemeinschaftssaal und riefen nach einem Arzt. Zwei Männer, die mit Rex befreundet waren, kamen auch wütend auf Hideki zu, doch Zeus schaffte es, sie auf Abstand zu halten, sodass er den Braunhaarigen ungestört wieder auf die Beine zerren und mit ihm verschwinden konnte, ehe die Wärter mit dem stationierten Arzt auftauchten.

Zeus zog Hideki, der sich in der Zwischenzeit wieder etwas gefangen zu haben schien, raus auf den leeren Hof und warf ihn zornig in den staubigen Boden. Wie ein geprügelter Hund blieb der junge Mann liegen und wagte es nicht, zu Zeus aufzuschauen. Dieser stand schnaubend und mit geballten Fäusten über ihm und sah wütend auf ihn herab.

„Kannst du mir mal verraten, was das sollte?“, zischte er und beugte sich etwas zu Hideki hinunter. Der Angesprochene presste die trockenen Lippen aufeinander und starrte weiterhin in den Dreck. Als Zeus merkte, dass er keine Antwort bekommen würde, deutete er über seinen Rücken zurück zu dem Gefängnisblock, aus dem sie gerade gekommen waren.

„Ist dir eigentlich bewusst, dass du Rex beinahe umgebracht hättest?“

Nun fuhr Hidekis Kopf doch in die Höhe. Seine hellen Augen glänzten vor Tränen und Zorn.

„Er hat mir meinen Brief weggenommen und zerrissen!“, rief Hideki hysterisch und versuchte sich aufzurichten. Mit gespieltem Entsetzen zog Zeus die Brauen hoch.

„Nein, wie kann er nur!? Das ist natürlich ein Grund, jemanden ins Gesicht zu treten…“

„Er war von meiner Mutter, klar?“, knurrte der Jüngere, woraufhin Zeus nickend die Arme verschränkte. „Na, das ist doch eine Prügelei wert! Was machst du als nächstes? Läufst du mit einem Küchenmesser Amok, weil sie jemand als Schlampe bezeichnet?“

Hideki verengte wütend die Augen. „Du selbst hast doch gesagt, dass ich ihn fertig machen soll.“, erwiderte er, doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, beugte sich Zeus zu ihm herunter und packte ihn am Kragen. Nach dem Ausdruck in seinen Augen zu urteilen, musste sich Zeus stark zusammennehmen, um Hideki nicht selbst ins Gesicht zu schlagen.

„Ich habe gesagt, dass du ihm zeigen sollst, dass du dir von ihm nicht alles gefallen lässt und nicht, dass du ihm solange den Schädel eintreten sollst, bis er erstickt!“ Zornig schüttelte er den Kopf. „Herrgott, Hideki, kapierst du es immer noch nicht? Es ist jedem hier egal, was du da draußen getan hast, um hier drin zu landen- sowohl den Gefangenen, als auch den Wärtern… vor allem denen! Hast du dich noch nie gefragt, warum sie kein einziges Mal eingeschritten sind, wenn du wieder den Sündenbock spielen musstest, warum sie die meiste Zeit hier nicht einmal anwesend sind? Die Erklärung ist ganz einfach: weil es sie einen Dreck interessiert, was hier mit uns passiert!“

Zeus machte eine kurze Pause und sah Hideki noch tiefer in die Augen, sodass sich dieser verzerrt in den dunklen Pupillen des Schwarzhaarigen widerspiegeln sah. „Es gibt nur eine Regel seitens der Wärter: wenn du hinter diesen Mauern jemanden umbringst- sei es nun willentlich oder aus Versehen- bist du für alle Zeit hier eingesperrt! Prügeleien und Mobbing werden geduldet- das zu regeln überlassen sie uns Häftlingen- aber wenn an die Öffentlichkeit gerät, dass hier ein Mensch zu Tode gekommen ist, schadet das der guten Fassade des Gefängnisses und das, Hideki, kommt für den Schuldigen einem Todesurteil gleich…“

Zeus ließ einige Sekunden noch schweigend verstreichen, dann ließ er Hidekis Kragen los und richtete sich wieder auf. Hideki wandte wieder den Blick ab und sah verschüchtert auf seine verkrampften Hände hinab. Er verspürte immer noch Zorn auf Rex in seinem Herzen, doch Zeus` Worte hatten ihn soweit ernüchtert, dass sein Gewissen wieder die Kontrolle über seinen Körper und sein Denken übernommen hatte und ihm die Folgen seiner Taten langsam bewusst wurden.

Hatte er tatsächlich beinahe jemanden getötet?

Der Gedanke schnürte ihm den Hals zu und ließ ihn dagegen mühsam an schlucken. Zeus hockte sich vor Hideki hin und suchte mit ernsten Augen seinen Blick.

„Du wirst zu Rex gehen und ihn um Verzeihung bitten.“, sagte er und teils erschrocken, teils empört, starrte Hideki ihn an.

„Was? Nein, ich-“

„Du wirst dich entschuldigen, basta! Wenn Rex den Mund wieder aufbekommt und dich bei den Wärtern verpfeift, bist du weg vom Fenster, Hideki- und zwar endgültig!“

Der Angesprochene wollte protestieren, doch weiter, als bis zum Luft holen, ließ Zeus ihn nicht kommen. Abrupt stand der Blasse auf und schenkte Hideki einen Blick, der keine Widerworte duldete. Kurzerhand gab sich der Jüngere geschlagen, klappte seinen Mund wieder zu und stand schmollend auf. Zeus nickte zufrieden.

„Du kannst dich glücklich schätzen, dass die anderen dicht halten werden.“, fügte er hinzu und ging wieder in Richtung Gebäude.

Zögernd folgte Hideki ihm. „Und warum bist du dir da so sicher?“

„Du kannst den Typen hier vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie den Wärtern irgendeine Art von Loyalität zukommen lassen würden. Das letzte, was du hier sehen wirst, ist, dass jemand zu den Aufsehern rennen würde, um einen Mitgefangenen anzuschwärzen.“ Zeus blieb stehen und drehte sich zu Hideki um. Sein Blick war todernst, als er nun weitersprach. „Das ist eine Sache zwischen Rex und dir. Niemand wird sich da einmischen. Rex ist der einzige von uns, der das Recht hat, dich bei den Wärtern zu melden- verstehst du jetzt, warum es so wichtig ist, dass du die Angelegenheit mit ihm rechtzeitig aus der Welt schaffst?“

Hideki senkte den Blick und nickte leicht. Seufzend kam Zeus die wenigen Treppenstufen, die in die Halle führten, wieder hinunter und legte Hideki eine Hand auf die Schulter.

„Ich verlange ja nicht von dir, dass du vor ihm im Dreck kriechen und um Gnade winseln sollst.“, begann er und zwinkerte Hideki verstohlen zu. „Denn wenn du mich fragst, hat der Köter sich deine Abreibung dafür doch zu sehr verdient.“
 

Da das Gefängnis keine eigene Krankenstation besaß, die für die Behandlung solch schwerer Verletzungen, die Rex davongetragen hatte, ausgelegt war, wurde der Mann für mehrere Wochen unter Aufsicht in das örtliche Krankenhaus gebracht. Der Grund für Rex` Kopfverletzung wurde nicht weiter in der Öffentlichkeit erläutert- die Ärzte des Krankenhauses verpflichten sich zur Verschwiegenheit und Rex konnte, durch seine jetzige Lage, kein Wort über den Vorfall verlieren, sodass die Verwalter des Gefängnisses die ganze Sache als unglücklichen Unfall hinstellten und Zweifler mit einem mitleidigen Lächeln oder Schulterzucken abzuwimmeln versuchten.

Als Hideki Rex einen Tag nach seiner Rückkehr im Aufenthaltsraum entdeckte, hätte er am liebsten wieder auf dem Absatz kehrt gemacht. Der breitschultrige Mann saß mit einem Mitgefangenen an einem der Tische und spielte Karten. Er trug einen dicken Verband über der Nase und selbst aus mehreren Metern Entfernung heraus, konnte Hideki seine blutunterlaufenen Augen sehen, die sich grotesk in seinem ungesund blassen Gesicht abzeichneten. Er schluckte. Rex schien ihn noch nicht bemerkt zu haben, er könnte also immer noch umkehren…

Zeus` mahnende Stimme hallte auf einmal durch seine Gedanken, sodass er sich verbittert auf die Unterlippe biss. Er musste mit Rex reden, da führte kein Weg dran vorbei. Hideki holte tief Luft und durchschritt mit eiligen Schritten den Gemeinschaftssaal. Erst, als der Jüngere fast vor dem Tisch stand, wurde man auf ihn aufmerksam- zumindest schaute der andere Mann auf, den Hideki nicht mit Namen kannte, von dem er allerdings wusste, dass er öfter mit Rex zusammen gesehen wurde. Zuerst zeigte sein Gesichtsausdruck Überraschung, die jedoch schnell wieder verblasste, um tiefer Verachtung Platz zu machen, die Hideki unsicher in seiner Bewegung, näher auf die beiden zuzugehen, stoppen ließ. Auch Rex schien ihn endlich bemerkt zu haben, vermied es jedoch ihm direkt in die Augen zu sehen und starrte weiterhin sein Gegenüber an. Hideki riss sich von dem hasserfüllten Blick des Anderen los und sah stattdessen zu Rex. Aus der Nähe betrachtet war das verhärtete und mürrische Gesicht des Mannes noch beängstigender.

„Kann… ich mit dir reden?“, fragte Hideki vorsichtig und begann nervös an seinem Hemd zu zupfen. Rex sah ihn immer noch nicht an, dennoch verengten sich seine Augen und als er nun seine Karten, die er in der Hand gehalten hat, auf den Tisch warf, verkrampfte sich Hidekis ganzer Körper. Rex gab dem anderen Mann einen bedeutenden Wink, auf den sich dieser sofort von seinem Platz erhob und ging, jedoch nicht ohne Hideki noch einmal einen herablassenden Blick zuzuwerfen. Er versuchte es zu ignorieren. Seit seiner Auseinandersetzung mit Rex reagierten die meisten Mitgefangenen so oder so ähnlich auf ihn, wenn er ihnen begegnete.

„Was willst du?“, brummte Rex mürrisch, als der andere außer Hörweite war. Hideki schluckte seine Unsicherheit hinunter und stellte sich etwas gerader hin.

„Ich wollte mich entschuldigen für… für…“ Hideki holte noch einmal tief Luft und wollte den Satz gerade vollenden, als Rex in diesem Moment seinen Kopf zu ihm drehte. Seine linke Wange, die Hideki die ganze Zeit über abgewandt gewesen war, lag unter einem dicken Verband und an den Stellen, die der weiße Stoff nicht verbarg, war Rex` Haut tiefblau. Das Weiß seines linken Auges war durchzogen von geplatzten Adern und an seiner linken Schläfe erkannte er die feinen Stiche einer frisch vernähten Platzwunde. Hastig Luft holend konnte Hideki den Drang nicht unterdrücken, vor Rex zurückzuweichen. Er starrte aus geweiteten Augen auf das entstellte Gesicht des Mannes und brachte kein Wort raus.

Rex zog erwartungsvoll die Braue seiner bis aufs weitere unverletzten Gesichtshälfte hoch.

„Sprich ruhig weiter…“, sagte er etwas undeutlich, wobei er fast nur die Lippen bewegte. Erst jetzt sah Hideki, dass auch sein Kiefer angeschwollen war. Er sah bedrückt zu Boden und seine Hände fassten stärker um sein Hemd.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich dich so getreten habe…“ Hideki wagte es kurz, wieder aufzusehen. Rex` Blick war von Hass zerfressen. „Ich wollte das nicht- ehrlich…“, fügte er verschüchtert hinzu und trat unsicher von einem Bein aufs andere. Rex sah ihn einen Moment lang noch an, dann schüttelte er langsam den Kopf und begann, die Karten vom Tisch aufzusammeln.

„Bring mich nicht zum Lachen.“, knurrte er, steckte das Kartenspiel weg und stand auf. Da Hideki direkt vor ihm gestanden hatte, musste der Kleinere nun den Kopf weit in den Nacken legen, um Rex weiterhin in die Augen sehen zu können. „Geh mir gefälligst aus dem Weg.“, brummte der Hüne und in seinen Augen lag der gewohnte Hauch von Mordlust, der Hideki so stark an einen Rottweiler erinnerte. Schnell beeilte er sich, Rex` Aufforderung nachzugehen, sodass der Hundemann an ihm vorbei durch den Gemeinschaftssaal gehen konnte. Nach ein paar Metern blieb er stehen und drehte sich noch einmal zu Hideki um.

„Wie lange muss ich dich eigentlich noch ertragen?“, rief er so laut durch den Raum, dass es die umstehenden Männer mitbekamen. Hideki zuckte vor Schreck über den abwertenden Tonfall zusammen und starrte verschüchtert in die Gesichter der anderen, deren Blicke nun alle auf ihn gerichtet waren. „Ich… also- meine Haft geht noch einen Monat…“, antwortete Hideki. Er konnte einen kurzen Blick hinter Rex werfen und sah, dass Zeus in diesem Moment den Saal betrat und stirnrunzelnd stehen blieb. Rex` Augen verengten sich gefährlich.

„Dann rate ich dir eins: Verkriech dich für diese Zeit in irgendeinem Zellenloch und bete, dass ich dich nicht finde- hast du verstanden, Hades?“, knurrte Rex so düster, dass Hideki wieder den Drang verspürte, vor dem Hünen wegzulaufen. Warum hatte er sich auch nur von Zeus dazu hinreißen lassen, sich mit diesem Monster von Mann anzulegen? Hideki wollte schon heftig nicken und dann seinen Instinkten nachgeben und die Beine in die Hand nehmen, als ihm etwas auffiel, das ihn verwundert aufblicken ließ.

„A- aber mein Name lautet doch Hi-“ Doch da hatte sich Rex schon umgedreht und bewegte sich weiter in Richtung Ausgang. Als er Zeus entdeckte, blieb er einen Moment lang stehen und starrte den Kleineren an. Hideki konnte Rex` Gesicht zwar nicht sehen, dennoch glaubte er zu erahnen, dass der Mann den Blassen mit seinen Blicken zu erdolchen schien. Der Blickkontakt währte nicht länger als eine Sekunde, dann war Rex an Zeus vorbeigegangen und aus Hidekis Sichtfeld verschwunden. Wie auf ein stummes Kommando hin löste sich die bedrückende Situation wieder auf und niemand schenkte dem Braunhaarigen mehr die geringste Beachtung. Hideki stand perplex da und versuchte seinen rasenden Herzschlag durch tiefe Atemzüge wieder zu beruhigen. In diesem Moment kam Zeus mit einem breiten Grinsen auf ihn zu.

„Alle Achtung, du lebst noch!“, sagte der Schwarzhaarige, als er bei Hideki ankam und klopfte ihm auf die Schulter. Sein Grinsen wurde ein Stück weit breiter. „Glückwunsch, du hast dir gerade offiziell einen Namen gemacht.“

Hideki blinzelte verwirrt. „Ich habe was?“ Aber dann erinnerte er sich und mit geweiteten Augen starrte er Zeus an. „Moment! Das… das war gerade kein Versprecher gewesen?“

„Gott, bist du schwer von Begriff!“, lachte Zeus laut und schlug Hideki erneut auf die Schulter. „Ich hatte zwar gehofft, dass du einen Namen kriegen würdest, der weniger mit mir in Verbindung steht, aber so was kann man sich ja nicht aussuchen.“

Die Essensglocke ertönte auf einmal und alle anwesenden Insassen strömten aus dem Gemeinschaftssaal hinaus und auch Zeus zog Hideki am Arm mit. „Komm, das wird erst mal ordentlich begossen- ich kenn einen, der schmuggelt schon seit Monaten Alkohol hier rein, den werde ich später mal fragen, was er so da hat… irgendwelche Wünsche, Hades?“

Abrupt blieb Hideki stehen. „Warum kann man mich nicht einfach mit meinem normalen Namen anreden?“, rief er empört. Augenverdrehend kam Zeus wieder auf ihn zu und schob ihn kurzerhand vor sich her.

„Weil der langweilig ist, deswegen.“

„Aber ich will nicht ‚Hades’ heißen!“

Zeus lachte hinter ihm. „Wäre ‚Mr. Hyde’ mehr nach deinem Geschmack gewesen?“

... einer Rivalität?

Zeus schaute noch einmal auf den Zettel in seiner Hand und überflog dann mit den Augen die vielen Klingelschilder. Er fand den gesuchten Namen und drückte auf die entsprechende Taste. Für Sekunden, in denen er zum wiederholten Mal abwechselnd auf die aufgeschriebene Adresse und dann auf die Nummer des Hochhauses, vor dem er stand, schaute, passierte gar nichts, dann hörte er ein leises Schnarren aus der Freisprechanlage, auf das eine helle Stimme folgte.

„Hallo?“, wollte diese wissen und Zeus geriet ins Stocken. So hoch hatte er seine Stimme nicht in Erinnerung gehabt…

Er räusperte sich verlegen und beugte sich der Anlage etwas entgegen.

„Verzeihung, ich habe mich wohl in der Hausnummer geirrt…“, entschuldigte er sich höflich und wollte schon peinlich berührt auf dem Absatz umdrehen, als die Stimme, die eindeutig zu einer jungen Frau gehörte, ihn zurückhielt. „Wollten Sie vielleicht zu Hideki?“

Verwundert drehte sich Zeus wieder um. „Äh… ja, genau.“

„Warten Sie einen Moment, bitte.“ Die Verbindung wurde unterbrochen und wieder geschah Sekundenlang nichts. Dann ertönte plötzlich ein Surren und Zeus beeilte sich, die Eingangstür des Hauses aufzudrücken.

Er hatte schon ein paar Etagen zurückgelegt, als ihm auf einmal ein junger Mann im Treppenhaus entgegenkam, der ihn überrascht anstarrte. Zeus fror in seiner Bewegung ein, die Stufen eilig hochzusteigen, und sah ebenfalls verwundert zu Hideki hinauf. Sein braunes Haar war um einiges länger geworden und ein anfänglicher Stoppelbart zeichnete sich in dem Gesicht des jungen Mannes ab, den Zeus mit einem weitaus gesünderen Teint in Erinnerung gehabt hatte. Er musste mit einem bitteren Gefühl feststellen, dass die Trauer deutliche Spuren bei Hideki hinterlassen hatte.

Dennoch zwang er sich zu einem Lächeln und nahm die letzten Stufen bis zum nächsten Treppenabsatz. Hideki rührte sich immer noch nicht, sah ihn weiterhin an, als sei er nicht real. Erst als Zeus sich verlegen am Hinterkopf kratzte und sichtlich nach den passenden Worten suchte, ging ein Ruck durch den anderen, der mit ausgreifenden Schritten die letzten Höhenmeter überbrückte und den Schwarzhaarigen schweigend, aber dennoch stürmisch und feste in die Arme schloss. Zeus spürte, wie der ganze Körper des Anderen vor Anspannung zitterte und beruhigend klopfte er Hideki leicht auf die Schulter.

„Wie hast du mich gefunden?“, hörte Zeus ihn mit heiserer Stimme fragen. Zeus konnte nicht genau sagen, ob das Traurige in seiner Stimme nun ihm galt oder nicht, oder ob das Brüchige überhaupt Trauer war. Er zuckte mit den Schultern, soweit das in einer Umarmung möglich war.

„Ich habe durch Zufall den Nachruf in der Zeitung gelesen…“, antwortete Zeus und fügte vorsichtig und leiser hinzu: „Hab mir gedacht, dass du das sein könntest.“ Hideki lachte kurz und emotionslos, dass sein Körper leicht bebte, dann ließ er Zeus los und sah ihm traurig in die Augen. „Mein aufrichtiges Beileid…“, sagte Zeus mitfühlend, woraufhin sein Gegenüber dankend nickte. „Ich hätte deine Mutter wirklich gerne mal kennengelernt.“

Hideki verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln und schüttelte den Kopf. „Ich denke, dass es besser so ist- ihr beide hättet euch nicht sehr gut verstanden…“

Zeus hob verwundert die Brauen, dann jedoch zuckte er flüchtig mit den Schultern und grinste. „Kann ich verstehen- die meisten Mütter mögen mich nicht.“ Nun konnte sich auch Hideki kein Lächeln mehr verkneifen. Etwas unschlüssig standen sie voreinander, dann ergriff Zeus wieder das Wort.

„Ich bin nicht nur deswegen hierhergekommen…“, fing er an und Hideki sah ihn stirnrunzelnd an. „Ich brauche deine Hilfe, Hades.“, schloss er und Hidekis Blick verdüsterte sich misstrauisch, dennoch beließ er es dabei und schwieg. Er schien für einen Moment lang zu überlegen, dann fiel seine Anspannung doch ein Stück weit ab, sodass er schließlich seufzend eine einladende Handbewegung die Treppen hinauf andeutete, der Zeus dankend nachkam und dem jungen Mann in die fünfte Etage folgte.

Die Wohnungstür war nur angelehnt, sodass Hideki diese sofort durchschritt und Zeus hinein winkte. Als Zeus die Tür hinter sich wieder ins Schloss gedrückt hatte, rief auf einmal die helle Stimme von vorhin Hidekis Namen und keine Sekunde später tauchte eine junge Frau im Flur auf.

Sie war vielleicht ein paar Jahre jünger als Hideki und er selbst, hatte lange, blond gefärbte Haare und ihre helle, ebene Haut ließ die Frau wie aus Porzellan wirken. Zeus konnte es sich nicht ganz erklären, aber als sie ihm in diesem Moment in die Augen sah, vergaß er kurz zu atmen. Das tiefblaue Irispaar schien ihn in einen Bann zu ziehen, aus dem er sich nicht mehr zu befreien wusste.

„Das ist Hitomi- ich habe dir von ihr erzählt.“, vernahm Zeus von irgendwoher Hidekis Stimme, die ihm dabei half, wieder klar denken zu können. Blinzelnd sah er zu seinem Freund hinüber, in dessen Blick sich ein Hauch von Verwunderung widerspiegelte. Galt diese ihm? Hatte man ihm etwa ansehen können, wie überrascht er über die Frau gewesen war? Zeus spürte ein leichtes Schamgefühl in sich hochsteigen, welches er mit einem zustimmenden Lächeln zu übertünchen versuchte. Tatsächlich verschwand der seltsame Ausdruck aus Hidekis Blick und er stellte Zeus wiederum Hitomi vor, deren verzaubernde Augen sich beim Klang seines Namens strahlend weiteten.

„Tatsächlich? Du bist also Zeus?“, fragte sie und dabei legte sich ein Lächeln auf ihre roten Lippen, das Zeus beinahe wieder in Atemnot versetzte. Was war nur los mit ihm? Wenn er ehrlich zu sich selbst war, fiel diese Hitomi ganz und gar nicht in das Schema Frau, das er normalerweise attraktiv fand- sie war viel zu zierlich, viel zu schmächtig und erinnerte ihn mehr an ein kleines Mädchen oder eine Puppe, bei der man Angst haben musste, dass sie bei der kleinsten Berührung zerbrechen könnte. Aber irgendetwas schien sie dennoch zu besitzen, mit dem sie wahrscheinlich jeden Mann um den Verstand bringen konnte. Hideki hatte Hitomi ihm niemals beschrieben- wenn er sich richtig erinnerte, hatte er sie nur ein, vielleicht zweimal in einem Gespräch erwähnt- oder näher charakterisiert, sodass Zeus lediglich wusste, dass sie eine Freundin von Kindesbeinen an war. Zögernd wagte er es, ihr wieder in die Augen zu sehen, sodass er erst jetzt bemerkte, dass sie ihn schon eine ganze Weile lang erwartungsvoll ansah. Er erinnerte sich auf einmal, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte, die er immer noch nicht beantwortet hat. Als erwache er aus einem Traum begann er zu blinzeln und holte schnell Luft.

„Äh… ja, der bin ich…“ Innerlich ohrfeigte er sich für diese dämliche Formulierung. Hitomi schien seine unelegante Reaktion allerding nicht weiter zu stören, im Gegenteil; ihr Lächeln wurde ein Stück weit breiter und sprang sofort auf ihre dunkelblauen Augen über. Sie machte Anstalten, Zeus die Hand zu reichen, doch da kam ihr Hideki plötzlich dazwischen.

„Würde es dir etwas ausmachen, uns für ein paar Minuten alleine zu lassen?“, fragte er sie in einem, für Zeus` Geschmack, übertrieben energischen Tonfall und ließ sie somit in ihrer Bewegung, ihre Rechte auszustrecken, innehalten. Hitomi sah den Braunhaarigen verdutzt an, dann jedoch stahl sich wieder ein unbeschwertes Lächeln auf ihre Züge und schulterzuckend trat sie ein paar Schritte rückwärts.

„Es ist deine Wohnung, Hideki.“, erwiderte sie, dann begann sie zu lachen und deutete hinter sich in einen Raum. „Ich gehe in die Küche, dann könnt ihr in Ruhe reden.“ Bevor sie nun auf dem Absatz kehrt machte, warf sie noch einmal einen flüchtigen Blick zu Zeus und ihre Augen schienen für einen Moment lang heller zu leuchten, als zuvor, dann drehte sie sich vollends um und verschwand in einem der angrenzenden Zimmer.

Zeus` innere Anspannung, die ihm immer weiter die Kehle zugeschnürt hatte, verflog augenblicklich und erleichtert atmete er leise und unauffällig aus.

„Wir gehen am besten in mein Zimmer.“, sagte Hideki schroff und wandte sich sofort ab, dass Zeus ihm stirnrunzelnd hinterher sah. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sein Freund es auf einmal zu bereuen schien, ihn zu sich in die Wohnung gebeten zu haben…

Sobald er Hidekis Zimmer betreten hatte, schloss der andere auch schon sofort die Tür hinter ihm zu und deutete Zeus, sich zu setzen. Das Zimmer war nicht besonders groß. Ein, für diesen Raum beinahe schon zu großer Schreibtisch war vor dem einzigen Fenster platziert, durch das man in einen schmalen Hinterhof blicken konnte, an der rechten Wand standen ein Kleiderschrank und ein großes Regal, in dem die unterschiedlichsten Sachen- von losen Blättern, Ordnern und Büchern, bis hin zu kleinen Figuren, Urlaubssouvenirs und Computerteilen- verstaut waren. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein, in eine passende Nische eingelassenes, schmales Bett, auf dessen Kante sich Zeus kurzerhand setzte. Hideki nahm auf dem Drehstuhl Platz, der an seinem Schreibtisch stand und schaute abwartend zu Zeus hinüber.

Dieser hob nur misstrauisch eine Augenbraue. „Hab ich irgendetwas falsch gemacht oder warum erdolchst du mich mit deinen Blicken?“

Der Angesprochene zog verwundert die Stirn kraus. „Tu ich doch gar nicht…“, erwiderte Hideki in einem giftigen Tonfall, der auf etwas anderes schließen ließ, doch bevor Zeus nachhaken konnte, wischte Hideki das Thema mit einer passenden Handbewegung beiseite. „Is ja auch egal- du wolltest etwas von mir, also raus damit.“

Zeus schwieg einen Augenblick lang. Er hatte sich das Gespräch eigentlich anders vorgestellt. Ihm lag noch ein Kommentar auf der Zunge, den er sich jedoch lieber verkniff. Er war hier nicht hergekommen, um sich mit Hideki zu streiten.

Zu seiner eigenen Überraschung ergriff sein Gegenüber auf einmal mit kleinlauter Stimme wieder das Wort. Hidekis Gesichtsausdruck war weicher geworden- so, wie Zeus den jungen Mann eigentlich in Erinnerung behalten hatte- und schüchtern begann er mit einem Stift zu spielen, der auf dem Tisch gelegen hatte. „Tut mir Leid, dass ich so schroff war.“, fing er an und hob etwas hilflos mit den Schultern. „Ich hab `ne harte Zeit hinter mir und bin deswegen immer noch etwas durch den Wind.“ Mit einem Blick, der um Vergebung bat, sah Hideki von seinen Händen auf. „Aber wie… ist es dir überhaupt die letzten Jahre ergangen? Wir haben uns ja seit meiner Entlassung gar nicht mehr gesehen…“

Etwas überrumpelt über den krassen Einschnitt, brauchte Zeus erst ein paar Sekunden, um sich zu fangen, dann zuckte er unschlüssig mit den Schultern.

„Ich bin ungefähr `nen halbes Jahr nach dir raus gekommen und hab versucht, wieder Fuß zu fassen.“ Zeus unterbrach sich trocken lachend. „Ich musste leider feststellen, dass sich die Welt in ein paar Jahren verdammt stark ändern kann.“ Hideki antwortete nicht und so sprach Zeus einfach weiter. „Warst du noch drei Jahre zuvor heiß begehrt in der Drogenszene, dass sich die Bosse um dich gerissen haben, bist du jetzt, nachdem du einmal gesessen hast, nicht mehr zuverlässig oder vorsichtig genug.“ Zeus verzog verärgert das Gesicht. „Und der scheiß Kerl, der mich hinter Gitter gebracht hat, ist selbst an einer Überdosis draufgegangen… das nenn ich Ironie des Schicksals.“

„Was ist aus deinem Plan zu studieren geworden?“, fragte Hideki leise nach ein paar Sekunden der Stille. Zeus begann grinsen.

„Ich bin tatsächlich an einer Uni gelandet- zwar nicht offiziell, aber-“

„Moment.“, unterbrach ihn Hideki mit hochgezogenen Augenbrauen. „Was heißt ‚nicht offiziell’?“

„Ich bin kein offizieller Student. Ich setz mich nur so mit in die Vorlesungen- naja, oder ich mogel mich halt so irgendwie mit in die Übungen rein, bis jetzt ist mir da immer ein Weg eingefallen…“, gab Zeus schulterzuckend zu, dass der andere ihn fassungslos anstarrte. Beschwichtigend hob er die Hände, als Hideki empört Luft holte. „Beruhig dich, Alter! Erstens, ist das meine Sache, was ich mache und zweitens, nehme ich das alles dennoch sehr ernst, okay?“

„Und warum hast du dich dann nicht eingeschrieben? Du hast doch dafür gelernt und den Doc extra um ein Referenzschreiben gebeten!“

Zeus` Blick wurde ein Stück weit mitleidiger und seufzend schüttelte er den Kopf. „Wunschdenken, Hades. Oder hast du wirklich geglaubt, dass jemand einen Ex- Drogendealer mit einem miserablen Schnitt, der dazu noch mehrere Jahre gesessen hat und ein gutmütiges Wort von seinem Psychotherapeuten in der Tasche hat, einfach so an seiner Uni studieren lässt?“

Hideki antwortete nicht, sah ihn nur hilflos an, bis er Zeus` Blick nicht mehr aushielt und traurig zur Seite sah. „Das tut mir leid für dich.“, erwiderte Hideki kleinlaut und Zeus konnte sich nur schwer ein gequältes Lächeln verkneifen.

„Jetzt flenn nicht rum, mir geht’s gut. Wie du siehst, habe ich ja immerhin einen Weg gefunden, dennoch etwas über Neurobiologie zu lernen und das ist mir wichtig- ob ich mich hinterher einen Doktor oder ähnliches schimpfen darf oder nicht, ist mir im Grunde egal.“ Er wartete einen Moment lang und holte Luft, um dann fortzufahren. „Außerdem hab ich was Neues gefunden- etwas, das viel mehr abwirft, als dieser ganze Drogenkram.“

Misstrauisch zog Hideki eine Braue Richtung Haaransatz. „Ach ja?“

Zeus nickte grinsend. „Weißt du eigentlich, wie viele Menschen dort draußen rumlaufen, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist?“ Er brauchte ein paar Augenblicke, doch dann schien der Jüngere verstanden zu haben und sah Zeus mit geweiteten Augen an.

„Kopfgeld?“, rief er entsetzt. „Bist du wahnsinnig? Weißt du wie gefährlich sowas ist? Solche Leute werden nicht umsonst gesucht!“

Zeus` Grinsen nahm zu. „Genau aus dem Grund bin ich ja heute bei dir…“

Schockierte Erkenntnis machte sich in Hidekis unrasiertem Gesicht breit. „Auf keinen Fall! Ich werd dir ganz bestimmt nicht helfen!“

„Hör doch erst mal zu, bevor du rumzickst…“, entgegnete der Andere augenverdrehend und tatsächlich klappte der Jüngere seinen Mund wieder zu, jedoch nicht ohne die Arme trotzig und gewappnet vor der Brust zu verschränken. Als Zeus sich sicher war, dass er Hidekis Aufmerksamkeit zumindest für den Moment hatte, begann er mit gesenkter Stimme zu erzählen. „Du hast Recht, der Job ist gefährlich- aber nur, wenn man zu unvorsichtig ist. Ich habe bis jetzt ein paar kleinere Spionageaufträge übernommen, aber selbst die sind alleine mit eher mäßigem Erfolg zu bewältigen.“ Zeus sah seinem Freund ernst in die Augen. „Ich brauche einen Partner- jemanden, dem ich zum einen blind vertrauen kann und der sich zum anderen in technischen Dingen auskennt…“

Hidekis Augenbraue wanderte ungläubig ein Stück höher. „Und ich bin der Einzige, auf den diese Beschreibung zutrifft?“ Er schüttelte den Kopf. „Kein Stück, Zeus, da mach ich nicht mit!“

„Ich verlange ja nicht von dir, dass du mit mir gemeinsam losziehst.“, erwiderte der Angesprochene beschwichtigend. „Du sollst nur im Hintergrund die Fäden ziehen. Ich versichere dir, dein Name würde nirgendwo auftauchen- und denk mal darüber nach, was so ein Auftrag an Geld abwirft: ich würde dir selbstverständlich die Hälfte des Gewinns überlassen.“ Hideki schwieg und sah Zeus misstrauisch an.

„Es wird dennoch ein Risiko bleiben. Es gibt viele Mittel und Wege, jede elektronische Spur bis zu ihrem Absender zurückzuverfolgen…“, sagte er irgendwann.

„Und ich bin mir sicher, dass du genauso viele Gegenmaßnahmen kennst, die uns im Notfall den Hintern retten könnten.“, antwortete Zeus und hob provokant die dunklen Brauen. Seine Worte zeigten die gewünschte Wirkung, sodass Zeus nun mit einer gewissen Genugtuung mit ansah, wie Hideki zusehends verbissener mit sich selbst rang und sauer die Lippen aufeinander presste, als müsse er sich davon abhalten, Zeus` Vermutung zu kommentieren. Nach ein paar Sekunden blies der junge Mann die angehaltene Luft schnaubend aus und schüttelte erneut mit dem Kopf.

„Du würdest mit diesem Scheiß auch dann noch weitermachen, wenn ich nein sage, oder?“

Zeus zuckte unschuldig mit den Schultern. „Von irgendetwas muss der Mensch ja schließlich leben…“, entgegnete er, woraufhin sich Hideki trocken lachend durch die Haare fuhr.

„Du bist `nen Arsch, Zeus.“, brummte er und stand auf. „Schön, ich helfe dir. Aber ich will mit dieser Sache nicht in Verbindung gebracht werden. Ich helfe dir, bei was auch immer an Informationssuche anfällt, aber danach bin ich raus, verstanden?“

Zeus stand ebenfalls auf und reichte Hideki grinsend die Hand. „Offiziell kenn ich dich gar nicht.“, versprach er und schloss den Anderen kurzerhand erleichtert in die Arme. „Danke, Hades.“

„Noch was…“, hörte er Hideki murren. „Nenn mich nicht so- schon gar nicht vor Hitomi!“

Zeus seufzte, ließ Hideki wieder los und klopfte ihm leicht auf die Schulter. „Es freut mich zu sehen, dass du dich kein Stück verändert hast.“
 

Nach einer kurzen Diskussion ließ sich Zeus dazu überreden, zum Essen zu bleiben, das Hitomi in der Zwischenzeit gekocht hatte. Als sie dann zu dritt an dem kleinen Esstisch saßen, erfuhr Zeus noch ein paar Details über Hideki selbst, wo er aufgewachsen war und wie es ihm in den letzten Jahren ergangen war. Ihm wurde erzählt, dass Hidekis Mutter vor ein paar Wochen an Krebs gestorben und dass Hitomi nach ihrem Tod zu Hideki in die Wohnung gezogen ist, um ihn in der Zeit danach zu unterstützen.

Hideki arbeite nun in einem Elektrofachhandel und reparierte dort die Computer der Kunden- ein guter Job mit einem annehmbaren Verdienst, von dem er leben konnte. Hitomi war Krankenschwester und sie liebte ihre Arbeit über alles. Zeus selbst erzählte kaum etwas über sich, worüber er allerdings auch ganz froh war und so genoss er das unbeschwerliche Abendessen und lachte mit Hitomi über Anekdoten aus ihrer und Hidekis Kindheit.

Hideki war zu Zeus` Verwunderung die ganze Zeit über recht still und wortkarg und ließ Hitomi gerne den Vortritt, wenn es darum ging, Geschichten aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit zum Besten zu geben. Wenn die junge Frau mit strahlenden Augen und ausgreifenden Handbewegungen zu erzählen begann, behielt er sie mit einem Gesichtsausdruck im Auge, als sei Hitomi seine Ehefrau, die einem anderen Mann gerade verbal um den Hals fiel.

„Ich sollte mich langsam auf den Weg machen.“, sagte Zeus dann irgendwann mitten im Gespräch und auf Hitomis enttäuschtes Gesicht hin, fügte er entschuldigend hinzu: „Ich muss leider noch meine Bahn erwischen. Die fährt abends nicht mehr so häufig und ich hätte nicht damit gerechnet, dass es so spät werden würde.“ Verwundert sah sich die junge Frau zu der Wanduhr um und sog erschrocken die Luft ein.

„Du hast Recht!“, rief sie erstaunt und begann leise zu kichern. „Wir haben ganz die Zeit vergessen…“ In diesem Moment stand Hideki so abrupt auf, dass Zeus und sie verwirrt zu ihm hochschauten.

„Tja, dann sollte sich Zeus vielleicht besser beeilen.“, sagte er unterkühlt und stapelte die leeren Teller übereinander. Zeus spürte, wie die Situation erneut zu kippen drohte, genau wie am Anfang, als Hitomi ihn begrüßt hatte. Er stand ebenfalls auf.

„Warte, ich helfe dir.“, erwiderte er schnell an Hideki gewandt und machte sich daran, das Besteck einzusammeln. Hitomi saß weiterhin auf ihrem Platz und sah zwischen den beiden Männern hin und her, als wisse sie nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Doch dann schien ihr etwas einzufallen und gerade, als Zeus hinter Hideki her in die Küche gehen wollte, sprang sie von ihrem Platz auf und hielt ihn an der Schulter zurück.

„Wo musst du denn deine Bahn nehmen?“

Zeus war überrascht stehen geblieben und sah sie zuerst an, als habe er sie nicht richtig verstanden. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte er, dass auch Hideki sich auf dem Absatz umgedreht hatte und ihn mit finster gewordenen Augen anstarrte. Zeus versuchte diesen Blick zu ignorieren und zwang ein Lächeln auf seine Lippen, das allerdings mehr an ein gequältes Muskelzucken erinnerte. „Ich muss zum Hauptbahnhof. Aber-“ Er wollte noch hinzufügen, dass er im Grunde genug Zeit gehabt hätte, um in Ruhe zum Bahnhof zu laufen, so, wie er auch hier hergekommen war, doch da kam ihm Hitomi mit ihren strahlenden Augen zuvor, die ihm erneut die Luft zum Atmen raubten.

„Na, das trifft sich doch prima! Ich muss auch in die Richtung, weißt du? Das Krankenhaus, in dem ich arbeite, ist nur ein paar Straßen weiter, ich kann dich also mit dem Auto bis zum Hauptbahnhof mitnehmen.“, bot Hitomi ihm mit Euphorie in der Stimme an.

„Deine Schicht fängt erst in zwei Stunden an…“, erwiderte Hideki auf einmal düster, dass beide sich zu ihm augenblicklich umdrehten. Sichtliche Wut lag in seinem Blick, den die Frau jedoch zu übersehen schien. Lächelnd schüttelte sie ihren Kopf.

„Es macht mir nichts aus, etwas früher dort zu sein. Dann kann ich vorher noch ein wenig Inventur erledigen, das hat unser Medikamentenlager mal wieder dringend nötig.“, gab sie lachend zurück und wandte sich wieder an Zeus, dem die ganze Situation immer unbehaglicher wurde.

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich ein Taxi nehme…“, begann er vorsichtig, woraufhin Hitomi gespielt beleidigt die Unterlippe vorschob.

„Nix da, ich lasse nicht zu, dass du ein Vermögen an diese Aasgeier verlierst.“ Im nächsten Augenblick grinste sie breit und boxte ihn frech gegen den Oberarm, dass sich Zeus von Hidekis Blicken weitaus mehr als nur erdolcht fühlte. „Komm schon, gib dir `nen Ruck! Ich verspreche dir auch, du wirst heile am Bahnhof ankommen.“
 

Zeus gab sich einen Ruck- wenn auch mit großem Widerwillen und wenn er es genau nahm, hatte er der ganzen Sache nicht einmal richtig zugestimmt, denn im Endeffekt hatte Hitomi ihn einfach am Arm aus der Wohnung gezogen und in ihren kleinen Dreitürer verfrachtet. Zeus wollte eigentlich noch ein Wort der Verabschiedung an Hideki richten, allerdings ließ er dieses Vorhaben schleunigst wieder fallen, nachdem er sein zornentbranntes Gesicht gesehen hatte.

Zeus fühlte sich schlecht. Er hatte nicht vorgehabt, Hades zu verärgern. Er warf einen kurzen Seitenblick auf Hitomi, die mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen auf dem Fahrersitz platzgenommen hat und sich nun anschnallte.

„Du musst dir wegen mir keine Umstände machen.“, versuchte Zeus es erneut, doch auch diesmal schüttelte die junge Frau nur energisch den Kopf und startete den Motor.

„Keine Widerworte mehr, verstanden?“, entgegnete sie und zwinkerte ihm frech zu, als sie Zeus` unsicheren Blick sah. „Du hast es wohl nicht so gerne, wenn man dir hilft, oder?“

„Es ist mehr so, dass ich es mir nicht gerne mit Freunden verscherze.“, gab Zeus zurück und zwang sich, aus dem Fenster zu sehen und nicht weiter auf die Blonde zu achten, die ihn nun mit gerunzelter Stirn kurz ansah, ehe sie im nächsten Moment losfuhr und sich in den fließenden Verkehr einfädelte. „Wieso solltest du es dir mit Hideki verscherzt haben?“

Nun sah Zeus doch zu ihr herüber. War sie tatsächlich so naiv und blauäugig?

„Hideki schien nicht so davon begeistert gewesen zu sein, dass du mich fahren wolltest.“

Daraufhin zuckte sie mit den Schultern. „Wieso sollte er etwas dagegen haben?“ Sie begann wieder zu kichern. „Wahrscheinlich ist er immer noch mies gelaunt, weil ich die alte Geschichte mit dem Hundezwinger erzählt habe. Das nimmt er mir jedes Mal krumm.“

„Ich denke, es war mehr die Tatsache, dass sich seine Freundin mit einem ihr Fremden so gut verstanden hat…“, murmelte er leise und sah dabei wieder aus dem Fenster. Dennoch schien Hitomi seine Worte vernommen zu haben, denn augenblicklich erstarb ihr ungezwungenes Lachen und verwirrt sah sie zu ihm herüber.

„Hideki und ich sind nicht zusammen.“, korrigierte sie ihn und in ihrer Stimme lagen für einen Moment lang Verblüffung und eine Spur Empörung, doch als sie einen Augenblick später weitersprach, war ihr Tonfall wieder gewohnt freundlich und verständnisvoll. „Wir beide sind so etwas wie Geschwister. Seit ich denken kann, ist Hideki an meiner Seite, fast so wie ein großer Bruder- und wahrscheinlich sind heute einfach nur seine Beschützerinstinkte mit ihm durchgegangen, das ist schon öfter passiert, ist nichts Schlimmes.“ Ihr Lächeln wurde ein Stück weit weicher und nachdenklicher. „So, wie ich ihn kenne, wird er sich später wieder bei mir gefühlte tausend Mal für sein Benehmen endschuldigen.“

Die Ampel vor ihnen schlug auf rot um. Hitomi brachte den Wagen zum Stillstand und nutzte die Gelegenheit, um Zeus` Blick wieder zu suchen. „Mach dir bitte keine allzu großen Gedanken wegen Hideki- so ist er nun mal, dagegen kann ich nichts machen und eigentlich ist sein Verhalten ja auch ganz süß.“

Zeus sah ihr lange schweigend in die blauen Augen. Ihm war schleierhaft, wie sie das Verhalten ihres besten Freundes so leicht abtun konnte. Hatte sie nicht dasselbe gesehen, wie er? Diese Eifersucht war keineswegs pures Großer Brudergehabe oder gar süß… es war beinahe besitzergreifend gewesen, dachte Zeus und musste mit einem Schauer an Hidekis Blick am Esstisch denken.

Die Ampel sprang wieder auf grün um und Hitomi fuhr wieder an, den Blick auf die Straße gerichtet. „Ich konnte dir noch gar nicht danken, Zeus.“, sagte sie nach ein paar Sekunden. Ihr Blick war erneut nachdenklich geworden, als hinge sie alten Erinnerungen nach. „Es war ein Schock für mich gewesen, als ich damals gehört habe, dass Hideki ins Gefängnis gehen musste. Ich konnte ihn mir in so einer Umgebung nicht vorstellen- man hört ja nichts Gutes von Gefängnissen und besonders in diesem sollten, Gerüchten zufolge, nur Mistkerle sitzen, die es wirklich nicht anders verdient haben-“ Sie unterbrach sich und beeilte sich, Zeus einen kurzen, entschuldigenden Blick zuzuwerfen. „Nicht, dass ich glaube, dass du ein Mistkerl bist!“, rief sie schnell und biss sich leicht auf die Unterlippe, dass Zeus schmunzeln musste. Er stützte einen Ellenbogen auf die untere Fensterkante und legte, den Blick auf die vorbeifliegenden Straßenlaternen gerichtet, den Kopf in die Handfläche.

„Ich habe zusammen mit Vergewaltigern, Pädophilen und Typen gesessen, die ihre Frauen und Partner umgebracht haben. Ich bin der gleichen Meinung wie du- solche Typen gehören nicht auf die Straße.“ Es wurde wieder still, sodass Zeus nur noch das stetige Summen des Motors hörte. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Hitomi zögernd Luft holte.

„Darf ich dich fragen, warum du im Gefängnis warst? Hideki wollte es mir nie erzählen…“

Ein Lächeln stahl sich ungewollt auf Zeus` Gesicht. „Ich kann dich beruhigen, ich habe keines dieser Verbrechen begangen.“

Erneute Stille. Dann hörte er die junge Frau leise etwas flüstern: „Das habe ich auch nie gedacht…“ Ihr Profil spiegelte sich leicht in der Scheibe des Seitenfensters wider, aus dem Zeus immer noch schaute. Er hätte sich auch täuschen können, aber es sah so aus, als würde sie glücklich lächeln.

„Jedenfalls“, sagte sie nun wieder in normaler Lautstärke. „war ich beinahe krank vor Sorge um Hideki gewesen. Ich war in den Monaten damals beruflich im Ausland gewesen und konnte ihn nicht besuchen, deshalb war ich umso glücklicher, als Hideki wieder gesund zurückgekehrt ist. Er hat mir von dir erzählt, dass du ihm geholfen und sogar am Anfang gerettet hast.“ Sie hielt kurz inne und sah ihn wieder an. Ihre Augen strahlten in dem Licht der vorbeirauschenden Laternen und Autoscheinwerfern, dass es Zeus erneut schwer fiel, auf etwas anderes als ihr makelloses Gesicht zu achten. „Ich kann dir gar nicht oft genug dafür danken, dass du das für Hideki getan hast. Ich würde verrückt werden, wenn ich ihn nicht an meiner Seite hätte…“

Unweigerlich spürte Zeus, wie ihm warm im Gesicht wurde und schnell zwang er sich, den Blick zu senken. In diesem Augenblick tauchte der Hauptbahnhof vor ihnen auf und Zeus war unbeschreiblich erleichtert, als Hitomi endlich an den Bürgersteig heranfuhr, damit er aussteigen konnte. Er bedankte sich schnell und wollte schon die Beifahrertür wieder zudrücken, als Hitomi sich etwas zu ihm herüber beugte, um ihn besser sehen zu können.

„Wirst du Hideki noch einmal besuchen?“

„Ich denke, ich werde die Tage bestimmt noch mal auf der Matte stehen.“, gab Zeus lachend zurück, woraufhin Hitomi wieder zu lächeln begann.

„Ich würde mich sehr darüber freuen…“
 

„…Von da an arbeiten Hades und ich zusammen.“, erklärte die ruhige Stimme des Unbekannten. „Ich brachte die Aufträge heran und er sammelte Informationen, die ich brauchte, um die Zielperson zu finden und- wenn es erwünscht war- zu überwältigen.“ Er legte eine lange Kunstpause ein, an dessen Ende Taro den Unbekannten sich leise räuspern hörte. „Ich beging zu der Zeit auch meinen ersten Mord. Ich bin ehrlich- ich weiß nicht mehr, wann es passierte oder wie die Person hieß, die durch meine Hand starb, ich kann Ihnen nur sagen, dass es ein gesuchter Mann gewesen war, der bei einem der hohen Tiere der Unterwelt in Ungnade gefallen war.“ Die Sachlichkeit in seiner tiefen Stimme erschütterte Taro und ließ ihn so stark erzittern, dass er das unbehagliche Gefühl seine ganze Wirbelsäule rauf und wieder runter laufen spürte. Er hatte ja schon länger gewusst, was die Männer von Olymp getan hatten, aber es war dennoch eine andere Sache, es von einem Beteiligten so trocken erklärt und berichtet zu bekommen. Taro war so sehr in seine Gedanken versunken, dass er die nächsten Worte des unbekannten Mordbekenners gar nicht bewusst mitbekam- erst, als erneut das Rauschen der Stille an sein Ohr drang, wurde er wieder aufmerksam.

„Es sprach sich herum, dass Hades und ich einen guten Job machten und zuverlässig waren, sodass immer mehr wichtige Männer auf uns zukamen und uns Aufträge gaben. Damals kam mir der Gedanke von etwas größerem- etwas, an dem mehr Männer beteiligt sein würden. Denn es war weiterhin eine riskante Angelegenheit, Kopfgelder allein einzutreiben- und ich wusste, dass Hades und ich nicht die einzigen guten Jäger in der Unterwelt waren. Warum also nicht zusammenarbeiten? Hades stimmte meinen Vorschlag irgendwann zu und so machte ich mich auf die Suche.“ Die Stimme erzählte weiter- von anderen Kopfgeldjägern, immer größer werdenden Aufträgen und vor allem immer größer werdenden Geldsummen.

Taro hörte kaum noch hin. Der Unbekannte erzählte von Ermordungen und Intrigen unter Drogenbossen und Waffenhändlern, wie andere über die Börse und Aktien sprechen würden: selbst mit einer gewissen Interesse für die Sache, aber in einer Wortwahl und Abgebrühtheit, als sei es etwas Alltägliches und Normales, dass sich Männer gegenseitig hinterhältig abstachen, ausspionierten und eigene Untergebene auf den Anderen ansetzten, die dann die Drecksarbeit für sie erledigten.

Nachdenklich sah er dabei zu, wie sich die Spulen, auf denen das Band der Kassette lief, in dem kleinen Diktiergerät monoton und ununterbrochen drehten. Durch das schmale Fenster konnte er die Aufschrift der Kassette lesen: Der Anfang.

Das sollte der Anfang von Olymp gewesen sein? Zwei kranke Typen mit einer perversen Berufswahl, die sich dabei nicht ganz dämlich angestellt haben? Er hatte mehr erwartet- etwas spektakuläres, das ihn den Atem hätte stocken lassen… Obwohl? Er fand das hier schon abstoßend und unmenschlich genug, vielleicht war es da doch besser, dass sich nichts Skandalöseres hinter dem Mysterium Olymp verbarg.

„Ich versuchte, Hitomi weitestgehend aus dem Weg zu gehen, schon allein deswegen, um Hades` Misstrauen nicht erneut zu entfachen.“, hörte er den Unbekannten auf einmal sagen und sofort wurde Taro wieder hellhörig. Der Fremde hatte über diese Hitomi schon viele Worte verloren, sie als sehr hübsch und hilfsbereit beschrieben, sodass sich mit der Zeit ein immer klarer werdendes Bild von dieser Frau in Taros Kopf eingebrannt hatte. Sie schien ein Engel umgeben von Monstern gewesen zu sein.

„Hades verlor ihr gegenüber nie ein Wort über unsere Arbeit und auch ich schwieg mich darüber aus, was wir genau machten. Wir erfanden immer wieder neue Lügen und jedes Mal tat es mir ein Stück weit mehr leid, sie so im Unklaren zu lassen. Sie war zu jeder Zeit besorgt um Hades und erwartete sein Heimkehren mit Anspannung und Sorgenfalten. Ich hatte mir angewöhnt, in ihrer Gegenwart in den Hintergrund zu treten und so wenige Worte wie möglich mit ihr zu wechseln und zum Glück akzeptierte sie das und nahm mich immer mehr als selbstverständlich und uninteressant hin.“ Der Unbekannte verstummte und Taro hörte ihn tief und hörbar seufzen. „Ich dachte, ich hätte Hades` Eifersucht ausmerzen können, doch da hatte ich mich leider geirrt…“, sagte er und seine Stimme klang dabei müde und entkräftet. „Es war nicht das Ende- denn das sollte sich leider noch ein wenig hinziehen- aber es war vermutlich der Auftakt für unser größtes Verbrechen gewesen, für das wir uns beide schuldig bekennen müssen…“
 

Es waren nur wenige Wochen vor Silvester desselben Jahres gewesen, als sich die Vorfälle häuften.

Sie waren unvorsichtig geworden, hatten auf das Wort eines Freundes gehört und sich mit einem Jäger zusammengeschlossen, der als vielversprechend und genial gehandelt wurde- jedoch sollte sich herausstellen, dass er keineswegs ein Teamspieler war.

Er fiel Zeus während des gemeinsamen Auftrags in den Rücken und gab später ihre Informationsquelle gegenüber der Polizei preis, in dessen Arme Zeus ihn zum Dank hatte laufen lassen. Zeus hatte es bis zu diesem Zeitpunkt geschafft, Hidekis Identität in der Unterwelt geheim zu halten, doch dank dem feigen Geständnisses des Jägers war dies nun nebensächlich geworden. Hidekis Glück war, dass die Regierung nicht seinen bürgerlichen Namen kannte, sodass er nur gezwungen war, alle Spuren und bestehenden Hinweise auf „Hades“ zu kappen und erneut bei null anzufangen. Er kapselte sich danach von Zeus komplett ab- ob weiterhin aus Sicherheitsgründen, oder weil er Zeus seine Unachtsamkeit und den Vertrauensbruch nicht verzeihen konnte, wusste Zeus nicht und somit wurden die letzten Tage des Jahres für ihn schweigsame und bedrückende. Kurz vor Jahreswechsel wurde Hades krank, sodass sich Zeus immer noch keine Möglichkeit bot, mit seinem Freund zu reden. Am Silvesterabend hielt er es dann jedoch nicht mehr aus- er wollte das neue Jahr nicht mit einem alten Streit beginnen…

Den Schal enger um seinen Hals wickelnd, lehnte er an der hohen Fassade und beobachtete die Fenster des auf der anderen Straßenseite liegenden Hochhauses. Es war kalt geworden, sodass sich bei jedem seiner Atemzüge weiße Dunstwolken bildeten, die dann weiter gen dunklen Himmel emporstiegen, um sich dort aufzulösen. Die Luft roch jetzt schon nach Wunderkerzen und Schießpulver- es gab jedes Jahr diese Übermütigen, die es nicht abwarten konnten, bis es Mitternacht war und wie zur Bestätigung, hörte Zeus von irgendwoher das heulende Geräusch einer gezündeten Rakete. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut und mit jeder Minute, die er verstreichen ließ, wurde er innerlich nervöser. Er war eigentlich noch nie ein Mensch gewesen, der Probleme gerne aufschob- wenn jemand etwas mit ihm zu klären hatte, klärte er es umgehend und ohne großes Zögern, ehe es mit der Zeit nur noch schlimmer werden konnte… aber das hier? Was war diesmal so schwer daran, so anders, als all die anderen Auseinandersetzungen davor? Die Tatsache, dass er mit einem Freund im Argen lag? Dass er diesmal derjenige war, der den Fehler begangen hat? Er schnaubte frustriert und schob die kalten Hände noch tiefer in die Taschen seines Mantels.

Hinter dem Fenster, das er die ganze Zeit beobachtet hatte, tauchte auf einmal eine Silhouette auf, die den vorgeschobenen Vorhang zurückzog und zu ihm hinabblickte. Er sah sie in ihrer Bewegung stocken, als habe sie etwas Unerwartetes gesehen, dann ließ die Person den Vorhang wieder los und verschwand.

Es dauerte eine Minute, bis sich die verglaste Eingangstür des Hochhauses öffnete und Hitomi auf ihn zugeeilt kam. Sie hatte sich einen Hausmantel übergeworfen, unter dem sie einen Rollkragenpullover und eine weite Hose trug. Ihre Pantoffeln waren nach wenigen Metern ganz weiß gepudert vom feinen Schnee. Es hatte wieder angefangen zu schneien, sodass auch ihr blondes Haar von zarten Eiskristallen geschmückt war, als sie atemlos und mit geröteten Wangen vor Zeus stehen blieb.

„Was machst du hier? Warum stehst du hier unten?-“ Sie schaute flüchtig auf ihre Uhr. „Vor allem um diese Uhrzeit! Es ist kurz vor Mitternacht…“

Schulterzuckend sah Zeus sie an und verzog hilflos das Gesicht. „Ich hatte eigentlich vorgehabt, ein längst überfälliges Gespräch noch in diesem Jahr zu führen, aber daraus wird wohl nichts.“, erwiderte Zeus und sah selbst auf die Uhr. Noch fünf Minuten…

Hitomi legte besorgt die Stirn in Falten und schlang die Arme gegen die Kälte fester um ihren Körper.

„Das befürchte ich leider auch…“, sagte sie seufzend. „Hidekis Fieber ist immer noch nicht ganz weg und so, wie es aussieht, wird er den Neujahrsbeginn verschlafen.“ Ihre blauen Augen funkelten traurig im Licht der Straßenlaternen und von dem einen Bein aufs andere tretend, verkürzte sie die Distanz zu Zeus beinahe unmerklich und seufzte noch einmal. „Ich weiß zwar nicht, was genau zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber ihr solltet den Streit beilegen.“ Hitomi sah zurück zu dem Fenster, aus dem sie vor einer Minute selbst noch geschaut hatte. Ihre Sorgenfalten wurden tiefer. „Egal, was passiert ist, ich bin mir sicher, dass Hideki dir nicht mehr böse ist- im Gegenteil.“ Sie drehte sich wieder zu ihm um und nun lächelte sie aufmunternd. „Ihn plagen Gewissensbisse und immer wieder sitzt er vor dem Telefon und kämpft mit sich, ob er dich anrufen soll. Er bereut sein Verhalten und er würde sich wahrscheinlich nichts mehr wünschen, als dass du dich mit ihm endlich aussprichst. Du bist sein Freund, Zeus- sein einziger…“ Etwas krampfte sich in Zeus unter ihren nachdrücklichen Worten zusammen und er fühlte sich auf einmal noch schlechter. Er wich ihrem gut gemeinten Blick aus und als sie plötzlich eine schmale Hand nach ihm ausstreckte, hielt er es nicht mehr aus.

„Sag ihm, dass ich mich melde…“, murmelte er fahrig und drehte sich von ihr weg. „Ich muss jetzt gehen, tut mir leid.“ Er schaffte allerdings nur wenige Meter.

„Warte!“, hörte er Hitomi hinter ihm herrufen und unweigerlich blieb er stehen und sah sich teils fragend, teils verzweifelt zu ihr um. Ihr Gesicht war keineswegs verwirrt oder traurig- sie grinste breit und ihre Augen leuchteten wie die eines kleinen Mädchens. Sie deutete in den Himmel. „Hörst du das?“

Verwundert lauschte Zeus und tatsächlich vernahm er auf einmal einen leisen Singsang, der von allen Häusern der Stadt widerzuhallen schien. Eine Menschenmenge zählte von Zehn hinunter und Hitomis Grinsen wurde noch breiter.

„Es ist soweit.“, flüsterte sie mit einer Vorfreude in der Stimme, als öffne sie gleich das sehnlichst erwartete Geburtstagsgeschenk. Sie winkte ihn zu sich und deutete auf eine Gasse, neben der sie stand. Ihre Euphorie hatte ihn auf eine unerklärliche Weise gepackt. Schnell kam er ihrer Aufforderung nach und spähte neben ihr in die Gasse hinein. Es handelte sich hierbei mehr um einen breiteren Spalt zwischen zwei Hochhäusern, durch den man die Hauptstraße erkannte, welche direkt an einer Schleuse zum Hafen entlang führte, sodass man auch von ihrem Standpunkt aus auf das glitzernde Wasser des breiten Flusses sehen konnte. Menschen standen auf der Straße, Sektgläser und funkensprühende Wunderkerzen in den Händen und alle sahen in den sternenklaren Himmel hinauf. Ihr Countdown wurde immer lauter.

„Drei…Zwei…“, zählte Hitomi flüsternd mit und im letzten Moment stimmte auch Zeus mit ein: „Eins!“, sagten beide einstimmig und beinahe im selben Augenblick wurde das reflektierende Wasser in ein zuckendes Lichter- und Farbenspiel getaucht. Dutzende von Raketen wurden in der Ferne heulend und knallend in den Himmel geschossen und von überall her hörten sie jubelnde Menschen, die sich gegenseitig beglückwünschten.

Für einen langen Augenblick war Zeus von dem Spektakel, das sich ihm vor seinen Augen bot, so in den Bann gezogen worden, dass er seine Umgebung kurz vergaß- erst als Hitomi ihn strahlend umarmte, fand er sich im Hier und Jetzt wieder.

„Frohes neues Jahr!“, rief sie gegen das Zischen und Krachen des Feuerwerks an und schenkte Zeus das schönste Lächeln, das er bis dato gesehen hatte und auch er begann zu grinsen.

„Frohes Neues.“, erwiderte er und ohne darüber nachzudenken beugte er sich zu ihr hinunter und sie sich im Gegenzug ihm entgegen. Er wusste nicht, warum er sie küsste, konnte sich nicht erklären, warum ihre Lippen in diesem einen, unendlich währenden Moment das gewesen waren, wonach er sich am meisten gesehnt hatte, doch so schnell dieses kopflose Verlangen über ihn gekommen war, so schnell beendete er es auch wieder, als sein langsamer Verstand seine Instinkte wieder eingeholt hatte. Für eine Sekunde sahen sie sich erschrocken in die Augen und Zeus fühlte auch Entsetzen in sich hochkriechen, dann drehte er sich auf dem Absatz um und eilte die Straße hinunter und diesmal hielt Hitomi ihn nicht auf.

…Doch das- den entscheidenden Ausgang der Situation- hatte Hideki nicht mehr gesehen. Als er, hinter dem Vorhang hervor spähend, mit ansah, wie sich die beiden im Schneegestöber küssten und Zeus Hitomi dabei sanft durchs Haar fuhr, hatte er sich abgewandt und nur mit Mühe die beinahe animalische Wut unterdrückt, die auf einmal drohte, in ihm zu explodieren.

Als Hitomi wenige Minuten später wieder zurück in die Wohnung kam, lag er in seinem Bett und gab vor, zu schlafen. Er hörte, wie sie leise sein Zimmer betrat und sich auf die schmale Bettkante setzte. Ihre kalten Finger fuhren ihm fürsorglich übers Haar.

„Frohes neues Jahr…“, flüsterte Hitomi so leise und sanft, dass Hideki unmöglich davon aufgewacht wäre, hätte er geschlafen. Er rührte sich nicht, atmete flach und langsam weiter, auch wenn ihm dies mit jeder Sekunde schwerer fiel, dann stand Hitomi irgendwann auf und verließ sein Zimmer schweigend.

Hideki sah an diesem Abend vieles nicht- er sah nicht, wie heftig und eindeutig Zeus auf den Kuss reagiert hatte und genauso wenig sah er, wie Hitomi noch stundenlang danach in der Küche saß, die Hand vor den Mund geschlagen und mit ihren Gefühlen kämpfend, die sie in dieser Nacht nun endgültig in eine tiefe Schlucht der Zerrissenheit geworfen hatten.

Als Hideki am nächsten Morgen aufwachte und Hitomi strahlend in der Küche vorfand, erwiderte er ihr unbekümmertes Lächeln und verlor kein Wort über das, was er letzte Nacht gesehen hatte. Auch als Zeus einen Tag später vor Hidekis Tür stand, ließ sich keiner etwas anmerken.

Zeus für seinen Teil, ging Hitomi weiterhin aus dem Weg und nahm mit Hideki zusammen wieder ihre gemeinsamen Aktivitäten in der Unterwelt auf.

Hitomi hielt es wie Zeus, blieb auf Abstand und suchte stattdessen verstärkt die brüderliche Nähe zu Hideki.

Niemand verlor je wieder ein Wort über die Silvesternacht.

Und so umgab sich das das neue Jahr mit einem trügerischen Frieden.

Vertrauen

Ohne den Blick von dem hageren Mann zu nehmen, nippte Zeus an seinem Glas, dessen Inhalt vor langem einmal kalt gewesen war. Der Typ am Tresen flirtete schon seit zwei Stunden mit einem der wenigen weiblichen Gäste der Kneipe herum. Der Frau schien es nicht weiter zu stören, dass er mit seiner Hand ihren sowieso schon knappen Rock beinahe ganz nach oben geschoben hatte und nach seinen starrenden Blicken zu urteilen, hatte er sie- zumindest in Gedanken- schon viel weiter ausgezogen. Bei diesem Anblick war es für Zeus kein großes Wunder mehr, dass sich nur so wenige „normale“ Frauen in dieses Lokal verirrten…

Mürrisch schaute er auf seine Armbanduhr, dann suchte er den Blick des blondgefärbten jungen Mannes, der in der gegenüberliegenden Ecke der Kneipe saß und mit den Augen, genau wie er, den Mann am Tresen fixierte. Nach seinen unruhigen Fingern zu urteilen, die, einem Staccato gleich, auf der kleinen Tischplatte vor ihm trommelten, schien auch er am Ende seiner Geduld angelangt zu sein.

„Ist der Typ immer noch nicht fertig?“, brummte Hades im selben Moment genervt via Headset in Zeus` Ohr. Der Mann am Tresen lachte auf einmal kehlig und zog die Rothaarige mit einem Ruck näher an sich heran, sodass sie beinahe von ihrem hohen Barhocker fiel und zumindest das schien ihr etwas zu viel zu werden, denn sie ließ keinen Augenblick verstreichen, um sich elegant aus der Umarmung des Betrunkenen zu befreien. Na endlich…

Zeus wollte schon sein Glas endgültig leeren und nach seiner Jacke greifen, als die Frau auf einmal den Barkeeper zu sich heranwinkte und in einer kurzen Geste auf das fast leere Glas ihres Begleiters deutete. Nur mit Mühe unterdrückte Zeus ein Stöhnen.

„Nein, er kriegt noch eine Runde ausgegeben…“, antwortete er Hades verspätet und fuhr sich frustriert durchs Gesicht.

„Wenn die so weiter macht, bringt sie ihn noch vor uns um.“, knurrte Mischas Stimme in seinem Ohr gereizt. Zeus warf einen unauffälligen Blick auf den Mann in der anderen dunklen Ecke des Schankraumes. Mischa bemerkte Zeus und sah mürrisch zurück, den Kopf auf eine Handfläche gestützt. „Glaub mir, ich geb den beiden noch fünf Minuten- wenn die dann immer noch nicht fertig sind, geh ich dazwischen und wechsel mal selbst ein paar gepflegte Worte mit der Schönheit.“, hörte Zeus ihn sagen, wobei sich bei seinen letzten Worten ein breites Grinsen auf die Lippen des jungen Mannes gelegt hatte. Deutlich schüttelte Zeus langsam den Kopf und sah den Jüngeren streng in die Augen.

„Vergiss nicht, warum wir hier sind- spar dir die Frau für später auf, wenn es unbedingt sein muss.“

Mischa lachte kurz und hart auf. „Ich würde nichts lieber tun, als diesen Mistkerl endlich umzulegen, aber ich darf ja nicht. Du hast schließlich den Auftrag erhalten… ich frag mich sowieso, warum ich dann überhaupt mitkommen sollte- als wenn du meine Hilfe benötigen würdest…“

„Wenn ich es alleine könnte, hätte ich dich ja wohl nicht engagiert, oder?“, erwiderte Zeus, woraufhin Mischa auf der anderen Seite der Kneipe nur mit einem Schulterzucken antwortete.

Er versuchte sich das genervte Seufzen nicht anmerken zu lassen. Mischa war nicht gerade leicht zu Händeln und es erforderte eine gehörige Portion an Geduld und Toleranz, um sein anstrengendes Verhalten zu ertragen. Engagiert? Zeus hätte sich am liebsten für seine eigene Formulierung lauthals selbst ausgelacht- wäre dieses halbe Kind nicht der Neffe seines Auftraggebers gewesen, hätte er Mischa schon am Eingang der Kneipe mit einem Tritt hochkant wieder hinausbefördert. Seit sie hier waren, gab er einen unangemessenen Spruch nach dem anderen von sich, sodass Zeus` großzügige Toleranz und Gutmütigkeit schon längst ausgemerzt und praktisch nicht mehr existent waren. Er ist noch neu in dem Geschäft, redete sich Zeus in solchen Momenten immer wieder ein, und er ist der Lieblingsneffe vom Chef, also reiß dich zusammen...

„Soll ich die Sache irgendwie beschleunigen?“, meldete sich Hades mitfühlend erneut zu Wort.

„Wenn du diese Frau irgendwie davon abhalten könntest, unsere Zielperson ins Koma saufen zu lassen…“, erwiderte Zeus um Beherrschung kämpfend und massierte sich seinen Nasenrücken.

„Wie wär` s mit einem empörten Anruf ihres aggressiven Bruders?“

Zeus runzelte belustigt die Stirn. „Du, frommes Lamm, willst tatsächlich die Stimme erheben?“

„Man sagt mir ein gewisses schauspielerisches Talent nach…“, entgegnete Hades stolz, dennoch konnte Zeus das Schmunzeln aus der Stimme des anderen deutlich heraushören.

„Fragt sich nur, ob es den Typen interessieren würde, wenn sie `nen Schläger als Bruder hätte- von ihr mal ganz abgesehen.“, mischte sich Mischa in das Gespräch über Headset ein. „Sie scheint ja von ihm ziemlich angetan zu sein.“

„Oder sie hat noch keine Möglichkeit gefunden, ihn loszuwerden…“, gab Zeus zu bedenken und sah wieder zu den Beiden am Tresen. Das Lächeln der Frau wurde mit jeder Minute gequälter, dass sie ihm schon beinahe leid tat. Auf einmal hörte er Mischa durchs Headset genervt schnauben.

„Mir reicht`s jetzt, ich hab lang genug gewartet! Der Affe soll endlich ins Gras beißen!“

„Mischa, bleib-“, fing Zeus drohend an, unterbrach sich allerdings sofort wieder und wurde kreidebleich, als der Jugendliche sich in diesem Moment von seinem Platz erhob und auf den Mann am Tresen zuging. Ohne ein Wort mit ihm zu wechseln, riss Mischa den Typen so plötzlich und unerwartet von seinem Stuhl hinunter, dass die Rothaarige neben ihm erschrocken aufschrie. Die Gespräche der anderen Gäste um ihn herum verstummten augenblicklich und alle sahen wie gebannt auf den jungen blonden Mann. Zeus hätte vor Zorn in die Tischkante beißen können.

„…was ist passiert?“, fragte Hades vorsichtig nach.

„Der Bengel hat sich grad sein eigenes Grab geschaufelt…“, knurrte Zeus durch aufeinander gepresste Zähne leise hindurch und griff nach seiner Jacke und dem länglichen Stoffbündel, das an seinem Tisch gelehnt hatte. Mit wenigen ausgreifenden Schritten hatte er Mischa und den Mann erreicht, der sich benommen auf die Knie hochgerappelt hatte und nun mit glasigen Augen zu seinem Angreifer hochglotzte. Die Frau hatte entsetzt die Hände vor den Mund geschlagen und starrte die drei Männer um sie herum der Reihe nach verwirrt und verängstigt an. Mischa wollte gerade mit einem Tritt nachlegen, doch da kam ihm Zeus zuvor und stieß den Jüngeren von dem Betrunkenen so stark weg, dass dieser ein paar Schritte zurückstolperte. Zeus warf seinem Partner kurz einen warnenden Blick zu, dann packte er den anderen Mann an den Schultern und riss ihn unsanft in die Höhe. Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte er sich dann an die Rothaarige.

„Ich hoffe, Sie können unserem Cousin sein unverschämtes Verhalten irgendwann verzeihen…“, sagte Zeus mit einem so flehenden Blick, dass die Frau ihn blinzelnd anschaute. Er sah, wie sie leicht errötete, als sie einen Augenblick später mit einem zaghaften Nicken antwortete. „Danke…“, erwiderte Zeus erleichtert und schenkte ihr sein breitestes Jungenlächeln, zu dem er im Moment imstande war. Die Reaktion der Frau nicht abwartend, drehte er sich keine Sekunde später zu Mischa um, der ihn empört anstarrte, dann nickte Zeus energisch in Richtung Ausgang und zog den betrunkenen Mann hinter sich her. Zu Mischas eigenem Glück gehorchte er Zeus widerstandslos und folgte dem Älteren aus der Kneipe hinaus, jedoch nicht ohne sich noch einmal an die perplexe Frau zu wenden und ihr grinsend zuzuzwinkern.

Draußen konnte Zeus dann seine Wut nicht mehr verstecken. Ihre Zielperson immer noch am Kragen haltend, blieb er abrupt stehen und drehte sich zu Mischa um, der hinter ihm hergegangen war.

„Bist du eigentlich noch ganz dicht da oben?“, rief er aufgebracht und sein Griff um das Stoffbündel wurde stärker. Mischa ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken, sondern verdrehte nur schnaubend die Augen und schob seine Hände in die Hosentaschen.

„Sei doch froh, ich hab die Sache hier nur abgekürzt-“

„Du hast die Sache nur noch verschlimmert!“, fiel Zeus ihm barsch ins Wort und deutete zurück zu der Kneipe, aus der sie gerade gekommen waren. „Hast du eigentlich `ne Ahnung, wie viele sich jetzt gerade dein Gesicht gemerkt haben? Wir waren da drinnen, um zu beobachten, nicht zum Schaulaufen!“

„W- wer seid ihr eigentlich? Was wollt ihr von mir?“, wimmerte auf einmal der hagere Mann, den Zeus am Kragen festhielt. In einem Ansturm von purer Wut musste er sich ziemlich zusammenreißen, um nicht loszubrüllen. Mit einem Ruck ließ er den Mann los und sah ihn mit vor Zorn funkelnden Augen an. „Beweg dich einen Meter und ich töte dich auf die langsamste Art, die ich kenne.“, zischte er mit dunkler Stimme, dass dem Angesprochenen auf einmal alle Farbe aus seinem verschwitzten Gesicht fiel.

Zeus wollte sich schon wieder Mischa zuwenden, als der Betrunkene erneut anfing zu stottern: „Aber… was- was habe ich euch denn getan? Wer seid ihr, verdammt?“ Bevor Zeus antworten konnte, war Mischa freudlos lachend an seine Seite getreten und zog aus der Innentasche seiner weiten Jacke plötzlich eine Pistole hervor.

„Was du getan hast? Hast du schon so viel gesoffen, dass du das wirklich vergessen hast?“, fragte der Jüngere düster und richtete die Waffe auf den Hageren, dass dieser noch blasser wurde. „Tja, mein Onkel hat nicht vergessen, was du seinem Bruder- meinem Vater - angetan hast. Bei uns wird Clanverrat mit dem Tod bestraft, das weißt du doch hoffentlich noch, oder?“ Als Mischa die Waffe entsichern wollte, griff Zeus nach seinem Arm, in dessen Hand er die Pistole hielt und riss sie zur Seite.

„Bist du wahnsinnig? Steck das weg!“, rief er wütend und für einen Moment passten sie nicht auf. Der hagere Mann nutzte die Ablenkung und rannte augenblicklich davon. Fassungslos sahen die beiden ihrem Ziel hinterher, dann richtete Mischa zähneknirschend seinen Blick auf den Älteren neben ihm, der ihn immer noch am Handgelenk festhielt. Mit einem Ruck befreite er sich aus seinem Griff.

„Was sollte das denn jetzt? Ich hätte den Typen in einer Sekunde-“ Mischa verstummte, als er in dem Moment Zeus in die Augen sah. Die unterdrückte Wut loderte so stark hinter den Pupillen seines Gegenübers, das die Hitze beinahe körperlich zu spüren war.

„Du wolltest ihn hier- auf öffentlicher Straße- umlegen?“, fragte ihn Zeus mit einer gefährlichen Ruhe in der Stimme, dass Mischa unauffällig schlucken musste. Zeus sah auf die Waffe in der Hand des Jüngeren. „Ohne Schalldämpfer?“

Mischa betrachtete ebenfalls seine Hand und als bemerke er erst jetzt die Waffe, die er hielt, riss er erschrocken die Augen auf und hielt sie entsetzt von sich weg. Schuldbewusst sah er Zeus wieder an.

„Ich-“, begann er, doch auch diesmal ließ der Dunkelhaarige ihn nicht ausreden.

„Steck endlich diese verdammte Pistole weg und sieh zu, dass du ihn wieder einholst!“, knurrte er zornig. „Und gewöhn dir in Zukunft an, deinen Kopf einzuschalten, bevor du morgens aus dem Bett steigst…“

Mischa zuckte unter dem barschen Tonfall zusammen, nickte kurz eingeschüchtert und rannte dann dem Mann hinterher. Zeus sah dem Jungen wütend nach und versuchte einen Moment lang sich wieder zu sammeln.

„Was hast du jetzt vor, Zeus?“, fragte Hades über Headset, was sein Partner mit einem genervten Schnauben kommentierte.

„Der Typ ist in Richtung des alten Stadtzentrums gelaufen- Mischa, gib Hades die Position unserer Zielperson durch und du, Hades, suchst die nächste abgelegene Sackgasse auf diesem Weg raus.“, befahl er, woraufhin ein zweistimmiges „verstanden“ von seinen beiden Partnern folgte. Zeus nickte zufrieden und etwas beschwichtigt lauschte er dem knappen Funkkontakt zwischen Hades und Mischa. Als Hades dann anfing, den Jüngeren durch die Straßen zu lotsen, setzte auch er sich in Bewegung und bog in eine nahe gelegene Gasse ab. Ein hoher Zaun tauchte vor ihm auf, über den er flink kletterte und seinen Weg mit angezogenem Tempo fortsetzte. Er musste schneller als Mischa und der Kerl sein, damit sein Plan aufgehen konnte, doch zum Glück kannte er in dieser Umgebung die eine oder andere Abkürzung, die der Betrunkene in seinem panischen Zustand garantiert nicht nutzen würde.

Nach ein paar Minuten erreichte er die menschengefüllte Fußgängerzone der Innenstadt. Schnell gab er Hades seine Position durch.

„Du hast sie gleich eingeholt.“, berichtete Hades daraufhin. „Hinter der nächsten Ecke rechts müsstest du sie sofort sehen… Mischa treibt ihn dir direkt in die Arme.“

„Sehr gut!“ keuchte Zeus atemlos und schlug die angegebene Richtung ein. Die Menschen, die ihm nun entgegenkamen, erschwerten ihm sein Vorwärtskommen, doch er störte sich nicht weiter an den empörten Rufen, die ihm hinterhergeworfen wurden, wenn er sich wieder unsanft an jemandem vorbeidrängte. Die von Hades genannte Kreuzung tauchte vor ihm auf und ohne in seinem Lauf stoppen, bog er rechts ab und sah tatsächlich keinen Augenblick später den Hageren auf sich zulaufen, gefolgt von Mischa. Der Mann erschrak sichtlich, als er Zeus entdeckte und blieb wie erstarrt stehen. Panisch ließ er seinen Kopf von links nach rechts schnellen, dann rannte er in die nächste Straße.

„Er ist links abgebogen.“, informierte Zeus Hades schnell und legte auf den letzten Metern an Tempo zu.

„Dann habt ihr ihn…“, erwiderte Hades zufrieden, dann hörte Zeus ein leises „Klick“ und seine Verbindung zu ihm war unterbrochen- wie immer, wenn Zeus kurz davorstand, einen Auftrag abzuschließen. Völlig außer Atmen kam Mischa mit hochrotem Kopf bei Zeus an, der vor der langgezogenen Gasse stehen geblieben war und sah erwartungsvoll zu dem Blassen hoch. Zeus schnappte ebenfalls hörbar nach Luft, dennoch war er in weitaus besserer Verfassung, als der Mafia- Sprössling. Er nickte dem Jüngeren energisch zu und betrat dann mit Mischa, der einen Meter hinter ihm ging, die dunkle Gasse.

„Diesmal überlässt du mir das Reden, verstanden?“, brummte Zeus und entknotete im Gehen die Riemen des Stoffbündels. Mit ein paar routinierten Handgriffen waren sie gelöst und Mischa konnte in dem dämmrigen Licht von entfernten Straßenlaternen die silberverzierte Holzscheide eines Katanaschwertes erkennen. Abrupt blieb er stehen und starrte mit geweiteten Augen auf die Klinge. Zeus bemerkte sein Zurückbleiben, ließ sich jedoch von seiner Reaktion nicht beirren. „Tu nicht so, als wenn du sie zum ersten Mal sehen würdest…“

Mischa schluckte hart. Natürlich hatte er dieses Schwert schon einmal gesehen- vor einer Woche, als sein Onkel Zeus engagiert hatte- und natürlich kannte er die Geschichten, die man sich seit neustem überall erzählte: von einem jungen Kopfgeldjäger, der mit einem Katana tötete. Aber Mischa hatte immer gedacht, dass es eben nur Geschichten seien- welcher normale Mensch würde in einer Zeit, die von Schuss- und Automatikwaffen geprägt war, noch so etwas Altmodisches wie ein Schwert vorziehen?

„Und was ist, wenn der Typ `ne Pistole bei sich hat?“, fragte Mischa vorsichtig und folgte Zeus wieder in sicherem Abstand.

„Hat er nicht.“, entgegnete der Dunkelhaarige ruhig und warf den groben Leinenstoff zusammen mit seiner Jacke auf den Boden der Gasse und ging weiter. „Wenn er eine dabei gehabt hätte, hätte er sie schon längst benutzt…“

Der schmale Weg, der zwischen zwei Häuserreihen herlief, machte einen scharfen Knick. Zeus musste grinsen. Der hagere Typ ist, ohne es zu wissen, in sein Verderben gerannt. Manchmal erschreckte selbst ihn Hades` abgebrühte Denkweise.

Sie schritten um die schwer einzusehende Ecke und fanden ihre Zielperson vor einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun, um dessen oberes Ende ein dichter Stacheldraht gewickelt worden war, sodass man unmöglich über den Zaun hätte klettern können. Sehr clever, lobte Zeus seinen Partner anerkennend in Gedanken und zog die Klinge aus der Schwertscheide.

Das schneidende Geräusch des polierten Metalls ließ den Hageren alarmiert auf dem Absatz umdrehen. Mit panisch aufgerissenen Augen starrte er auf das blitzende Schwert und drückte sich immer mehr an den Zaun, als hoffe er, sich so durch die Maschen hindurch quetschen zu können.

„Jun Murasame“, erhob Zeus ruhig die Stimme, dass seine Worte an den hohen Mauern der Gasse widerhallten. „Sie sind sich Ihrem Vergehen bewusst?“

In dem Blick des Angesprochenen lag nur noch pure Angst und Zeus sah deutlich, wie sich sein Atem beschleunigte und er panisch nach Luft schnappte. Auf einmal griff er unter seine Jacke und zog ein Taschenmesser hervor, das er Zeus, der nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, entgegenstreckte.

„Bleibt weg von mir!“, schrie Murasame hysterisch und tatsächlich stoppte der Dunkelhaarige in seiner Bewegung, vorwärts zu gehen- im Gegensatz zu Mischa, doch den erwischte er noch rechtzeitig am Arm, ehe er außer Reichweite gewesen wäre. Das Gesicht des Jüngeren war auf einmal überschattet von einer Maske der Wut auf diesen Mann, der vor ihnen stand und das Messer, mit beiden Händen umklammert, zwischen seinen beiden Angreifern hin und her bewegte, als sei er sich nicht sicher, welcher die größere Gefahr für ihn darstellte. Sein Messer kam bei dem Kleineren mit den blonden Strähnen im Haar zum Stillstand. Der Zorn in den Augen dieses Mannes war schwer zu übersehen. Murasame nahm allen Mut zusammen. Er würde sich nicht unterkriegen lassen, niemals!

„Ich bereue keine meiner Taten!“, rief er um Festigkeit in seiner Stimme kämpfend. Der Blick des unbewaffneten Mannes verfinsterte sich zusehends. „Dieser Dreckskerl hat`s nicht anders verdient! Er ist menschenverachtend und grausam zu seinen eigenen Leuten.“ Er unterbrach sich und packte noch fester um den ledernen Griff des Taschenmessers. „Er hat meine Frau töten lassen, nur weil ich einen- einen einzigen beschissenen Fehler gemacht habe…“ Seine eigene Wut übernahm wieder die Kontrolle über sein Denken und vor Zorn zitternd spie er aus: „Ich verfluche jeden Einzelnen aus eurem scheiß Dragan- Clan! Und ich bete jeden Tag dafür, dass dieser Mistkerl nicht mehr aus seinem verdienten Koma erwacht!“

„Wage es ja nicht, so über meinen Vater zu sprechen!“, schrie Mischa den Mann auf einmal an, befreite sich aus Zeus` locker gewordenen Griff und zog erneut seine Waffe hervor.

Zeus handelte in dem Bruchteil einer Sekunde.

Blitzschnell stieß er Mischa zur Seite und wollte ihm die Pistole aus der Hand schlagen, doch da hatte sich der Schuss schon längst gelöst. Knallend peitschte die Kugel durch die Luft, prallte funkenschlagend an der linken Gassenwand ab und schnellte zurück. Der Querschläger traf Zeus am Oberarm und bohrte sich wie glühendes Eisen in sein Fleisch. Von seiner stark blutenden Verletzung abgelenkt, achtete Zeus nicht mehr auf Murasame- erst der wütende Aufschrei, mit dem der Hagere auf ihn zugerannt kam, ließ ihn erschrocken aufblicken.

Instinktiv sprang Zeus zurück und wich somit Murasames Streich aus, jedoch setzte der Mann sofort nach. Mit ungelenken Bewegungen ließ der Betrunkene die Messerklinge in großen Bahnen durch die Luft schneiden und Zeus fiel es immer schwerer, trotz der schlecht gezielten Streiche, Murasame auszuweichen. Irgendwann verlangsamten sich die Bewegungen seines Gegners, sodass er dessen bewaffnete Hand mit seiner Linken zu packen bekam- der Schmerz, der dabei durch seinen ganzen Arm jagte, versuchte er mit aufeinandergebissenen Zähnen zu ignorieren.

Dann ging alles rasend schnell.

Zeus zögerte nicht oder dachte über sein Handeln nach, sondern stieß die gesamte Klinge des Katana durch den Torso des Hageren. Die Welt schien für einen Moment die Luft anzuhalten, dann vernahm er durch den Schleier seines eigenen brennenden Schmerzes den gurgelnden Laut des Gefallenen, der, keine Sekunde später, mit geweiteten Augen vor ihm zusammensackte. Als Zeus das Schwert aus seinem Opfer wieder herauszog, fiel er endgültig leb- und geräuschlos zu Boden. Blut sammelte sich in Murasames weit geöffneten Mund, lief an seinen Mundwinkeln hinunter und tränkte, zusätzlich zu der klaffenden Wunde in seinem Bauch, den Asphalt in einem satten Rot. Seine starren Augen glotzten wie gebannt in den klaren Nachthimmel, aus dem es wieder leicht zu schneien begonnen hatte.

Tief Luft holend wechselte Zeus seine Schwerthand und umfasste die vor Schmerz pochende Wunde an seinem Oberarm. Der schwarze Stoff seines Pullovers und die schlechten Lichtverhältnisse machten es ihm unmöglich, genauere Einzelheiten zu erkennen, aber nach dem Schmerz zu urteilen, der wie eine Welle durch seinen ganzen Arm jagte, wenn er diesen anspannte, musste sich zumindest ein Teil des Querschlägers in seine Muskeln gebohrt haben. Er verzog das Gesicht, als er die Hand auf die Wunde presste, um die Blutung etwas zu lindern.

Etwas rührte sich in seinem Augenwinkel und er hörte, wie Mischa leise vor sich hinmurmelte. Zeus drehte sich zu dem Jüngeren um. Er war totenblass im Gesicht und seine schreckensstarren Augen fixierten wie gebannt die blutgetränkte Klinge in Zeus` Linken. Zeus beschloss, den Jungen zu ignorieren, wandte sich stattdessen augenverdrehend wieder von ihm ab und hockte sich vor den Toten, um sich zu vergewissern, dass es an diesem Zustand tatsächlich keine Zweifel gab. Sein Blick glitt an dem leblosen Körper entlang und blieb an Murasames linker Hand heften. An seinem Ringfinger trug er einen schlichtgehaltenen Ring aus Gold, dessen Glanz und Pracht jedoch beinahe gänzlich vom Blut verschluckt worden war. Vermutlich sein Ehering, stellte Zeus nüchtern fest, seine Frau war ja immerhin der Anlass für dieses Drama gewesen. Ein sarkastisches Lachen kroch seine Kehle hinauf. Dieser Typ nahm Rache für seine Frau, trug sogar weiterhin ihren gemeinsamen Ehering und dennoch hatte er sich so ungeniert und direkt an eine andere Frau rangemacht… wie paradox doch das Handeln werden konnte- vor allem, wenn genug Verzweiflung und Alkohol im Spiel waren.

Daneben, am Mittelfinger, trug er einen weiteren Ring aus einem leicht angelaufenem Metall- das Zeichen des Clans, dem er angehört hatte. Murasame musste einen höher gestellten Rang im Dragan- Clan bekleidet haben. Die Ringe, so wusste Zeus aus Hades` Nachforschungen, wurden nicht an jeden vergeben und weitaus seltener an Mitglieder, die nicht zur direkten Familie gehörten. Er war schon damals, als er noch gedealt hatte, öfters Männern über den Weg gelaufen, die in dem Namen der Draganbrüder in derselben Branche wie er gearbeitet haben, jedoch hatten nicht einmal die besten Dealer unter ihnen so ein Schmuckstück getragen. Murasame musste dem Clan sehr loyal gewesen sein und man hatte ihm anscheinend im Gegenzug dafür sehr vertraut- was im Endeffekt jedoch beides kein Gewicht gehabt hatte. Unauffällig strich Zeus dem noch warmen Toten über die Hand, zog dabei beiläufig den Metallring vom Finger und stand wieder auf.

„Meine Arbeit ist hiermit getan.“, verkündete Zeus und wandte sich Mischa zu, der sich in diesem Moment ebenfalls vom Boden erhob und ihn immer noch verstört ansah. Mit Mühe unterdrückte Zeus ein erneutes Augenrollen. Dieser Junge war doch wirklich nicht mehr zum aushalten…

Um schlimmeres zu verhindern- und weil er den Anblick dieses Häufchen Angst, das kurz vor der Ohnmacht stand, nicht weiter ertragen wollte- drehte er kurzerhand auf dem Absatz um und ging die Gasse hinunter. Hinter ihm erwachte Mischa endlich aus seinem Schockzustand.

„Warte!“, rief er dem Dunkelhaarigen hinterher. „Was ist mit… mit ihm hier?“, fragte er zögernd und Zeus konnte deutlich die Panik in seiner Stimme wahrnehmen. Noch einmal blieb er stehen und sah über die Schulter zurück. Hilflos stand Mischa neben Murasame, was in den Blonden ein ziemliches Unbehagen auszulösen schien. Gleichgültig zuckte der Angesprochene mit den Schultern.

„Was weiß ich?“, erwiderte er und zog dabei fragend eine Braue in Richtung Haaransatz. „Mein Auftrag war es, ihn umzubringen. Um den Rest müsst ihr euch kümmern.“ Er konnte sehen, wie Mischa deutlich Luft holte und zur Antwort ansetzen wollte, doch solange wartete Zeus nicht. Er drehte sich wieder um und ging weiter die Gasse entlang. „Sag deinem Onkel, dass er die Bezahlung nicht vergessen soll- das restliche Geld kann er auf dasselbe Konto überweisen, wie die Vorabbezahlung.“, rief er müde und hob, ohne sich noch einmal umzusehen, die inzwischen blutverschmierte Rechte zum Abschied.

Bevor er die Gasse endgültig verließ, sammelte er seine zurückgelassenen Sachen vom Boden wieder auf. Das Schwert wickelte er locker in die Leinen ein und seine Jacke legte er sich, ohne die Ärmel anzuziehen, langsam und behutsam über die Schultern, ehe er die ungefähre Richtung zurück zur Kneipe einschlug. Er brauchte länger für den Rückweg als gedacht und somit war er sichtlich erleichtert, als er, erschöpft und müde, endlich den dunklen Van mit den getönten Scheiben erreichte, der zwei Straßen von der Bar entfernt auf einem nahezu leeren Parkplatz stand. Er hatte sich dem Auto keine zehn Meter genähert, da wurde schon die Seitentür des Transporters aufgeschoben und Hades kam, eine kleine Tasche in der Hand haltend, auf ihn zugeeilt. Auf seiner gebräunten Stirn standen einige Schweißperlen, die sich in den tiefen Sorgenfalten- oder runzelte Hades die Stirn etwa vor Wut?- sammelten. Kurz schaute der Jüngere auf Zeus` Oberarm hinab, auf den er immer noch seine andere Hand presste, dann schüttelte er seufzend den Kopf.

„Und du nennst Mischa kopflos?“, rief er Zeus noch im Lauf zu und begutachtete sofort mit vorsichtigen Fingern die Wunde. Die Blutung hatte nachgelassen, doch sobald Zeus die Hand wegnahm, fing sie von neuem wieder an zu bluten. Zum wiederholen Mal schüttelte Hades fassungslos den Kopf bei diesem Anblick. „Warum hast du ihm die Waffe nicht von Anfang an weggenommen? Hast du tatsächlich gedacht, dass er auf das Wort eines fremden Kopfgeldjägers so einfach hören würde?“

Überrascht zog Zeus eine Braue nach oben. „Hast du etwa doch wieder zugehört?“ Hades` helle Augen sahen flüchtig zu ihm hoch, ehe sie sich erneut auf Zeus` Verletzung senkten.

„Sei froh, so konnte ich wenigstens ein paar Vorbereitungen treffen…“, brummte der Angesprochene und presste eine Mullbinde auf Zeus` Oberarm. Trotz der Schmerzen, die diese unsanfte Behandlung mit sich zogen, konnte Zeus nicht anders, als schmunzeln. Er musste sich jedes Mal zurückhalten, nicht laut loszulachen, wenn ihn sein Partner so bemutterte. Lächerlich. Als würde ihn ein Schuss in den Oberarm umbringen…

Seiner Meinung nach hatte Hades eindeutig zu viele Stunden mit Hitomi zugebracht und hatte ihr währenddessen zu oft bei der Arbeit über die Schulter geschaut. Er sah Hades schweigend dabei zu, wie er seinem Arm einen provisorischen Druckverband anlegte, dann konnte er die Stille nicht mehr ertragen. Mit der freien Hand angelte er in seiner Hosentasche nach dem Ring und hielt ihn Hades stumm unter die Nase. Stirnrunzelnd unterbrach dieser seine Arbeit und sah Zeus fragend an.

„Was ist das?“

„Murasames Ring.“, antwortete Zeus knapp. Hades` Blick wurde noch unsicherer.

„Meinst du, das ist so eine gute Idee gewesen, ausgerechnet den zu stehlen? Dragan wird sicher danach suchen lassen.“, gab er zu bedenken, doch Zeus zuckte nur uninteressiert mit den Schultern.

„Sein verdammter Neffe hat mich allein an diesem Abend mehr zur Weißglut getrieben, als der betrunkene Typ selbst- kein Geld der Welt würde als Entschädigung dafür ausreichen.“

„Und deshalb stiehlst du einen Metallring…“, entgegnete der Braunhaarige nüchtern und schüttelte verständnislos den Kopf. Er würde Zeus wohl nie ganz begreifen können.

Ein letztes Mal wickelte er eine Bahn Mullbinde um Zeus` Oberarm und befestigte alles, dann packte er Schere und das restliche Verbandszeug wieder in die Tasche zurück und ging zurück zu dem Van. Zeus folgte ihm langsam. Sie würden wohl oder übel heute noch ins Krankenhaus fahren müssen, damit Zeus` Wunde richtig versorgt werden würde- natürlich hätte das auch Hitomi übernehmen können, doch bei diesem Gedanken breitete sich ein flaues Gefühl in Hades` Magen aus, sodass er die Idee schnell und energisch wieder verwarf.

„Du kennst die Bedeutung dieses Ringes, oder?“, fragte Zeus auf einmal aus dem Nichts, dass Hades ihn zuerst blinzelnd ansah, ehe er den verspäteten Zusammenhang zu ihrem vorherigen Gespräch verstand.

Hades nickte. „Natürlich. Wenn Murasame so einen Ring getragen hat, dann war er vermutlich ein höheres Tier in der Clan- Hierarchie gewesen.“

Zeus sah nachdenklich auf das Stück Metall in seiner Hand hinab. „Vielmehr bedeutet das, dass Dragan ihm vertraut hat- sehr sogar…“ Er schloss seine Faust so fest um den Ring, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. „Und was macht dieser Mistkerl Murasame? Hintergeht ihn, schert sich einen Dreck um dieses großzügige Privileg und versucht seinen Anführer umzubringen!“, sagte Zeus, wobei seine Stimme ein einziges tiefes Grollen war, den Blick immer noch auf seine geschlossene Faust gesenkt. Hades musterte ihn eindringlich. So zornig hatte er Zeus bis jetzt nur selten erlebt.

„Vergiss nicht, was dazu geführt hat…“, begann er ruhig und bestimmt. „Dragan hat seine Frau töten lassen- er hat Murasames Vertrauen zuerst verletzt.“

Ruckartig schaute der Blasse zu ihm auf, die Augen vor Wut glühend. „Verstehst du denn nicht? Dragan hat ihn näher an sich herangelassen, als die meisten anderen seiner Untermänner und dann wurde er so schändlich verraten!“ Hades hielt seinem durchdringenden und gnadenlosen Blick tapfer stand, obwohl er selbst ebenfalls innerlich zu beben begann. Wieder musste er fassungslos feststellen, wie erbarmungslos gleichgültig sein Freund über Tatsachen hinwegsah, die er sich nicht eingestehen oder akzeptieren wollte. Aufgebrachte Worte lagen ihm auf der Zunge, dennoch verkniff er sich jeglichen Kommentar, denn er wusste genauso gut, dass Zeus auf diesem Gebiet nie Einsicht zeigen würde, egal wie sehr er im Unrecht lag. Er sah, wie sich Zeus schnaufend durchs dunkle Haar fuhr.

„Auf wen kannst du dich heute noch verlassen, wenn dich selbst deine engsten Verbündeten hintergehen würden? Ich habe es satt, ewig mit Idioten zusammenarbeiten zu müssen, die eh nicht das tun, was ich ihnen sage- es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis uns dasselbe passiert wie Dragan.“ Vor sich hin grummelnd nahm der Blasse auf dem Beifahrersitz des Vans Platz und massierte sich seine in Falten gelegte Stirn. Hades selbst stieg seufzend auf der Fahrerseite ein und schnallte sich an.

„Was die Idioten angeht:“, begann er und startete den Motor. „Bedenke, dass die meisten von ihnen selbst Kopfgeldjäger sind, die weitaus mehr Erfahrung besitzen, als wir beide zusammen- es gibt natürlich Ausnahmen…“, fügte Hades beschwichtigend hinzu, als Zeus schon aufgebracht Luft holen wollte. „Aber die allermeisten sehen es einfach nicht ein, warum sie von jemandem Befehle annehmen sollen, der viele Jahre jünger ist, als sie selbst- und du musst zugeben, dass du schon ziemlich dominant bist, wenn es um Missionen geht.“, sagte Hades schmunzelnd, dass Zeus ihn sichtlich verstimmt von der Seite her argwöhnisch musterte. Hades sprach dennoch unbeirrt weiter.

„Tja, und zu der Sache mit dem Vertrauen kann ich dir nur eins sagen: alle Menschen haben ihren eigenen Kopf, in den du nicht hineingucken kannst.“ Er schwieg kurz und sah zu Zeus rüber. Sein Zorn schien nur langsam aus seinen harten Gesichtszügen zu verschwinden. Nach einer kurzen Pause, in der Hades den Rückwärtsgang einlegte und zum Ausparken in die großen Seitenspiegel schaute, fuhr er seufzend fort: „Wenn du wirklich bedingungslos ergebene Diener haben willst, müsstest du diese Leute schon einer Gehirnwäsche unterziehen…“

Es, Ich, Über-Ich... und man selbst

„Kontrollierte Amnesie“ lautete der Titel des Berichtes, den Zeus ihm zufrieden strahlend auf den Tisch gelegt hatte, und Hades las die beiden Wörter nun schon zum gefühlten hundertsten Mal. Dann endlich, nachdem er sich sicher sein konnte, dass er sich nicht doch verlesen hatte, sah er mit gerunzelter Stirn zu dem Dunkelhaarigen auf.

„Ist das dein Ernst?“

Nach Zeus enttäuschtem Ausdruck zu urteilen, schien er ein wenig mehr Begeisterung von ihm erwartet zu haben. Er beugte sich dem Jüngeren entgegen. „Hast du eigentlich gelesen, was du da vor dir hast? Verstehst du nicht was das da bedeutet?“, entgegnete er beschwörend. Verunsichert starrte Hades zurück auf die Zeilen. Fast jedes vierte Wort war ein Fachausdruck, den er nicht kannte. Kopfschüttelnd sah er wieder auf.

„Zeus, glaubst du wirklich, dass sowas möglich ist?“

In den Augen seines Gegenübers begann es verheißungsvoll zu funkeln. „Hideki, dieser Gedanke wurde schon so lange verfolgt- die Menschen haben seit Jahrhunderten nach einer Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Verstand, dem Bewusstsein, gesucht. John Locke hatte damals schon gesagt, dass der Geist ein unbeschriebenes Blatt Papier sei. Das Leben, die Erfahrungen füllen dieses Blatt mit Zeilen aus- warum sollte es nicht möglich sein, diese wieder zu löschen?“, fragte er Hades mit aufgeregter Stimme, doch noch immer lag Unglauben in dem Blick des Braunhaarigen.

„Locke war ein Philosoph- das sind alles nur Metaphern und Theorien, diesen Bericht hier mit eingeschlossen…“, erwiderte Hades und las noch einmal die letzten Zeilen des Textes.

Zeus deutete auf das Blatt Papier. „Mag sein, dass es nur Theorien sind, aber das hier beruht auf Wissenschaft- moderne Neurowissenschaft! Und bedenke, dass das Phänomen der Amnesie tatsächlich existiert.“

Hades seufzte. „Theorien sind ja schön und gut, aber-“

„Mal angenommen das hier Beschriebene stimmt…“, unterbrach ihn Zeus und sah ihm ernst in die Augen. „Könntest du dir vorstellen, dass es technisch umsetzbar ist?“

Überrascht schwieg Hades einen Moment lang, dann versuchte er erneut den Text zu entziffern. Nach dem, was er verstehen und sich zusammenreimen konnte, war die grundlegende Idee hinter dieser Theorie, das Gedächtnis und vor allem die alten Erinnerungen gezielt durch Stromstimulationen zu manipulieren oder gänzlich zu löschen. Nachdenklich kratzte er sich am Hinterkopf, dann gab er sich geschlagen und zuckte seufzend mit den Schultern. „Strom durch einen Menschen zu jagen ist keine revolutionäre Idee, das gibt’s leider schon zu genüge heutzutage- es könnte also machbar sein… könnte!“, wiederholte der Jüngere betont und hob mahnend einen Zeigefinger, als Zeus in diesem Moment von einem Ohr zum anderen zu grinsen begann. „Hast du denn überhaupt `ne Ahnung, wie das genau funktionieren soll?“, fügte Hades fragend hinzu und musterte seinen Freund eindringlich, sodass sich das Grinsen ernüchtert in seinem Gesicht wieder etwas abbaute.

„Nein, aber ich kenne jemanden, der darüber bestens informiert ist.“, entgegnete Zeus stolz. Hades` Stirnrunzeln nahm weiterhin zu. „Warum das überhaupt alles? Was erhoffst du dir davon?“

Der Blick des Älteren bekam etwas Verstohlenes. „Bedingungslos ergebene Diener…“, raunte er über den Tisch hinweg, dass Hades blass wurde.

„Du… das willst du nicht wirklich machen, oder?“, rief er so aufgebracht, dass Zeus beschwichtigend die Hände hob.

„Jetzt mal den Teufel nicht gleich an die Wand. Ich will den Leuten doch nicht ihr ganzes Leben nehmen- nur Teile, damit sie bei uns bleiben. Denk dran, es handelt sich um einen kontrollierten Gedächtnisverlust.“ Immer noch argwöhnisch starrte Hades seinen Partner an.

„Du willst ihnen also die Erinnerung an Freunde und Verwandte nehmen, liege ich da richtig? Woher willst du wissen, ob sie das überhaupt wollen? Niemand würde so etwas freiwillig zulassen…“

Unbeeindruckt zuckte Zeus mit den Schultern. „Darüber zerbreche ich mir später den Kopf.“ Er deutete wieder auf den Bericht. „Zuerst sollten wir an die nötigen Informationen kommen.“

Schnell hob Hades die Hände. „Hey, ich habe mit keinem Wort dieser Sache zugestimmt!“ Für Sekunden starrten sie sich stumm an, dann erhob sich Zeus seufzend, ging um den Tisch herum und legte den Jüngeren die Hände auf die Schultern.

„Hideki.“, sagte er langsam und betont. „Ich will niemanden damit schaden- im Gegenteil. Glaubst du nicht, dass es genügend Menschen dort draußen gibt, die gerne etwas vergessen wollen?“ In seinem dunklen Irispaar spiegelte sich nur noch Ernst wider. „Wir könnten den Menschen damit helfen.“

Die Augen des Braunhaarigen verengten sich sichtlich. „Und dann willst du sie für dich arbeiten lassen.“

„Für uns.“, verbesserte Zeus ihn nachdrücklich, dann legte sich ein mitleidiges Lächeln auf seine Lippen. „Es gibt nichts umsonst im Leben, mein Freund.“

Beinahe eine volle Minute verging, ehe Hades seufzend antwortete: „Und wie willst du deinen Bekannten davon überzeugen, uns dabei zu helfen?“

Das anfängliche Lächeln breitete sich wieder zu einem breiten frechen Grinsen aus. „Glaub mir, ich kenn da das ein oder andere Druckmittelchen.“
 

Souta Hidashi war nicht mehr der Jüngste. Er hatte seiner Arbeit als Dozent schon vor langem den Rücken gekehrt, auch wenn er theoretisch noch ein paar Jahre bis zur Rente gehabt hätte. Er war seine Arbeit nicht Leid gewesen, keineswegs, das war nicht der Grund für seinen frühzeitigen Rückzieher gewesen… im höflichen Fachjargon hatte man es mit „Arbeitsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen“ umschrieben- dass er die Formulierung selbst zum Lachen fand, hatte er sich natürlich gegenüber dem Dekan verkniffen. Seine, seit ein paar Jahren angeknackste Psyche hatte ganz bestimmt keine Auswirkungen auf seine körperliche Gesundheit gehabt, das hatte er sich stets eingeredet- natürlich wusste er es im Grunde besser; er hatte seit Jahrzehnten nichts anderes getan, als sich mit dem menschlichen Bewusstsein auseinanderzusetzen- auch wenn er zugeben musste, dass seine Knochen seit einigen Jahren mehr schmerzten und er immer öfter unter Migräne litt. Aber das schob er, starrsinnig und dickköpfig wie er ist, seinem Alter in die Schuhe. Mit über Sechzig konnte man sich so etwas ohne weiteres erlauben. Das war wahrscheinlich auch der Grund gewesen, warum man ihn aus „gesundheitlichen Gründen“ und nicht etwa aufgrund von „familiären Schicksalsschlägen“ in den Ruhestand geschickt hatte- das Wort „Schicksalsschläge“ hätte nur unangenehme Fragen nach sich gezogen, auf die er gut und gerne verzichtete.

Souta weigerte sich strikt, seinen Zustand als „Ruhestand“ zu betiteln- Passivität traf es seiner Meinung nach besser, immerhin arbeitete er weiterhin, soweit es seine Gebrechen zuließen. Ruhestand hätte bedeutet, dass er Tag ein, Tag aus in irgendeinem Schaukelstuhl vor sich hinstarren und über alte Zeit sinnieren würde- lachhaft! Soweit würde er es niemals kommen lassen.

Auch würde die Universität Professoren, die sie in Rente geschickt hat, nicht immer mal wieder bitten, eine Gastvorlesung zu halten, oder? Und obwohl er im ersten Moment, wenn die Einladung eintraf, immer verärgert vor sich hin maulte, betrat er im Endeffekt die alten, mit Erinnerungen behafteten Vorlesungssäle stets mit einem nostalgischen Lächeln auf den Lippen. Es freute ihn dann doch im Nachhinein, wenn er sah, dass sich eine Hand voll junger Leute für seine Studien interessierten und bereit waren, sein Wissen in sich aufzunehmen- und solang diese Einladungen nur alle paar Monate in sein Haus segelten, sollte es ihn nicht weiter stören; schließlich waren sie, genau betrachtet, eine willkommende Abwechslung.

Vor allem die heutige Vorlesung hatte einen äußerst angenehmen Eindruck bei ihm hinterlassen. Die Studenten hatten regelrecht an seinen Lippen gehangen und so interessierte Fragen gestellt, dass er sich für einen kurzen Moment wieder sein altes, passivitätsfreies Leben zurückgewünscht hatte.

Müde, aber dennoch glücklich, ging er mit gemächlichen Schritten den Gang zu seinem Arbeitszimmer entlang und ließ sich noch einmal ein paar äußerst interessante Fragen einiger Studenten kritisch durch den Kopf gehen. So vertieft in seine Gedanken schloss er die Bürotür auf, ohne zu merken, dass sie längst unverschlossen war.

Erst das ausbleibende Deckenlicht machte ihn stutzig.

Verwundert legte er ein paar Mal hintereinander den Lichtschalter neben der Tür um, doch nichts passierte. War die Lampe etwa kaputt? In dem spärlichen Licht, das vom Flur aus in das Zimmer fiel, schaute er angestrengt auf seine Armbanduhr. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht- viel zu spät, um jetzt noch den Elektriker anzurufen. Mit einem Schmunzeln musste er an die Worte des Mannes denken: „Sie können mich Tag und Nacht anrufen.“ Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Satz wörtlich zu nehmen, allerdings konnte er sich rechtzeitig wieder ausbremsen. Die angeregten Diskussionen mit den jungen Menschen hatten einen lang versiegten Übermut in ihm reanimiert, stellte Souta kopfschüttelnd fest, dennoch zauberte dieser Gedanke ein Lächeln auf seine rauen Lippen. Die gute Laune in vollen Zügen genießend, trat er an seinen großen schweren Schreibtisch heran, hinter dem er stundenlang am Tag saß und Bücher wälzte oder Berichte und Gedanken aufschrieb. Der Tisch war zur Bürotür ausgerichtet, direkt vor der riesigen Fensterfront stehend, sodass der ganze Raum von fahlem Mondlicht zusätzlich etwas erhellt wurde. Er hatte es, bevor er an diesem Abend zur Uni aufgebrochen war, nicht mehr geschafft, ein Teil seines Skriptes fertigzustellen, an dem er zurzeit arbeitete, aber er fühlte sich, trotz der Müdigkeit, die langsam seine Glieder hochkroch, so motiviert und dennoch wach, dass er kurzerhand beschloss, die letzten ausstehenden Zeilen heute noch aufzuschreiben. Ohne um den Tisch herumzugehen, knipste er die kleine Lampe an- aber auch hier blieb die erhoffte Helligkeit aus.

Stirnrunzelnd verharrte er in seiner Bewegung. Das konnte doch nicht wahr sein! War das nur ein dummer Zufall oder hatte jemand an der Sicherung gespielt? Ärger verdrängte langsam die beflügelnde Freude. Souta startete einen letzten Versuch und griff nach dem Telefon, das ebenfalls auf seinem Schreibtisch stand.

Nichts. Die Leitung war tot… Das konnte doch nicht-

„So spät wollen Sie noch jemanden anrufen?“

Die belustigt klingende Stimme hatte so plötzlich die vorherrschende Stille durchbrochen, dass Souta beinahe vor Schreck der Hörer aus der Hand gefallen war. Mit hämmerndem Herzen sah er auf. Die Stimme, die eindeutig einem Mann gehörte, war aus Richtung seines Schreibtischstuhls gekommen, der, wie Souta erst jetzt feststellte, mit der Lehne zu ihm zeigte. Verstört wich der Alte vor der Geräuschquelle zurück. In diesem Moment drehte sich der Stuhl und gab den Blick auf die in ihm sitzende Person frei, die, soweit er das erkennen konnte, vergnügt zu ihm hochschaute. Souta begann zu zittern. Er hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen- war er ein Einbrecher? Aber…

„…wie sind Sie an der Alarmanlage vorbeigekommen?“, sprach er seinen Gedanken laut aus und ging weiter rückwärts. Er hatte sein Arbeitszimmer, genau wie das restliche Haus, schon vor Jahren mit einigen Sicherheitsmaßnahmen ausgestattet. Die Alarmanlage, die er sich vor kurzem erst neu zugelegt hatte, entsicherte automatisch, wenn er die Tür zu seinem Zimmer aufschloss- und das war nur mit seinem Schüssel möglich, von dem er wusste, dass er das einzig existierende Exemplar besaß. Jegliches gewaltsame Aufbrechen des Schlosses hätte einen schrillen Alarm ausgelöst, den man im ganzen Haus gehört hätte. Wie also war dieser Mann in sein Zimmer gekommen?

Geräuschvoll fiel die besagte Sicherheitstür in seinem Rücken plötzlich zu, sodass er für einen Moment befürchtete, einen Herzstillstand zu erleiden. Panisch drehte sich Souta auf dem Absatz um und starrte in ein weiteres Gesicht, das jedoch weitaus weniger belustig aussah. Der Mann an der geschlossenen Tür verschränkte die Arme.

„Sie meinen dieses Billigding?“, fragte der pikiert und Souta sah ihn deutlich eine dunkle Braue nach oben ziehen. „Ich hätte mehr erwartet. Dieses Schloss war eine Beleidigung.“

Der alte Mann fühlte sein Herz schmerzhaft rasen. Er saß in der Falle, konnte nicht vor und nicht zurück. Hilflos sah er abwechselnd zu den beiden Männern.

„Wer sind Sie?“ Der Mann, der an seinem Schreibtisch saß, rührte sich. Er schien seine gefalteten Hände auf etwas zu stützen, vielleicht einen Gehstock oder ähnliches, das konnte Souta nicht mit Sicherheit erkennen. Der Fremde zuckte mit den Schultern. „Wer wir sind ist unwichtig- interessanter ist dagegen Ihre Person, Hidashi- san.“

Souta unterdrückte den Drang weiter vor ihm zurückzuweichen, denn das hätte ihn nur näher an den anderen Mann herangebracht. Somit verweilte er in der Mitte des Raumes, die potentielle Gefahr, die diese Männer eindeutig darstellten, vor und hinter sich wissend. Der Alte zwang sich zur Ruhe und ballte die knorrigen Hände etwas zu Fäusten. Der anfängliche Zorn hatte ihn wieder.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte er an den Mann am Schreibtisch gewandt. „Geht es Ihnen um Geld? Bitteschön, Sie können-“

Der Fremde unterbrach ihn mit einem kurzen, harten Lachen. „Um Geld geht es hier nicht, davon haben wir selbst ausreichend viel.“, entgegnete er in einem Tonfall, der Souta leicht stutzig machte.

„Nein?“, fragte er vorsichtig nach, als habe er sich verhört.

„Nein.“, wiederholte der Mann hinter ihm brummend und so gereizt, dass es Souta einen Schauer über den Rücken jagte. Er schluckte und schaute verwirrt sein Gegenüber an.

„Wie gesagt: wir sind vielmehr an ihrer Person interessiert, oder- um genauer zu werden- an ihren Fähigkeiten.“, sagte dieser in einem Tonfall, als ziere ein amüsiertes Schmunzeln sein Gesicht.

„Ich…“, fing der Alte stockend an. „Ich verstehe nicht ganz…“

Wortlos legte der Fremde ein Blatt Papier auf den Schreibtisch und machte eine auffordernde Handbewegung. Nur zögernd ging Souta wieder auf den Tisch zu, hinter dem der Mann mit dem merkwürdigen Gehstock saß, und griff nach dem einzelnen Zettel. In dem spärlichen Mondlicht konnte er kaum ein Wort des Textes entziffern, jedoch hatte er diese Zeilen schon so oft in seinem Leben gelesen, dass er ihn schon allein an dem Aufbau der Zeilen und Absätze wiedererkannte. Er spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich, als er die fettgedruckte Überschrift las: Kontrollierte Amnesie. Der Artikel, der seine ganze Forschung, sein ganzes Leben, auf einer Seite zusammenfasste. Überfragt sah er von den Zeilen wieder auf. Was sollte das alles hier? Unfähig, die passenden Worte über die Lippen zu bringen, erhob also der Fremde wieder seine Stimme.

„Ich gehe recht in der Annahme, dass Sie es waren, der diese Theorien verfasst hat?“, fragte dieser sachlich und ernst. Souta nickte. „Was wollen Sie von mir?“, fragte er noch einmal, doch diesmal klang seine Stimme viel verzweifelter. Er hörte, wie etwas in seinem Rücken vom Boden angehoben wurde, dann tauchte plötzlich der zweite Fremde neben ihm auf, einen Stuhl in der Hand tragend.

„Wollen Sie sich nicht vielleicht setzen?“, wich der Mann am Schreibtisch seiner Frage charmant aus. „Sie sehen erschöpft aus und wir werden hier bestimmt ein etwas längeres Gespräch führen.“ Bevor Souta antworten konnte, hatte der Andere den Stuhl hingestellt und ihn mit sanfter, aber dennoch bestimmter Gewalt auf das gebrachte Möbelstück hinunter gedrückt. Der Mann verschwand stumm aus seinem Blickfeld, jedoch konnte Souta spüren, dass dieser weiterhin direkt hinter ihm stand. Schweißperlen bildeten sich auf seiner faltigen Stirn und nervös begannen seine Hände zu zittern, in denen er immer noch den Zettel hielt. Es kam ihm unsinnig vor, den Mann ein drittes Mal zu fragen, was sie von ihm wollten, also entschloss sich Souta dazu, abzuwarten und zu schweigen.

Sekunden wurden so von der Stille verschluckt, ehe der Mann vor ihm den Gegenstand, auf den er sich die ganze Zeit gestützt hatte, in die eine Hand wechselte und dann aufstand. Während er um den Tisch ging, begann er wieder zu sprechen.

„Ich muss Ihnen offenkundig meinen Respekt zollen, Hidashi- san. Ihre Arbeit ist ein Meisterwerk; äußerst interessant…“ Er kam direkt vor Souta zum Stehen und lehnte sich gegen die Kante des prunkvollen Schreibtisches. Jetzt, aus der Nähe betrachtet, sah der Alte, dass der Fremde breit grinste. „… und äußerst inspirierend.“, vollendete er seinen Satz und sah erwartungsvoll auf Souta hinab. Dieser versuchte seinem durchdringenden Blick auszuweichen, was ihm allerdings nur mit mäßigem Erfolg gelang. Kurzerhand beschloss er, sein Unbehagen mit einem Lächeln zu übertünchen.

„Das hört jeder Wissenschaftler gerne.“, antwortete er mit leichtem Dank in der Stimme. Das Grinsen seines Gegenübers nahm weiter zu. Es kam ihm nicht aufgesetzt vor; anscheinend respektierte dieser Mann tatsächlich ihn und seine Arbeit. Ein Stück seiner Selbstsicherheit kehrte zurück und er wagte sich so zu einem weiteren Schritt: „Inwiefern hat Sie meine Arbeit inspiriert?“

Souta wollte Antworten und er wurde das Gefühl nicht los, dass diese mit seinen alten Theorien zur Gedächtnisforschung zusammenhingen- warum sonst hätte der Fremde ihm seinen eigenen Bericht unter die Nase gehalten? Ganz bestimmt nicht nur, um Souta seine Bewunderung für ihn auszusprechen.

„Nun, mein Partner und ich“ Und damit deutete der Fremde an dem alten Neurobiologen vorbei zu dem anderen Mann. „haben uns überlegt, ihre Theorien in die Tat umzusetzen.“ Souta brauchte ein paar Sekunden, um den Sinn hinter den Worten zu verstehen- dann jedoch trafen ihn die Tatsachen wie ein Blitzschlag. Seine Augen weiteten sich in entsetzter Erkenntnis. „Sie wollen… eine kontrollierte Amnesie durchführen?“

„Wir reden hier nicht von einer Durchführung…“, korrigierte ihn der junge Mann leicht tadelnd. „Wir hatten mehr an eine Maschine gedacht, mit der wir gezielt die Gedächtnisse von vielen Menschen löschen können.“

An seine Angst nicht weiter denkend, schüttelte Souta energisch den Kopf. „Sie sind wahnsinnig.“, hauchte er fassungslos. „Vollkommen übergeschnappt. Sowas können Sie doch nicht ernsthaft wollen!“

Der Fremde sah ihn an, als wolle ihm sein Gegenüber gerade verzweifelt weismachen, ein Ufo gesehen zu haben. Überrascht blinzelte der Jüngere und verzog den Mund wieder zu einem breiten Grinsen. „Natürlich meine ich das ernst- sonst hätten wir uns doch nie die Mühe gemacht, bei Ihnen zuhause einzubrechen…“ Ein spöttisches Schnauben wurde hinter Souta laut und die Schultern hebend fügte der Fremde vor ihm hinzu: „…zumindest hatten wir vorgehabt, uns die Mühe zu machen.“

Sich auf die Unterlippe beißend, starrte der Alte wieder auf die Zeilen in seiner Hand hinab. Er hatte jahrelang an dem Phänomen des Gedächtnisverlustes geforscht, mit Erfolg sogar eigene Theorien aufgestellt. Er ist danach einen Schritt weitergegangen und hatte Überlegungen angestellt, wie man eine Amnesie technisch bewirken könnte- aber er hatte nie mit dem Gedanken gespielt, dieses Wissen in die Realität umzusetzen. Sein Wunsch war es gewesen, irgendwann eine Möglichkeit zu finden, den Gedächtnisverlust auf neuronalem Weg rückgängig zu machen- doch dafür, so hatte er immer gesagt, müsste man zuerst einmal den Mechanismus der Amnesie verstehen. Nur aus diesem Grund hatte er diese Forschungen betrieben. Zornig sah er auf. Er würde nicht kampflos zulassen, dass sein Werk so schändlich missbraucht werden würde.

„Warum wollen Sie so eine Maschine entwickeln? Wer, zur Hölle, sind Sie?“

Gelangweilt setzte sich der Mann auf den Tisch.

„Ich sagte bereits, dass unsere Namen hierfür keine große Bedeutung haben und was den Grund angeht: den werden Sie nicht erfahren, weil es Sie nichts angeht.“, erwiderte er und sein Grinsen bekam zusehends etwas Freches. Dieser Ausdruck schürte neue Wut in Souta.

„Was wollen Sie dann überhaupt von mir?“, knurrte der Alte gereizt. Gefahr hin oder her, aber er würde sich nicht für dumm verkaufen lassen. Der Mann vor ihm lachte kurz auf und beugte sich, ungläubig eine Braue nach oben ziehend, dem alten Mann entgegen.

„Ist Ihnen das immer noch nicht bewusst geworden?“, fragte der Jüngere belustigt. Souta sah ihn fragend an, dann, als stünde es auf einmal in der Luft geschrieben, beantwortete er sich seine Frage selbst, jedoch war sie keineswegs zufriedenstellend.

„…ich helfe Ihnen ganz bestimmt nicht.“, sagte er bestimmt, was allerdings den anderen nur dazu veranlasste, einen erhobenen Zeigefinger tadelnd hin und her zu bewegen.

„Das würde ich nicht so vorschnell sagen.“, begann er mit der Zunge schnalzend. „Unsere Beweggründe gehen Sie zwar nichts an, aber ich könnte mir vorstellen, dass so eine Maschine auch Ihr Interesse wecken könnte…“

Soutas Augen verengten sich vor Zorn und ohne zu Zögern stand er auf. Der andere Fremde, der die ganze Zeit hinter ihm stand, hinderte ihn nicht daran. „Ich wüsste nicht, was daran mein-“

Der alte Mann unterbrach sich, als der Fremde ihm in diesem Moment ein weiteres Stück Papier unter die Nase hielt. Widerwillig nahm Souta dieses an sich. Egal was diese Wahnsinnigen noch als Argumente vorbringen würden, er-

Zum zweiten Mal an diesem Abend fühlte sich Souta wie von einem Blitzschlag getroffen. Der Zettel war bei genauerer Betrachtung ein Foto, das ein junges Mädchen auf einer Schaukel zeigte. Sie trug ein luftiges Sommerkleid und in ihre schwarzen Haare hatte sie sich Blumen gesteckt. Ihre Augen strahlten so vor Freude, dass sie sogar ihr breites Lächeln fast gänzlich in den Hintergrund stellten. Der Baum mit der Schaukel, auf dem die ungefähr 17-jährige saß, stand vor einem Haus, das Souta sehr gut kannte. Er hatte dieses Sommerhaus vor Jahren gekauft und er selbst war es auch gewesen, der dieses Foto geschossen hat. In dem Sommer, in dem er sie zuletzt so gesehen hat, der letzte friedliche Sommer ohne Sorgen…

„Die kleine Sonoko scheint ein sehr fröhliches Kind gewesen zu sein, oder?“, riss ihn die dunkle Stimme des Fremden aus seinen Gedanken. Souta hörte ihn tief und lang seufzen. „Hab gehört, dass sie vor drei Jahren einen schrecklichen Unfall gehabt hatte- ist das nicht auf einer Klassenfahrt passiert? Muss ziemlich schrecklich sein, seine besten Freunde sterben zu sehen…“

Das Herz des Alten drohte zu zerspringen. Zitternd fasste er sich an die schmerzende Brust und ließ sich kraftlos auf den Stuhl nieder. Kalter Schweiß brach ihm auf der Stirn und in seinen Handflächen aus und mit Tränen in den Augen sah er flehend zu dem jungen Mann vor ihm auf. „Bitte… machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber- aber tun Sie meiner Tochter nichts.“

Ein kleines, mitleidiges Lächeln tauchte in den Mundwinkeln seines Gegenübers auf. „Keine Angst. Wir hatten nie vorgehabt, ihr etwas anzutun… ich denke, die Kleine hat schon genug gelitten.“

Der Fremde stieß sich leicht von der Tischplatte ab und kam so wieder auf die Füße. Den länglichen Gegenstand lehnte er vorsichtig gegen den Tisch und ging erneut um diesen herum. Die Arme hinter den Rücken verschränkend, fuhr der Jüngere im Plauderton fort: „Stimmt es, dass sie heute noch Angst vor längeren Autofahrten hat?“ Souta hob ruckartig den Kopf. Er spürte sein Herz bis in den Hals hinauf schlagen. „Ihr Freund ist damals bei diesem Unglück ums Leben gekommen, ebenso wie zwei ihrer Freundinnen, wenn ich mich richtig erinnere- seitdem schottet sie sich vollkommen von Gleichaltrigen ab und hat gar keine Freunde mehr, habe ich Recht?“ Der Fremde seufzte wieder und diesmal klang es ehrlich und aufrichtig. „Sie muss sich sehr quälen…“, fügte er leise hinzu. Souta konnte seine Verwunderung nicht weiter verbergen.

„Wie… woher wissen Sie das alles? Das wurde nie öffentlich gemacht.“

Gelangweilt zuckte sein Gegenüber mit den Schultern. „Es war nicht sonderlich schwer, an die Informationen heranzukommen.“, sagte er und fing an, die Finger seiner Hand langsam abzuzählen. „Schuljahrgangsfotos, Mitschnitte von Zeugenaussagen, alte Polizeiakten, Obduktionsberichte…“

„Vergiss die Skripte ihres Psychiaters nicht.“, fügte auf einmal der Andere in Soutas Rücken brummend hinzu. Sein Partner unterbrach seine Aufzählung und sah grinsend zu ihrer Geisel, die immer blasser im Gesicht wurde. „Manchmal beneide ich ihn um sein gutes Gedächtnis…“, gab er anerkennend zu.

„Wie auch immer.“, nahm der Fremde das eigentliche Thema schnell wieder auf. „Wie Sie sehen sind wir über die jetzige Lage Ihres Töchterchens bestens informiert.“ Der junge Mann drehte sich zu einem der Regale um, die an der Wand standen und in denen Souta seine alten Berichte aufbewahrte. Wahllos nahm der Fremde einen Ordner heraus und während er durch die abgehefteten Seiten blätterte, fingen seine Augen im Mondschein an zu leuchten. „Und wie ich sehe, hat Sie Sonokos Schicksal auch nicht ganz kalt gelassen…“, fügte er hinzu und ließ den Ordner geräuschvoll wieder zuklappen.

Souta schluckte. „Ich bin ihr Vater, natürlich-“

„Ein Vater mit einem besonderen Wissen…“, fiel ihm der Mann ins Wort und deutete auf den Ordner in seiner Hand. „Sie hatten ihre Thesen zur Amnesieforschung schon lange vorher ad acta gelegt und ruhen gelassen- aber diese Aufzeichnungen hier sind, den Datierungen nach zu urteilen, in den letzten drei Jahren entstanden. Sie wollten einen Weg finden, wie Sie Ihre Tochter von ihren psychischen Schmerzen befreien können.“

„Nein, ich hatte nie vorgehabt, das Gedächtnis eines Menschen zu zerstören!“, erwiderte Souta teils verzweifelt, teils zornig und ballte seine Hände so stark zu Fäusten, dass sie schmerzten. Der Fremde sah ihm einen Moment lang forschend in die Augen, dann stellte er den Ordner zurück in das Regal und ging wieder auf Souta zu. Sein Blick war ungewöhnlich ernst geworden.

„Wollen Sie nicht alles in Ihrer Macht stehende tun, um Ihrer Tochter zu helfen?“

Verzweifelt sah der Alte zu Boden. Er war den Tränen nahe. Seit er in den Ruhestand geschickt worden ist, hatte er sich jeden Tag den Kopf darüber zerbrochen, wie er sein Kind von den Erinnerungen erlösen konnte. Sonoko hatte sich so sehr verändert, seit sie diesen Busunfall überlebt hatte. Alles, was dieser Fremde erzählt hatte, stimmte, auch wenn er es nicht mehr ertragen konnte, ewig daran erinnert zu werden- Sonokos glanzlose Augen jeden Tag aufs Neue zu erblicken, war schon schmerzhaft genug. Natürlich hatte er seine Forschung mit dem Gedanken wieder aufgenommen, eine kontrollierte Amnesie bei Sonoko durchzuführen- aber dieses Vorhaben war reinster Irrsinn, pure Verrücktheit gewesen. Was bemächtigte gerade ihn dazu Gott zu spielen? Niemand hätte ihn dabei unterstützt.

Als wolle er der Realität entfliehen, sah er auf das Foto in seiner Hand hinab und verlor sich in dem tiefen Grün ihrer lachenden Augen. Aufsteigende Tränen vernebelten ihm die Sicht und Sonokos jüngeres Ich verschwamm immer mehr, bis dicke Tropfen auf der glänzenden Oberfläche des Fotos abperlten. Souta sah, tief Luft holend, wieder auf und schüttelte den Kopf. „Selbst wenn- es würde technisch nicht möglich sein.“

Der Fremde lachte wieder freudlos und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie sind nicht das einzige Genie hier in diesem Raum. Um die Technik werden wir uns kümmern, darüber müssen Sie sich nicht Ihren klugen Kopf zerbrechen…“

Verbittert presste der Alte die rauen Lippen aufeinander. Er selbst war auch schon so weit gekommen und hatte einen befreundeten Mechatroniker, dem er sehr vertraute, um Rat und Hilfe gebeten, doch er hatte nur verwundert den Kopf geschüttelt und ihm gesagt, dass sein Vorhaben Wunschdenken bleiben würde.

Und nun erpressten ihn zwei Unbekannte und behaupteten felsenfest, seine Theorien in die Praxis umsetzen zu können. Souta wusste von Sekunde zu Sekunde weniger, was er von diesen Männern halten sollte. Wollten sie ihm tatsächlich helfen? Könnten sie wirklich all seine Sorgen und Probleme lösen?

Sich an dem verbliebenden kleinen, rebellischen Gedanken klammernd, wagte der rational denkende Teil seines Verstandes einen letzten Widerstand, obwohl er genau wusste, dass seine Sehnsucht den Kampf längst gewonnen hatte.

„Was ist, wenn es nicht klappt? Was, wenn irgendetwas schief geht?“

Der Fremde zuckte erneut mit den Schultern. „Nun, wir werden ausschließlich nach Ihren Vorgaben arbeiteten- wenn also Fehler passieren, dann nur Ihretwegen.“ Der junge Mann unterbrach sich kurz und ein böses Grinsen zeichnete sich im Mondlicht grotesk von seinen Gesichtszügen ab. „Es dürfte allerdings in Ihrem Interesse liegen, dass sowas nicht passiert, oder? Immerhin wird es das Leben Ihrer eigenen Tochter sein, das Sie mit den kleinsten Ungenauigkeiten aufs Spiel setzen.“

Bevor Souta etwas darauf antworten konnte, hatte der Fremde schon nach dem länglichen Gegenstand gegriffen und war an ihm vorbei zur Tür gegangen. Der Andere folgte ihm schweigend. „Überlegen Sie es sich. Wir werden Ihnen einen Tag Bedenkzeit geben, dann wollen wir Ihre Entscheidung hören. Und denken Sie erst gar nicht daran, die Polizei oder sonst wen hier drin einzuweihen- wir kriegen es heraus und dann werden wir spurlos verschwinden, womit Ihre einzige Chance auf die Vollendung Ihres Lebenswerkes zunichte gemacht worden wäre.“ Der Mann hatte schon die Hand nach der Türklinke ausgestreckt, als Souta seinen Schock endlich überwand und abrupt aufstand.

„Was Sie vorhaben ist illegal!“, rief der alte Mann mit letzter Kraft. Der Unbekannte stoppte in seiner Bewegung und sah lächelnd zu Souta zurück.

„Legalität ist eine Sache der Auslegung, Hidashi-san. Ich finde es zum Beispiel sehr legal und richtig von einem Vater, seinem Kind zu helfen. Denken Sie daran, für wen Sie das immerhin tun…“

Damit drehte sich Zeus von dem alten Wissenschaftler weg und trat hinaus auf den hell erleuchteten Flur. Als Hades die Tür hinter sich zugezogen hatte, hörten sie beide ein lautes Poltern aus dem Zimmer dringen, danach war es ruhig. Hades zögerte und spielte kurz mit dem Gedanken, noch einmal umzukehren und nachzusehen, doch dann gab er sich einen Ruck und schloss zu Zeus auf, der unbeirrt weitergegangen war. Sie wollten gerade um die nächste Ecke gehen, als auf einmal eine junge Frau auftauchte und beinahe mit Zeus zusammenstieß. Erschrocken blieb sie stehen und starrte den Blassen aus weit aufgerissenen Augen an.

In ihrem grünbraunen Irispaar flackerten Verwunderung und Angst, die in jedem Augenblick, der verstrich, weiter zunahm. Zeus versuchte seine Überraschung zu unterdrücken und ihrem faszinierenden Blick standzuhalten- denn obwohl jeglicher Glanz aus ihren traurigen Augen gewichen war, konnte Zeus eine Spur der vor Jahren versiegten Freude und Willensstärke in Sonokos Antlitz immer noch erkennen, als habe sich das prägende Erlebnis ihrer Vergangenheit lediglich wie feiner Staub auf einem Foto abgelegt, den man nur wegwischen musste, um die alte Pracht ihres Lebensmutes wieder voll sehen zu können.

Sonoko riss sich von Zeus` Blick los und sah verängstigt Hades an, der einen halben Meter versetzt hinter Zeus stehen geblieben war. Dann schien sie eine neue Angst zu packen und panisch sah sie den Gang hinunter, aus dem die beiden Männer gekommen sind. Sie presste die Lippen aufeinander, als müsse sie sich beherrschen, nicht etwas zu sagen. Zeus musterte sie noch einen Augenblick lang, dann ging er an ihr vorbei.

„Sieh nach ihm.“, sagte er knapp. Die junge Frau verweilte einen kurzen Moment noch zögernd an Ort und Stelle, dann lief sie, die Fremden hinter sich lassend, den Gang zum Büro ihres Vaters hinunter.

Es war das erste und letzte Mal, dass Zeus und Hades Sonoko bei vollem Bewusstsein begegneten- man würde sie im narkotisierten Zustand auf die Maschine setzen, die später den Namen ‚Memoria‘ tragen wird. Erst viele Jahre später sollte Zeus ihr Gesicht in einem anderen Mädchen wiedererkennen und sich vor allem an ihre selbstbewussten Augen erinnern. Souta selbst sollte nie miterleben, wie seine Tochter ein neuer Anfang geschenkt werden würde; er verstarb ein paar Monate später an den Folgen eines Schlaganfalls und auch diese Erinnerung wurde, auf seinen eigenen Wunsch hin, aus Sonokos Gedächtnis gelöscht. Für sie war er friedlich im Schlaf gestorben, ohne je Schmerzen verspürt zu haben. So lauteten seine letzten Worte, die er Zeus in einer Mail hinterlassen hatte, als er noch dazu in der Lage war, sie zu formulieren. So sollte Sonokos selbst viel zu kurzes Leben dennoch ein glückliches werden, was nicht zuletzt an einem amerikanischen Straßenmusiker und ihrer gemeinsamen Tochter lag.
 

„Glaubst du, er wird uns tatsächlich helfen?“

Zeus begann auf Hades` Frage hin selbstsicher zu grinsen. „Er wird sich diese Chance nicht entgehen lassen, da bin ich mir sicher.“

Hades quittierte dies mit Schweigen und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Es war schon lange nach Mitternacht, dennoch waren die Straßen gut befahren.

„Und hast du schon eine Idee, wo wir diese Maschine bauen wollen?“, fragte Hades weiter. Zeus nickte und streckte sich, soweit das auf einem Autositz möglich war. „Ich hab da was in Aussicht… du kennst doch das alte Parkhaus im Rotlichtviertel der Hauptstadt, oder?“

„Das, was seit ein paar Jahren leer steht?“, erwiderte Hades fragend und zog die Stirn auf Zeus` breites Grinsen hin kraus.

„Du glaubst gar nicht, für welche Schleuderpreise die sowas verhökern.“

Hades riss verwundert die Augen auf. „Du hast nicht allen Ernstes ein Parkhaus gekauft! Bist du verrückt? Soviel Geld besitzen wir doch gar nicht!“

„Mach dir darüber mal keine Sorgen, ich hab das alles geregelt.“, entgegnete Zeus schulterzuckend und auf Hades` irritierten Seitenblick hin, fügte er hinzu: „Ich hab `nen Deal mit meinem alten Drogenhändler ausgemacht- er streckt ein Teil des Geldes vor und dafür geht ein Teil unseres Einkommens in Zukunft an ihn.“

Hades seufzte kopfschüttelnd. „Schön, dass ich das auch mal erfahre…“

Zeus machte eine beiläufige Handbewegung. „Ich hätte es dir schon noch rechtzeitig gesagt.“, sagte er ausweichend und sah aus dem Fenster. Hades verkniff sich seinen Kommentar zu Zeus` Aussage und fuhr schweigend wieder an, als die Ampel vor ihm auf Grün umsprang.

Minuten verstrichen, bis Zeus ein neues Gespräch mit einem leisen Räuspern anschnitt.

„Hat… Hitomi nicht bald Geburtstag?“ Flüchtig bedachte Hades ihn mit einem Blick, der nicht vielsagender hätte sein können. Zeus sah, wie sein Freund sich zwang, wieder auf die Straße zu achten. „Ja, hat sie.“

Der Schwarzhaarige holte tief Luft. Reue darüber, dieses Thema angesprochen zu haben und genervte Wut, dass Hades immer noch so empfindlich reagierte, rangen einen Moment lang in ihm um die Vorherrschaft; das Ergebnis daraus war eine vorsichtige Zurückhaltung und die Warnung seines Verstandes, die nächsten Worte bloß mit Bedacht zu wählen.

„Nun, ich hatte überlegt, ihr vielleicht etwas zu schenken.“, begann Zeus im beiläufigen Plauderton. „Nichts Großes oder so- ich dachte da an einen Gutschein, aber ich habe keine Ahnung, über was sie sich freuen würde und da-“

„Schuhe.“, fiel Hades ihm kühl ins Wort. „Sie mag Schuhe…“

Stumm sah Zeus auf Hades` Hände, die sich verkrampft um das Lenkrad geschlossen hatten. Ruhe und Gleichgültigkeit in der Stimme bewahrend, entgegnete er verspätet: „Gut… dann wird`s also ein Gutschein für Schuhe…“ Hades antwortete ihm nicht.

Nach weiteren zehn Minuten, in denen niemand etwas gesagt hatte, parkte Hades den Van vor dem Hauptbahnhof. Gerade wollte Zeus aussteigen, als der Jüngere das anhaltende Schweigen endlich brach. „Darf ich dich etwas fragen?“

Zeus stockte in seiner Bewegung und sah fragend zu Hades hinüber. Dieser senkte seinen Blick auf die Hände, die immer noch das Lenkrad umschlossen. Der Schwarzhaarige sah ihm an, dass sein Gegenüber mit den unausgesprochenen Worten kämpfte.

„Magst du Hitomi?“ Eine plötzliche Ohrfeige hätte Zeus` Gesichtszüge nicht weniger stark entgleisen lassen. Er versuchte sich den Schock nicht anmerken zu lassen und rettete sich in ein entspannt aussehendes Lächeln.

„Sie ist deine beste Freundin… natürlich versuch ich da, mit ihr auszukommen und-“

„Das habe ich nicht gefragt…“ Beim Klang seiner schneidenen Worte schluckte Zeus den Rest des Satzes wieder hinunter. Zittrig fuhr er sich durch die Haare, dann riss er sich zusammen und sah Hades offen und ehrlich an.

„Hitomi ist nett- sehr nett sogar. Mit ihr kann man sich stundenlang unterhalten und sie ist jedem gegenüber zuvorkommend und hilfsbereit.“ Er seufzte, als er Hades` feindseligen Blick sah. „Ich mag sie, ja- aber nicht so, wie du befürchtest.“ Das Gesicht des Braunhaarigen verfärbte sich leicht rot, woraufhin Zeus breit grinsen musste. „Mach dir nicht immer so viele Gedanken, verstanden?“ Er klopfte Hades freundschaftlich auf die Schulter und stieg aus, ehe der andere etwas erwidern konnte.

Zeus schaute Hades noch kurz hinterher und wartete, bis der Van an der nächsten Kreuzung abgebogen war. Als er sich zum Bahnhof umdrehte, sah er, wie sich die entfernten Lichter eines langen Zuges diesem näherten- laut Zeitplan hätte es sich um den Zug handeln müssen, der Zeus in die Hauptstadt gebracht hätte. Die Lichter wurden langsamer, bis sie hinter den Dächern und Mauern der angrenzenden Gebäude aus seinem Blickfeld verschwanden. Er hätte es wahrscheinlich noch rechtzeitig geschafft, wäre er nun losgelaufen- stattdessen drehte er auf dem Absatz um und ließ den Hauptbahnhof mit ausgreifenden Schritten hinter sich.
 

Zufrieden betrachtete Hitomi den Stapel abgearbeiteter Krankenakten. Sie streckte die steifgewordenen Glieder und sah sehnsüchtig zur Wanduhr. So ruhig ihre Nachtschichten in der Regel auch waren, so langsam gingen diese auch leider um. Sie seufzte. Für die nächsten vier Stunden würde sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen, wie sie die Zeit totschlagen konnte.

Auf einmal streckte eine Kollegin den Kopf zum Schwesternzimmer hinein. „Ach, hier bist du, ich hab dich schon überall gesucht.“, sagte die Schwarzhaarige erleichtert und trat vollends ins Zimmer.

Hitomi runzelte die Stirn. „Was gibt es denn so dringendes?“

Die Frau deutete zurück auf den Flur. „Gerade ist dieser junge Mann an der Rezeption aufgetaucht- du weißt schon, dieser Blasse, der-“ Sie stockte, als Hitomi in diesem Augenblick abrupt von ihrem Stuhl aufstand und sie aus geweiteten Augen ansah.

„Hat er gesagt, was er will?“, fragte die Jüngere schnell. Die Angesprochene blinzelte und zuckte hilflos mit den Schultern. „Nein, aber er meinte, dass er unbedingt mit dir unter vier Augen sprechen müsste.“ Mehr hörte Hitomi nicht. Sofort drängte sie sich an ihrer Kollegin vorbei und ließ sie an Ort und Stelle stehen.

„Ich hab ihn ins dritte Behandlungszimmer gebracht.“, rief sie der Blonden noch hinterher, dann war Hitomi aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Hitomi musste sich bremsen, um nicht durch die Gänge der Station zu rennen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie die breite Tür mit der richtigen Aufschrift erreichte und diese aufriss. Niemand war zu sehen. Schwer atmend betrat sie das Zimmer und sah sich um. Das grelle Deckenlicht brannte, die Jalousien vor den kleinen Fenstern waren zugezogen und die Untersuchungsliege, die in der Mitte des Raumes stand, war akkurat und steril vom letzten Einsatz hinterlassen worden. Gerade wollte sie seinen Namen rufen, als plötzlich die Tür, durch die sie gekommen war, in ihrem Rücken zufiel. Etwas erschrocken wirbelte sie herum und entdeckte ihn vor der Tür stehend, die eine Hand immer noch auf der Klinke ruhend. Sie versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen und ging, die Hände in den Stoff ihres weißen Hemdes verkrallt, ein paar Schritte auf ihn zu. Sie schluckte ihre Anspannung hinunter und holte zittrig Luft.

„Was ist diesmal mit Hideki?“, fragte sie so leise, dass ihre Stimme nicht mehr als ein Hauchen war. Zeus lächelte traurig und drehte den Schlüssel laut klickend im Schloss herum.

„Ich weiß es nicht.“, sagte er hilflos. „Mir gehen langsam die Ideen aus…“

Eine Sekunde lang starrten sie sich noch an, erkannten in den Augen des anderen die mühsam zurückgehaltene Sehnsucht, dann wurde Hitomis Beherrschung mit ihrer angehaltenden Luft zusammen weggetragen und wie eine Süchtige trieb es sie in Zeus` Arme.

Das kurze Leben der Hitomi Ito

Es wird das letzte Mal sein.

Das hatte er sich schon so oft gesagt.

Aber so oft er es auch in Gedanken wiederholte, so konnte er sein sich selbst gesetztes Ultimatum nie einhalten, geschweige denn die Worte ihr gegenüber aussprechen. Doch diesmal würde er sich gegen sein Verlangen durchsetzen, das hatte er sich vorgenommen. Seine Sehnsucht lachte ihn höhnisch aus. Als ob…

Seufzend richtete sich Zeus auf und knöpfte sich sein Hemd zu. Diese Liegen waren das unbequemste, was er je zugesicht bekommen hatte, aber mit der Zeit gewöhnte man sich ja irgendwie an alles. Mit der Zeit…- der Gedanke ließ ihn kurz innehalten. Wie lange ging dieses Schauspiel hier eigentlich schon? Zur Empörung seines Gewissens hatte er darauf keine Antwort- er wusste nur, dass der Satz „es wird das letzte Mal sein“ ihm schon zu oft in den Sinn gekommen war.

Hitomi setzte sich ebenfalls auf, schlang ihre Arme von hinten um seinen Hals und küsste ihn sanft in den Nacken. „Willst du schon wieder gehen?“

„Du hast doch Dienst.“, erwiderte Zeus lächelnd. „Es fällt auf, wenn du zu lange wegbleibst.“

Er spürte, wie sie die Lippen zu einem breiten Grinsen verzog.

„Das hat dich doch sonst auch nie gestört.“, gab Hitomi zurück. Ihre Küsse wurden immer verspielter und neckender, dass Zeus bald ein wohliger Schauer den Rücken hinunter rann, der es ihm zunehmend schwieriger machte, klar zu denken. Er gab sich einen Ruck, löste sich aus Hitomis Umarmung und stand auf. Mit einem Blick, der sich in Verwunderung und Enttäuschung aufspaltete, sah Hitomi ihm einen Moment lang dabei zu, wie er weiterhin seine Kleidung anzog und richtete, dann wurde ihr die Stille zu unangenehm. Besorgt legte sie die Stirn in Falten.

„Was ist los? Du bist… irgendwie verändert heute.“

Zeus hörte auf, sich durch die zerzausten Haare zu fahren und sah für endlos lange Sekunden in ihre blauen Augen. „Das gerade war das letzte Mal.“, brachte er dann schließlich widerwillig über die Lippen. „Wir sollten uns in Zukunft nicht mehr treffen, Hitomi.“

Kurz sah er Verwirrung in ihrem Gesicht aufblitzen, doch dann machte sich schockierte Erkenntnis in ihrem Blick breit. Fahrig strich sie sich eine Strähne hinters Ohr und sah zu Boden.

„Hat Hideki etwa von uns erfahren?“

Der Blasse schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich will unser Glück nicht weiter herausfordern und abwarten, bis er Wind davon bekommt.“

Für Augenblicke sagte niemand etwas, dann zog auch sie sich, von einem langen Seufzen begleitet, an. „Warum erzählen wir es ihm nicht einfach?“, fragte sie ihn dann irgendwann nebenbei. „Ich hätte kein so schlechtes Gewissen mehr und er würde es bestimmt verstehen…“

Stirnrunzelnd sah Zeus zu der Blonden herüber, die gerade dabei war, ihre langen Haare wieder in einem Pferdeschwanz zu bändigen. „Glaubst du das allen Ernstes?“, entgegnete er ungläubig. Hitomi hielt inne und musterte ihn eindringlich. Sie schien über seine Worte lange nachzudenken, dann verzog sich ihr Gesicht auf einmal in leichtem Zorn.

„Ich bin nicht sein Eigentum!“, sagte sie aufgebracht, worauf Zeus jedoch nur mit einem mitleidigen Blick antwortete.

„Nein? Versprichst du mir das?“

Ihr Zorn wuchs weiter an. Was sollte das nun schon wieder? Manchmal verstand sie diesen Mann einfach nicht. Sobald es um das Verhältnis zwischen ihr und Hideki ging, schienen bei Zeus die Alarmleuchten anzugehen. Sie versuchte ihre langsam auflodernde Wut in eine Ecke zu verdrängen und sachlich über die Situation nachzudenken. Für einen Moment die Augen schließend, versuchte sie sich zu sammeln und rutschte dann von der Krankenliege runter, um auf den Schwarzhaarigen zuzugehen, der in diesem Moment nach seinem Gepäck griff, das in dem ganzen stürmischen Durcheinander zu Anfang unsanft auf dem Boden neben der Tür gelandet war. Er hatte ihr erzählt, dass er schon seit längerem Kendounterricht nahm, deshalb war der Anblick dieses eingepackten Schwertes keine große Überraschung mehr für sie. Hitomi hielt zwar recht wenig von diesen ganzen Kampfsportarten, aber sie hatte schließlich ja kein Recht dazu, ihn in dieser Sache zu belehren.

„…warum machst du dir überhaupt so viele Sorgen?“, sprach sie ihr Unverständnis aus. „Es geht doch Hideki nichts an, was wir tun…“

„Wir sind seine besten Freunde, wir können ihm so etwas nicht antun.“, erwiderte Zeus sofort und wich ihrem nach Antworten verlangenden Blick aus.

„Wieso antun?“, rief sie ungläubig und schüttelte den Kopf. „Du kannst dich doch nicht nach ihm richten, wen du liebst und wen nicht!“

Zeus bedachte sie mit einem langen Blick, den sie nicht zu deuten vermochte, dann stahl sich wieder dieses Lächeln auf seine Lippen, bei dem sich Hitomis Nackenhaare aufstellten. Mitleid, das einem kleinen Kind für seine noch naiven und unwissenden Aussagen geschenkt wurde…

„Du glaubst wirklich, dass das zwischen uns etwas mit Liebe zu tun hat?“, begann er und Hitomi fühlte sich, als hätte man sie in Eiswasser getaucht. Sein Gesicht zierte immer noch der gleiche Ausdruck, als er nun auf sie zukam. Sie wäre am liebsten vor ihm zurückgewichen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht, schienen am Boden fest zu kleben.

„Seien wir doch ehrlich zueinander- das zwischen uns ist keine Liebe… es ist mehr eine gegenseitige körperliche Zuneigung, oder?“

Hitomi schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. „… und wenn ich dir sagen würde, dass ich mich in dich verliebt habe?“, hauchte sie leise. Sie wollte es wütend klingen lassen, doch war ihre Stimme ungewollt ins Verzweifelte übergeglitten. Zeus stand nun direkt vor ihr und endlich verblasste dieses verhasste Lächeln. Sanft, als habe er Angst, sie könne unter seiner Berührung zerbrechen, legte er seine Hände gegen ihre Oberarme.

„Dann würde ich dich bitten, dich nicht selbst zu belügen.“, flüsterte er genauso leise. Ein flehendes Stirnrunzeln verunstaltete sein nahezu perfektes Gesicht und ihre Welt schien für einen Moment lang nur noch aus seinem Antlitz zu bestehen. „Versuch mich bitte zu verstehen, Hitomi. Ich will mich nicht irgendwann zwischen dir und Hideki entscheiden müssen. Meine Freundschaft zu euch beiden ist mir wichtiger als irgendeine kopflose Begierde oder heimlicher Sex.“

Die Worte rüttelten Hitomi wieder wach, ließen sie wieder klar denken. Hatte sie tatsächlich verloren? Gegen ihren besten Freund? Kopfschüttelnd entrang ein hartes Lachen ihrer Kehle.

„…wenn man dich so reden hört, könnte man glatt denken, dass du mit Hideki verheiratet seist.“, entgegnete sie mit leichten Sarkasmus und ging ein paar Schritte rückwärts. Zeus machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Stattdessen legte sich auch auf seine Lippen wieder ein kleines, belustigtes Schmunzeln.

„Ich habe mich im gewissen Sinne tatsächlich unwiderruflich an Hideki gebunden…“, gab er zu.

Ungläubig zog sie eine Augenbraue hoch. „Durch eure Arbeit?“

„Das könnte man so sagen.“

Seufzend schüttelte Hitomi wieder den Kopf. „Du stellst also deine Arbeit wirklich über deine Gefühle?“

Sein jungenhaftes Schmunzeln wuchs an und wieder verringerte er unauffällig seine Distanz zu ihr. „Genau um mir diese Frage nicht stellen zu müssen, beende ich das hier und jetzt-“, sagte er leise. „und im Übrigen: welche Gefühle? Ich sagte doch bereits, dass das zwischen uns mit nichts dergleichen zu tun hatte.“ Noch nicht, fügte er in Gedanken für sich selbst hinzu und hoffte, dass diese Tatsache vor ihr verborgen blieb. Er hatte gemerkt, wie schwer es ihm in letzter Zeit fiel, in ihrer Nähe sein Innerstes nicht offen darzulegen…

Hitomi schlang die Arme um sich und sah ihm tief und anklagend in die dunklen Augen. „Das ist sehr kaltherzig von dir…“

Wieder lachte er kurz und traurig. „Du wirst mir irgendwann nochmal dafür danken, glaub mir. Ich bin nicht derjenige, dem du diese berühmten drei Worte sagen solltest.“

Schuldbewusst schlug sie die Augen nieder. „Du sprichst… von Hideki, oder?“, sprach sie zögernd ihre Vermutung aus, doch Zeus schüttelte nur weiterhin lächelnd den Kopf.

„Ich spreche von niemandem. Wir haben dich beide nicht verdient.“

Ehe Hitomi etwas erwidern konnte, hatte Zeus sich leicht zu ihr hinunter gebeugt, als wolle er sie küssen und ihr Atem stoppte augenblicklich. Sie rührte sich nicht, sah ihm nur in die Augen und wartete, doch bevor seine Lippen ihre berührten, hielt er zögernd inne. Ihre Blicke trafen sich- hell flackernde Sehnsucht sah in unterdrückt glimmende- dann wich Zeus ihrem aus und zog sich, die Lippen hart aufeinander gepresst, vor Hitomi zurück. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, schloss die Tür auf und verließ das Behandlungszimmer.

Hitomi stand wie zu Stein geworden da und sah auf das Loch in der Wand, durch das der Blasse verschwunden war. Erst Sekunden später zwang ihre brennende Lunge sie wieder zum Atmen und zitternd tastete sie hinter sich nach der Kante der Liege, um sich dort abzustützen. Sie konnte nicht beschreiben, was sie fühlte. Wut? Trauer? Verzweiflung? Enttäuschung kam ihr in den Sinn, doch auch das wollte nicht so recht passen. Hitomi lehnte sich gegen das harte Gestell und fuhr sich durch ihr fahl gewordenes Gesicht.

„Er hat Recht…“, murmelte sie zu sich selbst und sah auf ihre zitternden Hände hinab. Es war töricht von ihr gewesen, ernsthaft zu glauben, dass mehr als nur körperliche Anziehung hinter diesen heimlichen Treffen gesteckt haben könnte.

Er liebte sie nicht und sie liebte ihn nicht.

Der Einzige, der hierbei zu Schaden gekommen wäre, war Hideki und auch da musste sie ihm zustimmen; sie wollte und konnte ihre Freundschaft, sowohl zu Hideki, als auch zu Zeus, nicht wegen einer Begierde aufs Spiel setzen. Es war absurd gewesen, zu hoffen, dass Hideki eine Beziehung zwischen ihr und Zeus akzeptiert hätte; natürlich hätte er das nicht, dafür kannte sie ihn viel zu gut.

Sie liebte ihn nicht und er liebte sie nicht.

Sie konnte und musste auf ihre Treffen verzichten- ansonsten würde sie riskieren, ihre beiden Freunde zu verlieren. Das war keine Liebe gewesen, das hatte sie irgendwo schon immer gewusst, jedoch nie wahrhaben wollen. Tränen tropften in ihre Handflächen. Zornig ballte sie diese zu Fäusten.

„Hör auf zu heulen!“, fuhr sie sich erstickt an und kniff die brennenden Augen zusammen. Doch es half nicht. Die restlichen dreieinhalb Stunden ihrer Schicht verbrachte Hitomi damit, sorgfältig und übertrieben häufig nach ihren schlafenden Patienten zu sehen und ihrer Kollegin und ihren misstrauischen Fragen so aus dem Weg zu gehen.
 

Es war heiß in ihrem Zimmer, trotz der Klimaanlage, die leise vor sich hin surrte. Sie hatte sich schon lange an das Geräusch gewöhnt und in gewisser Hinsicht war es sogar ganz beruhigend; nur heute Nacht wollte sie partout keinen Schlaf finden. Seit Tagen kratzte das Außenthermometer an ihrem Fenster an der 40°C- Marke und der Wetterbericht hatte vorausgesagt, dass diese Hitze mindestens bis zur nächsten Woche anhalten sollte. Unruhig wälzte sich Hitomi auf die andere Seite. Ihr dünnes Nachthemd klebte an ihrem Rücken und ihr Kissen fühlte sich klamm und unangenehm feucht an- aber vielleicht es auch einfach nur sie selbst, die vom bloßen Liegen in Schweiß gebadet war. Sie hasste den Hochsommer…

Dann endlich, nach gefühlten Tagen des Herumliegens, verfiel sie zumindest in einen leichten Dämmerschlaf; die Müdigkeit, die sie schon seit gestern verspürte, hatte endlich ihren Tribut erhalten. Doch lange währte man ihr die Erholung nicht.

Die Bodendielen knarrten unter dem Gewicht einer herannahenden Person und erschrocken riss Hitomi die Augen auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich abrupt aufrichtete und in die Dunkelheit starrte. Nur zwei Meter von ihrem Bett entfernt stand tatsächlich jemand. Sie versuchte die letzte Müdigkeit wegzublinzeln, die das Adrenalin vergeblich aus ihrem Körper hatte jagen können. Es verstrichen einige Sekunden, in denen ihr in Alarmbereitschaft versetzter Verstand sie die schlimmsten Horrorszenarien durchspielen ließ, ehe sie endlich Hideki in dem schattenhaften Umriss erkannte. Erleichtert atmete sie aus und sofort kroch die Müdigkeit zurück in ihre Glieder.

„Hideki…“, begann Hitomi und rieb sich gähnend über die Augen. „Was ist los?“

Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht genau erkennen, dennoch glaubte sie weder ein besorgtes Stirnrunzeln, noch ein verängstigtes Aufeinanderpressen der Lippen bei ihm zu entdecken- im Gegenteil: Hideki schien sie sehr neutral, beinahe emotionslos, anzusehen.

„Entschuldige… habe ich dich geweckt?“, fragte er nach ein paar Sekunden verspätet. Seine Stimme war dabei ungewöhnlich tief und klanglos, als habe er im Schlaf gesprochen. Hitomi sah ihn kurz fragend an, dann schüttelte sie seufzend den Kopf und zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln. „Nein… schon gut, ich habe eh die ganze Nacht wachgelegen. Diese Hitze ist unerträglich.“

In dem Licht, das draußen vom Flur her in ihr Zimmer flutete, konnte sie erahnen, dass Hideki die Mundwinkel zu einem Lächeln anhob, das weit entfernt von jeglicher Freude oder gar irgendeiner anderen Emotion zu sein schien und Hitomi stutzig machte. So kannte sie ihn überhaupt nicht. Kurz überlegte sie, ob er vielleicht wieder Streit mit Zeus oder Stress auf der Arbeit gehabt haben könnte, doch da riss sie Hidekis unheimlich monotone Stimme wieder aus ihren Gedanken.

„Das finde ich auch…“, pflichtete er ihr verspätet bei. „Komm, steh auf. Ich möchte dir etwas zeigen.“

Verwirrt sah sie auf ihren Wecker und dann wieder stirnrunzelnd in sein Gesicht. „Jetzt? Mitten in der Nacht? Kann das nicht bis Morgen warten?“

Doch Hideki schüttelte nur langsam mit dem Kopf und sein mechanisches Lächeln mutierte zu einem Grinsen, das sie an das Zähneblecken eines Hundes erinnerte. „Nein, ich will es dir jetzt zeigen. Komm schon, es wird nicht lange dauern…“

Augenblicklich wurde sie wieder von diesem unwohlen Gefühl gepackt, das ihr Herz umklammerte und ihren Verstand mit skurrilen und absurden Bildern fütterte, bis in ihrem Körper jede Faser, jeder Nerv nur noch einen Satz schrie: Geh nicht!

Empört schob sie die warnenden Gedanken zur Seite. Was sollte das? Es war Hideki, verdammt! Warum hatte sie auf einmal so eine unbegründete Angst vor ihm?

„Was möchtest du mir denn zeigen?“, fragte sie erneut gähnend- vielleicht bekam sie ihn ja doch noch dazu überredet, diese merkwürdige Aktion auf den nächsten Tag zu verschieben…

Hidekis Grinsen nahm zu. „Das ist eine Überraschung.“

Hitomi musterte ihn noch einen Augenblick lang verwundert, dann gab sie sich einen Ruck und stand seufzend auf. Manchmal war dieser junge Mann wie ein kleines Kind.

„Na schön, ich zieh mich nur eben kurz an…“
 

Zehn Minuten später saß sie in seinem Wagen und kämpfte immer noch gegen die Müdigkeit an. Schlaftrunken schaute sie aus dem Fenster und beobachtete die wenigen Leute, die noch um diese Uhrzeit- und vor allem noch unter der Woche- auf den Straßen unterwegs waren. Hideki hatte, seit sie los gefahren sind, kein Wort mehr gesagt. Als er dann nach einer viertel Stunde Fahrt den Wagen auf eine Schnellstraße fuhr, wurde ihr die Ruhe zu dumm. Stirnrunzelnd drehte Hitomi sich zu ihm um. „Verrätst du mir wenigstens, wohin wir fahren?“

Der Blick, der Hitomi traf, als Hideki in diesem Moment flüchtig zu ihr hinübersah, war weiterhin ungewöhnlich kalt und freudlos, trotz des Schmunzelns, das der Braunhaarige in seine Mundwinkel gezerrt hatte.

„Tokyo.“, sagte er knapp, doch dieses eine Wort reichte aus, um Hitomis Gesicht blass werden zu lassen. Schnell sah sie wieder aus dem Fenster und versuchte, das Zittern in ihr zu unterdrücken. Wusste Hideki etwa von ihr und Zeus? War er doch dahinter gekommen und wollte nun sie beide zur Rede stellen? Sie rief ihr klopfendes Herz zur Ordnung und presste die bebenden Lippen aufeinander. Sei nicht dumm! , schollt sie sich in Gedanken, diese Sache liegt nun fast sechs Monate zurück, wieso sollte er ausgerechnet jetzt davon erfahren haben? Hitomi atmete tief ein und wieder aus. Ja, das konnte nicht der Grund für diese nächtliche Reise sein; es war nur ein Zufall, dass Hideki ausgerechnet in die Hauptstadt mit ihr fuhr…

„Alles in Ordnung, Hitomi?“, hörte sie ihn fragen. Ruckartig sah sie auf und schenkte ihm zögerlich ein breites Lächeln, das- so befürchtete sie- alles andere als gelassen aussah.

„Ja, mir geht`s gut.“, erwiderte sie um Frohsinn bemüht. In ihr jedoch war eine alte Angst aufgeplatzt, die tiefe Narben in ihrem Herzen hinterlassen hatte- die Angst vor ihren eigenen Gefühlen, die sie sich nicht zugestehen wollte. Erinnerungen an Silvester schossen ihr durch den Kopf, Zeus` Gesicht, so nah über ihrem, sein Blick, sein Lächeln… Hitomi hätte es niemals für möglich gehalten, dass Küsse so grausame Wunden hinterlassen könnten.

Hideki schien sich mit ihrer Antwort zufrieden zu geben und so konzentrierte er sich wieder schweigend auf den Verkehr; nur sein unheimliches Schmunzeln schien in seinem Gesicht festgefroren zu sein. Sie brauchten nicht einmal eine Stunde bis zu ihrem Ziel und zu Hitomis Erleichterung- und gleichzeitiger Verwunderung- lag dieses keinesfalls in einem Wohnviertel, sondern in einer heruntergekommenen Seitenstraße, die dazu noch schlecht beleuchtet war.

Unsicher stieg Hitomi aus und sah sich um. Die Gebäude, die die schmale Gasse säumten, schienen keine bewohnbaren Häuser zu sein; nach dem Geruch zu urteilen, waren sie in der Nähe eines Hafens, deshalb vermutete sie, dass diese Flachbauten Lagerhallen sein mussten. Sie wusste nicht, wo Zeus genau wohnte, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass er in so einer ungemütlichen Gegend lebte. Ein Teil ihrer Anspannung fiel von ihr ab. Hideki schloss den Wagen ab, dann ging er auf sie zu und deutete die Straße hinunter. „Komm. Wir müssen noch ein Stück gehen.“

Hitomi zog die Stirn kraus. „Du machst es aber sehr spannend…“ Der Braunhaarige antwortete ihr nicht, sondern ging nur schweigend vor ihr her. Die Gasse war nicht sehr lang und als sie in die nächste belebtere Straße einbogen, blieb Hitomi wie angewurzelt stehen.

Leuchtreklamen in grellen Farben und den verschiedensten Formen strahlten von den Fassaden der Häuser hinab und ließen die langgezogene Meile unwirklich und skurril erscheinen. Jung aussehende Frauen standen am schmutzigen Bürgersteig, als posierten sie in eine imaginäre Kamera und immer wieder hielten Autos vor ihnen an, zu deren Fahrern sie dann einstiegen und aus Hitomis Sichtweite verschwanden. Sie wollte ihren Augen nicht trauen.

Hideki bemerkte ihr Zurückbleiben nach einigen Schritten. Er ging wieder auf sie zu, nahm ihre Hand in seine und schenkte ihr ein warmherziges und verständnisvolles Lächeln.

„Hab keine Angst. Dir wird niemand etwas tun.“, sagte er und zog sie mit sich. Hitomis Herz schlug mit jedem Schritt schneller, doch beim Anblick seines Lächelns- die erste, wahre Gefühlsregung von ihm in dieser Nacht- fasste sie ein Stück weit wieder Vertrauen in Hideki, sodass sie bereitwillig folgte und sich schutzsuchend an seine Seite drängte.

„Was wollen wir hier, Hideki?“, fragte sie leise und drehte sich unsicher zu den Fassaden der geöffneten Bars um. „Das… das ist hier ein Rotlichtviertel, oder?“

„Ja, leider.“, seufzte er neben ihr und legte beruhigend einen Arm um ihre Schulter. „Ignorier es einfach.“ Das unwohle Gefühl breitete sich in Hitomi wieder aus. Hideki hätte sich früher nicht einmal in die Nähe eines solchen Ortes getraut und nun ging er wie selbstverständlich an Bordellen und Prostituierten vorbei- und bat sie, das alles zu ignorieren? Die Angst begann ihr erneut Warnungen ins Ohr zu schreien und diesmal spielte sie tatsächlich mit dem Gedanken, ihr nachzugeben und wegzulaufen, und auf einmal kam ihr auch sein wohlgemeinter Arm auf ihrer Schulter wie eine Kette vor, die sie an Hideki band und ihr jede Flucht unmöglich machte.

Und vielleicht hätte sie sich im nächsten Augenblick auch aus seinem Griff raus gewunden und wäre zum Auto zurückgerannt, hätte Hideki nicht in diesem Moment auf ein Gebäude vor ihnen gedeutet. „Wir sind da. Siehst du? Da vorne.“

Unsicher sah Hitomi in die gedeutete Richtung. Sie schaute ein paar Sekunden lang an der schmucklosen Fassade des hohen Gebäudes hinauf, bis sie realisierte, auf was Hideki dort zusteuerte. „Ein… Parkhaus?“, flüsterte sie ungläubig und schaute ihrem Freund fragend in die Augen. „Du wolltest mir ein Parkhaus zeigen?“

Ihr Begleiter schüttelte den Kopf und zwinkerte ihr zu. „Lass dich einfach überraschen, ja?“ Inzwischen standen sie vor der breiten Zufahrt des Parkhauses und Hideki bedeutete ihr mit einer einladenden Handbewegung, vorzugehen. Unbehagen und der Wunsch, von hier wegzugehen, erfüllte sie immer mehr, dennoch kam sie der höflich gemeinten Aufforderung zögernd nach.

Ihre Schritte hallten in einem unheimlichen Echo von den Wänden wider, egal wie vorsichtig sie die Füße aufsetzte. Sie entdeckte kein einziges Auto auf dem Parkdeck, dennoch lag der schwere und beißende Geruch von Abgasen in der Luft, als habe er sich über Jahre hier in den Beton des Gemäuers eingebrannt. Unsicher blieb sie nach wenigen Metern stehen und sah sich zu Hideki um, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu ihr aufschloss.

„Was wollen wir hier?“, fragte Hitomi mit leichtem Zorn in der Stimme. Lange würde sie dieses Rätselraten nicht mehr mitmachen! „Warum schleppst du mich in ein verdammtes Parkhaus?“ Unbeirrt ging er schweigend an ihr vorbei und durchschritt mit gemächlichen Schritten das Deck. Der Zorn wuchs weiter in ihr.

„Rede endlich mit mir!“ Eilig schritt sie hinter ihm her und wollte ihn am Oberarm festhalten, als auf einmal seine Rechte an ihr Handgelenk schnellte und so feste zupackte, dass sie erschrocken zusammenzuckte. Für den Bruchteil einer Sekunde spiegelte sich gleißende Wut in seinem hellen Irispaar, die Hitomi bis ins Mark erstarren ließ. So einen Ausdruck hatte sie noch nie in seinen Augen erblickt…

Die hassverzerrte Miene in dem Gesicht des Braunhaarigen währte nur kurz, dann trat dieses aufgesetzte, mechanische Grinsen wieder an dessen Stelle.

„Seit wann bist du so ängstlich?“, fragte er belustigt und ließ ihr schmerzendes Handgelenk augenblicklich los. „Vertrau mir einfach, es wird nichts Schlimmes passieren.“ Er ließ ihr nicht die Zeit, darauf etwas zu erwidern, sondern ging sofort weiter hinein in die schwarzen Schatten des Parkdecks. Für einen Moment blieb Hitomi wie angewurzelt stehen, rieb sich über die pulsierende Stelle an ihrem Handgelenk und sah ihm mit klopfendem Herzen hinterher, dann, kurz bevor er vollkommen in der Dunkelheit verschwand, lief sie ihm wieder nach. Der Ausdruck in seinen Augen wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen; er war so unwirklich, so unheimlich gewesen, dass Hitomi sich gerne eingeredet hätte, sich ihn eingebildet zu haben, denn das, was sie dort erblickt hatte, so hoffte sie, konnte unmöglich Hideki gewesen sein…

Der Braunhaarige sah nicht einmal auf, als sie wieder dicht neben ihm ging.

„Dürfen wir überhaupt hier sein?“, flüsterte Hitomi leise und sah sich weiterhin um. Außer nackten Betonwänden und vereinzelten Nummerierungen, die sie in dem flackernden Neonlicht der zum Teil funktionierenden Deckenlampen ausmachen konnte, gab es hier reichlich wenig interessantes, jedoch befürchtete Hitomi immer wieder, dass hinter der nächsten Ecke ein Wächter oder irgendein Betrunkener hervorspringen könnte. Sie hörte Hideki leise lachen.

„Natürlich, warum denn auch nicht? Schließlich gehört uns das Parkhaus doch.“

„…Was?!“, rief Hitomi und blieb erneut fassungslos stehen. „Uns? Du- du meinst Zeus und dir?!“ Sie sah den Braunhaarigen eifrig nicken und ihre Augen weiteten sich im Unglauben. „Aber… woher habt ihr das ganze Geld und- warum kauft ihr ein leer stehendes Parkhaus?“

Hideki zuckte mit den Schultern und grinste. „Es würde jetzt zu lange dauern, das alles zu erklären, aber ich sag dir so viel: Es ist alles geregelt und… irgendwie auch legal.“, schloss er und sein anfängliches Schmunzeln wuchs zu einem belustigten Lachen an, das laut an den Parkhauswänden widerhallte. Hitomi beschloss, lieber nicht weiter nachzufragen, also beließ sie es bei einem ungläubigen Stirnrunzeln.

„Aber… warum kauft ihr ein Parkhaus?“, fragte sie stattdessen noch einmal und wieder zuckte Hideki mit den Schultern, als seien ihre Fragen eindeutige Tatsachen, die man ihr schon hunderte Male erklärt hatte.

„Für unser Projekt.“

„Projekt?“

„Ja. Zuerst haben wir nur einen ruhigen Ort gesucht, wo wir ungestört arbeiten können, aber dann haben wir noch etwas Besseres entdeckt.“, antwortete Hideki und winkte sie aufgeregt zu sich. Erst, als Hitomi bei ihm ankam, bemerkte sie den Durchbruch in der Rückwand des Decks. Er war niedrig und mit scharfen Kanten, als habe ihn jemand mit ein paar kräftigen Schlägen eines Vorschlaghammers in die Wand gerissen. Hitomis Augen weiteten sie vor Staunen und mit vorsichtigen Fingern fuhr sie über den bröckeligen Putz, der unter ihrer Berührung weiter nachgab und in feinen Staub zu Boden fiel. Sie erkannte einen Treppenabsatz direkt hinter der Durchbruchstelle- schmale, grob geschlagene Treppenstufen, die hinab ins Nichts zu führen schienen…

„Kein Mensch wusste, dass hier früher einmal der Eingang zu einer unterirdischen Bunkeranlage gelegen hat.“, erklärte ihr Begleiter weiter interessiert und trat näher an ihre Seite. Ein ungläubiges, kurzes Lachen entrang seine Kehle. „Ist das zu fassen? Nicht einmal die Regierung hat Pläne hiervon und wir sind auch nur durch Zufall darauf gestoßen.“

Hitomi riss sich von dem Loch in der Wand los und sah Hideki fragend in die Augen. „Woher willst du das wissen- ich mein das mit der Regierung?“

„…ich habe mich halt informiert…“, antwortete er schwammig und stieg durch das Loch in der Wand, das so niedrig war, dass er den Kopf einziehen musste, um sich nicht zu stoßen. Er blieb auf der zweiten Stufe stehen und streckte ihr eine Hand entgegen. „Komm, du brauchst keine Angst zu haben. Ich versichere dir, dass dort unten alles begehbar und sicher ist.“

Hitomi sah zögernd an Hideki vorbei in die Dunkelheit, die sich wie ein dunkles Tuch über den Gang zu legen schien, doch dann gab sie sich einen Ruck und griff vorsichtig nach seiner dargebotenen Hand.

Die Treppe war nicht besonders lang, Hitomi zählte zehn Stufen, und zu ihrer Verwunderung brannten auch hier unten nach einigen Metern wieder ein paar kalte Neonröhren von der Decke. Die Luft roch noch abgestandener, als zuvor auf dem Parkdeck, und auch etwas moderig. Immer wieder entdeckte sie kleine Lüftungsschächte an den Wänden und über den unendlich vielen Türen, an denen sie vorbeiliefen und von irgendwoher hörte sie auch das monotone Surren eines Generators. Hier unten gab es funktionierende Stromleitungen? Ob das Hidekis Verdienst war? Aber was, um Himmels Willen, wollten ihre beiden Freunde mit einer alten Bunkeranlage anstellen? Und warum hatte sie bis jetzt davon nichts gewusst?

Sie waren schon ein paar Minuten durch den riesigen Komplex untertage gegangen, als Hideki wieder zu erzählen begann: „Es ist erstaunlich, wie gut hier unten alles erhalten ist. Ich war ja am Anfang noch skeptisch, als Zeus mit der Idee, dieses Parkhaus zu kaufen, anfing, aber inzwischen finde ich, dass wir es besser nicht hätten anstellen können.“ Er sah erwartungsvoll zu Hitomi hinab, die sich bei dem Anblick seiner leuchtenden Augen zu einem Lächeln zwang.

„Das… ist ja alles sehr interessant, aber ich möchte trotzdem lieber gehen, Hideki.“, sagte sie vorsichtig und verlangsamte ihren Schritt. Das Unbehagen kroch stetig in ihr hoch und lange würde sie es nicht mehr unterdrücken können. Hideki schien, wie so oft, ihre Körpersprache und Wortwahl zu ignorieren, und fing wie ein kleines Kind an zu grinsen.

„Oh, du hast ja noch gar nicht das Beste gesehen!“, meinte er aufgeregt und zog sie zu einer der Türen. Bevor Hitomi nachfragen konnte, hatte Hideki die Metalltür aufgezogen und sie in den dunklen Raum hineingeschoben. Voller Vorfreude schaltete er das Licht ein und deutete auf den Gegenstand vor ihnen. „Da! Schau` s dir an!“

Zum wiederholten Mal an diesem Abend spürte sie ihr Herz einen schmerzhaften Satz in ihrer Brust machen. „W… was ist das?“, fragte sie kleinlaut und trat einen Schritt rückwärts. Ihre Angst nahm schlagartig zu. Hideki ging weiter auf den merkwürdigen Stuhl zu und setzte sich auf ihn. Strahlend breitete er die Arme aus

„Das ist eine Maschine, die bestimmte Teile des Gedächtnisses löschen kann- kontrolliert, verstehst du?“ Hitomi schüttelte nur verängstigt den Kopf, doch auch diesmal schien der Braunhaarige ihre Geste absichtlich auszublenden.

„Das hier ist revolutionär!“, begann er wieder und strich andächtig mit der Hand über die Lehne, an der breite Ledermanschetten angebracht worden waren. Hitomi wollte nicht darüber nachdenken, welchen Zweck sie genau erfüllten, der bloße Anblick war schon verstörend genug. „Niemand vor uns hat sowas jemals gebaut- nur mir und Zeus ist das gelungen!“ Er stand auf und ging zurück auf Hitomi zu, die beinahe unbewusst immer weiter in Richtung Tür drängte. „Stell dir vor, du hast etwas Schreckliches erlebt und du quälst dich mit dieser Erinnerung… diese Maschine könnte dir helfen!“ Seine Stimme wurde immer euphorischer. „Verstehst du, was wir damit erschaffen haben? Was ich erschaffen habe? Zeus und dieser Alte haben zwar diese ganzen unverständlichen Theorien aufgestellt, aber ich habe das alles hier erst technisch möglich gemacht.“ Er deutete auf den Stuhl. „Das dort ist mein Werk!“

Hitomi starrte die Maschine an und schüttelte zögernd den Kopf. „Das… das kann doch unmöglich funktionieren…“, entgegnete sie fast flüsternd. Hideki begann zu lachen.

„Und wie das funktioniert! Wir haben sie erst vor kurzem getestet und das Mädchen kann sich an nichts mehr erinnern. Sie lebt jetzt wieder glücklich und ohne Qualen.“ Er machte auf einmal wieder kehrt und ging zurück zu „seinem Werk“. Erneut begann er vorsichtig mit den Fingern über die Rücklehne zu streicheln, als liebkoste er ein Haustier.

„Ich kann Menschen helfen, Hitomi, ich kann ihnen allen helfen! Jeden könnte ich hiermit glücklich machen.“ Er sah von dem elektrischen Stuhl auf und grinste sie mit demselben mechanischen Lächeln vom Anfang an, mit dem er sie geweckt hatte.

„Ich bin ein Gott, Hitomi!“, rief er euphorisch aus und das Grinsen schien sein ganzes Gesicht einzunehmen.

Hitomi spürte ihr Herz rasen. Sie hatte es zuvor, in ihrem Zimmer, durch das Dämmerlicht nicht eindeutig sehen können, doch nun, im hellen Neonlicht, erkannte sie es deutlich: Hidekis Grinsen war keineswegs emotionslos und mechanisch gewesen- das, was sich damals und jetzt wieder in seinem Gesicht abzeichnete, war purer Wahnsinn…

Zittrig schluckte sie gegen das beklemmende Gefühl in ihrer Kehle an. Sie wollte etwas sagen, fand jedoch keine Worte für das alles, für ihre vielen Emotionen, die sie nicht zu ordnen wusste, und mit jeder Sekunde, in der Hideki sie erwartungsvoll und begeistert ansah, fiel es ihr immer schwerer, auch nur Luft zu holen. Sie konnte sich ihr Unwohlsein nicht erklären, aber dieser Raum hier, diese unheimliche Maschine und Hidekis Verhalten, waren ihr nicht geheuer und weckten in ihr fast animalische Fluchtinstinkte. Sie wollte hier unten keine Sekunde länger bleiben…

Nach unendlichen Augenblicken des bedrückenden Schweigens, riss sie sich zusammen und versuchte, ihre Gefühle endlich in Worte zu fassen, in der Hoffnung, bei Hideki auf Verständnis zu stoßen.

„Ich… ich habe Angst, Hideki.“, fing sie kleinlaut an und begann wieder rückwärts in Richtung Tür zu gehen. Hideki bemusterte sie dabei, wie eine Raubkatze ihre in die Enge getriebene Beute. „Ich will weg von hier, bitte lass uns gehen.“ Sie wartete nicht seine Antwort ab, sondern drehte sich einfach auf dem Absatz um und wollte losrennen, als auf einmal seine Stimme sie zurückhielt.

„Ich könnte dich glücklich machen.“

Hitomi erstarrte augenblicklich und hörte den Pulsschlag in ihren Ohren wie Trommelschläge vibrieren. Verängstigt schaute sie wieder zu Hideki zurück. Ihr Freund stand immer noch neben dem Stuhl, die Linke auf der ledrigen Lehne ruhend. Sein Grinsen war verschwunden und an dessen Stelle war ein Ausdruck getreten, der unlesbar für sie war. Hitomi zwang sich zu einem unbekümmerten Lachen.

„Das ist lieb von dir, wirklich, aber ich bin doch glücklich.“, entgegnete sie um authentische Freude bemüht, allerdings brach ihr Lachen im nächsten Moment in sich zusammen, als Hideki plötzlich auf sie zuging, sein Gesicht immer ernster werdend.

„Nein, bist du nicht.“, sagte er. „Ich sehe es in deinen Augen. Früher, ja, da warst du fröhlich und heiter.“ Er blieb stehen und musterte sie mit verengten Augen. „Früher, als es nur uns beide gab…“

Hitomi wich seinem anklagenden Blick aus und starrte zur Seite. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Doch, du weißt es, lüg mich nicht an!“, fiel er ihr wütend ins Wort. „Seit Zeus in unserem Leben aufgetaucht ist, bist du nicht mehr du selbst.“

„Das ist nicht-“, fing sie kleinlaut an, verstummte jedoch sofort wieder. Hideki kam immer weiter auf sie zu und mit jedem Schritt, der er näher kam, wich sie immer weiter vor ihm zurück. Fassungslos schüttelte der Braunhaarige mit dem Kopf.

„Du distanzierst dich von mir, Hitomi. Immer weiter. Obwohl ich dich an meiner Seite brauche.“ Sein verzweifelter Tonfall war wie ein Stich in ihrem Herzen und verdrängte langsam ihre beklemmende Angst. Sie blieb stehen und ließ ihn näher auf sie zu kommen. Hilflos sah sie ihm in seine traurigen Augen- das, was sie niemals bei ihm sehen wollte: Trauer. Angst. Hoffnungslosigkeit…

„Ich brauch dich doch auch, Hideki, also hör bitte auf, so etwas zu sagen…“, antwortete sie vorsichtig und wollte ihn beruhigend an der Schulter berühren, als er auf einmal ihre Hand zur Seite wegschlug, sodass sie erschrocken die Luft einsog und ihn aus geweiteten Augen anstarrte. Die Trauer war aus seinen hart gewordenen Gesichtszügen verschwunden, als habe dieses Gefühl nie in ihm existiert.

„Lüg mich nicht an!“, schrie er aufgebracht und packte sie so feste an den Schultern, dass Hitomi für einen Moment ihren Schock überwand und selbst vor Schmerz aufschrie. Doch auch dieser Wutausbruch währte nur kurz, sodass Hideki im nächsten Augenblick zur Seite sah, als bemühe er sich um Selbstbeherrschung. Als er seine Freundin wieder anschaute, war sein Gesicht von Unbeholfenheit gezeichnet.

„Ich liebe dich, Hitomi…“, flüsterte er verzweifelt. „Ich habe dich schon immer geliebt. Also bleibe bitte bei mir…“

Hitomi starrte ihn nur aus tränenden Augen an. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken, dutzende Stimmen schrien ihr Warnungen und Phrasen ins Ohr, sodass sie befürchtete, langsam den Verstand zu verlieren. Hunderte von Gefühlen wüteten in ihrem Herzen und ließen sie Achterbahn fahren. Sie verspürte Angst vor diesem Ort und vor allem vor der Person, die vor ihr stand und ihrem besten Freund zum verwechseln ähnlich sah, aber unmöglich sein konnte. Doch wenn Hitomi in seine Augen sah, so konnte sie nichts anderes als Mitleid und Sorge um diesen Mann empfinden- so war es schon immer gewesen; sie konnte nicht sagen, wie es so weit kommen konnte, aber wenn Hitomi eine Schwachstelle hatte, dann war es Hideki und egal wie viel Angst sie vor ihm auch hatte, sobald sie merkte, dass es ihm nicht gut ging, war jedes andere Gefühl, jedes verunsichernde Wort von ihm, vergessen.

Und dann hallten Hidekis Worte durch ihr persönliches Chaos: ich liebe dich. Immer wieder echoten sie in ihrem Kopf, immer hämmernder, immer lauter, bis sie unerträglich wurden. Sie hatte gehofft, diese Worte nie von ihm zu hören- von jedem, nur nicht von ihm, denn sie wusste, dass sie alles kaputt machen würden. Aber hatte sie es nicht irgendwo schon immer gewusst…? Sie riss sich aus dem tödlichen Strudel ihrer Gefühle zurück in die Realität und konzentrierte sich darauf, ihre Mimik unter Kontrolle zu bringen.

„… ich…“ Sie brach den Satz ab und holte tief Luft. „Ich würde dich niemals verlassen, bitte glaube mir… du bist doch wie ein Bruder für mich.“ Hilfe suchend sah sie wieder zu Hideki auf. Der Druck auf ihre Arme ließ nach, das Verzweifelte baute sich in seinem Gesicht ab und brachte eine nie dagewesene Verachtung darunter zum Vorschein.

„Ach ja? Und was ist Zeus dann für dich?“

„Was meinst du damit?“

„Stell dich nicht dumm!“, zischte Hideki und kam ihrem Gesicht noch näher. „Ich habe euch an Silvester gesehen.“ Hitomi wurde sofort kreidebleich und jegliche Emotion fiel ihr aus dem Gesicht. Hideki schien seine Schlussfolgerungen aus ihrer Reaktion zu ziehen und sah ihr ernst in die Augen. „Liebst du ihn?“

Hitomi schaute verschüchtert zu Boden. „Hör auf damit, bitte…“

„Gib mir eine Antwort!“ Seine Stimme glich dem drohenden Knurren eines Hundes.

Hitomi stiegen wieder Tränen in die Augen. „Bitte…“

Der Druck auf ihre Arme war schlagartig wieder da. „Liebst du ihn?!“, schrie Hideki ihr hasserfüllt ins Gesicht und im selben Moment schrie Hitomi verzweifelt zurück: „Nein!

Für Sekunden war es still, allein Hitomis Schluchzen war zu vernehmen. Tränen verschleierten ihre Sicht. Es lief alles aus den Rudern, das wurde ihr immer mehr bewusst, und sie allein war schuld daran! Hätte sie doch niemals ihren verdammten Gefühlen nachgegeben, wäre sie doch damals, an Silvester, niemals nach draußen gegangen, sondern bei Hideki geblieben, dann wäre es niemals so weit gekommen, oder?

Hidekis Wut verblasste langsam aus seinem Gesicht, bis kaum noch ein Schimmer davon übrig blieb- die Gleichgültigkeit, die an ihre Stelle getreten war, war jedoch nicht weniger schmerzend.

„… du lügst schon wieder.“, sagte er anklagend. Hilflos sah Hitomi auf und versuchte durch die kalte Fassade, in die sich seine Augen verwandelt hatten, durchzudringen.

„Das ist nicht wahr!“, rief sie flehend und stemmte sich gegen seinen eisernen Griff, doch Hideki schüttelte nur den Kopf und drehte den Blick zur Seite, als könne er ihr nicht mehr in die heuchelnden Augen sehen.

„Du kannst nichts dafür.“, entgegnete er seufzend. „Zeus versteht es, Leute zu manipulieren und sie das tun und denken zu lassen, was er will.“, schloss er, wobei sich sein Ausdruck bei der Erwähnung seines Freundes fast unmerklich verfinsterte.

„Hideki-“, versuchte Hitomi noch einmal zu ihm durchzuringen, doch auch dieser letzte Akt, der aus ihrer Verzweiflung und der Angst, die beiden wichtigsten Personen in ihrem Leben zu verlieren, resultierte, prallte an dem Braunhaarigen gnadenlos ab.

„Schon gut. Ich gebe dir keine Schuld daran- im Gegenteil: ich will dir helfen.“ Endlich sah er Hitomi wieder in die Augen, doch das, was sie nun in dem hellen Irispaar erblickte, ließ all ihre verbleibenden Hoffnungen zerspringen, als seien sie nie mehr gewesen, als filigranes, hauchdünnes Glas. Sie spürte ihre Beine kraftlos nachgeben, allein Hidekis Griff verhinderte, dass sie zu Boden ging, und mit geweiteten, tränenden Augen starrte sie in seine.

„Ich werde dich wieder glücklich machen.“

... einer Ära.

Der gewohnt abgestandene Geruch von Jahre alter Luft wurde mit jedem Schritt, den er die Treppenstufen hinabstieg, intensiver. Als Zeus dann unten ankam, war er so stark, dass er für gewöhnlich versuchte tief Luft zu holen und sich über die immer noch nicht richtig funktionierende Lüftungsanlage beklagte- diesmal jedoch stockte ihm kurzzeitig der Atem.

Das Neonlicht brannte grell von der Decke des endlosen Ganges herab, obwohl sich Zeus sicher gewesen war, dass er, als er vor ein paar Stunden die Anlage verlassen hatte, den Schalter im Stromkasten umgelegt hatte…

Stirnrunzelnd blieb er am Treppenabsatz stehen und ließ einen Moment lang die Vergangenheit Revue passieren, bis es keinen Zweifel mehr für ihn gab: jemand musste hier unten sein. Aber wer? Der Einzige, der außer ihm hiervon noch wusste, war Hades, doch der war eine Autostunde von hier entfernt zuhause und- nach einem schnellen Blick auf seine Armbanduhr zu urteilen- wahrscheinlich schon seit Stunden am schlafen. Selbst Zeus war auch nur deswegen zurückgekehrt, weil er ein paar wichtige Unterlagen hier unten hatte liegen lassen.

Alarmiert schlug sein Herz zu einem schnelleren Rhythmus an. Wenn hier unten jemand war, den er nicht kannte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Die ganzen letzten Monate war alles so gut gegangen, dass sich nicht einmal ein Obdachloser hierher verirrt hatte, obwohl ein leer stehendes, altes Parkhaus eigentlich dafür prädestiniert hätte sein müssen, von Menschen, die auf der Suche nach ein wenig Schutz vor Kälte und Blicken waren, überrannt zu werden- wären die ganzen Unterweltgrößen um dieses Gebäude herum nicht gewesen, die, auf Zeus‘ mehrstelliger Bitte hin, stets ein Auge auf das Parkhaus warfen, würde das auch höchstwahrscheinlich der Fall sein. Das hieß jedoch auch, dass wenn sich jemand unbefugtes in der vergessenen Bunkeranlage aufhielt, es etwas ziemlich Ernstes war. Bei dem Gedanken an Hades‘ und seiner gemeinsamen Maschine zog sich alles in ihm zusammen. Er wollte keine Zeit mehr vergeuden und lief eilig die Gänge hinab.

Sein Herz raste in seiner Brust, als er den Raum erreichte, in dem sie den umgebauten Metallstuhl gestellt hatten, und mit Entsetzen sah, dass die Tür nur angelehnt war. Er vernahm knisternde Geräusche und helles Licht zuckte durch den dünnen Spalt an der Tür zu ihm hinaus. Zeus kannte dieses Geräusch. Er wusste auch, was das Lichterspiel zu bedeuten hatte und alarmiert riss er die schwere Metalltür auf und stürmte in den Raum.

Eine Person war an den Stuhl gefesselt, den grelle Blitze und Entladungen umgaben, sodass Zeus die Arme schützend vor seine Augen halten musste, um nicht zu erblinden. Nur langsam konnte er mehr als nur Umrisse von der Person auf der Maschine erahnen. Es war eine Frau. Eine Frau, dessen Gesicht eingerahmt von hellblondem Haar war, ihr Mund weit aufgerissen, doch kein Laut war von ihr zu vernehmen. Ihre Saphirfarbenen Augen starrten glanzlos ins Leere.

Als Zeus Hitomi endlich erkannte, fühlte er sich, als würde er selbst von Stromstößen gequält werden. Was hatte das zu bedeuten? Warum war sie hier?! Wer hat sie hierher-?

Panisch fuhr sein Kopf herum. Hades schien ihn noch nicht entdeckt zu haben. Wie gebannt stand er hinter dem Schaltpult, sah zu Hitomi herüber, eine schwarze Schutzbrille tragend und ein Grinsen im Gesicht, als ergötze sich der Braunhaarige an dem grausamen Schauspiel, das sich ihm bot. Unbändiger Zorn stieg in Zeus hoch und keinen Augenblick zögernd rannte er auf Hades zu.

„Du Wahnsinniger!“, schrie er gegen den zischenden Lärm der Maschine an. „Schalt es ab! Schalt es ab!“ Hades schaute nicht einmal auf, als Zeus ihn in diesem Moment mit voller Wucht vom Pult wegriss und mit ihm zu Boden ging. Die Brille flog dem Jüngeren von der Nase und mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu dem Blassen hinauf, der sich in derselben Sekunde wieder hochgerappelt hatte und an das Schaltpult getreten war. Verzweifelt suchte Zeus nach den richtigen Knöpfen und Schaltern, als er auf einmal von hinten gepackt und gegen eine Wand gedrückt wurde. Die Wucht des Aufpralls trieb ihm die Luft aus der Lunge und keuchend rang er nach Atem.

„Nein!“, zischte Hades‘ hohe Stimme in seinem Rücken hasserfüllt. „Du wirst ihr kein Leid mehr zufügen- niemand wird das!“

Die Worte ließen seinen Zorn nur noch weiter auflodern. Er wusste nicht, was hier los war, oder was in seinen Freund geraten war, doch das einzig wichtige für ihn war jetzt Hitomi! Er stieß mit dem Ellenbogen hinter sich und traf Hades‘ Rumpf, dass dieser stöhnend von ihm ablassen musste und, die Arme um den Bauch geschlungen, gekrümmt rückwärts stolperte. Zeus nutzte die gewonnenen Sekunden und lief wieder zum Schaltpult. Er wusste nicht, wie lange Hitomi schon auf dem verdammten Ding saß, doch musste es allemal zu lange gewesen sein!

Nach gefühlten Stunden fand er endlich den richtigen Schalter und sein Puls verlangsamte sich etwas, als er hörte, wie das Zischen und Knistern immer leiser wurde und zum Schluss ganz erstarb. Hitomis Körper zuckte noch etliche Augenblicke nach, bis ihre Glieder dann erschlafften und sie leblos in sich zusammensackte.

Nicht weiter auf den Braunhaarigen achtend, der leise keuchend hinter ihm stand, rannte Zeus um das Pult herum und auf Hitomi zu. Ihren Namen rufend hockte er sich vor ihr hin und sah ihr ins gesenkte Gesicht. Sie war totenblass und ihre sonst so roten Lippen schimmerten nur noch in einem ungesunden Blau. Ihre feinen, langen Haare rochen verbrannt und als Zeus sie an der Wange berühren wollte, zog er seine Hand reflexartig zurück, als sich weiterhin die angestaute Spannung aus ihrem Körper entlud. Er biss die Zähne zusammen und widerstand dem Drang, die Hand ein weiteres Mal zurückzuziehen. Ihre bläulichen Lider zuckten unruhig.

„Hitomi…“, flüsterte Zeus beinahe verzweifelt und strich ihr über die Wange. Sie war eiskalt. Er schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. „Hitomi, hörst du mich? Schlag die Augen auf, bitte!“ Vorsichtig umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen und hob es an. „Hitomi!“, flehte er erstickt und auf einmal tropfte ihr dunkelrotes Blut aus der Nase.

Als er dann auf seine Hände schaute, die ihren Kopf gehalten hatten, musste er feststellen, dass auch diese rot von Blut waren, das langsam aus ihren Ohren sickerte. Schleichende Panik stieg langsam und unaufhörlich in ihm hoch. Er ließ sie los und beeilte sich, die Ledermanschetten zu lockern, die um ihre Handgelenke und Fußfesseln geschnürt waren. Leblos viel Hitomi in seine Arme und behutsam legte Zeus sie auf den kalten Boden. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, dass er kaum einen Laut hervorbrachte. Mit zitternden Händen legte er ihr zuerst zwei Finger seitlich an den Hals, dann senkte er seinen Kopf zur Seite gedreht an ihren Brustkorb und suchte unruhig nach einem Lebenszeichen. Tatsächlich hörte er einen leisen Herzschlag, doch schien dieser mit jedem verzweifelten Zusammenpressen schwächer zu werden. Sie lebte noch, dachte er und ein Funken Hoffnung schlich sie in seinen gehetzten Verstand. Ein Schatten tauchte am Rande seines Gesichtsfeldes auf und ließ ihn den Blick von Hitomis leichenblassem Gesicht abwenden. Hades sah mit ausdruckslosen Augen auf sie hinab und bei seinem Anblick schlug Zeus‘ innere Panik augenblicklich wieder in Zorn um.

„Warum hast du das getan? Bist du jetzt vollkommen wahnsinnig geworden?“

Hades antwortete ihm nicht, sondern sah nur weiterhin auf die Blonde hinab, als erkenne er in ihr nicht seine Freundin seit Kindertagen. Zeus starrte Hades einige Momente noch fassungslos an, dann presste er die Lippen aufeinander und wandte sich wieder ab. Der Grund für das alles hier war jetzt nebensächlich- am wichtigsten war nun Hitomi! Vorsichtig schob Zeus seine Arme unter ihren Nacken und Kniekehlen.

„Los! Hilf mir, sie von hier wegzubringen! Ihr Herz schlägt noch, aber wir müssen uns-“

Er verstummte sofort, als die um sie herum herrschende Stille von einem mechanischen Klicken durchbrochen wurde. Der Lauf einer Pistole war plötzlich einen knappen Meter von Zeus entfernt aufgetaucht; eine tödlich nahe Distanz, aus der es kein Entrinnen gab. Sein Herz stolperte einige Schläge lang, als er seinen Blick in die Höhe wandern ließ und mit Entsetzen in die kalten Augen des Besitzers der Waffe blickte. Hades zeigte immer noch keine Gefühlsregung.

„Lass sie los.“

Zeus sah, wie sich Hidekis Mund bewegte, dennoch wollte er nicht glauben, dass es sein Freund gewesen war, der gesprochen hatte. Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass Hades‘ Stimme so kalt, so hasserfüllt klingen könnte. Er spürte, wie ihm selber jegliche Emotion aus dem geschockten Gesicht fiel, dennoch war er noch so weit Herr über seinen paralysierten Körper, dass er Hidekis Aufforderung zögernd nachkam und Hitomi wieder hinlegte. Der Jüngere bedeutete ihm mit dem schmalen Lauf der Desert Eagle aufzustehen und auch das befolgte Zeus schweigend. Seine Beine fühlten sich taub und kraftlos an und kribbelten unangenehm, als er sich von der jungen Frau ein paar Schritte weit entfernte. Langsam kam wieder Leben in seinen Körper und mit jeder Sekunde, die verstrich, erholte sich auch sein Verstand. Ein grausames Grinsen wuchs quälend langsam in Hidekis Gesicht und belustigt hob er die Brauen.

„Was denn, so überrascht, Zeus?“, fragte er, als er bemerkte, dass Zeus weiterhin die Waffe mit den Augen fixierte, die er immer noch auf den Schwarzhaarigen gerichtet hatte. „Du selbst warst es doch, der mir damals gesagt hat, dass ich mich eigenständig verteidigen müsse.“ Sein Grinsen wurde breiter und mit einem kurzen Nicken deutete er auf die dunkle Desert Eagle in seiner Rechten. „Tja, und da dachte ich mir, dass so `ne Waffe doch ganz hilfreich dabei wäre, findest du nicht?“

Kochende Wut überkam Zeus beim Anblick von Hidekis fratzenähnlichem Grinsen und um Beherrschung kämpfend ballte er die Hände zu Fäusten. Sein Schock war keine Spur mehr existent. „Lass die verdammte Waffe sinken.“, knurrte er drohend. „Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, aber ich habe keinen Bock mehr auf dieses Theater!“

Der Jüngere fing lauthals zu lachen an, ging jedoch seiner Aufforderung nach und senkte kopfschüttelnd die Pistole. „Theater? Ich?“ Mit Mühe schien er einen weiteren Lachanfall zu unterdrücken. „Niemand ist ja wohl ein besserer Schauspieler als du, Zeus! Mir würde im Traum nicht einfallen, dir die Show zu stehlen.“

Zeus versuchte einen Moment lang über den Sinn seiner Worte nachzudenken, aber dann ließ der den Gedanken mit einem fassungslosen Kopfschütteln fallen und drehte sich wieder Hitomi zu, die regungslos am Boden lag und sich keinen Zentimeter weit rührte; sie schien nicht einmal mehr sichtbar zu atmen…

„Mir ist schleierhaft, warum du ihr das angetan hast, aber wir müssen sie schnell in ein Krankenhaus bringen, sonst wird sie sterben.“, sagte er um einen ruhigen Tonfall bemüht und wollte vor ihr wieder auf die Knie gehen, als Hideki erneut die Eagle auf ihn richtete.

„Rühr sie noch einmal an und ihr werdet beide zur Hölle fahren…“

Zeus gefror einen Moment lang in seiner Bewegung, dann richtete er sich ruckartig auf, ging auf seinen Freund zu und packte ihn, ungeachtet der Waffe, die der Jüngere immer noch in der Hand hielt, am Kragen. „Wenn sie nicht sofort Hilfe bekommt, wird sie sterben, du verdammter Idiot!“, schrie Zeus ihm ins Gesicht. „Du bringst sie um, kapier das endlich!“

Hidekis Gesicht verfinsterte sich und augenblicklich stieß er den Blassen von sich.

Ich bringe sie um?“, entgegnete er hasserfüllt. „Hör auf, die Tatsachen zu verdrehen!“

Wütend deutete Zeus neben sich auf den elektrischen Stuhl. „Du hast sie auf das scheiß Ding gesetzt, nicht ich!“

„Du hast sie schon lange vorher umgebracht, ich wollte sie nur vor dir retten!“

Hidekis Worte kamen einer Ohrfeige gleich und von dieser mit aller Wucht getroffen, starrte Zeus ihm ins Gesicht.

„Bitte? Was redest du da für einen Unsinn?“

In Hidekis Gesicht begann es zu arbeiten, als müsse er sich ernsthaft ein Lachen verkneifen, dann schlug seine Mimik erschreckend schnell in blanke Wut um. Die Waffe in seiner Hand zitternd umklammert, ging er ein paar Schritte auf Zeus zu.

„Wovon ich rede?!“, begann er mit bebender Stimme. „‚Ich bin dein Freund‘ hast du gesagt; ‚Ich mag sie, aber nicht so, wie du befürchtest‘ hast du gesagt- ich soll mir keine Gedanken machen?! Ist das so, ja?“ Hidekis Stimme wurde immer ungehaltener und lauter, bis er dem Schwarzhaarigen die Worte ins entsetzte Gesicht schrie. „Alles Lügen! Du wusstest, was ich für sie empfinde und hast mir dennoch so schamlos ins Gesicht gelogen!“ Zeus starrte den Braunhaarigen ohne jegliche Emotion im Gesicht an. Sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren und er verspürte ein Gefühl, als öffne sich mit jedem Wort von Hideki der Boden ein Stück weit mehr unter seinen Füßen. Trotz allem Zorn entwich ein freudloses, kaltes Lachen Hidekis Kehle und ungläubig schüttelte er den Kopf.

„Ich soll mir keine Gedanken machen…“, wiederholte der Jüngere leise, als habe er sich selbst nur noch einmal an die geheuchelten Worte seines Freundes erinnert. Der Blick seiner hellen Augen durchbohrte Zeus. „Weißt du eigentlich wie schwierig das ist, wenn sich dieses widerliche Bild einem in den Schädel eingebrannt hat, wie ihr da draußen vor meinem Fenster im Schnee steht und du ihr stundenlang die Zunge in den Hals steckst?“

Er ließ die Worte ein paar Sekunden lang wirken, als erwarte er eine Antwort von ihm, aber Zeus war sich in diesem Moment nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt ein einziges Wort über Lippen gebracht hätte. Kurz sah er wieder Hitomi vor sich, wie sie vor über einem halben Jahr vor ihm gestanden hat, als sie sich zum letzten Mal getroffen hatten. Er hatte ihr gesagt, dass er das zwischen ihnen beenden wollte, um genau diese Situation hier zu vermeiden. Ein bitterer Kloß schnürte ihm die Kehle zu. Zu spät. Er hatte viel zu spät gehandelt…

Plötzlich drehte sich Hideki zu Hitomi um, die immer noch bewusstlos und dem Tode nah auf dem kalten Betonboden lag. Das Gesicht des Jüngeren verzog sich zu einer unheimlichen Grimasse.

„Und dieses Miststück hier…“, hörte Zeus seine ungewöhnlich tiefe Stimme grollen und ohne Vorwarnung holte Hideki aus und trat der jungen Frau in die Seite. Sie zeigte keine Reaktion, kein gequälter Laut, nicht einmal ein kleines Zusammenzucken- ihr Körper gab einfach nach, als sei sie eine leblose Puppe. „Du hast dich kein Stück gewehrt, heuchelst mir die beste Freundin vor, als sei nichts passiert und redest einen Scheiß von ‚großer Bruder‘!“, schrie er ihr zornig ins leichenblasse Gesicht.

Endlich fand Zeus seine Stimme wieder. Die Gewaltbereitschaft seines Freundes hatte ihn wachgerüttelt und schnell trat er auf die beiden zu. „Hideki-“, begann er wütend, doch sein Handeln wurde jäh untergebrochen, als der Braunhaarige blitzschnell seine Pistole auf ihn richtete. Zeus folgte der stummen, aber eindeutigen Warnung und verharrte auf seinem Platz. Trotz seiner unbändigen Wut war er dennoch nicht blind und verzweifelt genug, um auf seine Instinkte nicht mehr zu hören.

„Nenn mich nie wieder so!“, warnte ihn der Jüngere mit einem gefährlichen Zorn in der Stimme, als würde nicht mehr viel von Zeus` Seite her fehlen, um von der Waffe endlich Gebrauch zu machen. Besänftigend nickte Zeus und zumindest das schien Hades` Stimmung etwas zu dämpfen. Im nächsten Moment sah er wieder auf Hitomi hinab und Zeus befürchtete schon, dass er ein weiteres Mal zutreten würde, stattdessen wurden die Gesichtszüge des jungen Mannes auf einmal etwas weicher, sodass man sich beinahe Trauer hätte einbilden können.

„Ich wollte sie retten.“, sagte Hades ruhig. „Seit du aufgetaucht bist, war sie nicht mehr sie selbst… wärst du nicht gewesen, wären wir nun glücklich.“ Er schüttelte den Kopf und schaute Zeus an. Ein verzweifeltes Lächeln klebte in seinen Mundwinkeln, als habe er es dort vergessen. „Aber du bist nun mal da und daran kann ich nichts mehr ändern. Du würdest nicht so einfach wieder verschwinden, oder?“

Sein leiser gewordener Tonfall ließ auch Zeus` aufgewühlte Emotionen abebben. Auf einmal, für einen kurzen Augenblick, konnte er wieder seinen alten Freund vor sich erkennen, so, wie er ihn eigentlich kannte- unsicher, hilfsbedürftig und hoffnungslos erschüttert und entsetzt von der grausamen Realität, die außerhalb seiner kleinen, heilen Welt lauerte. Schuldgefühle drängten sich Zeus auf, die er jedoch schnell wieder vertrieb. Es war geschehen und um Verzeihung zu flehen brachte im Moment gar nichts, rief er sich harsch in Erinnerung. Er schluckte gegen das beklemmende Gefühl in seinem Hals an. Er musste die Chance nutzen und versuchen, die Aufmerksamkeit des Braunhaarigen wieder auf das bedeutend wichtigere Thema lenken.

„Sie stirbt, Hades…“, sagte er vorsichtig und deutete dabei auf Hitomi. „Du liebst sie, ist es also wirklich das, was du willst?“ Zeus hoffte, ihn damit erreichen zu können, jedoch schien sein Vorhaben erfolglos zu bleiben. Unbeirrt von Zeus` Worten, sprach Hades weiter, als rede er mit sich selbst.

„Ich könnte dich aus ihrem Gedächtnis streichen, hunderte mal, aber ich könnte sie nicht von dir fern halten, nicht auf Dauer…“ Er lächelte traurig und zuckte betrübt seufzend mit den Schultern. „Sie ist besser dran, wenn sie tot ist, dann macht niemand sie mehr unglücklich.“

„Wenn… es dir so wichtig ist, dass ich ihr nicht mehr begegne, warum hast du dann nicht mich getötet?“, fragte Zeus ernst und sah seinem Freund in die verwunderten Augen. Hades machte den Eindruck, als habe er über diese Möglichkeit kein einziges Mal nachgedacht und das schürte neue Wut in ihm. Sein Gegenüber ging ein paar Schritte rückwärts und breitete dabei die Arme aus. Hades` Blick schwenkte in leichte Begeisterung um.

„Sieh dich um, Zeus… sieh, was wir erschaffen haben- was wir noch erschaffen werden. Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass ich das hier alles alleine weiter aufbauen könnte.“ Und auf Zeus` verfinsternden Blick hin, fügte er schulterzuckend hinzu: „Ich habe mich hierauf eingelassen und muss nun mit den Konsequenzen leben. Ich kann meinen Kopf nicht mehr aus der Schlinge unseres Paktes ziehen. Das einzige, was mir noch blieb, war Hitomi von dem hier zu erlösen. Das Leben hat ihr kein Glück gebracht, es ist besser für uns und vor allem für sie, wenn sie nicht mehr leiden muss.“

Mit diesen Worten bekam sein Zorn neues Futter. Seine Fingerknöchel brannten vor Schmerz, so sehr ballte Zeus die Hände zu Fäusten. „Und du glaubst, in der Position zu sein, darüber zu urteilen? Über Leben und Tod zu entscheiden?“

„Du selbst hast mir diese Möglichkeit gegeben.“, entgegnete Hades verwundert, als könne er den gereizten Tonfall des Blassen nicht nachvollziehen. „Wärst du nicht auf die Idee mit der Gedächtnismanipulation gekommen, würden wir drei jetzt nicht hier sein.“

Grinsend kam er wieder auf Zeus zu, bis er direkt vor ihm stand. „Siehst du jetzt, was ich meinte? Du kannst es drehen und wenden wie du willst, es bleibt dabei: du hast sie getötet, also wälz die Schuld nicht auf mich ab- ich habe vor deinem erbärmlichen Schauspiel von Liebe und Freundschaft nur noch rechtzeitig den Vorhang fallen lassen, ehe es noch unschöner geworden wäre.“

„Du bist wahnsinnig… du kannst dich nicht wie Gott aufführen!“, zischte Zeus angewidert, aber Hades begann nur wieder zu lachen.

„Ich bin ein Gott, Zeus, genauso wie du; vermutlich bringt es auch deshalb nichts, dich zu töten- du würdest wahrscheinlich selbst im Jenseits nicht aus meinem Leben verschwinden.“ Immer noch lachend, beugte er sich Zeus entgegen, bis er ihm leise ins Ohr flüsterte: „Wir werden uns gegenseitig immer am Hals haben, ob wir nun wollen oder nicht. Da ist es doch wohl besser und einfacher, wenn nichts zwischen uns steht, was uns die ganze Sache noch zusätzlich erschwert, findest du nicht?“

Als Hades sich in diesem Moment wieder von ihm entfernte, war sein Grinsen noch breiter geworden. In Zeus stauten sich die Gefühle an. Er hätte Hades am liebsten ins Gesicht geschlagen, ihm die Waffe entrissen und ihn damit erschossen. Er hegte ganz kurz tatsächlich das bittere Bedürfnis, ihn auf dem kalten Boden liegen zu sehen, in seinem eigenen Blut, aus dem Gesicht das kranke Grinsen geschossen… Aber dann überkam ihm die Erkenntnis, warum das alles hier passiert war und wer stattdessen entstellt und gequält vor ihm lag- eine Unschuldige, die sie beide immer versucht haben zu beschützen. Und wohin hat sie das gebracht? Das Bedürfnis zweier Männer, sie von allem Übel fern zu halten, auf das sie sich eingelassen hatten ohne zu erkennen, dass sie selbst die größte Bedrohung für sie darstellen? Sie haben sich gegenseitig in den Wahnsinn eines Gefühls getrieben, das sie in ihrer Blindheit Liebe genannt und als richtig empfunden haben. Und sie musste dafür bezahlen…

Ein tiefes Seufzen riss Zeus aus seinen Gedanken. Hades hatte sich neben Hitomi auf den Boden gehockt und strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht.

„Sie hat mir unter Tränen gesagt, dass sie dich nicht lieben würde… aber das habe ich ihr nicht abgekauft. Es war zu offensichtlich. Es wäre nicht gut ausgegangen, Zeus: ich hätte nicht mit euch beiden leben können, sie hätte ohne dich nicht leben können und du-“ Er unterbrach sich kurz, als müsse er über seine nächsten Worte nachdenken, dann zuckte er jedoch gleichgültig mit den Schultern und stand auf. „Ich weiß nicht, was mit dir gewesen wäre… es ist mir aber auch egal.“ Er drehte sich von ihr weg und ging auf seine Maschine zu. Nachdenklich fuhr er über das dunkle Leder.

„Ich werde wohl noch ein wenig an den Einstellungen feilen müssen- die Stromstöße sind zu unkontrolliert.“, murmelte er, als habe er seine Umgebung vollkommen ausgeblendet. Zeus sah ihn zuerst schweigend an, dann ging er, ungeachtet von Hades, der ihm den Rücken zugedreht hatte, neben Hitomi in die Hocke und fuhr ihr über die kalten Wangen. Der Blutfluss hatte aufgehört. Geronnenes Dunkelrot klebte auf ihrer weißen Haut. Zeus drückte zwei Finger leicht unter ihren Kiefer. Seine Augen brannten und seine Stimme verlor augenblicklich alle Festigkeit.

„Sie ist tot, Hades…“, sagte er gebrochen und biss sich auf die Unterlippe.

Der Angesprochene reagierte nicht.

Geisterstunde um 3 Uhr Mittag

Die Stille war in diesem Moment das unangenehmste Geräusch, das Taro sich vorstellen konnte. Gedankenlos starrte er auf das kleine Ding vor sich und die Dunkelheit und das Rauschen aus dem Diktiergerät drückten ihm die Luft aus der Lunge, sodass jeder Atemzug anstrengte und zur Qual wurde.

Nach einer Ewigkeit holte ihn ausgerechnet die Stimme des Verantwortlichen seines Schockzustandes genau aus diesem wieder heraus. Sie klang zittrig und hauchdünn, als fehle dem Unbekannten selbst die Kraft zum Sprechen.

„Ich weiß bis heute nicht, was danach mit Hitomi passiert ist. Ich habe das Parkhaus irgendwann verlassen und Hades mit ihr zurückgelassen. Die Erinnerungen der Stunden danach sind aus meinem Gedächtnis verschwunden und daran ist sicherlich nicht Memoria schuld. Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich bei Tagesanbruch zurück zum Parkhaus gegangen bin. Hades war verschwunden und mit ihm Hitomi.“ Er schwieg kurz und durch die rauschende Stille hörte Taro ihn tief einatmen. „Es gab nie eine Todes- oder Vermisstenanzeige, zumindest habe ich nie eine in den unzähligen Zeitungen, die ich damals gelesen habe, entdeckt. Ich wusste, dass Hitomi noch eine große Schwester hatte, aber ich traute mich nicht, sie aufzusuchen, um eventuell Antworten zu bekommen- ich konnte nicht sicher davon ausgehen, dass Hades ihr- wenn er ihr überhaupt etwas gesagt hatte- annähernd die Wahrheit über Hitomis Tod erzählt hatte und ich wollte niemand weiteres in diese Misere mit hineinziehen.

Den Kontakt zu Hades kappte ich für mehrere Monate. Ich… war nicht wütend auf ihn, nein, das ironischer weise nicht, und selbst wenn, dann nur sehr kurz. Ich hätte, glaube ich, vielmehr einfach keine Worte gehabt, die ich ihm hätte an den Kopf werfen können. Wissen Sie, ich war geschockt gewesen, zu was er fähig war. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon längst keine Berührungsängste mehr mit dem Tod gehabt, geschweige denn die ethischen und moralischen Züge, die jeder normal zivilisierte Mensch in dieser Hinsicht haben sollte.“ Er unterbrach sich kurz und Taro hörte ihn leise lachen. „Aber Hades… Hades hatte die Moral mit Löffeln gefressen; zumindest hatte ich das bis dahin immer gedacht. Ich versuchte ihn zu verstehen, um mir selbst den Schritt zu erleichtern, wieder mit ihm zusammenarbeiten zu können. Aber… bis heute, so viele Jahre nach diesem Vorfall, habe ich das nicht ganz vollständig geschafft und ein Teil ganz tief in mir drin kann ihm immer noch nicht dafür verzeihen, was er Hitomi angetan hat… und dennoch habe ich mich wieder an ihn gewandt.

Ja, ich wollte weitermachen und nach einer gewissen Zeit taten wir das auch.“

Verständnislos schüttelte Taro den Kopf. Dieser kranke Mann, der sich selbst einen Gott nannte, hatte seine beste Freundin umgebracht- einfach so! Er an seiner Stelle wäre diesem Psycho nie wieder unter die Augen getreten und wenn, dann nur, um ihn in einer Gasse umzulegen. Sein eigener Gedanke ließ Taro innerlich erzittern. Würde er tatsächlich einen Menschen töten wollen? Fing er jetzt langsam an, endgültig durchzudrehen? Ehe er sich für seine eigenen grausamen Gedanken verbal selbst schelten konnte, setzte erneut der Monolog des Unbekannten ein und lenkte damit Taros Aufmerksamkeit auf das alte Thema zurück. „Nennen Sie mich ruhig einen Idioten, darauf bin ich schon lange selbst gekommen…“, sagte dieser etwas belustigt, was Taro mit einem kurzen, harten Lachen quittierte- Idiot war noch viel zu harmlos.

„…aber ich habe mich dazu entschieden und davon wird es nie ein Zurück geben. Irgendwann traf ich Hades vor dem Parkhaus an und als sei nie etwas zwischen uns vorgefallen, nahmen wir unsere Arbeit erneut auf.“ Wieder folgten ein paar Sekunden der geräuschvollen Stille und als der Fremde diesmal zu sprechen begann, klang seine Stimme müde, aber dennoch nachdenklich. „Wenn ich jetzt, nach so vielen Jahren, auf das Szenario zurückblicke, muss ich mit leichter Bitterkeit feststellen, dass wir damals wie heute kein einziges Mal mehr über Hitomi gesprochen haben. Ich bin oft- eigentlich viel zu oft- mit Hades aneinander geeckt und unzählige Male sind wir uns für Wochen aus dem Weg gegangen, aber jedes Mal sind die Situationen vorüber gezogen, indem wir sie schlicht und ergreifend verdrängt haben. Wenn ich mich recht erinnere, sind alle unsere Streitereien durch Schweigen geschlichtet worden… wir meiden uns für eine gewisse Zeit, in der wir einsehen, dass wir eh keine andere Wahl haben, als unsere Zusammenarbeit, lassen Gras über die Sache wachsen und damit hat sich der Streit gelegt. Ob das die richtige Vorgehensweise auf Dauer ist wird sich zeigen… aber ich denke, dass das Verdrängte irgendwann zu mächtig wird und dann…“ Die Stimme brach den Satz ab, ließ ihn unfertig in der stickigen Luft hängen. Aber Taro brauchte keine Antwort. Ironischer Weise saß er ja schließlich mitten in ihr drin. In einer Ruine, die kläglichen Überreste einer eigenen, unterirdischen Stadt, die nun lediglich von alten Erinnerungen und einer armen, vom Pech verfolgten Seele bewohnt wurde. Kurz sah er auf das Diktiergerät hinab und überflog durch das kleine Plastikfenster die Aufschrift der Kassette in der Hoffnung, ein Datum zu finden, das Aufschlüsse darauf geben könnte, wie alt die Aufzeichnung war, jedoch vergebens. Nachdenklich runzelte Taro die Stirn. Er fand das Verhalten des unbekannten Typen äußerst seltsam. Er schien schon lange vor dem Sturz von Olymp mit deren Ende gerechnet zu haben, oder zumindest befürchtet, und dennoch hat er anscheinend wenig dagegen getan.

Er versuchte sich an den damaligen Zeitungsartikel zu erinnern, in dem von dem Bandenkrieg berichtet worden war. Es schien alles blitzschnell und unerwartet gegangen zu sein; plötzlich war das halbe Viertel in Aufruhe gewesen und alle hatten sich auf ein stummes Zeichen hin um das alte Parkhaus gescharrt. Chaos und Todschlag hatten geherrscht und niemand schien einen wirklichen Überblick gehabt zu haben; wenn man zehn Augenzeugen befragt hatte, bekam man mindestens zwölf verschiedene Schilderungen…

Der Untergang der Organisation war verheerend gewesen, so viel stand fest. Nach allem, was der Unbekannte erzählt hatte, entsprach so ein Durcheinander keineswegs dem üblich durchdachten Vorgehen des ehemaligen Anführers. Sein Verhalten passte überhaupt nicht zu den Tatsachen. Olymp, oder zumindest dieser Hades, schien ein Pulverfass gewesen zu sein, und der Unbekannte soll tatsächlich die ganze Zeit auf diesem gesessen haben ohne etwas unternommen oder Vorkehrungen getroffen zu haben?

Ob das die richtige Vorgehensweise auf Dauer ist, wird sich zeigen… aber ich denke, dass das Verdrängte irgendwann zu mächtig wird, schossen ihm die Worte des Fremden wieder durch den Kopf, vermischt mit Bildern, die Ähnlichkeiten mit einem Kriegsschauplatz hatten. Wieder lief ihn ein Schauer über den Rücken. War das vor einem Jahr etwa die große Entladung gewesen? Oder… lag er die ganze Zeit falsch und der Unbekannte hatte diesem Treiben damals ein Ende gesetzt…?

„Wir verbesserten die Maschine, sodass sie kontrollierbarer war und gaben ihr den Namen Memoria.“, erzählte der Fremde weiter. „Dann begannen wir das aufzubauen, was wir und die Unterwelt in naher Zukunft ‚Olymp‘ tauften- eine organisierte Gemeinschaft von Kopfgeldjägern und Auftragskillern. Wir legten Regeln im Umgang mit Memoria fest, aber die kennen Sie ja bereits. Auch wenn wir es nie aussprachen, so wollten wir beide nicht- und da war ich wirklich erleichtert und sicher, dass Hades in dieser Hinsicht genauso dachte- dass durch Memoria je wieder ein Mensch getötet wurde; denn dafür hatten wir sie nicht gebaut. Das Ergebnis unserer Arbeit dürften Sie wahrscheinlich kennen- immerhin hören Sie sich ja dieses Tape an…“

Stille umhüllte Taro wieder und diesmal schien sie endgültig zu sein. Doch dann erklang ein langes Seufzen aus dem Diktiergerät, gefolgt von der, bereits wohlbekannten Stimme des weiterhin Unbekannten.

„Nun… ich denke, mehr bleibt mir an dieser Stelle nicht zu sagen; nun kennen Sie die Geschichte. Aber ich kann mir vorstellen, dass Sie noch einige Fragen haben, da ich auf ein Thema nur unzureichend eingegangen bin. Ich werde Ihnen nicht alles erzählen- denn die Erinnerung an Hitomi gehört mit zu meinen Privatesten- aber eines möchte ich gerne noch loswerden:“ Ein kleine Kunstpause setzte ein, auf die seine ernste und feste Stimme folgte:

„Ich streite Hades‘ Worte, die er mir damals in der Nacht von ihrem Tod gesagt hat, nicht ab, denn er hatte im Grunde recht; ich war schuld an ihrem Tod. Ich hätte früher erkennen müssen, wie besitzergreifend er gegenüber Hitomi gewesen war oder einfach nie etwas mit ihr anfangen dürfen. Sie gehörte ihm; das zumindest redete er sich stets ein. Ich bin mir nicht sicher, ob er sie wirklich geliebt hat; vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn es um Gefühle geht, ist Hades einfach so verschlossen, dass niemand ihn durchschaut- er versteht sich wahrscheinlich selbst nicht einmal. Ob ich Hitomi geliebt habe?“, fügte er im leicht verwunderten Tonfall hinzu, als habe man ihn in diesem Moment tatsächlich auf diese Frage angesprochen. Taro hörte ihn schmunzeln. „Fragen Sie mich etwas leichteres… ich denke, dass ich……“

Die dunkle Stimme begann zu leiern, zog das letzte Wort in die Länge, bis jedes Geräusch, selbst das schon vertraue Rauschen im Hintergrund, ungesund abwürgte. Für Sekunden saß Taro blinzelnd da und starrte auf das verstummte Diktiergerät, dann, als hätte die Erkenntnis seinen Kopf wie einen Stromschlag getroffen, griff er nach dem kleinen Ding, drückte eilig die Stopp-Taste und riss das Fach für die Kassetten auf. Ein Wirrwarr von meterlangen, zerknäulten, braunen Bändern sprang ihm entgegen- seine einzige Beschäftigungsquelle hatte soeben den Geist aufgegeben.

Fluchend versuchte er die dünnen Bänder aus den kleinen Rädchen des Gerätes zu ziehen, in denen sie sich hoffnungslos verheddert hatten. Zu seinem Bedauern musste er feststellen, dass das dünne Band zerkratzt und an einigen Stellen eingerissen war. Als er das ganze Dilemma vor sich ausgebreitet sah, musste er verbittert lachen. War das alles nur ein dämlicher Zufall oder hatte ihn ein wahrscheinlich Toter gerade in die Unterhaltungs-Suppe gespuckt, indem er sein letztes Geheimnis vor Taros Augen unwiderruflich zunichte gemacht hatte? Er hoffte auf ersteres…

Seufzend lehnte sich Taro auf seinem Stuhl zurück. Große Klasse… als wenn es noch einen Unterschied machen würde, ob er nun erfahren hätte, wie es um die Gefühle dieses Eisklotzes von Massenmörder gestellt gewesen war, oder nicht- erzählen konnte er es doch eh niemanden! Frustriert nahm er das Diktiergerät in die Hand, steckte eine andere Kassette hinein und drückte ein paar Knöpfe. Nichts. Ein kleiner, tonnenschwerer Stein umschloss sein Herz. Das konnte doch nicht wahr sein… Er drehte das Memogerät auf die Rückseite und öffnete die Vertiefung für die Batterien. Sie waren erwartungsgemäß alt und angerostet- und zudem höchstwahrscheinlich leer. Man wollte ihn zur Weißglut treiben, das lag für ihn nun auf der Hand. Mürrisch sah Taro zur Decke, als hänge dort ein Bild des Unbekannten. Man trifft sich ganz bestimmt, Mistkerl, sprach er in Gedanken aus, wobei er zuerst auf sich und dann, einer Drohung gleich, zur dunklen Decke hinauf deutete, dauert bestimmt nicht mehr lange, dafür hat mein Chef gesorgt!

Gerade wollte er sich seufzend aus dem Stuhl erheben und seiner hoffnungslosen Situation mit einer neu starten wollenden Putzaktion entfliehen, als auf einmal seine Umgebung in grell flackerndes Licht getaucht wurde.

Erschrocken und verwundert zugleich stockte Taro in seiner Bewegung und sah zur Decke, doch im nächsten Moment umgab ihn schon wieder die gewohnte Dunkelheit, in der die einzige Lichtquelle seine Taschenlampe war. Er runzelte die Stirn. Hatten die Techniker etwa an der Stromanlange des Parkhauses herumgespielt? Dass dieser Laden überhaupt noch Saft in den Leitungen fließen hatte, war ein Wunder…

Aber wenn die Leute seines Chefs da oben wieder arbeiteten, bedeutete das vielleicht…?

Aufregung beflügelte sein Herz, ließ ihn hastig nach der Taschenlampe greifen und aufspringen. Mit einem zaghaften Grinsen auf den Lippen und der zurückkehrenden Hoffnung im Sinn durchquerte er die Gänge und versuchte den Weg zurück zu finden, den er gekommen war. Vielleicht suchten sie ja schon nach ihm! Es gab also doch noch eine Chance, hier unten raus zu kommen. Der Gedanke ließ seine Schritte noch ausgreifender werden.

Obwohl Taro sich das ein oder andere Mal verlaufen hatte, fand er die eigestürzte Stelle doch schneller als erwartet. Leicht außer Atmen verharrte er in sicherer Entfernung und lauschte. Stille umhüllte ihn, lediglich das Echo seiner schnappenden Atemzüge hing in der Luft. Für Minuten stand er so dort und wartete, bis seine dünn gewordene Geduld an ihre Grenzen gestoßen war und ihn einige Schritte auf den verschütteten Eingang zugehen ließ.

„Hallo?“, schrie Taro den Trümmern entgegen. „Ich bin hier! Hört mich jemand?“

Seine Rufe verliefen rasch in der Einsamkeit seines Gefängnisses ohne erwidert zu werden. Er wartete noch einmal ein paar Sekunden, dann rief er ein weiteres Mal, doch auch darauf erhielt er keine Reaktion. Die zurückgedrängte Verzweiflung schlug wieder über ihm zusammen, begleitet von einer immer größer werdenden Portion Frust. Es war ausweglos, niemand würde ihn suchen kommen. Wahrscheinlich haben sie nicht einmal mitbekommen, dass hier unten alles zusammengestürzt war. Das breit grinsende Gesicht seines Chefs tauchte vor ihm im schwachen Lampenschein auf und zwinkerte Taro verschwörerisch zu. Sie sind doch ein geschickter und vernünftiger Mann, Ihnen wird da unten schon nichts passieren, hörte Taro ihn sagen und diese Erinnerung brachte das Fass in ihm zum überlaufen.

„Du verdammter Idiot!“, knurrte Taro wütend und bückte sich nach einem handlichen Trümmerstück. „Was habe ich dir eigentlich getan, dass du mich hier in diesem scheiß Loch lebendig begraben lässt, hä?“ Seine Frau kam ihm in den Sinn und seine kleine Tochter. Ungewollt vernebelten Tränen seine Sicht. „Du solltest hier an meiner Stelle sein, Drecksack!“, rief er ungehalten und warf den Stein zwischen die Augen des imaginären Abbildes seines Vorgesetzten. Der Brocken hinterließ ein ausgefranztes Loch in dem Gesicht seines Chefs und krachte gegen den aufgetürmten Schutthaufen, der von dem Durchgang übergeblieben war. Lockere Steine und Betonstaub lösten sich und kamen ihm entgegen, dass er alarmiert ein paar Schritte Abstand nahm, doch der Ausgang blieb weiterhin verschlossen. Der Tränenschleier wurde dichter und verärgert rieb er sich über die Augen. Heulen brachte im Moment gar nichts! Er blinzelte ein paar Mal um wieder klar sehen zu können, doch da durchzuckte erneut ein Licht seine Umgebung, das diesmal so grell war, dass er für Sekunden überhaupt nichts mehr sah. Im Bruchteil eines Augenblickes erlosch es wieder.

Fluchend rieb sich Taro über die Augen. Was war hier los? Er drehte sich noch einmal zu den Trümmern um und versuchte etwas zu hören oder zu erkennen, da war es wieder Taghell um ihn herum, dass es schmerzte. Er warf die Arme vor sein Gesicht und versuchte sich von dem Licht abzuwenden, doch die Blitze schienen von überall her zu kommen. Immer schneller flackerte das Licht auf, immer greller. Halb blind begann Taro den Gang entlang zu stolpern, die Hände beinahe gänzlich über die Lider gelegt. Durch einen kleinen Spalt zwischen seinen Fingern sah er die Welt, die Umgebung, die vor ihm schwankte, seine abgehackten Bewegungen, als ließe er ein Daumenkino von sich ablaufen, dessen Einzelbilder nicht schnell genug hintereinander gezeigt wurden.

Und dann sah er die Schatten an der Wand. Die Schatten einer Person. Einer anderen Person?

Überrascht blieb er stehen. Begann er nun schon zu halluzinieren? Es blitzte weiter, dass bunte Lichtflecken vor seinen Augen umher tanzten und ihn erneut dazu zwangen die Lider zuzukneifen. Als er das nächste Mal die Augen öffnete sah er noch, wie der Schatten davonlief, dann war er verschwunden. Verwirrt starrte er auf die Stelle an der Wand, dann rannte er los, die tobende Stimme seines Verstandes ignorierend. Jetzt läufst du schon deinen eigenen Einbildungen hinterher?!, keifte sie in ihm und schollt ihn einen verschrobenen Narren. Vergebens. Halb blind stolperte Taro den Gang hinab und folgte seinem linken Verlauf. Und da war er wieder! Der Schatten verweilte für einen Moment an seinem Ort, dann rannte sein Besitzer um die nächste Ecke.

„Warte!“, rief Taro verzweifelt und folgte dem Unbekannten, einen Arm schützend vors Gesicht haltend, den anderen ausgestreckt gegen die raue Wand gestreckt. Das grelle Licht hielt an, wurde immer unruhiger und Taro spürte, wie ihm schlecht wurde. Er erreichte die nächste Biegung, tastete sich taumelnd an der Wand entlang, sah um die Ecke-

Und fand sich in vollkommender Dunkelheit wieder.

Zumindest hörte er das Flackern und Zucken der alten Neonröhren über ihn nicht mehr, vor seinen Augen lief weiterhin die schlechteste Laserlight- Show seines Lebens ab. Die plötzliche Stille, die wieder über Taro zusammengeschlagen war, wurde nur von seinen eigenen hektischen Atemzügen durchbrochen und ließ ihn verwirrt an Ort und Stelle verharren. Etwas erleichtert rieb er sich über die Augen, kniff sie zu und versuchte so das zuckende Farbenspiel wegzublinzeln. Nach ein paar Sekunden konnte er seine Umgebung wieder so weit wahrnehmen, wie der Schein seiner treuen Taschenlampe es zu ließ. Er schien wieder in dem Gang gelandet zu sein, in dem er diesen schaurigen elektrischen Stuhl entdeckt hatte. Memoria, flüsterte etwas in seinem Kopf, das nicht nach ihm klang und ihn wieder anders zumute werden ließ. Taro wusste nicht, was ihm mehr Kopfschmerzen bereitete; dieser Ort hier und seine Geschichten, oder die vielen Stimmen in seinem Kopf…

Seufzend rieb er sich ein letztes Mal über die Augen, leuchtete sich seinen Weg und ging weiter. Von der Person, die hier anscheinend herumlief und mit ihm Fangen spielte, war nichts zu sehen. Vielleicht habe ich sie mir doch eingebildet, dachte er niedergeschlagen und ertrug das feixende Ich-hab‘ s-doch-gesagt-Gezeter seines Verstandes, das sich verdächtig nach seiner Angetrauten anhörte, stoisch. Wenn er hier unten rauskommen sollte, würde er sich freiwillig auf eine Couch beim Psychiater legen, so viel war sicher…

Seine Schritte folgten dem Verlauf des Ganges und blieben wieder vor dem Raum mit der aus den Angeln gerissenen Tür stehen. Der Vorraum mit der gesprungenen Scheibe und der verzogenen Sicherheitstür tauchte im Lampenschein auf. Für Sekunden stand Taro nur da und leuchtete das alte Schaltpult an, doch dann machten sich seine Beine erneut selbstständig und ließen ihn den Raum betreten.

Durch das getönte Fenster konnte er Memoria sehen. Taro wurde wieder anders. Die Schilderungen des Unbekannten hallten ihm durch den Kopf, klar und deutlich, als stünde der Mann direkt neben ihm und er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Er stellte sich vor, wie eine junge Frau auf diesem Stuhl gefesselt saß, mit verweinten Augen und flehenden Worten auf den Lippen. Dann durchzuckte helles Licht seine Erinnerungen, dass er schon wieder befürchtete, die Männer seines Chefs hätten sich erneut an dem Stromnetzwerk zu schaffen gemacht, grelle Blitze, die den schmächtigen Körper der Person schüttelten und zucken ließen. Das Bild vor seinem geistigen Auge war so real, dass er sich einbildete, sogar ihre Schreie zu hören. Augenblicklich musste Taro wegsehen. Seine Hände zitterten und wurden schweißnass, seine Beine schienen sein Gewicht nicht länger tragen zu können, sodass er sich kraftlos auf die Konsole des Schaltpultes stützte und lange, tiefe Atemzüge tat, um seinen aufgewühlten Verstand zu beruhigen.

„Warum?“, fragte er sich selbst und schluckte gegen das zuschnürende Gefühl in seinem Hals an. Warum tut jemand so etwas? Wie kann jemand so etwas freiwillig wollen, sich so etwas selbst antun? Er verstand es nicht.

Die Verzweiflung und Ausweglosigkeit seiner Situation ließen seine Beine unter ihm einknicken und, ein Schluchzen unterdrückend, sank er auf die Knie, weiterhin die Kante der Konsole umklammernd. Warum musste ausgerechnet er hier unten festsitzen? Was hatte das alles hier noch für einen Sinn?

Die Taschenlampe rollte von dem leicht schrägen Schaltpult, fiel laut scheppernd neben Taro in den Jahre alten Staub, wo ihr hellgelber Schein auf etwas traf, das ihn blinzend den Kopf drehen ließ. Er griff nach dem kleinen, daumenlangen Ding und befreite es pustend von seinem Dreckmantel. Eine Batterie. Genau so eine, wie in das Diktiergerät kam. Und wie durch Zufall lag dort noch eine auf dem Boden vor ihm…

Taro starrte auf seinen Fund und zweifelte ernsthaft an seinem Verstand. Das war doch alles ein schlechter Scherz, oder? Der Galgenhumor seiner Frau oder seines Chefs; das Lachen blieb ihm dennoch im Hals stecken. Und wie er hiernach einen Seelenklempner aufsuchen würde…

Säuerlich schaute er zur Decke hoch. „Ich sehe das als Wiedergutmachung an…“, brummte er und stellte sich den Unbekannten vor, wie er breit grinsend auf einer Wolke saß und ihm zufrieden zuwinkte. Nun musste er doch freudlos lachen und zog sich, sein verkorkstes Schicksal verdrießlich akzeptierend, wieder auf die Beine.

Warum waren eigentlich alle seine Einbildungen solche Arschlöcher?

Der Pakt mit dem Teufel

„Wie kann man am schnellsten einen Menschen mit bloßen Händen töten?“

Zu gleichen Teilen verwirrt und fassungslos starrte der alte Lehrer seinen Schüler an und auch der Rest der Klasse drehte sich zu ihm um. Einige seiner Mitschüler verdrehten genervt die Augen, andere fingen an zu kichern und warfen sich vielsagende Blicke zu. Der blonde Junge, der gesprochen hatte, saß in der letzten Reihe und sah ihm selbstsicher und ernst in die Augen; die beiden Schüler, die links und rechts neben ihm saßen, konnten sich das Grinsen jedoch nur schwer verkneifen.

Wut stieg in ihm hoch und er spürte, wie ihm warm im Gesicht wurde. Er hatte die dreisten und provokanten Fragen dieses Bengels langsam satt! Er hielt immer noch an seinem Leitspruch fest, dass es keine dummen Fragen gäbe und er stets bemüht sei, auf jede eine Antwort zu geben, allerdings verwünschte er sich dafür, diesen Satz in dieser Klasse verkündet zu haben. Warum hatte er den Blonden bloß drangenommen? Vielleicht weil er trotz alledem einer der wenigen war, der in seinem Biologieunterricht mitarbeitete- wenn auch der störende Teil dabei meist überwog…

Der Junge musterte ihn weiterhin stumm und erwartungsvoll. Der Lehrer atmete tief ein, presste die Lippen aufeinander und drehte sich wieder zur Tafel um, um seine Stichpunktliste zum Thema „lebenswichtige Organe“ schweigend zu vollenden. Er würde sich nicht provozieren lassen- nicht von ihm, nicht so kurz vor seiner Rente…
 

Linus sollte nie eine Antwort auf seine Frage erhalten, die zu einem Spiel gehörte, das als harmlose Wette ihren Anfang gefunden hatte- stattdessen sollte er Jahre später selbst auf die Lösung kommen:

Es brauchte zwei gestandene Männer mit durchtrainierten Körpern, eine abgelegene Straßengasse und gefühlte tausend schmerzhafte Tritte und Schläge, um jemanden zumindest bis an die Grenzen der Ohnmacht zu treiben. Man hatte den beiden zu seinem Glück die Anweisung erteilt, nicht weiter zu gehen.

Blut und Magensaft spuckend blieb Linus auf dem kalten Asphalt liegen. Sein Atem ging rasselnd und jeder Atemzug hätte ihn aufschreien lassen können. Gemächliche Schritte näherten sich dem Schauplatz und die zwei Männer, deren Namen Linus nicht einmal kannte, traten eilig zur Seite. Ein dritter Mann stand nun vor ihm und seinen Namen könnte Linus seinen Lebtag nicht vergessen. Der beleibte Mann ging vor Linus in die Hocke, zog an seiner Zigarette und blies dem jungen Mann den bläulichen Qualm ins Gesicht.

„Wo ist mein Geld?“, fragte Alexej Dragan mit seiner rauen Stimme, in der ein harter westlicher Akzent mitschwang. Linus versuchte sich aufzurichten und sah zu dem Mann hoch. Die rechte Hälfte seines Gesichtsfeldes lag verschwommen unter einem roten Schleier, sodass er ununterbrochen blinzeln musste.

„Ich schwöre Ihnen, ich habe mein Bestes gegeben“, krächzte Linus hilflos. „aber da sind auf einmal so viele Bullen gewesen und-“ Der Rest des Satzes ging in einem gequälten Schrei unter, hervorgerufen durch den glimmenden Zigarettenstummel, den Dragan auf Linus` Handrücken ausdrückte. Tränen schossen dem Zwanzigjährigen in die Augen und wimmernd presste er die Lippen aufeinander.

„Ich habe dir gesagt, dass du mir eine Millionen Yen überbringen solltest.“, fuhr Dragan unbeeindruckt weiter fort. „Und wie viel hattest du bei dir?“

„…Achthunderttausend.“, stieß Linus keuchend aus. Am liebsten hätte er sich die blasenschlagende Haut abgezogen; das wäre weitaus weniger schmerzhaft gewesen.

Dragan nickte. „Ganz genau.“, entgegnete er und sah ihm tiefer in die Augen. „Mich interessiert nicht, warum du mein Geld verloren hast- solang du es mir wiedergibst.“

Linus beeilte sich zu nicken. „Das werde ich, ganz bestimmt!“

Dragan strecke seine behandschuhte Linke aus und legte sie an Linus` Wange. Die kalte Berührung ließ den Blonden selbst im tiefsten Inneren seines Körpers erzittern.

„Das wollte ich hören.“, brummte der Mann und seine Augen verengten sich warnend. „Ich gebe dir zwei Tage.“

Linus Augen weiteten sich entsetzt und sein Puls begann zu rasen. „Das schaff ich nicht.“, hauchte er hilflos, woraufhin Dragan nur gleichgültig mit den Schultern zuckte.

„Du hast es geschafft, Zweihunderttausend Yen an einem Tag zu verlieren- ich finde, da ist es sehr großzügig von mir, wenn ich dir zwei Tage Zeit gebe, um sie mir wieder zurückzuzahlen…“, erwiderte er und tätschelte die Wange seines Gegenübers leicht. Ohne ein weiteres Wort stand Dragan wieder auf und sah abschätzend auf Linus hinab, der weiterhin versuchte, sich vollends auf die Beine zu ziehen.

„Dragan, ich bitte Sie. Geben Sie mir mehr Zeit.“, flehte Linus verzweifelt und hustete, was eine neue Schmerzwelle in seinen Eingeweiden auslöste. Schweigend musterte der Angesprochene ihn, dann nickte er einem der Männer zu, der daraufhin dem Blonden ein kleines Päckchen mit weißem Inhalt vor die Füße warf.

„Ich bin heute in Geberlaune.“, sagte der ältere Mann und zündete sich eine neue Zigarette an. „Wenn du dich schlau genug anstellst, kannst du hiermit anfangen, deine Schulden zu begleichen.“ Er unterbrach sich, um einen tiefen Zug seiner Zigarette zu nehmen. „Ich denke, du weißt noch, wie das geht.“, fügte er hinzu und deutete auf das Päckchen. Linus schluckte hart. Die Menge an Drogen würde nie für so viel Geld ausreichen…

Dennoch nickte der Jüngere zögernd und auf Dragans speckige Gesichtszüge stahl sich ein zufriedenes Grinsen, dass seine goldenen Kronen in dem schattendurchzogenen Licht der Gasse aufblitzten.

„Dann verstehen wir uns ja richtig.“, raunte er und drehte sich zum Gehen. „48 Stunden- keine Minute länger…“, wiederholte Dragan noch einmal und seine Warnung hallte ewig lange von den Wänden her nach und brannte sich Linus ins Gedächtnis.

Irgendwann ließen die Schmerzen ein wenig nach und wurden etwas erträglicher. Linus hatte sich aufgerichtet und sich gegen die dreckige Gassenwand gelehnt. Er versuchte, in regelmäßig tiefen Zügen zu atmen und hatte sich das gröbste Blut aus dem Gesicht gewischt. Auf dem rechten Auge sah er immer noch so gut wie nichts, aber wenigstens flachte das Pochen ab. Nach einer halben Stunde hatte er es endlich geschafft, aufzustehen und die Gasse zu verlassen. Es war später Nachmittag und die Fußgängerzonen der Innenstadt waren gut mit Menschen gefüllt, die ihn alle schräg von der Seite her anschauten oder sich verwundert zu ihm umdrehten. Linus presste die Lippen aufeinander und versuchte die Blicke zu ignorieren- das letzte, was er nun brauchte, waren besorgte Fremde, die ihn unbedingt zu einem Arzt zerren wollten. Das Päckchen mit den Drogen hatte er sich in die Innentasche seiner Jacke gestopft. Er konnte immer noch nicht ganz aufrecht gehen, sodass er die Arme kurzerhand um seinen Oberkörper schlang und somit eine Hand immer unauffällig über der Stelle hielt, wo er das weiße Pulver versteckt hatte. Schweigend und mit auf dem Boden gerichtetem Blick ging er zu einer naheliegenden U-Bahn Station und fuhr nach Hause.
 

Am nächsten Tag zog er sich nach einer Reihe von erfolglosen Versuchen von den belebten Straßen zurück und folgte den Seitenstraßen bis hin zu dem Viertel, wo sich die meisten Obdachlosen und Junkies aufhielten. Er war, seit er angefangen hatte, Kurierdienste für Dragan zu übernehmen, nicht mehr oft hier gewesen, dennoch kam ihm alles sehr bekannt und auf eine unheimliche Art und Weise vertraut vor. Beinahe routiniert steuerte er eine der Straßenecken an, an denen er bis vor kurzem fast täglich gestanden hatte, um in Dragans Namen Drogen unter die Leute zu bringen.

Tatsächlich hatte er nicht sehr lange, an der mit Graffiti beschmierten Fassade lehnend, dort gestanden, bis ein junger Mann mit glasigen Augen auf ihn zukam. Er trug eine ausgeblichene, löchrige Jeans, eine zu große Jacke, die mit Aufnähern übersät war und grobe Lederstiefel. Seine bunt gefärbten Haare fielen ihm wild ins blasse und hagere Gesicht. Linus konnte nur schwer sein Alter schätzen- er hatte die wässrigen Augen eines alten Mannes, doch seine Haut war so jugendlich, dass Linus vermutete, dass er nicht viel älter als er selbst sein konnte.

Der junge Mann gab sich keine Mühe diskret oder unauffällig zu sein. Mit weit ausgreifenden Schritten kam er direkt auf Linus zu und stellte sich vor ihn. Er war ein Stück größer als Linus, sodass dieser an ihm hoch schauen musste.

„Ich kenn dich.“, begann der Fremde und musterte Linus kurz und analysierend, dann grinste er. „Warst lange nicht mehr hier. Siehst scheiße aus, Alter.“

Linus zuckte nur mit den Schultern. „Mein Aussehen is‘ mein Problem.“, entgegnete er mit düsterem Unterton, der weitere Erläuterungen im Keim zu ersticken hoffte, und verengte die Augen. „Willst du was oder nicht?“

Das Grinsen des jungen Mannes wurde breiter und das glasige verschwand ein Stück weit aus seinen grünen Augen. Linus fasste das als Ja auf und griff in seine Jackentasche. Sein Gegenüber beäugte die kleine Menge des weißen Pulvers, die Linus ihm vor die Nase hielt, kritisch und sah fragend auf Linus hinab.

„Wie viel willst’e dafür haben?“

„20000 Yen.“ Die Augen des Älteren weiteten sich und fassungslos lachte er auf.

„Das ist Wucher! Du kannst mir nicht erzählen, dass das Zeug so rein ist, dass du so viel dafür verlangen kannst!“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Ich geb` dir maximal 12000 für den Scheiß.“

„Na schön, 18000 Yen…“, entgegnete Linus zähneknirschend, doch der Mann schüttelte wieder mit dem Kopf. „13000!“ Linus biss wütend die Kiefer aufeinander. So würde er niemals die Zweihunderttausend zusammenkriegen.

„16000…“, erwiderte er dann nach ein paar Sekunden. „Tiefer geh ich nicht.“

Der junge Mann blinzelte auf einmal überrascht, doch dann stahl sich ein schadenfrohes Grinsen auf seine blassen Lippen und wieder schaute er abschätzend an Linus hinab, dass dieser die Stirn runzelte.

„Bist du dir da sicher? Es geht das Gerücht rum, dass du für Geld vor einem sogar auf den Knien rumrutschen würdest…“, sagte er. Die Augen seines Gegenübers beendeten ihren Rundgang und blieben an Linus` Gesicht hängen. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Etwas hatte sich unter den Schimmer der Sucht in dem Schmutzgrün des Irispaares seines Gegenübers gelegt. Immer noch grinsend, trat der Fremde noch einen Schritt auf Linus zu, sodass er nur wenige Zentimeter von dem Kleineren entfernt stand. „Hab gehört, du seiest noch in einer anderen Branche tätig…“, murmelte der Mann leise und provozierend.

Ruckartig erwachte Linus aus seiner Starre und stieß den anderen wütend von sich weg. Der Mann stolperte einige Schritte rückwärts und starrte ihn empört an.

Zornig ballte Linus die Hände zu Fäusten. „16000…“, knurrte er. „Zahl sie oder kauf dir woanders deinen verdammten Stoff.“

Die Empörung schlug sofort in Zorn um und abwertend spuckte der junge Mann ihm vor die Füße. „Behalt deinen Dreck, Mistkerl!“, zischte er, ging an Linus vorbei und streifte bei der Gelegenheit Linus` Schulter mit voller Wucht, dass der Jüngere gequält das Gesicht verzog und sich darauf konzentrierte, nicht vor Schmerzen aufzuschreien. Erst, als er sich sicher sein konnte, dass der Andere hinter der nächsten Ecke verschwunden war, wagte er es, seine geprellte Schulter zu umfassen. Linus atmete tief durch die Nase ein und versuchte, seine aufschäumende Wut hinunter zu kämpfen.

Hab gehört, du seiest noch in einer anderen Branche tätig…

Sein Herz begann vor Zorn zu rasen. Wie lange würde ihn das noch verfolgen?

Schwere Schritte hallten die fast leere Straße hinab, kamen vor Linus zum Stehen und rissen ihn so aus seinen Gedanken. Erschrocken schaute der Blonde von den fremden, schwarzen Lederschuhen auf. Die teurer aussehenden Halbschuhe gehörten zu einem Mann in einem schwarzen Trenchcoat, der ihn in dieser Umgebung wie einen dunklen Paradiesvogel wirken ließ. Dem schmalen, faltenlosen Gesicht nach zu urteilen, schätzte Linus den Unbekannten auf irgendetwas zwischen 30 und 40. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, welches man als nichts anderes als sympathisch beschreiben musste, dennoch konnte es Linus nicht unterdrücken, vor ihm zurückzuweichen, was seinem Gegenüber jedoch nicht zu stören schien- zumindest ließ er es sich nicht anmerken.

Schweigend standen sich die Männer gegenüber. Als dann nach ein paar Sekunden immer noch keiner etwas sagte, zog Linus verwundert die Stirn kraus.

„Kann… ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte er zögernd und musterte den Mann misstrauisch. Er hatte rabenschwarzes Haar, das er sich auf eine modische Länge hatte schneiden lassen. Alles an diesem Mann sah akkurat und sauber aus- Linus wollte ihn nicht als Snob oder dergleichen bezeichnen, aber er sah auch wiederum zu reich aus für diese Gegend hier. Was also wollte so einer hier? Oder hatte er sich allen Ernstes verlaufen und war in diesem Viertel nur durch Zufall gelandet? Immer mehr Misstrauen legte sich in seinen Blick. Nein, das konnte er nicht ganz glauben- oder war er vielleicht wegen…?

Das Lächeln des Mannes verblasste ein Stück weit und etwas Verlegendes mischte sich unter seine höfliche, weiterhin selbstsichere Haltung. „Tut mir leid, aber ich kam gerade nicht da herum, deine Unterhaltung mit dem anderen jungen Mann mit anzuhören.“, antwortete er verspätet. Linus` Augen verengten sich weiter und er spürte, wie seine Handflächen feucht vom Schweiß wurden. Was hatte er mit angehört? Innerlich spannte er sich an.

„Und? Was wollen Sie jetzt von mir?“

Der Mann ließ eine Hand auf Höhe seiner Brust unter seinem Mantel verschwinden. „Was verkaufst du?“, fragte er leise und sein vorsichtiger, hastiger Tonfall, den Linus nur zu gut kannte, ließ den Jüngeren ein Stück weit ruhiger und gelassener werden. Der Typ schien einfach nur ein Süchtiger zu sein- harmlos, nicht weiter schlimm und genau das, was Linus nun brauchte. Und so, wie der Mann aussah, würde er wahrscheinlich auch nicht so geizig wie der andere vor ihm sein…

Linus schaute verstohlen nach links und rechts die Straße runter und vergewisserte sich, dass niemand sie sah, dann reichte er dem Mann das kleine Tütchen.

„Steht der Preis von 16000 Yen noch?“, fragte der Mann weiter und hielt Linus die entsprechende Anzahl an Scheinen im Austausch für das weiße Pulver hin. Der Blonde nickte und zog eine Augenbraue hoch.

„Sie scheinen ja sehr gut gelauscht zu haben…“, entgegnete Linus leicht schmunzelnd und griff nach den Scheinen. Der Mann lächelte wieder verlegen, dann schloss sich seine Hand blitzschnell um Linus` Handgelenk. Entsetzt starrte Linus zu ihm hoch und in diesem Moment war alle Freundlichkeit und Harmlosigkeit aus dem Gesicht des Mannes verschwunden.

„…um genau zu sein habe ich jedes einzelne Wort mitbekommen.“, erwiderte dieser mit ernster Stimme und der Druck auf Linus` Handgelenk nahm schlagartig zu, dass der Jüngere scharf die Luft einsog. Sein Herzschlag hämmerte in seinen Ohren und mit geweiteten Augen sah er den Mann weiterhin in die bedrohlich gewordenen Augen. Verdammt! War er etwa auf einen Polizisten reingefallen? War es nun soweit? Kam er jetzt, nach all den Jahren, in denen alles gut gegangen war, ins Gefängnis? Panisch riss er an seiner Hand und versuchte sich zu befreien, jedoch vergebens; der Schraubstock, der sich um sein Handgelenk geschlossen hatte, gab keinen Millimeter weit nach.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, hörte er den Mann sagen. Seine dunkle Stimme war immer noch schneidend und bestimmt, doch das Bedrohliche war ein Stück weit verschwunden, sodass Linus seine Gebärden für einen Moment unterbrach und ihn verängstigt anstarrte. „Ich bin meilenweit davon entfernt, für die Regierung zu arbeiten.“

„Was wollen Sie dann von mir?“ Die Panik ließ seine Stimme Purzelbäume schlagen. Wie aus dem Nichts zauberte der Mann wieder ein sanftes Lächeln auf seine Züge und lockerte seinen Griff etwas.

„Für den Anfang möchte ich mit dir reden…“

Seine Worte ließen Linus misstrauisch innehalten. „Ich steh nicht auf Smalltalk mit Fremden!“, zischte er und ballte die freie Hand zur Faust. „Lassen Sie mich endlich los!“

Natürlich folgte der Unbekannte dieser Aufforderung nicht. Stattdessen sah ihm der Mann noch tiefer in die Augen. In dem Dunkelbraun seiner Iris konnte sich Linus verzerrt widerspiegeln sehen.

„Nun, was hältst du dann davon, wenn wir uns irgendwo in Ruhe hinsetzen und uns allein unter vier Augen unterhalten, damit wir uns ein wenig besser kennen lernen?“, fragte er versöhnlich, doch seine Worte schlugen in Linus` Kopf wie ein scharfes Messer ein. Sein Herz setzte schmerzhaft aus, nur um im nächsten Moment mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Einen letzten Versuch tätigend, zog er ruckartig an seinem Handgelenk und diesmal war der Griff des Mannes soweit gelockert, dass der Junge sich befreien konnte und lief los. Er sah sich nicht um, er vergewisserte sich nicht, ob der Mann ihn verfolgte oder nicht, er rannte einfach weiter. Tränen der Wut und der Angst stiegen in ihm hoch und vernebelten leicht seine Sicht.

In solchen Momenten hasste er sein Leben.
 

Linus hatte sich gegen die schmutzige Fassade des Wohnhauses gelehnt und wartete darauf, dass sich sein Puls wieder normalisierte. Die Rückwand des Hauses bot Schutz vor dem Wind und unerwünschten Blicken, sodass er kurzerhand mit fahrigen Fingern nach seinen Zigaretten griff und sich eine anzündete. Für weitere fünf Minuten stand er dort, lauschte den Motorengeräuschen, die von der Straße her zu hören waren, und rauchte die Zigarette in hektischen Zügen. Den Rest drückte er auf dem Asphalt aus und warf den Filter in eine der Mülltonnen ein paar Meter weiter. Kurz versuchte er sich zu sammeln, suchte in seiner Jackentasche nach einem Kaugummi, dann ging er nach vorne zum Hauseingang und stieg die Treppen in den vierten Stock hoch.

Als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zudrückte, konnte er den Geruch von Essen wahrnehmen und aus dem Wohnzimmer drangen Musik und Stimmen aus dem angeschalteten Fernseher.

„Ich bin zuhause, Mum.“, rief Linus, während er seine Jacke auszog und sie auf einen Haken hängte. Seine Mutter sah vom Wohnzimmer aus zu ihm in den Flur und lächelte erleichtert.

„Da bist du ja endlich.“, sagte sie und trat auf ihn zu. Sie war ein Stück kleiner als ihr Sohn und ihr blondes Haar zeigte Ansätze von grauen Strähnen. Sie legte die Stirn in Falten und legte eine schmale Hand an seine Wange. „Wo warst du so lange?“

Auf einmal rümpfte Sie die Nase und nahm ein Stück seines Shirts in die Hand. Misstrauisch roch sie daran. „Ist das Zigarettenqualm?“

„Ich war noch mit ein paar Freunden in einem Pub.“, antwortete Linus schnell und die Miene seiner Mutter wechselte wieder ins besorgte über.

„Du bist spät dran, mein Lieber. Ich habe mir langsam Sorgen gemacht.“, sagte sie vorwurfsvoll und ließ den Kragen seines Hemdes wieder los. Schuldbewusst schaute Linus zu Boden.

„Tut mir leid, ich hätte mich melden sollen.“

„Das wäre besser gewesen, ja.“ Sie schaute ihrem Jungen noch ein paar Momente in die gesenkten Augen, doch dann seufzte sie und verschränkte die Arme. „Hast du heute mit deinem Direktor über den Vorfall von gestern gesprochen?“, fragte sie weiter und beäugte das tiefblaue Veilchen an seinem rechten Auge. Linus nickte.

„Er kümmert sich darum. Er wird mit den Eltern des Typen ein Gespräch führen.“

„Das ist ja wohl das mindeste.“, lachte seine Mutter auf und schüttelte den Kopf. „Dieser Touya gehört der Schule verwiesen!“

„Mum, bitte.“, stöhnte Linus und fuhr sich durchs Haar, doch die Frau schüttelte nur noch einmal energisch mit dem Kopf.

„Nein, Schatz, du darfst dir nicht immer alles gefallen lassen! Schlägereien sollten an Schulen nicht so einfach geduldet werden. Du hast nichts Unrechtes getan.“

„Ich habe, in seinen Augen, seine Freundin angemacht…“

„Du hast ihr bei einer Aufgabe geholfen!“

„Mum, ich habe mit ihr gesprochen. Das ist bei ihm schon Provokation genug.“

Seine Mutter schnalzte mit der Zunge und sah ihn verständnislos an. „Wenn du mich fragst, hat der Junge ein ernstzunehmendes Aggressionsproblem- und das Mädchen einen perversen Geschmack, wenn sie auf solche Gorillas steht.“

„Wie auch immer…“, schloss Linus genervt und ging augenrollend an ihr vorbei. Seine Mutter wollte noch etwas sagen, doch da war er schon in der Küche verschwunden und sah in die Töpfe. Erst jetzt, wo er wieder zur Ruhe gekommen war, bemerkte er, wie hungrig er eigentlich war. Er nahm sich eine großzügige Portion des Eintopfes und setzte sich an den Küchentisch, als es plötzlich an der Tür klingelte. Er störte sich nicht weiter daran; vermutlich war es eh nur wieder eine Freundin seiner Mutter…

Doch statt des üblich hohen und freudigen Geschnatters, vernahm er nun eine dunklere Männerstimme, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er konnte sie nicht richtig zuordnen, dennoch war er sich sicher, sie schon irgendwo einmal gehört zu haben.

„Linus, komm mal, bitte.“, ertönte die Stimme seiner Mutter. Sie klang nicht gereizt oder ungeduldig, sondern mehr fragend und ein wenig verängstigt. Sofort war er auf den Beinen und sah alarmiert in den Flur.

Als er den Mann, der auf der Türschwelle stand, erkannte, zog sich alles in ihm zusammen. Seine Mutter sah ihm unsicher entgegen und Linus versuchte, seine entgleisten Gesichtszüge halbwegs wieder unter Kontrolle zu bringen. Er wollte seiner Mutter keine Angst machen. Der Mann in dem dunkeln Trenchcoat lächelte.

„Hallo Linus, endschuldige bitte die späte Störung.“

Der Angesprochene antwortete nicht sofort, starrte ihn nur weiterhin aus geweiteten Augen an, bis er sich endlich einen Ruck gab und ein Lächeln auf seine Züge zwang.

„Herr Kagawa…“, begann Linus vorsichtig und ging auf den Mann und seine Mutter zu. Er hoffte, dass sie das Zittern nicht bemerkte, als er nun seine Hand dem Mann entgegenstreckte, welche dieser lächelnd schüttelte. „Was kann ich für Sie tun? Was verschafft mir die Ehre?“, fragte Linus weiter und als die Verwirrung in dem Gesicht seiner Mutter noch mehr zunahm, fügte er an sie gerichtet hinzu: „Das ist mein Mathelehrer, Mum. Herr Kagawa.“

Ihr Gesicht hellte sich auf und strahlend wandte sie sich an den Mann, der immer noch höflich Linus` Rechte in seiner hielt. „Ach, wirklich?“, fragte sie begeistert und hielt ihm ebenfalls die Hand hin. „Endlich lernt man sich mal kennen! Linus hat so viel Gutes über Sie erzählt.“

Der Mann zog erstaunt die Augenbrauen hoch und schaute zu Linus.

„Ist das so, ja?“, fragte er geschmeichelt und sein Gesicht strahlte unter dem augenscheinlichen Lob, doch als Linus ihm in die Augen sah, erkannte er einen unheimlichen Schimmer darin, der ihn von oben bis unten zu durchleuchten schien und ihm anklagend seine Fehler vor Augen führte, sodass Linus kurz schluckte und befürchtete, dass der Fremde seine Lüge im nächsten Moment auffliegen lassen würde. Doch dieser Augenblick, in dem Linus eine eisige Hand in seinem Nacken zu spüren glaubte, währte nur kurz und keine Sekunde später drehte sich der Mann wieder lächelnd seiner Mutter zu.

„Ich versuche nur meine Pflicht als Lehrer bestmöglich zu erfüllen.“, schloss er und lachte schüchtern. Seine Mutter ließ sich von dem Lächeln anstecken und machte eine einladende Handbewegung in die Wohnung. „Kommen Sie doch rein!“

Am liebsten hätte Linus protestiert, aber er konnte sich im letzten Moment noch zusammenreißen. Fröhlich wuselte seine Mutter in die Küche, aus der man sofort wildes Klappern hörte, bis sie zurück in den Flur kam und den Gast durch die Wohnung winkte.

„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Etwas zu trinken vielleicht?“

„O nein, vielen Dank, ich wollte nur kurz ein Wort mit Ihrem Sohn wechseln.“, entgegnete Herr Kagawa weiterhin lächelnd. Er stand in dem Türrahmen zur Küche und sah sich mit der höflichen Neugier eines Gastes in dem kleinen Raum um. Linus hatte sich in die Nähe seiner Mutter gestellt und ließ den Mann nicht aus den Augen.

„Worum geht es denn?“, fragte der Blonde und in seiner Stimme schwang unterschwellig ein gefährliches Misstrauen mit. Egal was dieser Mann wollte, es konnte nichts Gutes bedeuten und Linus war bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um diesen Typen aus der Wohnung zu kriegen- im Notfall auch tot…

‚Herrn Kagawa’ schien die entgegen gebrachte Abweisung jedoch kalt zu lassen. Die Augen des Mannes begannen wieder unheimlich zu funkeln. „Ich wollte mit dir nur kurz über das Stufenfest reden. Du hattest dich ja dafür gemeldet, das Catering zu übernehmen.“

Seine Mutter schaute überrascht zu ihrem Sohn auf. „Ein Stufenfest? Davon hast du mir gar nichts erzählt.“ Linus spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Er holte Luft und suchte verzweifelt nach Worten, während sie ihn immer vorwurfsvoller anschaute.

„Verzeihung, ich wollte hier keine Geheimnisse aufdecken…“, sagte Kagawa auf einmal und sah schuldbewusst zur Seite, als beide Köpfe zu ihm herumfuhren. Seine Mutter sah mit gemischten Gefühlen zwischen den Anwesenden hin und her, bis Linus seufzte und traurig zu Boden schaute.

„Ich wollte dich mit dem Fest überraschen, Mum. Deshalb habe ich nichts gesagt.“, murmelte er so niedergeschlagen, wie er in diesem Moment zustande brachte.

„Es tut mir Leid, dass ich diese Überraschung vorweg genommen habe…“, fügte Kagawa kleinlaut hinzu. Die Augen seiner Mutter weiteten sich und sie wurde etwas rot um die Nasenspitze. Unbeholfen hob sie die Hände und schüttelte den Kopf.

„N- nein, um Gottes Willen, das muss Ihnen doch nicht leidtun!“, sagte sie verlegen an Kagawa gerichtet und legte besorgt einen Arm um ihren Sohn. „Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss. Ich habe überreagiert, das war unangebracht…“ Mit fahrigen Fingern strich sie sich eine Strähne ihres blonden Haares hinters Ohr und wechselte einen schuldbewussten Blick mit Linus. Dieser lächelte nun aufrichtig und umarmte sie.

„Schon gut.“, flüsterte er und etwas begann schwer in seinem Magen zu liegen. Seine Mutter hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, sich für alles die Schuld zu geben- selbst für etwas, wofür sie nun wirklich nichts konnte.

Kagawa räusperte sich lautstark. „Um nicht noch die letzte Spannung zu nehmen, dürfte ich den Vorschlag machen, mit Linus unter vier Augen zu sprechen?“

Sie nickte eifrig, sah lächelnd zu Linus hoch und begab sich zur Tür.

„Nur zu!“, begann sie wieder euphorisch. „Lassen Sie sich Zeit, ich warte nebenan im Wohnzimmer. Wenn Sie etwas brauchen-“

„Danke, Mum.“, fiel Linus ihr schnell ins Wort und seine Stimme klang gereizter, als beabsichtigt. Sie blinzelte ihn kurz verdutzt an, dann schien sie den Wink doch zu verstehen, sodass sie peinlich berührt lächelte und ohne ein weiteres Wort die Küche verließ. Wie selbstverständlich schloss Kagawa hinter ihr die Tür und kaum war diese ins Schloss gefallen, kehrten sich die Emotionen in den Gesichtern der beiden Männer schlagartig um.

„Schon mal darüber nachgedacht, auf eine Schauspielschule zu gehen?“

„Was wollen Sie von mir?“, zischte Linus drohend, Kagawas zynischen Kommentar ignorierend und lehnte sich gegen die Küchenzeile. Der Messerblock stand nur einen halben Meter von ihm entfernt. Angewidert schaute der Junge zu dem Mann hinüber. „Sind Sie etwa so ein beschissen süchtiger Junkie, der für seinen Stoff selbst das letzte bisschen Würde verhökern würde und mir bis nach Hause folgt?“ Auf den Zügen des Mannes breitete sich wieder ein leichtes Lächeln aus, zu dem sich nun auch eine hochgezogene Augenbraue gesellte.

„Sagt mir der Junge, der sich für Geld von jedem flachlegen lässt…“, konterte der Unbekannte nüchtern. Die Worte durchzogen Linus wie einen Stromschlag, der ihn erstarren ließ. Wütend ballte er seine Hände zu Fäusten. Also hatte dieser Typ tatsächlich alles mit angehört. Ein halber Meter, rief er sich wieder ins Gedächtnis.

„…das geht Sie `nen Scheißdreck an, klar? Wer sind Sie überhaupt?“, fuhr er den Mann an, doch dieser zeigte immer noch keine Reaktion.

„Wie lange gehst du schon anschaffen?“, wich er Linus` Frage aus.

„Das liegt schon ein Jahr zurück, ich mach das nicht mehr!“

Das Lächeln wurde fast unmerklich breiter. „Bereust du es, damit angefangen zu haben?“, fragte er und in seiner dunklen Stimme lag ein Hauch Neugier. Linus verengte misstrauisch die Augen. Er hatte keine Lust, weiter über seine Vergangenheit zu reden, auf die er kein bisschen stolz war.

„Fragen Sie das jeden, dem Sie begegnen?“, entgegnete er schneidend.

Der Mann legte eine Hand an den Mund, als wolle er ein Lachen unterdrücken.

„Nein, für gewöhnlich nicht, sonst würde ich wohl den halben Tag damit zubringen, den Kummerkasten für andere zu spielen.“, antwortete er belustigt.

Linus hielt es für klüger, nicht darauf weiter einzugehen. Es würde nichts bringen, diesen Typen einfach so vor die Tür zu setzen, aber er würde sich auch ganz bestimmt nicht von irgendeinem fremden Spinner ausfragen lassen. Es blieb für ein paar Sekunden still, in denen die beiden sich stumm musterten, bis der fremde Mann wieder das Wort ergriff.

„Für wen verkaufst du die Drogen?“

„Sie meinen, wer mein Boss is?“, hakte Linus nach und zog eine Braue hoch. „Alexej Dragan…“

„…hm. Er ist nicht gerade für sein sonniges Gemüt bekannt. Man sagt, seit sein jüngerer Bruder verstorben ist, seien seine Launen noch gefährlicher geworden.“

„Sehen Sie mich an und erzählen Sie mir was Neues…“, entgegnete der Junge trocken lachend und verschränkte die Arme. Was wollte dieser Typ von ihm?

„Du solltest so schnell wie möglich weg von ihm. Dragan ist bekannt dafür, dass er selbst den kleinsten Fehler seiner Untergebenden nicht verzeiht– die nichtigsten Fehltritte bezahlt man bei ihm mit dem Leben.“, stellte sein Gegenüber fest und setzte sich auf einen der Stühle, die um den kleinen Küchentisch drapiert standen, während Linus jede seiner Bewegungen mit den Augen verfolgte. Der Mann machte eine einladende Handbewegung zu einem der anderen Stühle, aber Linus zog es vor, weiterhin stehen zu bleiben. Er wusste nicht, ob der Typ etwas unter seinem Mantel versteckt hielt und solange er sich da nicht sicher sein konnte, wollte er sich nicht weiter als nötig von dem Messerblock entfernen.

„Das weiß ich.“, antwortete Linus mit etwas Verspätung.

Der Mann sah zu ihm auf und zum ersten Mal verschwand sein Lächeln aus seinem Gesicht vollständig. „Dann hör auf, für ihn zu arbeiten.“

Verschüchtert wich Linus seinem hart gewordenen Blick aus. „Das kann ich nicht… ich brauch das Geld.“

„Für was?“, fragte der Mann auf einmal verächtlich. „Damit du dir regelmäßig selbst einen Schuss setzen kannst?“ Wieder ging ein Ruck durch Linus` Körper.

„Ich nehme das Zeug nicht! Das habe ich noch nie getan!“, rief der Jüngere wütend und zähneknirschend fügte er hinzu: „Warum interessieren Sie sich so sehr für meine Belange? Wer, verdammt, sind Sie?“

Der Mann sah ihm tief in die Augen. „Mein Name ist Zeus.“

Linus blinzelte verdutzt, dann stahl sich ein Grinsen auf seine Lippen.

„Schon klar, und ich bin Hades…“, spottete er lachend.

„Nein, das denke ich nicht…“, entgegnete der Mann ernst und legte den Kopf in die Handfläche seines linken, aufgestützten Armes. Linus hörte auf zu lachen und musterte den Dunkelhaarigen. Kurzerhand stieß er sich dann doch von der Anrichte ab, trat auf sein Gegenüber zu und stützte beide Arme auf den Küchentisch, an dem der Mann saß.

„Im Ernst, wer sind Sie?“, zischte er drohend und beugte sich zu ihm runter.

„Zeus.“, wiederholte der Mann ruhig. „So werde ich von allen genannt.“

Linus sah Zeus ein paar Sekunden prüfend an, dann fing er wieder zu lachen an.

„Was ist so komisch?“, fragte Zeus, woraufhin der Junge nur mit dem Kopf schüttelte und abwehrend die Hände hob.

„Nichts für ungut, aber hätten Sie sich nicht `nen anderen Gott aussuchen können? Zeus ist… nicht grad die beste Wahl für einen Namensvetter.“

„Und warum glaubst du das?“

„Noch nie griechische Mythologie gelesen?“, entgegnete Linus und verschränkte ungläubig die Arme vor der Brust. „Zeus hat x Frauen aus Eigennutz oder aus den absurdesten Gründen geschwängert, hat Fehden mit seinen Brüdern angefangen und hat jeden rumkommandiert, nur weil er der Göttervater war- wenn Sie mich fragen, war er einfach nur ein aufgeblasener, arroganter Arsch.“ Darauf erwiderte Zeus nichts. Ein Schmunzeln war auf die schmalen Lippen des Mannes zurückgekehrt.

„Welchen Namen würdest du denn wählen, wenn du dich nach einem Gott benennen dürftest?“, fragte er dann irgendwann.

Verwundert runzelte Linus die Stirn. „Meinen Sie das-“

„Für gewöhnlich geize ich mit albernen Scherzen, Linus.“, fiel Zeus ihm mit hochgezogener Braue ins Wort. Linus gab sich nach ein paar Momenten geschlagen und fuhr sich überlegend übers Kinn. „… wie wäre es mit Ares?“, antwortete er nachdenklich.

„Der Kriegsgott? Der ist aber auch kein friedlicherer Zeitgenosse als Zeus.“

„Nein, aber viel stärker.“, erwiderte Linus grinsend. „Ares ist ein Krieger- im Gegensatz zu Ihrem blitzeschleudernden Thronhengst. Er würde Zeus mächtig in den Arsch treten.“

Daraufhin wurde Zeus` Grinsen nur noch breiter, dass es nun auch auf seine Augen übersprang und ihn beinahe wieder sympathisch aussehen ließ.

„Linus, bist du zufrieden mit deinem Leben?“, wechselte der Mann auf einmal das Thema. Die Frage kam für Linus so unerwartet, dass er ihn verwirrt ansah.

„Soll das` n Witz sein?“

„Ich meine mich zu erinnern, dass ich dir schon gesagt habe, dass ich nicht zu scherzen pflege.“

Der Junge runzelte die Stirn und dachte einen Moment lang nach, ehe er mit den Schultern zuckte. „Natürlich habe ich mir was Besseres für mein Leben vorgestellt, als den Kurier für einen Drogenkönig zu spielen.“

„Dann hör auf damit.“, sagte Zeus sofort.

„Ich kann nicht. Ich sagte doch schon- ich brauch die scheiß Kohle!“

„Für was?“

„… meine Mum glaubt, dass mein Vater immer noch regelmäßig den Unterhalt für uns bezahlt, aber es grenzt schon beinahe an ein Wunder, wenn er überhaupt zahlt. Wir brauchen das Geld, sonst könnten wir hier nicht länger wohnen…“

„Also weiß deine Mutter, dass du dealst?“

„Natürlich nicht!“, rief Linus empört. Er hielt dem durchdringenden Blick von Zeus noch einen Augenblick lang stand, dann sah er verlegen zur Seite und setzte sich endlich Zeus gegenüber an den Tisch. „Sie glaubt, dass ich ein Stipendium kriege.“, fügte er seufzend hinzu.

„Für eine Schule, die du vermutlich gar nicht mehr besuchst…“, vervollständigte Zeus nüchtern, was Linus widerwillig mit einem Nicken bestätigte und den Blick weiter senkte. Die Brauen des Mannes bildeten eine senkrechte Falte auf seinem glatten Gesicht.

„Findest du das richtig?“, fragte er in einem erstaunlich väterlichen Tonfall, der Linus verwundert wieder aufblicken ließ. „Du dealst, bist für Geld sogar auf den Strich gegangen, du belügst deine Mutter-“

„Sie wissen gar nichts, okay? Mein Leben geht Sie nichts an!“, knurrte der Blonde schnell und ballte die Hände. Das Väterliche verschwand mit der Sorgenfalte sofort wieder aus Zeus` Antlitz und hinterließ den gewohnt höflichen Ausdruck, als säße Linus ein perfekter Makler oder Vertreter gegenüber- nur das Leuchten in seinen Augen verriet etwas über die wahre Natur dieses Mannes, legte das gefährliche und einschüchternde seines Charakters offen dar, das er wie auf Knopfdruck auszuschalten wusste, wenn er wollte.

„Zum letzten Mal- was wollen Sie von mir?“, fragte Linus noch einmal ungeduldig, als Zeus nach Sekunden immer noch nichts sagte.

„Ich will dir helfen. Du könntest für mich arbeiten.“

Misstrauisch zog Linus die Stirn kraus. „Sind Sie jetzt auch noch so was wie der gute Samariter?“

„Eher weniger.“, antwortete Zeus belustigt und schien sich nur schwer ein Lachen verkneifen zu können. „Ich bin mehr der Geschäftsmann.“

„Und was machen Sie für Geschäfte?“

„Verschiedenes.“, gab der Mann fahrig zurück und hob die Schultern. „Ich war ebenfalls mal in der Drogenszene aktiv, aber jetzt sind meine Partner und ich mehr den Kopfgeldjägern zuzuordnen.“ Bei den Worten setzte Linus` Herz schmerzhaft einen Schlag lang aus.

„Sie… töten Menschen.“, schlussfolgerte er zögernd und spürte, wie sich sein Puls wieder beschleunigte und er widerstand nur schwer dem Drang, aufzustehen und ein paar sichere Meter zwischen sich und Zeus zu bringen. Die Miene seines Gegenübers blieb unverändert freundlich.

„Für gewöhnlich, aber nicht nur. Wir erfüllen Aufträge jeglicher Art: wir spüren Leute auf, beschatten sie, nehmen sie fest- der Tod geht mit diesem Job meist einher, aber das kommt ganz auf den Auftrag an.“

Der Junge schluckte und musste erst ein paar Augenblicke über das Gesagte nachdenken, ehe er vorsichtig antwortete: „Und nun wollen Sie mich dafür begeistern, bei Ihnen mitzumachen?“ Er lachte freudlos und schüttelte den Kopf. „Sorry, aber da spiel ich nicht mit. Ich töte keine Menschen!“

Als Linus nun Anstalten machte, sich zu erheben, bedeutete Zeus ihm mit einer energischen Handbewegung, sich wieder zu setzen.

„Bevor du dein Urteil vorschnell fällst, solltest du dir erst anhören, was ich dir dafür biete- denn wie gesagt: ich bin ein Geschäftsmann und kein Kidnapper.“ Sein Blick hatte etwas Erwartendes bekommen und zu Linus` eigener Überraschung setzte er sich tatsächlich wieder hin und sah Zeus schweigend und aufmerksam in die Augen. In seinem Blick musste immer noch eine gehörige Portion Misstrauen und Argwohn mitgeschwungen haben, da Zeus nun im nächsten Moment kurz seufzte und sich mit der Hand über den Nacken fuhr.

„Ich bin in erster Linie hier, um dir ein Angebot zu machen. Ich will dir helfen.“

„Das sagten Sie bereits. Inwiefern?“

„Was würdest du sagen, wenn ich dir anbiete, dein Gedächtnis zu löschen? Nicht alles, nur Teile. Zum Beispiel die ganze Sache mit Dragan, die Zeit auf dem Strich, alles Schlimme, was dir in deiner Vergangenheit widerfahren ist.“ Auf eine unheimliche Art hatte Zeus` Stimmfarbe etwas beschwörendes und verlockendes bekommen. Linus` Herzschlag erhielt einen erneuten Schub und mit geweiteten Augen schüttelte der Jüngere den Kopf.

„…das ist unmöglich.“, murmelte er ungläubig.

„Es ist nicht unmöglich“, widersprach ihm Zeus ruhig. „Mein Partner und ich haben eine Maschine entwickelt, die das kann- sie kann dein Gedächtnis kontrolliert löschen.“

Wieder schluckte Linus hart und zittrig. Was war das nur für ein Mann? Was hatte er vor?

„Warum bieten Sie ausgerechnet mir das an? Brauchen Sie `n Versuchskaninchen?“, hakte er vorsichtig nach und musste mit anhören, wie seine eigene Stimme immer weiter an Substanz und Sicherheit verlor. Der Mann ließ ihn keinen Moment aus den Augen, als er nun den Kopf langsam schüttelte.

„Nein, Memoria läuft schon seit mehreren Jahren einwandfrei. Ich denke einfach, dass jeder eine zweite Chance erhalten sollte.“

„Aber die gibt es nicht kostenlos…“, schlussfolgerte Linus.

„Nein.“

„Ich müsste im Gegenzug für Sie arbeiten.“

Zeus nickte, drehte die Handflächen nach oben und machte eine ausladende Handbewegung. „Das ist der Deal, den ich dir anbieten will.“

Es wurde erneut still um die beiden Männer herum, die sich weiterhin gegenseitig nicht aus den Augen ließen. Über der Küchentür tickte leise die Wanduhr und vom Wohnzimmer hörte man gedämpft die Geräusche der Soap, die im Fernseher lief. Nach ein paar Sekunden runzelte Linus die Stirn und verschränkte die Arme. „Wo ist der Haken?“

„Du müsstest dein jetziges Leben komplett aufgeben.“, antwortete Zeus ohne zu zögern und seinem Gegenüber lief ein Schauer über den Rücken.

„Aber Sie haben doch gerade noch gesagt, dass Sie nur Teile meines Gedächtnisses löschen würden.“

„Das stimmt, du würdest dich an mich erinnern und etwas abgeändert auch an dieses Gespräch hier, dein Charakter bliebe erhalten und wenn du willst lass ich dir auch die Erinnerungen an deinen letzten Urlaub.“, erklärte der selbsternannte Gott weiterhin ruhig und gelassen, als ließe ihn die beginnende Unruhe und Angst in der Stimme seines Gesprächspartners völlig unberührt.

Vorsichtig holte Linus Luft. „Und was ist mit meiner Mutter?“ Zum ersten Mal erkannte er einen Hauch Mitleid in Zeus` Gesicht.

„Persönliche Erinnerungen, die Rückschlüsse auf dein altes Leben geben, kann ich dir leider nicht lassen.“, sagte er aufrichtig betrübt und diesmal konnte Linus ein Zittern nicht mehr unterdrücken.

„Mein… altes Leben?“, wiederholte er stockend. Die Augen des Mannes musterten ihn wieder.

„Wenn du für Olymp- für mich- arbeitest, erhältst du eine neue Identität. ‚Linus’ existiert dann nicht mehr.“, erklärte Zeus ernst.

Linus hörte sein Herz in den Ohren wie Trommelschläge dröhnen und er fühlte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn sammelte. Er wollte nicht abstreiten, dass die Worte des blassen Mannes verlockend klagen. Die schmerzliche Trennung seiner Eltern, die ewige Angst, zu Tode geprügelt zu werden oder von der Polizei geschnappt zu werden, die unschönen Erinnerungen an die Zeit am Straßenrand, an die etlichen Hotelzimmer, an die Frauen und Männer, für die er hergehalten hat- es klang wie eine unglaubliche Erlösung, das alles vergessen zu dürfen…

Aber es wäre nicht das einzige, was er hergeben müsste.

Entschieden schüttelte Linus den Kopf. „Nein, tut mir leid, aber das kann ich nicht. Ich kann meine Mum nicht im Stich lassen.“ Zeus` Ausdruck blieb unverändert sachlich, lediglich seine Augen verengten sich etwas. „Du willst also so weitermachen, wie bisher?“

„Lieber schlage ich mich mit meiner scheiß Vergangenheit rum, als sie alleine zu lassen- sie kann für meine Situation gar nichts; das habe ich mir alles selbst zuzuschreiben!“, entgegnete Linus mit fester und überzeugter Stimme.

„Dann halt dich zumindest von Dragan fern.“, bat Zeus seufzend. „Es ist wirklich gesünder für-“

„Zum letzten Mal, nein!“, fiel der junge Mann ihm wütend ins Wort. „Ich habe Schulden bei ihm, wenn ich mich jetzt verpisse, bin ich sowieso ein toter Mann.“, fügte er zischend hinzu.

„Wie viel?“

Linus blinzelte verwirrt. „Was?“

„Wie hoch sind deine Schulden?“, wiederholte Zeus.

„Das braucht Sie nicht zu interessieren.“, sagte Linus schnell und bestimmt, doch das brachte Zeus nicht davon ab, unter seinen Mantel zu greifen und eine schwarze Geldbörse hervorzuholen. „Und wenn ich dir das Geld geben würde?“

Linus lachte hart auf und hob ungläubig eine Augenbraue. „Damit ich dann bei Ihnen in der Kreide stehe? Nein, Mann, ganz bestimmt nicht!“

Zeus verharrte einen Moment in der Bewegung, seine Börse zu ziehen, dann zuckte er mit den Schultern, angelte in seiner Jackentasche nach einer kleinen Karte und steckte die Börse wieder weg.

„Wie du willst. Aber mein Angebot steht noch. Falls du es dir anders überlegst, komm zu dieser Adresse und frage nach mir.“, sagte er, schob Linus die Visitenkarte über den Tisch zu und stand auf. Zögernd schaute Linus zu ihm hoch, dann nahm er die Karte in die Hand und betrachtete diese einen Moment lang. Sie hatte keinen Hintergrund und keinen Namen- in kleinen, engen Buchstaben stand dort lediglich eine Adresse. Linus kannte die Straße und überlegte kurz, um welches Gebäude es sich handeln könnte, als ihm etwas aufging und er stirnrunzelnd zu dem Mann aufsah, der gerade eine Hand auf die Türklinke gelegt hatte.

„…ist das nicht das alte Parkhaus?“, fragte Linus verwundert nach und Zeus` linke Braue wanderte ebenso verwirrt Richtung schwarzen Haaransatz.

„Ja, wieso?“ Noch einmal schaute Linus auf das rechteckige Stück Papier in seiner Hand und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Sie… wohnen in einem Parkhaus?!“

„Ich habe eben eine Schwäche für außergewöhnliche Plätze.“, erwiderte Zeus schmunzelnd und bevor Linus etwas sagen konnte, zog der Mann die Küchentür auf und trat in den angrenzenden Flur hinaus. Wie auf ein stummes Stichwort hin, stand auch sofort seine Mutter neben Zeus und sah strahlend zwischen ihm und ihrem Sohn hin und her.

„Haben Sie alles besprochen können, Herr Kagawa?“, fragte sie mit leuchtenden Augen. Zeus` Züge waren wieder so charmant wie zuvor.

„Ja, und ich bitte Sie noch einmal vielmals um Verzeihung für die Störung.“

Seine Mutter wurde wieder etwas rot und schüchtern lachend winkte sie ab. „Ich bitte Sie, Sie stören doch nicht. Ich muss mich für Ihren Besuch bedanken.“

Zum Abschied streckte sie Zeus die Hand entgegen, der diese dankend in seine nahm und höflich schüttelte. Bevor sie seine wieder losließ, legte der Mann auch noch seine andere Hand auf ihren Handrücken und sah ihr tief in die Augen.

„Sie haben einen wunderbaren Jungen.“, sagte Zeus lächelnd. „Sie können wirklich stolz auf ihn sein.“

Seine Mutter vergaß bei diesen Worten zu atmen und überglücklich sah sie zu ihrem Sohn, der im Türrahmen der Küche stehen geblieben war. Linus presste die Lippen zu dünnen farblosen Strichen aufeinander und versuchte seine verkrampften Hände in den Hosentaschen zu verbergen. Er wusste nicht genau, wie er Zeus` Worte zu deuten hatte, aber er hatte sie nicht einfach nur deswegen gesagt, um seine Mutter glücklich zu machen oder Linus` Lüge aufrecht zu erhalten- ob sie nun als eine Bestärkung seiner Entscheidung, bei seiner Mutter zu bleiben oder als sarkastische Kritik gemeint waren, konnte er nicht sagen.

Zeus nickte Linus zu und schenkte ihm ein letztes aufgesetzt freundliches Lächeln.

„Wir sehen uns dann morgen in der Schule, Linus.“, sagte er zum Abschied und ging hinaus.

Sanktionen

Am nächsten Morgen verabschiedete Linus im Vorbeigehen seine Mutter und verließ wie gewohnt mit seiner sporadischen Schultasche früh die Wohnung. Routiniert schlug er den Weg links die Straße runter ein, an dessen Ende eine U-Bahn hielt, die ihn direkt zur Schule gefahren hätte. Kurz davor, außerhalb der Sichtweite der Wohnung, bog er dann in eine andere Straße ab und legte den Weg zum Hauptbahnhof im Laufschritt zurück.

Heute war der letzte Tag seiner von Dragan gesetzten Frist und er hatte sein Ziel, die 200000 Yen in den Händen zu halten, noch längst nicht erreicht. Er würde sich heute ranhalten müssen, um diese Summe zusammenzubekommen.

Zu dieser Uhrzeit, wenn der erste Ansturm des Arbeitstages langsam abklang, hoffte er, ein paar bekannte Gesichter am Bahnhof zu finden- die ganz Kranken und Süchtigen, die sich in der letzten Nacht ihr letztes Bisschen Stoff einverleibt hatten und nun jeglichen Preis für mehr bezahlen würden. Das Glück meinte es gut mit ihm und so fand er tatsächlich in den ersten zwei Stunden eine Hand voll Leute, denen er eine ansehnliche Menge verkaufen konnte. Doch es reichte immer noch nicht und mit jeder Stunde, die verstrich, wuchs seine Nervosität.

Gegen 14 Uhr machte er sich auf den Heimweg. In Gedanken versunken und mit weichen Knien, schloss er die Wohnung auf und marschierte direkt in sein Zimmer durch, was ihm einen schiefen Blick seitens seiner Mutter einbrachte.

„Alles in Ordnung, Schatz?“, fragte sie besorgt, als er stumm an ihr vorbeiging und ihr die Tür mehr oder weniger vor der Nase zuschlug.

„Alles Bestens!“, rief er über die Schulter zurück zur Tür, holte das Geld und die restlichen Drogen aus den Hosentaschen hervor und legte beides auf seinen Schreibtisch. Er biss sich auf die Lippen und sah zu den zerknitterten Scheinen und dem weißen Pulver. Er hatte sich noch nie wohl gefühlt, wenn er dieses Zeug hier zuhause hatte, wo es seine Mutter bei einer ungünstigen Gelegenheit jederzeit finden könnte.

„Ist etwas in der Schule gewesen?“

„Nein, Mum!“

Linus nahm das Geld und zählte zum hundertsten Mal nach- es fehlten rund 50000 Yen. Er fluchte stumm. Ihm blieben nur noch zwei Stunden und jetzt, um die Mittagszeit, wo die Straßen voll mit heimkehrenden Schülern und kaufwütigen Menschen waren, war es unmöglich, diese Summe zusammenzukriegen…

Seine Hände zitterten, als er sich durchs blonde Haar fuhr. Was sollte er sonst tun? Wo bekam er auf die Schnelle so viel Geld her? Er selbst besaß nicht einmal halb so viel und seine Mutter konnte und wollte er nicht um das Geld bitten.

Verzweifelt ließ Linus den Blick durch sein Zimmer schweifen- und blieb an Zeus` Visitenkarte kleben, die er achtlos auf die Fensterbank gelegt hatte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Mann aufzusuchen und ihn um die 50000 zu bitten, doch dann schaltete sich sein Stolz wieder ein und schimpfte seinen Verstand einen Idioten- er hatte nicht vor seine alten Schulden mit neuen zu tilgen.

Sein Blick wanderte weiter und fand diesmal etwas anderes, das Linus jedoch einen unangenehmen Stich im Magen versetzte. Er dachte lange darüber nach, doch dann fasste er einen Endschluss und packte die kostbare Armbanduhr in seinen Rucksack. Die Drogen stopfte er sich wieder tief in die Gesäßtasche, dann verließ er sein Zimmer und streckte hastig den Kopf zur Küche hinein, in der seine Mutter kochte.

„Ich treff mich noch mit ein paar Leuten aus der Schule.“, rief er schnell und wollte schon weiter zur Wohnungstür eilen, als ihn die verwirrte Stimme seiner Mutter aufhielt.

„Was habt ihr denn vor?“

Linus schaute sie blinzelnd an und zuckte die Schultern. „Weiß nicht, wir wollten in die Innenstadt.“

Auf dem Gesicht seiner Mutter bildeten sich Sorgenfalten. „Komm aber diesmal nicht so spät nach Hause…“

„Ich bin pünktlich zum Abendessen da.“, versprach Linus lächelnd, dann war er auch schon aus der Tür raus und nahm auf dem Weg nach unten hastig jeweils zwei Stufen auf einmal.
 

Prüfend nahm der Mann die goldene Uhr in die Hand und hielt sie in das Licht der Lampe. Ein paar Minuten lang drehte er das wertvolle Stück schweigend hin und her, betrachtete jedes Detail des Ziffernblatts einzeln, bis er sie brummend wieder auf den Tisch legte und mit verschränkten Armen zu Linus sah, der ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte.

„Vierzigtausend.“, sagte der Antiquitätenhändler mürrisch und Linus sah ihn fassungslos an.

„Ist das Ihr Ernst? Die ist viel mehr wert!“, rief er aufgebracht. „Die Uhr hat meinem Großvater gehört. Die muss schon über 50 Jahre alt sein, handgemacht und das ist echtes Gold!“ Pikiert über den schroffen Tonfall wanderte die Braue des Mannes in die Höhe.

„Das seh ich, junger Mann.“, erwiderte er und nahm Linus abschätzend ins Auge. „Dennoch ist sie nicht mehr wert als-“

„Ich will 50000 dafür haben!“ Der Blick des Händlers wechselte ins Verblüffte.

„Das ist- bei aller Liebe…“

„50000 Yen.“, fiel ihm sein Gegenüber betont ins Wort. „Für weniger verkaufe ich die Uhr nicht.“

Für Sekunden kämpfte der Mann innerlich um Beherrschung. So ein vorlauter Bengel! Was erlaubte er sich eigentlich? Aber dann fiel sein Blick wieder auf die wunderschöne Armbanduhr vor ihm. So etwas sah man heute nur noch selten. Er konnte nicht glauben, dass der Junge so etwas Schönes verkaufen wollte- die Jugend von heute wusste halt immer weniger zu schätzen…

Der Händler gab sich einen Ruck. „Abgemacht, 50000 Yen.“, gab er nach und ging zum Kassiergerät.

Als Linus die vielen Scheine endlich in den Händen hielt, fiel ihm ein riesiger Stein vom Herzen. Ihn plagten zwar immer noch Gewissensbisse, dass er sein Erbe so leicht hingegeben hat, aber auf der anderen Seite hatte er jetzt das beinahe Unmögliche geschafft und konnte tatsächlich seine Schulden bei Dragan abzahlen! Erleichtert verließ Linus das Antiquitätengeschäft, steckte das gesammelte Geld unter seine Jacke und schlug den Weg in Richtung Rotlichtviertel ein- das Viertel, in dem die mächtigen Unterweltgrößen saßen und regierten. Allerdings sollte er nicht weit kommen- genauer gesagt, nur zwei Straßenkreuzungen weiter, dann sah sich Linus einer Wand aus Polizisten gegenüber.

Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte die uniformierten Leute an, die Passanten anhielten und sie nach ihren Tascheninhalten befragten. Die Straßenecke, an der sie standen, war ein beliebter Dealertreffpunkt, weshalb die Polizisten bevorzugt Jugendliche aufhielten. Linus vermutete, dass irgendein Anwohner bei der Polizei geplaudert haben musste. Ihm fiel alle Farbe aus dem Gesicht, als einer der Polizisten auf einmal zu ihm herüber sah. Er war noch gute 30 Meter entfernt und es hätte auch einfach nur Zufall sein können, dass der Mann in seine Richtung geschaut hat, doch in diesem Moment machte Linus den Fehler und ging nervös ein paar Schritte rückwärts, als er sich dem Stoff in seiner Hosentasche wieder bewusst wurde. Er war sich sicher gewesen, dass der uniformierte Mann ihn nicht weiter beachtet hätte, aber nun verengten sich seine Augen misstrauisch.

Linus sah plötzlich keinen anderen Ausweg mehr, als auf dem Absatz kehrtzumachen und wegzurennen. Donnernde Rufe wurden hinter ihm laut, die ihn jedoch nur zu höherem Tempo antrieben, dass er beinahe blind durch den Menschenstrom in der Innenstadt stolperte. Linus schaute sich nicht um, aber die immer lauter werdenden Rufe, die er zu hören glaubte, reichten ihm als Information völlig aus, um zu wissen, dass er verfolgt wurde.

Irgendwann lichtete sich die Masse der Menschen und der Hafen tauchte vor ihm auf. Er bog in eine leere Gasse ein, die zwischen zwei Fabrikgebäuden herlief und in der seine weit ausgreifenden Schritte von den Blechwänden her im Kanon widerhallten. Seine Lunge brannte und sein Atem war zu einem schmerzhaften und wilden Keuchen zusammengeschrumpft. Plötzlich fiel ihm auf, dass das aggressive Gebrüll des Polizisten ausblieb und so drehte er sich im Laufen kurz über die Schulter um- und stolperte über seine eigenen Beine.

Ungebremst schlug Linus auf den asphaltierten Boden auf, vollführte eine unelegante Rolle über Kopf und Schultern und blieb stöhnend auf dem Bauch liegen. Sein ganzer Körper schrie vor Schmerzen und keuchend versuchte er, wieder auf Knie und Arme zu kommen. Seine Handflächen waren aufgeschürft, genauso wie sein Kinn und in seinem Mund sammelte sich der Geschmack von Blut. Benommen schüttelte Linus den Kopf und sah die Gasse hinunter. Niemand war zu sehen und die einzigen Geräusche, die er hörte, waren sein eigener hektisch keuchender Atem, der sich mit dem Schreien der Möwen vermischte, und das leichte Rauschen der Wellen. Sein Herz überschlug sich beinahe und es fiel ihm immer schwerer, klar zu sehen. Rasend schnell verschwamm sein Sichtfeld, die Gasse vor ihm begann sich zu drehen und bevor Linus aufstehen konnte, wurde ihm schwarz vor Augen.
 

Als er das Bewusstsein wiedererlangte, fühlte er sich, als lägen zwei Tonnen auf ihm. Blinzelnd öffnete Linus die Augen und versuchte den schweren Kopf zu heben. Die Welt drehte sich immer noch vor seinen Augen und der Schmerz in seiner Schulter war unerträglich, dennoch zwang er sich auf die Beine und stützte sich schwankend an der Fabrikwand neben ihm ab. Stöhnend hielt er sich den Kopf und atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus, tastete vorsichtig seinen Oberkörper ab und vergewisserte sich, dass ihm nichts gestohlen worden war, bis ihm ein Gedanke wie glühendes Eisen durch den Kopf schoss.

Wie spät war es?

Hastig schaute er auf seine Armbanduhr und im nächsten Augenblick gaben seine Beine vor Schock unter ihm nach. Seine Frist war vor 20 Minuten abgelaufen…

Er fluchte laut und setzte sich humpelnd in Bewegung. Es war nicht weit vom Hafen aus bis zu Dragan, doch seine Beine wollten ihm partout nicht gehorchen. Den Schmerz ignorierend zog Linus das Tempo an und mit Schweiß auf der Stirn erreichte er zehn Minuten später Dragans Bar.

Die leicht bekleideten Kellnerinnen sahen ihm teils schockiert, teils besorgt hinterher, riefen ihm sogar etwas zu, doch er antwortete kein einziges Mal. Gehetzt zwängte er sich an den Bodyguards vorbei und betrat keuchend den hinteren Teil der Bar, der zu Dragans persönlichen Räumen zählte. Zu seiner Verwunderung hielt ihn niemand auf- normalerweise hätte er bei diesem rücksichtslosen Verhalten schon längst ein paar Kugeln in seinen Gliedmaßen stecken gehabt. Dragan saß wie üblich an seinem Schreibtisch und musterte Linus aufmerksam, als dieser ins Hinterzimmer gestürmt kam.

„Dragan…“, begann der junge Mann atemlos und vollführte eine fahrige, aber dennoch tiefe Verbeugung. „Es tut mir Leid, dass ich zu spät bin- ich wollte pünktlich sein, wirklich, aber-“

Linus verstummte unter Dragans langsamer Handbewegung. Der dickliche Mittfünfziger sah ihm stoisch in die Augen, wobei sein Gesicht keinerlei Emotionen zeigte, sodass Linus seine Stimmung nicht erraten konnte- und genau dieses Pokergesicht ließ ihn wie so oft erzittern und trocken schlucken.

„Hast du das Geld?“, fragte Dragan nach ein paar Sekunden und Linus beeilte sich, zu nicken. Nervös griff er unter seine Jacke und überreichte dem Mann das Geld. Nach kurzem Zögern holte er auch noch die verbliebenden Drogen, wenn es auch nicht mehr viel war, zum Vorschein und legte diese ebenfalls auf den Tisch- er hätte sie früher oder später sowieso zurückgeben müssen. Was man nicht verkauft, darf man nicht behalten- die Regel war simpel und Dragan verstand es, sie effektiv in die Hirne seiner Dealer einzubrennen; missachtete man sie einmal, würde er umgehend dafür sorgen, dass man es kein zweites Mal tun würde… wenn man das Glück hatte, am Leben bleiben zu dürfen.

Ein junger Mann, der Gerüchten zufolge Dragans Neffe sein sollte und der Unterweltgröße nie von der Seite wich, nahm das weiße Pulver an sich, wobei sich der silberne Metallring an seinem Mittelfinger hell im Licht der kleinen Schreibtischlampe brach, und stellte sich wieder dicht neben seinen Boss, der in der Zwischenzeit das Geld nachzählte. Linus` Knie wurden wieder weich und nervös nestelte er an seinem Jackensaum. Hoffentlich hatte er kein Geld auf dem Weg hierhin verloren…

Minuten, die sich wie Stunden hinzogen, vergingen schweigend, ehe Dragan wieder aufschaute und das Geld in einer Schublade an seinem Schreibtisch verschwinden ließ.

„Ich gehe davon aus, dass du deine Lektion gelernt hast, Linus.“, sagte er ruhig und seine Stimme veranlasste Linus dazu, sich steifer hinzustellen. Er nickte schnell.

„Ich werde Sie nicht noch einmal enttäuschen.“, antwortete Linus heiser. Dragan legte die Hände vor seinem Gesicht zusammen und musterte ihn aus verengten Augen.

„Da bin ich mir sicher…“, entgegnete er kühl und vollführte einen wegwischenden Wink mit der Linken. „Geh jetzt.“

Linus verbeugte sich schnell und drehte etwas erleichtert auf dem Absatz um.

„Linus...“

Das Knurren in Dragans Stimme war nicht zu überhören und ließ den Jüngeren bis ins Mark zusammenzucken. Langsam drehte er sich zu dem Mann um und sah ihn fragend an. Dragan lächelte nicht besonders breit oder belustigt; es erinnerte Linus mehr an das Zähneblecken einer fetten Hyäne.

„Deine Mutter ist eine ausgezeichnete Köchin.“

Quälend langsam sickerten Dragans Worte durch Linus` Verstand, als wollte er sicher gehen, dass jede Faser in seinem Körper sie bewusst wahrnahm und verstand. Sein Herz schlug plötzlich mit aller Kraft gegen seine Rippen, als wolle es ausbrechen und aus seinem Gesicht fiel jegliche Farbe. Ohne weiter darüber nachzudenken oder Rücksicht zu nehmen, stürzte er aus dem Raum, drängte sich an Dragans Untergebenen vorbei und lief kreidebleich hinaus auf die Straße.
 

Er schrie beinahe panisch den Namen seiner Mutter, als er die Wohnungstür aufstieß. Keuchend stand er ein paar Sekunden im Türrahmen und horchte. Vergebens wartete er auf eine Antwort. Linus` Hals zog sich schmerzhaft zusammen und seine Lunge versagte ihm den Dienst. Vorsichtig schloss er die Tür und betrat den schmalen Flur.

„Mum? Bist du da?“, rief er noch einmal. Sie ist nicht zuhause, ganz einfach, raunte sein Verstand beruhigend immer und immer wieder. Sie ist nicht da, vermutlich etwas einkaufen…

Doch es half nichts. Sein Herz schien vergessen zu haben, wie man im Rhythmus blieb und mit weichen Knien sah er in die einzelnen Räume. Das Wohnzimmer war wie immer aufgeräumt und sauber, in seinem Zimmer herrschte das gewohnte Chaos. Die Stille brachte ihn fast um den Verstand. Sie ist nicht da, also beruhig dich endlich, rief er sich zur Ordnung.

Aus der Küche roch es nach gebratenen Fleisch und Gewürzen. Die Tür stand offen, sodass Linus von außen die Töpfe und Pfannen auf dem Herd stehen sah. Etwas Gelbes klebte an einem von ihnen und stirnrunzelnd betrat Linus die Küche und nahm den kleinen Zettel in die Hand.

„Maggie hat angerufen- sie hat Stress mit ihrem Freund. Ich bin bei ihr und weiß nicht, wann ich wieder komme. Iss ruhig ohne mich.“, stand dort in der geschwungenen Schrift seiner Mutter und erleichtert und glücklich atmete Linus aus. Sie war tatsächlich nicht hier, Dragan wollte ihn einfach nur einschüchtern…

Er stockte, als er auf einmal den roten Fleck auf dem gelben Zettel wahrnahm. Sein Herz klopfte schneller, als er mit dem Daumen über den Fleck fuhr und dieser in Schlieren verwischte. War das etwa…?

Knarrend schloss sich die Tür in seinem Rücken und ein dumpfes Geräusch folgte, sodass Linus erschrocken zusammenfuhr. Zitternd drehte er sich um und brach im nächsten Moment aufschreiend zusammen.

Die geweiteten Augen seiner Mutter schienen ihn direkt anzustarren. Ihr Mund war leicht geöffnet, als habe sie versucht zu schreien oder etwas zu sagen. Ein Loch prangte auf ihrer Stirn genau zwischen ihren von Angst erfüllten Augen. Zwei weitere Kugeln hatten sie in Brust und Bauch getroffen und das noch feuchte Blut tränkte ihre helle Kleidung tiefrot. Ein schwacher Umriss ihres Kopfes war an der nun rot gesprenkelten Wand neben der Tür zu erkennen, vor der sie vermutlich gestanden hatte, als sie erschossen wurde. Blutige, verwischte Streifen deuteten an, dass sie an der Wand runtergerutscht war und nur die geöffnete Tür ihren Sturz für gewisse Zeit aufgehalten hatte- nun lag sie auf den kalten weißen Fliesen, auf denen sich das Blut grotesk abzeichnete.

Linus wusste nicht mehr, wie lange er so regungslos und ohne zu atmen dagesessen hatte. Er fühlte sich wie in einem dieser Horrorfilme, den er Popcorn essend mit seinen wenigen Freunden schauen würde. Für gewöhnlich würden sie jetzt jubeln, da nun nach fünf Minuten sinnlosem und absehbarem Hinauszögern der Regisseure endlich die Leiche gezeigt wurde, sie würden über die übertriebene Blutlache die Köpfe schütteln und anfangen, über den verwendeten Kaliber zu fachsimpeln, der solche Blutspritzer und Einschusslöcher hinterlassen würde.

Als dann aber die Illusion verblasste und er in den Gesichtszügen des Opfers wieder seine eigene Mutter erkannte, drehte sich sein Magen um. Er begann zu würgen, zog sich an der Küchenzeile hoch und übergab sich in die Spüle. Er schluckte den Geschmack von bitterer Magensäure hinunter und spürte die Tränen in ihm hochsteigen. Seine Mutter starrte ihn immer noch an und verstört wich er von ihr weiter weg. Linus wollte ihren Blick nicht länger sehen, wollte hier raus, aber sie lag vor der rettenden Tür in ihrem eigenen Blut.

Zitternd und schluchzend kroch er hinter den Küchentisch, drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und legte die Hände in seinen schweißnassen Nacken. Er kauerte sich zusammen, schloss die Augen und weinte leise.

Ja, Alexej Dragan wusste, wie er seine Regeln nachhaltig in dem Bewusstsein seiner Untergebenen verankern konnte; das hatte Linus wieder einmal schmerzhaft feststellen müssen.

Krieger

Es klopfte an seiner Tür und als wenn er aus einem Traum erwachte, sah Zeus von seinen Notizen auf und brauchte ein paar Augenblicke, um sich wieder zu orientieren.

Wie lange saß er eigentlich heute schon in seinem Büro? Um das letzte bisschen Unklarheit aus seinem Kopf zu verdrängen, massierte er sich mit den Zeigefingern die Schläfen und rief ein vernehmliches „Herein“, auf das sofort die Tür in seinem Rücken geöffnet wurde. Fast beiläufig schloss er die Schublade, in der er seine Tapes aufbewahrte und drehte sich zu seinen Besuchern um.

Alle drei Gesichter, in die er jetzt abwechselnd blickte, kannte er- die einen mehr, das andere weniger gut, sodass er zuerst erstaunt war, letzteres hier zu sehen. Linus wurde von zwei Mitgliedern Olymps flankiert, die ihm vermutlich keinen Schritt bis hierher von der Seite gewichen waren. Der Junge sah fürchterlich aus; zu den etlichen sichtbaren Verletzungen, die er schon am Vortag besessen hatte, hatten sich noch Schürfwunden im Gesicht, rote, vermutlich verweinte Augen und ein Ausdruck dazugesellt, den Zeus gehofft hatte, nie bei dem jungen Mann erblicken zu müssen: eine Mischung aus Trauer, Verzweiflung, Hass und beginnende Mordlust brachten sein helles Irispaar in dem ansonsten emotionslosen Gesicht gefährlich zum Leuchten.

Zeus nickte kurz dem glatzköpfigen Mann rechts von Linus zu.

„Danke, dass du ihn hierher gebracht hast.“, begann er und schenkte auch dem anderen Mann, der eine silberne Beretta in der Linken hielt, ein dankbares Nicken, das dieser allerdings keinesfalls erwiderte oder sonst auf irgendeine Weise andeutete, dass er Zeus` Geste zur Kenntnis genommen hat. Er störte sich nicht weiter daran- D war ihm, wenn man es genau nahm, nicht untergestellt, also brauchte Zeus auch keine Reaktion seitens Hades` Scharfschützen erwarten oder gar verlangen…

„Lasst mich mit ihm allein.“, schloss Zeus und die beiden Männer folgten schweigend seiner Anweisung. Linus blieb im Türrahmen stehen und sah Zeus unverändert weiterhin an. Der Ältere ahnte schlimmes und somit holte er tief und leise Luft, ehe er aufstand und hinter Linus die Tür schloss.

„Darf ich fragen, was passiert ist?“, fragte Zeus ruhig und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, doch der Jüngere antwortete ihm nicht. Stattdessen rührte sich Linus endlich und trat ein paar Schritte auf Zeus zu.

„Ich will, dass Sie mir mein Gedächtnis löschen…“, sagte er heiser.

„Hast du dir das gut überlegt?“, entgegnete der Mann nach ein paar Sekunden und Linus nickte augenblicklich.

„Ich will alles vergessen.“, antwortete er entschlossen, dass Zeus keinen Moment an seiner Entscheidung zweifeln konnte. Der Mann nickte ihm zu, deutete auf einen zweiten Stuhl und diesmal folgte Linus der Aufforderung ohne zu zögern.

Schweigend öffnete Zeus die kleine Schublade wieder und fischte nach seinem Diktiergerät. Mit gerunzelter Stirn verfolgte Linus jede seiner Bewegungen und sein Blick wurde noch ungläubiger, als er sah, wie Zeus eine neue Kassette in das altmodische Gerät steckte und zwischen den beiden auf den Tisch stellte.

„Was soll das werden?“, fragte Linus misstrauisch und ließ den Kasten nicht aus den Augen.

„Das mache ich mit jedem, der hier Mitglied werden möchte…“, entgegnete der Ältere ruhig und drückte einen der kleinen Knöpfe an dem Diktiergerät.
 

Das bekannte Rauschen ertönte und für Sekunden durchbrach es die drückende Stille in seinem Gefängnis, bis eine hellere Jungenstimme fragte: „Und was soll der Scheiß jetzt?“

Er klang misstrauisch und gereizt, als hielte man ihm etwas unter die Nase, was er zuvor noch nie gesehen hatte. Taro überlegte sich kurz, wie alt der Sprecher wohl gewesen sein musste, kam aber auf keine Antwort.

„Wie ist dein Name?“, ertönte auf einmal die dunklere Stimme des Unbekannten.

„Das wissen Sie doch…“, erwiderte die andere Stimme verwirrt. Niemand antwortete ihm und nach ein paar Augenblicken hörte er den Jüngeren genervt seufzen. „Linus Hoffman…“

„Linus, warum willst du ein Mitglied von Olymp werden?“, fragte der andere weiter und in seiner Stimme schwang Zufriedenheit mit, dass Taro sich sicher war, dass der Unbekannte in diesem Moment ein unverschämtes Lächeln auf den Lippen gehabt haben musste.

„Ich will, dass Sie mir mein Gedächtnis löschen.“ Der Junge klang sehr ungeduldig- vermutlich hatte er diese Bitte schon öfters geäußert. Ungläubig schüttelte Taro den Kopf. Es entzog sich immer noch seinem Verständnis, wie jemand so eine Entscheidung treffen konnte…

„Warum?“

Wieder wurde es still, bis dieser Linus nun bissig antwortete: „Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich darüber nicht reden will.“

„Tut mir leid, aber da wirst du wohl durch müssen…“ Der Jüngere schwieg und so fügte der Unbekannte aufmunternd hinzu: „Du wirst dich sowieso nicht mehr daran erinnern können- wo liegt also das Problem, mir kurz zu erläutern, was passiert ist?“

Eine längere Pause. Dann holte jemand tief Luft.

„Sie haben meine Mutter getötet…“ Die Stimme klang ungewöhnlich monoton und leblos, sodass es Taro zuerst schwer fiel, sie genau zuzuordnen. In den Sekunden der Stille, die auf die Worte folgten, wurde ihm klar, dass tatsächlich Linus gesprochen hatte. Sein Herz begann schneller zu schlagen.

„…wen meinst du mit ‚Sie’?“

„Dragans Männer- vielleicht auch Dragan selber, ich weiß es nicht.“ Bei dem Klang des Namens horchte Taro interessiert auf. In seiner Jugend war dieser ausländische Name öfters im Radio gefallen oder er hatte ein paar Spalten der lokalen Zeitungen geziert.

Dragan- ein mächtiger Geschäftsmann und Sponsor, bei dem sich jede größere Firma Geld geliehen und der, Gerüchten zufolge, eine wichtige Rolle in den Drogenzirkeln der Unterwelt gespielt hatte… vor vielen Jahren war er eine Berühmtheit in bestimmten Kreisen gewesen. Ob dieser Linus für ihn gearbeitet hat?

„Erzähl mir davon.“, durchbrach die dunklere Stimme seine Gedanken.

„Ich will nicht…“, murmelte Linus so dünn und leise, dass er Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen.

„Bitte.“, erwiderte der andere im behutsamen Tonfall. Zwei, drei tiefe Atemzüge waren zu hören, dann erklang wieder Linus Stimme, die schlagartig brüchig geworden ist.

„Sie haben sie in unserer Wohnung erschossen… in der Küche“, begann er zittrig und schluckte laut. Taro hörte, wie sich der Junge um Beherrschung bemühte- ob er zornig oder den Tränen nah war, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. „Man hat ihr in den Kopf geschossen und… und in den Bauch und-“ Er brach ab, sammelte sich wieder. Mitleid für den Jungen flammte in Taro auf.

„Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe oder wenn ich an nichts denke, seh ich meine Mum auf unserem Küchenboden liegen und… ihre Augen, sie- sie starren mich an. Sie hatte Angst… ihr ganzes Gesicht war von Angst zerfressen und entstellt.“ Wieder eine Pause, in der Taro jemanden geräuschvoll die Nase hochziehen hörte. Dann erklang für endlos lange Sekunden nur wieder das Rauschen. Als Linus weitersprach, hatte seine Stimme ein wenig mehr Festigkeit erhalten.

„Ich will diesen Tag heute nur noch vergessen… ich habe Angst davor, mich schlafen zu legen und diesen Moment noch einmal durchleben zu müssen.“

„… ist das das Einzige, was du vergessen willst?“

„Spielen Sie wieder auf meine Vergangenheit als Dealer und Stricher an?“, fragte Linus bissig, doch der Unbekannte schwieg dazu, also fuhr der Junge zischend weiter fort: „Haben Sie schon einmal einen geliebten Menschen tot aufgefunden und wussten, dass Sie selbst an seinem Tod schuld sind?“

Die Worte durchstießen Taros Körper und als seien sie an ihn gerichtet, schluckte er hart und schüttelte den Kopf. Linus` Stimme hatte etwas wütendes, anklagendes erhalten, das Taro schuldbewusst den Blick senken ließ. Der Unbekannte schwieg immer noch.

„Ich würde mit hunderten von Leuten schlafen, wenn ich dadurch diese Erinnerung verlieren könnte…“, flüsterte Linus abschließend und Taros Hände fingen bei dem Tonfall des Jungen zu zittern an.

„Ich kann dich gut verstehen.“, räumte der Ältere ein und Taros Blick wanderte ungewollt zu dem, was noch von Hitomis Kassette übrig war. „Gut, ich werde dir dein Gedächtnis nehmen und dich bei Olymp aufnehmen.“, durchbrach der Fremde seine Gedanken mit fester Stimme. „Du weißt, was das bedeutet?“

„Ja.“

„Dir ist bewusst, was Olymp tut und was du in Zukunft tun wirst?“

„…ja.“

Taro hatte dem Gespräch so innig und konzentriert gelauscht, dass der abschließende Klick- Laut des Diktiergerätes ihn erschrocken zusammenzucken ließ.
 

Zeus` Finger verweilte noch einen Moment lang auf der STOP- Taste und er sah Linus tief in die blauen Augen. Das verweinte Rot verblasste langsam und ließen die Wut und die Entschlossenheit noch stärker leuchten. Verächtlich sah der Jüngere auf das schwarze Diktiergerät hinab.

„War das jetzt wirklich notwendig gewesen?“

„Das war es, ja.“, erwiderte Zeus, nahm die Kassette raus und legte sie in die Schublade. Linus ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

„Und was machen Sie jetzt damit?“

Zeus lächelte beschwichtigend. „Keine Angst, das wird kein Dritter zu Gesicht bekommen. Die Kassetten sind meine private Angelegenheit, die keinen etwas angeht.“ Er erhob sich und machte eine Handbewegung zur Tür. „Komm. Ich will dir noch jemanden vorstellen, bevor es losgeht.“

Zeus führte den Blonden durch die eintönigen Gänge von Olymp und warf immer mal wieder einen Blick über die Schulter. Linus ging einen halben Meter hinter ihm und mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen schaute er sich genau um. Niemand kam ihnen entgegen. Der Gang, den sie hinabgingen, gehörte zum Verwaltungstrakt, den nur bestimmte Mitglieder betreten durften, da hier die neuen Anwärter für Olymp entlang geführt wurden, die noch ihre alte Identität besaßen- es begegneten sich hier also zwei Welten, für die jedes Treffen ein Risiko darstellte, sodass für die meisten Männer dieser Bereich der unterirdischen Stadt verboten war.

Nach kurzer Zeit, in der sie schweigend hintereinander hergegangen waren, blieb Zeus vor einer Tür stehen und zog diese, ohne anzuklopfen, auf.

Ein Mann mit braunem Haar, der an einem weiteren Schreibtisch saß, hob den Kopf und nickte seinen Besuchern knapp zu. Er schien nicht besonders verwundert über Zeus` plötzliches Erscheinen zu sein- zu Linus` Verwirrung erkannte er sogar eine gewisse Neugier in dem Gesicht des Braunhaarigen, als habe er schon auf Zeus und ihn gewartet.

„Das ist Hades, mein Partner.“, stellte Zeus den Mann vor, der sich in diesem Moment erhob. „Wir leiten Olymp gemeinsam, er wird also genauso dein Vorgesetzter sein, wie ich.“

Hades nickte Linus stumm zu, was dieser zögernd erwiderte. Irgendetwas an seinem Blick ließ den Blonden innerlich zusammenzucken.

„Sind alle Formalitäten geklärt?“, fragte Hades dann an Zeus gewandt. Die Stimme des Mannes war überraschend hoch und wollte nicht so recht zu der breitschultrigen Statur ihres Besitzers passen, dennoch stand sie, was die Autorität anging, der von Zeus in keiner Weise etwas nach. Zeus beantwortete Hades` Frage mit einem kurzem Nicken.

„Gut, dann können wir ja zur Tat schreiten.“, beendete der Braunhaarige das Gespräch. Ein letztes Mal sah er Linus musternd an, der diesmal nur schwer dem Drang widerstehen konnte, wegzusehen, dann drehte der Mann sich zu seinem Schreibtisch um, langte nach einem Schlüssel und setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe, die sich kurz darauf wieder schweigend durch die endlos scheinenden Gänge bewegte.

Erneut hielten sie vor einer weiß gestrichenen Tür, die Hades mit dem kleinen Schlüssel aus seinem Büro öffnete und die zu einem kleinen Raum führte, der wie eine Schaltzentrale aussah. Eine weitere Tür dahinter führte in einen größeren Abschnitt, in dessen Mitte eine Art elektrischer Stuhl stand, den Zeus als ‚Memoria’ betitelte. Abwechselnd erklärten die beiden Männer mit wenigen Worten, wie diese Maschine funktionierte und was nun mit Linus passieren würde und ehe er weiter darüber nachdenken konnte, betraten zwei weitere Männer in weißen Arztkitteln den Raum, die ihm Bandagen anlegten und seine Vitalwerte mit kurzen Handgriffen überprüften. Man bat ihn, auf dem Stuhl -diesem Memoriading- Platz zu nehmen und einer der Ärzte legte mit routinierten Griffen einen Zugang an seinem rechten Unterarm. Je länger diese Prozedur dauerte, desto mehr stieg ihm ein unbehagliches Gefühl im Magen hoch. Zeus und Hades hatten ihm detailliert geschildert, was passieren würde, dennoch begannen seine Hände nervös zu zittern- oder vielleicht genau deswegen?

Nach zehn Minuten verließen die Ärzte den Raum wieder, gefolgt von Hades, sodass nur noch Zeus vor ihm stand und ihn schweigend ansah. Der Blick des Mannes war ungewöhnlich ernst geworden.

„Für einen Rückzieher ist es nun zu spät…“, sagte er leise, woraufhin Linus kurz nickte.

„Das weiß ich“, entgegnete er ruhig. „Ich bin mir seit dem Moment, als ich dieses Parkhaus betreten habe, über meine Entscheidung im Klaren gewesen…“

Ein Lächeln erschien wieder auf den nahezu faltenlosen Zügen des Älteren. „Ich werde da sein, wenn du aufwachst.“

„…werde ich wissen, dass mir mein Gedächtnis gelöscht wurde?“

„Nein.“

Linus schaute einen Moment lang nachdenklich zu Boden, dann sah er wieder zu Zeus auf, hob die Schultern und grinste breit, dass die Elektroden, die an seinen Schläfen auf die Haut geklebt worden waren, unangenehm zogen. „Ist wohl besser so, richtig?“, lachte er.

Zeus erwiderte das Grinsen und nickte. „Richtig.“ Dann drehte er sich zum Gehen.

„Darf ich Sie um etwas bitten?“

Zeus blieb stehen und schaute über die Schulter zurück zu Linus. Der Blonde saß dort auf Memoria, mit festgeschnallten Armen und Fußgelenken, verkabelt mit Elektroden und Geräten, die seine Vitalwerte ständig überprüften. Zeus hatte schon viele Leute so dort sitzen gesehen; die verschiedensten Männer mit unterschiedlichem Aussehen und Alter, aber sie hatten alle einen ähnlichen Ausdruck in den Augen gehabt: die meisten waren erleichtert gewesen, einige hatten ihm verängstigt hinterher gesehen und ein paar hatten ihre Verzweiflung, aus der sie zu ihm oder Hades gekommen waren, immer noch nicht ganz abgelegt, obwohl alle wussten, dass die Qualen ihres alten Lebens nun vorbei sein würden. Doch es war das erste Mal, dass Zeus in den Augen vom jemandem so einen entschlossenen Ausdruck sah- keine Erleichterung, keine Angst, selbst von der Trauer, die vor einer halben Stunde noch dort gewesen war, als Linus ihm von dem Tod seiner Mutter erzählt hatte, war kaum eine Spur mehr zu sehen. Zeus drehte sich ganz zu ihm um und sah ihn fragend an. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, fuhr Linus weiter fort.

„Ich will Dragan töten.“

Zuerst glaubte Zeus, sich verhört zu haben und tatsächlich entglitten ihm kurzzeitig die Gesichtszüge, doch dann fing er sich wieder und sah den Jungen aufrichtig mitleidig an.

„Das wird deine Mutter auch nicht wieder lebendig machen, Linus.“

„Sagt mir derjenige, der für Geld andauernd Menschen umbringt.“, konterte der Blonde spitz und der Kommentar ließ Zeus schmunzeln. Der Junge schien nicht auf den Mund gefallen zu sein und das gefiel ihm. Es schien eine gute Entscheidung gewesen zu sein, genau ihn auszusuchen.

„Ich töte, um die Rache von anderen Menschen zu befriedigen, nicht meine eigene.“

„Bin ich denn kein anderer Mensch?“

Zeus schwieg und ließ die Frage unbeantwortet.

„Ich will dieses Schwein tot sehen, Zeus“, fuhr Linus ernst fort. „Egal, was es kostet.“

Ares ist ein Krieger- im Gegensatz zu Ihrem Blitze schleudernden Thronhengst. Er würde Zeus mächtig in den Arsch treten, schossen die Worte des Jüngeren auf einmal Zeus durch den Kopf und ließen ihn erneut lächeln. Linus schien tatsächlich ein Krieger mit einem unbeugsamen Willen zu sein.

„Ich kann es dir nicht versprechen, aber ich werde mich bemühen, deine Bitte zu erfüllen.“, sagte Zeus und ging die restlichen Stufen zu dem Vorraum hinauf. Der Mann konnte es nicht sehen, aber nun lag tatsächlich eine gewisse Erleichterung in Linus` Zügen; allerdings nur kurz, denn nach wenigen Augenblicken hörte er jemanden durch die Lautsprecheranlage sagen, dass Memoria nun gestartet werde und plötzlich fühlte Linus nur noch Schmerz.

Er wusste nicht, wie es sich anfühlte, von einem Blitz getroffen zu werden, doch er war sich sicher, dass dieses Gefühl, das er für den Bruchteil einer Sekunde verspürte, ehe die Welt um ihn herum Schwarz wurde, einem Blitzschlag ziemlich nah kommen müsste…
 

Das erste, was er bewusst wahrnahm, war ein penetrantes Piepsen, das in regelmäßigen Abständen in seinen Ohren klingelte. Dann begann er wieder seinen Körper zu spüren, jeden einzelnen Knochen, jeden schmerzenden Muskel und es fühlte sich an, als sei er vor einen fahrenden Laster gelaufen und überrollt worden. Stöhnend wollte er sich an den vor Schmerz pulsierenden Kopf fassen, als er auf einmal ein brennendes Ziehen an seinem Arm spürte, das ihn erschrocken die Augen aufschlagen ließ. Zuerst sah er nur grelles, weißes Licht, das ihn blendete, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten und er mehr erkannte.

Er lag in einem weiß gestrichenen Zimmer ohne Fenster- genauer in einem Krankenbett mit hochgeklappten Gittern, die verhinderten, dass er im Schlaf aus dem Bett fiel. Um ihn herum standen Geräte, von denen auch das Piepsen ausging, und nach einem Blick auf seinen rechten Arm, sah er auch den Grund für das Brennen; man hatte ihm eine Kanüle am Handrücken gesetzt, die ihn mit einem Tropf verband, in dem sich eine klare Flüssigkeit befand. Da er seine Rechte dadurch nur eingeschränkt nutzen konnte, hob er deshalb den linken Arm und tastete nach seinem Kopf, der zunehmend unerträglich hämmerte. Er spürte einen dicken Verband, der mehrmals um seinen ganzen Kopf gewickelt worden war.

…war er irgendwo aufgeschlagen? Hatte er etwas gegen den Kopf gekriegt?

Er versuchte sich zu erinnern, kam jedoch zu keiner Lösung, da in diesem Moment die Zimmertür geöffnet wurde und ein blasser Mann mit schwarzen Haaren und einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen eintrat. Zeus, schoss es ihm durch den geschundenen Kopf.

„Ein Glück, du bist endlich aufgewacht.“, begrüßte Zeus ihn, langte nach einem Stuhl und setzte sich an sein Bett. „Wie fühlst du dich?“

Er zuckte mit den Schultern und versuchte sich aufzurichten. Zeus kam ihm kurzerhand zu Hilfe und rückte ihm sein Kissen im Rücken zurecht.

„Mein Kopf tut höllisch weh.“, flüsterte er heiser und räusperte sich. Sein Mund war trocken und sein Hals kratzte, als habe er stundenlang geschrien. Zeus lächelte neben ihm und zuckte hilflos mit den Schultern.

„Kein Wunder, du hast auch ordentlich was abbekommen.“

Er blinzelte. „Was ist denn überhaupt passiert?“

„Weißt du das nicht mehr?“, fragte Zeus und hob verwundert die Augenbrauen. Er schüttelte vorsichtig den Kopf und der Mann seufzte. „Du bist über die alte Brüstung auf der dritten Etage des Parkhauses gefallen- die, die so verrostet ist, erinnerst du dich? Tja, du hast dich zu stark dagegen gelehnt, dann haben sich die Stangen gelöst und du bist ein Stockwerk tiefer gefallen. Hast verdammt viel Glück gehabt, Junge.“, schloss Zeus und sah ihm besorgt in die Augen, dass ihm warm im Gesicht wurde und er verlegen auf die Decke vor sich schaute. „Was wolltest du eigentlich dort oben?“, fügte Zeus stirnrunzelnd hinzu. Er schaute dem Mann nachdenklich ins Gesicht und versuchte sich zu erinnern.

Das Parkhaus? –natürlich, Zeus meinte den Sitz von Olymp… die Organisation, die er sich angeschlossen hatte. Aber Olymp lag doch unterirdisch, was hatte er also auf einem der Parkdecks gewollt? Er dachte ein paar Sekunden angestrengt nach, doch dann schüttelte er frustriert den Kopf.

„Ich weiß es nicht…“, entschuldigte er sich und zuckte mit den Schultern. Wieder seufzte Zeus, doch diesmal klang es mehr belustigt.

„Aber du weißt noch, wer du bist, oder?“

Die Frage ließ ihn erstarren. Wusste er, wer er war? Verzweifelt durchforstete er seine Erinnerungen nach einem Namen, doch auch diesmal war seine Suche erfolglos. Zeus` dunkles Lachen riss ihn aus seinen Gedanken.

„Herrje, der Schlag auf den Hinterkopf war ja schlimmer als gedacht.“, sagte der Gott amüsiert und peinlich berührt wich der Jüngere seinem Blick aus. Kaum ein paar Tage da und schon sowas- das würde er niemandem erzählen!

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Lass den Kopf nicht hängen. Die Hauptsache ist, dass du wieder bei Bewusstsein bist.“, sagte Zeus versöhnlich und beugte sich ihm verstohlen grinsend entgegen. „Du heißt übrigens Ares.“

Flügel stutzen

Nach einer Nacht im Krankenbett fühlte sich Ares viel besser und soweit erholt, dass die Ärzte ihm erlaubten, das Zimmer zu verlassen, wenn er versprach, sich nicht zu überanstrengen. Der Verband wurde am nächsten Tag abgenommen. Zur Verwunderung aller hatte sich Ares bei seinem Sturz keine Platzwunde zugezogen, was ihm selbst am meisten erstaunte- sein Kopf hatte sich angefühlt, als würde er auseinander brechen, wäre der dicke Verband nicht da gewesen, um alles zusammenzuhalten. Als er sich einmal im Spiegel betrachtete, entdeckte er, dass man ihm eine Ziffernfolge in den Nacken tätowiert hatte- zur Identifikation, so wurde es ihm erklärt; jedes Mitglied habe eine solche Tätowierung.

Am merkwürdigsten waren allerdings die Verbrennungen an seinen Schläfen. Die Ärzte beruhigten ihn und sagten, dass sie nichts zu bedeuten hätten und eine Folge der Behandlungen seien. Ares war am Anfang noch misstrauisch gewesen, schob dieses jedoch schnell wieder beiseite und verschwendete keine weiteren Gedanken an die Verbrennungen. Er konnte in seinen Erinnerungen partout keinen Anhaltspunkt auf sie finden und da er nichts von Medizin verstand und die Begründung der Ärzte- auch wenn sie mehr als oberflächlich hingestellt worden war- plausibel klang, hakte er es schlichtweg ab. Sie taten nicht weiter weh, wenn man sie nicht direkt berührte, oder störten in irgendeiner Hinsicht- warum sollte er sich also dann den Kopf über sie zerbrechen?

Drei Tage nachdem er wieder aufgewacht war, kam Zeus in das Zimmer, das ihm nach seiner Entlassung zugeteilt worden war, und führte ihn durch Olymps unterirdische Stadt.

Es waren zwar nur Gänge, die sich endlos und verwirrend aneinanderreihten, allerdings gab es so viele verschiedene Räume und Einrichtungen, dass man hier bequem Untertage hätte leben können. Zeus zeigte ihm die restliche Krankenstation, die Gänge, auf denen sich die Zimmer und kleinen Wohnungen der Mitglieder befanden, Fitnessräume, den Gemeinschaftssaal, und langsam wurde Ares bewusst, dass dieses, im Vergleich hierzu, kleine Parkhaus nur die Spitze eines riesigen unterirdischen Komplexes war, dessen Ausmaße niemandem, der oben über die Straßen ging, bewusst war.

Der Rundgang endete in einer weiteren Halle, in dem sich eine recht ansehnliche Schar von trainierenden Männern aufhielt. Sie standen in kleinen Gruppen zusammen, manche Schwerter in den Händen haltend, andere standen sich in Kampfpositionen gegenüber und warfen sich auf verschiedenste Weisen zu Boden.

Kurz versuchte Ares einen Überblick über das Geschehen zu bekommen, bis ihm Zeus eine Hand zwischen die Schulterblätter legte und ihn mit sanfter Gewalt durch den Raum lotste. Er steuerte auf einen Mann zu, der abseits der anderen stand und ein schwarzes Schwert langsam und konzentriert durch die Luft schwang. Das Licht brach sich zu Ares` Verwunderung rötlich auf dem schwarzen Metall der Klinge und fasziniert verfolgte er das Schauspiel, das sich ihm bot.

„Herk.“, rief Zeus dem Mann von weitem zu, der sein Training sofort unterbrach und sich zu den Herannahenden umdrehte. Er trug eine dunkle Sporthose und ein schwarzes Shirt, dessen Ärmel er ganz hochgekrempelt hatte, sodass seine breiten Schultern noch stärker hervortraten. Seine dunklen Haare waren auf wenige Millimeter herunter geschnitten worden und das Gesicht des Mannes schien von Wetter und Kämpfen gezeichnet und verhärtet zu sein. Er nickte Zeus kurz zu, was dieser ebenso knapp erwiderte. Ares schien er gar nicht zu beachten.

„Herk, hättest du eine Minute?“

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und legte das schwarze Schwert zur Seite. „Sicher.“

„Das ist Ares.“, fuhr Zeus weiter fort und deutete mit der Rechten auf den Jüngeren und zum ersten Mal schaute auch der Andere zu ihm, als habe er erst jetzt gemerkt, dass Zeus nicht alleine gekommen war. „Er wird dein neuer Schüler sein.“, fügte Zeus hinzu, dann drehte er sich zu Ares um. „Herakles ist einer der Besten hier, also stell dich gut an. Er wird dir alles beibringen, was er weiß.“

Ares nickte zögernd. Der Blick dieses Herakles- oder Herk- war unangenehm kühl und abweisend, dass es schon beinahe unerträglich war, ihn auf sich selbst gerichtet zu spüren. Ohne weitere Anweisungen oder nähere Bekanntmachungen verabschiedete sich Zeus und verließ die Halle wieder. Ares hatte ihm noch kurz hinterher geschaut, dann lag sein Augenmerk wieder auf seinem…Lehrer…oder Ausbilder, je nachdem, wie militärisch seine Lehrzeit unter Herk ausfallen würde- und nach seinem Blick zu urteilen, hätte Ares es kein Stück gewundert, wenn er diesen Mann mit ‚Leutnant‘ hätte ansprechen müssen.

Herakles, schoss es ihm wieder durch den Kopf. Der Held der griechischen Mythologie schlechthin, der mit einer Intelligenz und Listigkeit gesegnet war, die selbst die Götter dumm aussehen ließ und stärker als hundert Männer gewesen war- die Statur dafür hatte diese Version hier allemal…

Nachdenklich runzelte Ares die Stirn und musterte seinen Gegenüber, dass dieser mürrisch eine dunkle Augenbraue hochzog.

„Hab ich was im Gesicht?“, brummte Herakles und verschränkte die Arme vor der Brust, sodass sich die Muskeln seiner Oberarme spannten und er noch breiter wirkte. Ares beeilte sich den Kopf zu schütteln und ging zur Sicherheit einen unauffälligen Schritt nach hinten.

„Nein, ich-“, begann er unsicher und versuchte es mit einem beschwichtigenden Lächeln. „Ich habe mich nur gerade gefragt, ob wir uns schon mal begegnet sind…“

Die letzten Worte hatte er unbewusst so betont, dass es wie eine vorsichtige Frage klang, die Herks Braue noch höher wandern ließ. Herk verengte kurz misstrauisch die Augen, dann nickte er jedoch.

„Mehrmals. Ich habe dich vor ein paar Tagen zu Zeus gebracht, als du hier bei uns angefangen hast-“ Er legte eine kurze Pause ein, in der sich ein breites Grinsen auf seine wettergegerbten Gesichtszüge stahl. „und ich hab dich gefunden, nachdem du deinen Freiflug vom Parkdeck genossen hast.“

Augenblicklich wurde Ares warm im Gesicht und er beeilte sich, den Blick abzuwenden. Herk lachte kurz und hart auf und schüttelte den Kopf, dann verschwand der Ausdruck aus seinem Gesicht wieder und im nächsten Moment sah er genauso grimmig wie vorher aus.

„Komm mit.“, sagte er knapp und bei ihm klagen diese harmlosen Worte wie ein energischer Befehl, den Ares widerstandslos befolgte.

Herakles führte ihn in eine andere Ecke, in der große Bodenmatten ausgelegt waren. Zwei Männer kämpften gerade auf diesen, doch als sie den breitschultrigen Mann näher kommen sahen, hörten sie augenblicklich auf und räumten freiwillig das Feld.

Herakles stellte sich in die Mitte einer der Matte und bedeutete Ares, es ihm gleich zu tun.

„Kannst du dich verteidigen?“, brummte Herk, kaum dass der Jüngere bei ihm angekommen war. Dieser blinzelte verwundert und hob die Schultern.

„…ich glaube schon.“, mutmaßte er. Kaum hatte er seine Vermutung geäußert, war der Mann blitzschnell an ihn herangetreten, packte den Jungen an den Schultern und warf ihn zu Boden, als wöge er nicht mehr als ein Stück Papier- alles in allem, hatte das Manöver keine zwei Sekunden gedauert…

Erschrocken holte Ares Luft und unterdrückte nur schwer ein gequältes Stöhnen. Der Sturz war nicht besonders schmerzhaft gewesen, doch Herks Griff glaubte er immer noch an seinen Schultern pulsieren zu spüren. Der Leutnant stand über ihm und beäugte ihn wie einen Käfer, der hilflos auf dem Rücken lag.

„Regel Nummer Eins: Glauben tust du in der Kirche und dieser Ort hier ist weder heilig, noch ein Exil für Schwächlinge.“, erklärte Herakles nüchtern und bot Ares eine Hand an, um wieder auf die Beine zu kommen. „Hier gibt es zwei Fraktionen:“, fuhr der Mann weiter fort und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. „Die, die denken und die, die handeln. Die, die denken, liegen in Schützengräben oder auf Hochhausdächern und zerbrechen sich minutenlang darüber den Kopf, wie sie ihrer Zielperson am elegantesten den Schädel wegblasen und danach ihren eigenen Hintern in Sicherheit bringen können- ich persönlich halte nicht viel von diesen Feiglingen und wenn du vorhast, ein Scharfschütze zu werden, bist du bei mir an der falschen Adresse.“ Er schwieg für ein paar Augenblicke, in denen er Ares abschätzend musterte, dann fügte er schulterzuckend hinzu: „Da es allerdings Zeus war, der dich zu mir geschickt hat, geh ich mal davon aus, dass er dir nicht zutraut, zu denken- bleibt also für dich nur die Fraktion der Handelnden.“

Ares war sich nicht sicher, ob sein Gegenüber diesen Kommentar tatsächlich als Beleidigung gemeint hatte, allerdings empfand er ihn als solche und gerade, als er Luft für einen Einwand holen wollte, sprach Herk- den Jüngeren gekonnt übergehend- weiter.

„Wir stehen unserem Feind direkt gegenüber, wir verkriechen uns nicht und wir erledigen unseren Job nicht aus sicherer Entfernung heraus. Die, die handeln, haben keine Zeit über ihr Vorgehen nachzudenken, sie tun es! Du wirst lernen müssen, instinktiv richtig zu handeln- töten können die meisten; überleben tun nur die wenigsten.“

Er ging ein paar Schritte rückwärts und nahm eine Haltung ein, die Ares stark an eine Kampfposition aus einem Karatefilm erinnerte. „Also merk dir eines: du glaubst nicht, du denkst nicht, du weißt- Regel Nummer Zwei! Ich frage dich noch mal: weißt du, wie du dich verteidigen kannst?“

Es kam Ares ein wenig lächerlich vor, wie dieser Muskelprotz dort mit nach oben gedrehten Handflächen stand und eine miserable Bruce Lee- Imitation ablieferte. Ares hatte diese Filme immer sehr gerne gesehen und konnte den ein oder anderen Kniff sogar selbst anwenden- der Leutnant mochte vielleicht mit diesem faszinierenden Schwert ganz gut umgehen können, aber das hieß ja noch lange nicht, dass er auch das hier gut beherrschte. Der Sturz von gerade bewies noch gar nichts, da hatte ihn dieser Typ nur in einem unfairen Moment überrumpelt. Ares begann zu grinsen, tat es Herakles gleich und nahm dieselbe Position wie er ein.

„Ja, ich weiß, wie ich mich verteidigen kann.“, antwortete er betont und winkte den Mann herausfordernd zu sich- dass dies eine eher schlechte Idee gewesen war, bekam Ares wenige Sekunden später zu spüren. Er hielt diesmal länger durch, keine Frage; um genau zu sein, vier Sekunden und zwei beinahe sanfte Schläge von Herks Linken, dann jedoch setzte der Mann mit atemberaubender Geschwindigkeit einen Fußtritt nach und wieder fand sich Ares auf der harten Matte wieder. Diesmal fiel ihm das Atmen schwerer, da Herk seine Rechte präzise auf seinen Brustkorb runter drückte.

„Regel Nummer Drei:“, knurrte Herakles düster und beugte sich zu ihm hinunter. „Ich hasse Lügner, also gewöhn dir das schnell ab.“ Eine Sekunde lang starrten sie sich in die Augen, dann stand der Mann auf und verließ den Ring der Matte ohne ein weiteres Wort.

Das Gesicht verziehend, richtete sich Ares wieder auf und hielt sich die schmerzende Stelle, gegen die sein Herz wild von innen hämmerte. Atem- und fassungslos sah er seinem Lehrer hinterher.

Ares hörte ein Lachen in seinem Rücken und schnell schaute er über die Schulter zu der Geräuschquelle. Ein dunkelhaariger Mann mit großen Kopfhörern stand in einigen Metern Entfernung am Rand einer anderen Matte und schaute belustigt zu Ares herüber. Sein leises Lachen war pures Salz in seiner frischen Wunde gewesen und wütend starrte Ares zu dem jungen Mann zurück. Dieser musterte ihn noch einen Moment lang, dann schüttelte er grinsend den Kopf, setzte die Kopfhörer auf und wandte sich von ihm ab. Er hörte den Dunkelhaarigen noch kurz etwas summen, das sich stark nach dem Refrain von Pretty fly anhörte, dann war er schon außer Hörweite.

Ares wurde heiß im Gesicht und zähneknirschend kam er wieder auf die Beine.

Dämlicher Affe, dachte er grimmig und sah dem Unbekannten wütend nach.
 

Die Tage der nächsten Wochen liefen in der Regel immer gleich ab.

Früh und zeitig aufstehen, anziehen, müde Knochen zum bescheidenen Frühstück schleppen und den leeren und grummelnden Magen zum Schweigen bringen.

Danach eine Runde Prügel von Herk einstecken- Ares hatte am Anfang noch versucht, diese Prozedur Training zu nennen, doch das, was der Leutnant mit ihm anstellte, wollte beim besten Willen und selbst mit zugekniffenen Augen nicht unter diese Definition fallen. Er hatte sich Herks Regeln zu Herzen genommen und nach kurzer Zeit aufgehört, zu beteuern, dass er sich verteidigen könne- nach der zehnten Widerlegung dieser Behauptung und einer aufgeplatzten Unterlippe, musste auch Ares einsehen, dass er doch ein wenig dick aufgetragen hatte…

Nichtsdestoweniger machte er Fortschritte- kleine, aber beständige und nach zwei Wochen Training schaffte es Ares, eine ganze Minute lang gegen seinen Lehrer im Ring zu bestehen, ehe er wieder mit einem ihm unbekannten Griff auf dem Mattenboden landete.

Mittags hatte er eine Stunde Pause, in der er sich meistens nach oben auf eines der Außendecks des Parkhauses stahl, um seine immer noch zahlreichen Wunden zu lecken und in Ruhe eine Zigarette zu rauchen- seit er hier angefangen hatte, war sein Zigarettenkonsum sehr schnell zusammengeschrumpft, allerdings gönnte er sich diese eine weiterhin mit Genuss. Ares war nicht der einzige, der hier oben Zuflucht suchte und so traf er sich schon bald mit zwei oder drei Mitgliedern regelmäßig auf dem Dach, um mit ihnen zu reden- vorzugsweise wurde über die höheren Tiere und Lehrer bei Olymp gelästert, Missionen besprochen oder man fand irgendein anderes Tratsch-Thema, wobei es bei den meisten um die leichten Mädchen aus der Umgebung ging.

Nachmittags drückte Herakles ihm ein Holzschwert in die Hand und schlug dann auf ihn ein- was nicht weniger schmerzhaft oder fairer war, als mit bloßen Händen zu Boden gerungen zu werden, aber Ares fand an dieser Art zu kämpfen größeren Gefallen, als gar keine Waffe gegen den Leutnant zu haben. Ab und zu entdeckte Ares auch den Unbekannten mit den Kopfhörern in der Trainingshalle und jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen- trotziges Eisblau und amüsiertes Grasgrün- war es wie ein zusätzlicher Schlag ins Gesicht, der Ares` Wut schürte und ihn innerlich zum Berserker mutieren ließ- wie gut, dass er diese überschäumende Energie gewissenhaft an seinem Lehrer auslassen konnte; der darauf folgende reale Schlag war dann sogar noch hilfreich, um wieder klar denken zu können.

Abends fiel er dann wie ein Stein in sein Bett und schlief sofort ein- nur um am nächsten Tag denselben Wahnsinn durchzumachen: aufstehen, essen, Prügel, Zigarettenpause, lästern, Prügel, ärgern, Prügel, schlafen…

Dann, einen Nachmittag, nachdem Herk ihm beim Training mit dem Holzschwert so stark gegen die Arme geschlagen hatte, dass Ares das Schwert zitternd aus den verkrampften Händen gerutscht war und Herk seinem Schüler mit einem genervten Schnauben zehn Minuten Pause eingeräumt hatte, saß er am Rand einer Matte und sah konzentriert zu der gegenüberliegenden Ecke der Halle, in der dieser provokante Typ mit den Kopfhörern- dessen Name Ares immer noch nicht wusste- mit einem Schwert rumfuchtelte, was drei weitere Mitglieder mit staunenden Augen innig und aufmerksam verfolgten. Ares hatte ihn schon öfters beobachtet und dieser lechzende Fanklub, der an seinen Bewegungen wie zäher Schleim zu kleben schien und ihn vergötterte, war immer in seiner Nähe. Angewidert rümpfte Ares die Nase und verschränkte die Arme. So toll war dieser Lackaffe nun auch wieder nicht…

„Was ist los, Ares? Du siehst aus, als hättest du etwas Schlechtes gegessen…“, hörte er jemanden neben ihm auf einmal sagen und grummelnd sah Ares zu demjenigen hoch.

Hermes grinste und setzte sich neben Ares auf den Boden. Der junge Mann gehörte zu den Mitgliedern, mit denen er sich manchmal auf dem Dach traf und sich über irgendeinen unwichtigen Kram unterhielt. Hermes war ein paar Jahre älter als Ares, über einen Kopf kleiner und im Gegensatz zu den ganzen anderen Kriegern hier im Raum eher schmächtig und zierlich gebaut, sodass er schon allein deshalb wie ein Specht unter Raben auffiel- seine blau gefärbten Haare, die unter seiner schwarzen Wollmütze hervorleuchteten, taten ihr übriges. Ares sah ihn nicht oft hier, da er- um Herks Worte zu gebrauchen- zu der Fraktion gehörte, „der man zutraute, zu denken“ und somit den halben Tag in der außerhalb gelegenen Schießhalle zubrachte.

Mürrisch zuckte Ares mit den Schultern und sah weiterhin in die Ferne. Herakles hatte die Halle vor ein paar Minuten verlassen, um kurz mit Zeus zu reden. Sein Schwert lehnte neben Ares an der Wand und der Leutnant hatte ihm eingebläut, gut auf die Klinge aufzupassen- als ob es hier jemand wagen würde, Herks Schwert auch nur anzufassen oder gar zu stehlen, dachte Ares und musste innerlich lachen.

„So wie du aussiehst, hast du wieder ordentlich einstecken müssen, hm?“, feixte Hermes weiter, als er immer noch keine Antwort erhielt. Normalerweise konnte er den Jüngeren damit immer aus der Reserve locken, wenn er auf sein Training anspielte, doch diesmal blieb auch dabei jede Reaktion aus, sodass Hermes stirnrunzelnd Ares` Blickrichtung einschlug und verwundert die Brauen hob. „Sag bloß, du hast wegen Orpheus eine so brillante Laune…?“, mutmaßte er überrascht und tatsächlich legte Ares nun selbst die Stirn in Falten und sah zu seinem Nebenmann.

„Wer?“

Hermes deutete auf den Mann mit den Kopfhörern. „Orpheus?“, fragte er genauso ungläubig zurück und schüttelte lachend den Kopf. „Moment, wusstest du etwa seinen Namen noch gar nicht?“

„Kann mir ja schlecht den Namen von jedem Idioten hier merken.“, gab Ares schulterzuckend zurück, woraufhin Hermes noch ungläubiger guckte.

„Tja, diesen Idioten solltest du dir aber lieber merken- den kennt sogar bei uns jeder. Zurzeit ist Orpheus der beste Schwertkämpfer, den Olymp hat- er soll, Gerüchten zufolge, sogar besser als Herakles und Zeus sein.“ Wieder sah Hermes zu dem Mann rüber, den er als Orpheus vorgestellt hatte, Ehrfurcht und eine tiefe Bewunderung in seinen Augen. Ares dagegen verdrehte seine nur genervt und stand auf.

„Du solltest nicht so viel auf Gerüchte geben, Hermes.“, erwiderte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch Hermes stand auf und klopfte sich den Staub von der schwarzen Jeans.

„Glaub mir, Ares, der steht meilenweit über dir…“, begann er.

Orpheus hatte sich in der Zwischenzeit jemandem aus seinem Fanklub gekrallt und kämpfte nun gegen diesen. Nach wenigen Schlägen hatte er seinen Gegner entwaffnet und anerkennend begannen die anderen, die um die beiden herumstanden, zu murmeln und beipflichtend zu nicken. Orpheus bot seinem Gegenüber die Hand und grinste so breit, dass es bei Ares selbst aus dieser Entfernung einen Würgereiz auslöste. Hermes sah ebenfalls zu den Umstehenden und lächelte. „Weißt du, er ist für viele ein Vorbild und- hey… hey, was hast du vor?!“

Ares hatte sich in Bewegung gesetzt und ging geradewegs durch die Halle und als Hermes erkannte, was er in seiner Rechten hielt, stockte ihm vor Entsetzen der Atem.

„Bist du wahnsinnig?“, rief er mit aufgerissenen Augen und rannte hinter Ares her. „Das ist Herks Schwert! Verdammt, mach keinen Scheiß, Ares!“ Als er ihn eingeholt hatte, versuchte Hermes ihn am Arm zurückzuhalten, doch der Blonde ließ sich nicht aufhalten und ging immer weiter auf Orpheus zu, den Blick starr auf sein Ziel gerichtet. „Ares, bit-“

„Hey, Minnesänger!“

Als hätte jemand an der Lautstärke gedreht, wurde es auf einmal leise in der Halle und Hermes fiel alle Farbe aus dem Gesicht. Ares stand am anderen Ende der Matte, auf der Orpheus gerade noch trainiert hatte und sah mit wütend verengten Augen zu diesem herüber. Der Angesprochene drehte sich zu Ares um und hob verwundert die Brauen. Währenddessen startete Hermes einen letzten Versuch, seinen Freund aus der Gefahrenzone zu bringen- ein unmögliches und absurdes Unterfangen, wenn man den Größen- und Dickkopfunterschied beachtete; Hermes hätte auch genauso gut versuchen können, einen ausgewachsenen Bullen von einer saftigen Weide herunterzuziehen.

„Ares, lass den Mist und komm!“, zischte der Kleinere durch aufeinander gebissene Zähne und warf entschuldigende Blicke zu Orpheus, der sich das theaterreife Spektakel mit hochgezogener Braue anschaute. Sekundenlang war nur Hermes` flehende Stimme zu hören, dann sah Orpheus zu Ares.

„Du bist Herks neuer Schüler.“, stellte er lächelnd fest, was Ares` Zorn noch weiter anfachte. „Was willst du von mir?“

Nun legte sich auch auf Ares` Züge ein Grinsen. „Man erzählt sich, dass du hier der Beste seist…“

Hermes gab seine Bemühungen, Ares wegzuzerren, auf und starrte ihn, Böses ahnend, aus geweiteten Augen an. Orpheus` Braue war derweil wieder tiefer gerutscht und bildete nun mit der anderen zusammen eine tiefe Falte auf seiner Stirn. Ares zuckte auf die stumme Frage hin mit den Schultern und deutete mit den Daumen auf sich selbst. „Tja, ich weiß, dass ich besser bin.“

Seiner Gesichtsfarbe folgte nun auch Hermes` Kinnlade den Weg nach unten und wäre vermutlich geräuschvoll zu Boden gefallen, hätte sie es gekonnt. Es wurde noch stiller und alle Blicke ruhten auf Ares, der ein siegessicheres Grinsen zur Schau stellte. Orpheus` Gesichtszüge entspannten sich und er sah seinem Kontrahenten neutral in die glühenden Augen, bis er fassungslos mit dem Kopf schüttelte und sich schweigend wieder zum Gehen umdrehte.

Hermes wollte schon erleichtert ausatmen und einen erneuten Fluchtversuch wagen, als Ares plötzlich die schwarze Klinge geräuschvoll aus der Schwertscheide zog und auf Orpheus richtete, dass dieser in seiner Bewegung gefror.

„Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede, Sackgesicht.“, knurrte Ares wütend.

Das einzige Geräusch, was man daraufhin hörte, war Hermes` Hand, die lautstark gegen seine eigene Stirn klatschte. Langsam drehte sich Orpheus wieder zu Ares um und sah verändert auf die Klinge herab, die zwischen den Männern auf Brusthöhe in der Luft ruhte und in dem grellen Neonlicht rötlich schimmerte, dann fixierten Orpheus` grüne Augen Ares und ein unglaublicher Zorn lag in ihnen.

„Dir ist schon klar, dass Herakles dich dafür umbringen wird, dass du sein Schwert gezogen hast, oder?“ Trotz der sichtlichen Wut in seinen Augen, war Orpheus` Stimme weiterhin neutral, als rede er über das Wetter. Ares` Mundwinkel wanderten weiter nach oben.

„Dann muss ich mich halt damit beeilen, dir eins aufs Maul zu geben, bevor Herk zurückkommt…“

Die umstehenden Männer hielten gemeinschaftlich die Luft an. Ein paar Mitglieder schüttelten fassungslos die Köpfe, einige machten Anstalten, in das Geschehen einzugreifen, wurden jedoch von anderen zurückgehalten, die selber breit grinsten und mit sichtlichem Interesse dem heran rollenden Streit entgegenfieberten. Wieder vergingen Sekunden, in denen sich die beiden Kontrahenten stumm ansahen, doch dann verpuffte der Zorn aus Orpheus` Augen und er begann zu lächeln.

„Du willst also gegen mich kämpfen?“ Er hob die Schultern und drehte die Handflächen nach oben. „Von mir aus.“

Nun begann das Murmeln und Ares grinste triumphierend. Mit einer kurzen Handbewegung scheuchte Orpheus die anderen Anwesenden von der Matte, legte sein Schwert weg und stellte sich in vier Metern Entfernung Ares gegenüber.

Er winkte ihm auffordernd zu. „Dann greif an.“

„Du bist unbewaffnet.“

„Das ist nicht weiter schlimm.“, entgegnete Orpheus schulterzuckend und setzte sich die Kopfhörer auf, aus denen laute Musik drang, die Ares selbst von seiner Position aus hörte. Wütend verengte er die Augen. Wollte ihn dieser Typ verarschen?

„Es wäre gesünder für dich, mich ernster zu nehmen!“, rief er Orpheus zu, doch dieser reagierte gar nicht darauf, was Ares noch mehr zum kochen brachte.

Keinen Augenblick zögernd riss er das Schwert hoch und stürmte auf Orpheus zu. Kurz bevor er ihn erreicht hatte, veränderte Orpheus blitzschnell seine Position, wich dem ersten Schwertstreich aus, schlug den folgenden mit der bloßen Hand zur Seite und brachte Ares mit einer Kombination aus Fußtritt und Handschlag zu Fall. Dieser konnte seinen Sturz noch in letzter Sekunde abfangen, war aber gezwungen, auf Abstand zu gehen. Zähneknirschend sah er zu seinem Kontrahenten, doch es war schon zu spät.

Mit zwei Schritten war Orpheus bei ihm, schlug mit der Faust gegen seine Brust, sodass Ares die Luft aus der Lunge getrieben wurde und griff mit der anderen Hand nach dem Griff von Herakles` Schwert. Ares krümmte sich leicht und versuchte mit weit aufgerissen Augen nach Sauerstoff zu schnappen, doch Orpheus ließ ihm dazu keine Zeit- blitzschnell trat er mit dem Schienbein gegen Ares` ungeschützte Flanke, sodass dieser zur Seite wegknickte und nun völlig den Halt verlor. Ungebremst schlug Ares auf dem Boden auf und sein Körper schmerzte so sehr, dass es Orpheus mühelos gelang, ihm das schwarze Schwert aus den kraftlosen Händen zu reißen. Allerdings dachte Ares noch lange nicht ans aufgeben! Knurrend wollte er sich wieder aufrichten, als sich auf einmal Orpheus` Hand um seinen Hals schloss und ihn so zurück auf die Matte zwang.

Ares wagte nicht zu atmen. Er hätte dank dem Aufprall und dem Griff sowieso keine Luft bekommen und so starrte er nun mit geweiteten Augen in die von Orpheus, die einen halben Meter direkt über ihm ruhten. Der unheimliche Zorn war wieder zurückgekehrt. Er hatte die Kopfhörer abgenommen, sodass die Musik jetzt lauter zu hören war und Ares neben dem Rauschen in seinen Ohren nun auch schnelle Bässe und schrille Gitarrenriffs vernahm.

„Ich habe nichts gegen eine gesunde Portion Selbstvertrauen…“, raunte Orpheus beherrscht, dennoch erhöhte sich der Druck auf Ares` Hals vielsagend. „Aber was ich auf den Tod nicht ausstehen kann, sind Menschen wie du, die ihre Grenzen nicht kennen. Du bist besser als ich? Ja, was Frechheit und Respektlosigkeit angeht, vielleicht- aber du bist noch Jahrzehnte davon entfernt, mich in einem Kampf zu schlagen!“ Er kam noch ein Stückchen näher und Ares sah in dem dunklen Grün seiner Iris den Zorn Wellen schlagen, der sich mit jedem Wort weiter in seiner Stimme entfaltete.

„Du bist arrogant und eingebildet und wenn du meinst, damit weiterhin durchkommen zu können, dann bist du schneller tot, als du dein verdammtes Maul aufreißen kannst- ‚know your place‘ heißt es hier! Ich bin mir sicher, dass Herk dir das schon gesagt hat, also halte dich daran.“ Trotzig presste Ares die Lippen aufeinander. Er konnte Orpheus von Sekunde zu Sekunde weniger leiden…

„Geh mir in Zukunft aus dem Weg und komm nie wieder auf die Idee, mich herauszufordern.“, fuhr Orpheus weiter fort, dann lockerte er seinen Griff und stand auf. Ares holte zweimal tief Luft, rappelte er sich wieder auf und ballte wütend die Fäuste.

„Ich werde besser sein als du, das schwöre ich dir!“, zischte er und sah zu Orpheus hoch, der sich in der Zwischenzeit nach der Schwertscheide gebückt hatte und die schwarze Klinge wieder in diese vorsichtig zurückschob. Sein Blick, den er Ares nun entgegenwarf, war noch viel schlimmer, als jede Ohrfeige oder jedes herablassende Lachen.

„Lerne erst einmal den Unterschied zwischen einem Schwert und einem Baseballschläger -mit deiner Vorführung gerade hast du Herakles aufs äußerste blamiert und beleidigt…“

Orpheus ging auf Hermes zu, der inmitten der anderen Schaulustigen gestanden hatte und drückte ihm Herks Schwert mit Nachdruck in die Hand. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ Orpheus dann die Halle, in die Herakles in diesem Moment zurückkehrte.

Sich beweisen

Orpheus hatte kein Stück untertrieben, als er Ares prophezeite, von Herk umgebracht zu werden- auch wenn diese Exekution nur rein verbal stattfand, fühlte sich Ares danach um zehn Zentimeter geschrumpft und tagelang wagte er es nicht mehr, seinem Lehrer in die Augen zu sehen. Ares` zurückhaltendes Verhalten verflog allerdings wieder recht schnell und auch wenn er weiterhin vorsichtig gegenüber Herakles war, so gab er sich vor den Anderen nach zwei Tagen schon keine Blöße mehr und verkündete mit Trotz in der Stimme, dass er nichts bereue und er weiterhin an seinem Schwur festhielte- und das sollte keine provozierende Floskel bleiben, denn er begann tatsächlich nach dem Zwischenfall mit Orpheus wie ein Irrer zu trainieren.

In den darauf folgenden Tagen und Wochen begann Ares langsam hinter die harte Maske von Herakles zu blicken und stellte mit Verwunderung fest, dass dieser kalte Klotz von Mann weitaus weniger von einem brachialen Leutnant hatte, als er zu Anfang noch angenommen hatte. Herk verdrosch ihn zwar immer noch regelmäßig beim Training, allerdings war er mit der Zeit immer schneller mit Ares` Leistungen zufrieden, ließ das ein oder andere Mal ein Lob beiläufig fallen und manchmal sah Ares seinen Lehrer sogar lächeln- eine nervöse Zuckung, die überhaupt nicht in das sonst so kühle Gesicht des Kriegers passen wollte.

Wenn Ares nicht trainierte, saß er in einer Ecke der Halle und schaute Orpheus bei seinem Training zu. Jede Bewegung, jedes Niederfahren seiner Klinge, jede Schrittfolge beobachtete Ares kritisch und versuchte sich die Abfolgen zu merken. Er war so konzentriert, dass er blinzelnd aufsah, als Herk direkt vor seiner Nase auf einmal mit den Fingern schnipste. Der Ältere runzelte die Stirn und sah seinem Schüler in die fragenden Augen.

„Egal was du vorhast, Junge… schlag` s dir aus dem Kopf.“, brummte er, reichte Ares die mitgebrachte Wasserflasche und gönnte sich selbst einen Schluck aus seiner eigenen. Gedankenversunken öffnete Ares die Flasche, machte allerdings keine Anstalten, aus ihr zu trinken. Sein Blick ruhte erneut auf Orpheus, der sich wieder einen Trainingspartner gesucht hatte und nun gegen ihn antrat. Dieser schien mehr drauf zu haben- immerhin konterte er Orpheus` Schläge viel präziser und schneller, als die ganzen anderen Deppen aus seinem Fanklub…

Ares deutete auf die beiden Kontrahenten. „Ist Orpheus eigentlich auch ein Ausbilder?“, fragte er Herk, der daraufhin in die gedeutete Richtung schaute. Der Mann schüttelte den Kopf.

„Nein, so kann man das nicht nennen.“

„Aber was ist er dann?“

„Er ist ein Springer.“ Und auf Ares` fragenden Blick hin, zuckte Herk mit den Schultern und fügte hinzu: „Das ist eine besondere Stellung hier bei Olymp. Normalerweise hast du einen festen Partner, mit dem du auf Missionen gehst und trainierst, aber bei den Springern ist das anders. Sie haben mehrere Partner, also auch mehrere Teams, die meistens alle verschiedene Vorteile und Schwerpunkte haben. Wenn du so willst, ist Orpheus ein Allroundtalent.“ Herk deutete auf den jungen Mann, gegen den Orpheus schon seit unglaublichen drei langen Minuten kämpfte. „Das ist einer seiner Partner, genauso wie der andere da, der an der Wand lehnt.“

Ares hatte schweigend zugehört und Orpheus dabei nicht aus den Augen gelassen. Nun nickte er langsam. „Und die bildet er also aus?“

Er hörte Herk belustigt lachen. „Die beiden sind vollwertige Mitglieder von Olymp, einer davon war selbst mein Schüler. Wenn du es so willst, sind wir Ausbilder für das Grobe zuständig- Orpheus verpasst seinen Partnern lediglich noch einen Feinschliff.“ In diesem Moment fiel das Schwert des Anderen hell klirrend zu Boden. Orpheus hatte schon wieder gewonnen, doch das rief in Ares schon lange keine Bewunderung oder gar Neid mehr hervor. Dieser Mann, der Orpheus nun geschlagen lächelnd die Hand reichte, sollte tatsächlich ein Krieger wie Herakles sein? Wenn ja, dann musste Orpheus viel besser als die meisten hier sein…

„Für viele ist Orpheus ein Vorbild und die meisten Neulinge haben das Ziel, sein Partner zu werden. Wer es bis dahin geschafft hat, kann etwas auf sich halten.“ Herk sah erwartend auf Ares herab, doch der Blonde sagte nichts zu seiner Lobpreisung. Ares beobachtete noch ein paar Sekunden lang den legendären Mann mit den Kopfhörern, dann sah er zu seinem Lehrer hoch.

„Gibt es noch mehr Springer?“, fragte er und Herk hob verwundert die Brauen. So ruhig hatte er Ares noch nie erlebt, wenn es in ihren Unterhaltungen um Orpheus ging oder dieser nur physisch im Raum anwesend war- normalerweise war das schon Grund genug, um diesen Hitzkopf an die Decke gehen zu lassen…

„Zurzeit ist er der Einzige. Hades überlegt, einen seiner Schützen in diesen Rang zu erheben. Gerüchten zufolge soll es sich dabei um D handeln- du kennst ihn, dieser unterkühlte Typ mit der Beretta…“ Ares nickte verstehend. Er war diesem merkwürdigen ‚Dark Amor’ bis jetzt nur selten begegnet, aber diese wenigen Momente hatten schon ausgereicht, damit sich sein Gesicht in Ares` Gedächtnis eingebrannt hatte.

Orpheus war in der Zwischenzeit zum Rand der Matte gegangen, wo er sein Schwert in die Schwertscheide zurückschob, sich dankend ein Handtuch reichen ließ und sich damit über das verschwitzte Gesicht fuhr. Durch Zufall sah er in die Ecke, in der Herk und Ares standen und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Seit ihrem Zusammenstoß lag in Orpheus` Augen kein Funken Belustigung mehr; das Grün schien dunkler und bedrohlicher geworden zu sein und wenn Ares genauer hinsah, erkannte er, dass Orpheus jedes Mal seine Lippen zu farblosen Strichen aufeinander presste, als müsse er sich um Ruhe beherrschen. Ares` Blick war weiterhin feindselig und von Trotz und Selbstbewusstsein getränkt.

Der Augenkontakt, der mehr als tausend Worte verriet, hielt nur kurz, dann wandte sich Orpheus ab, setzte seine schwarzen Kopfhörer auf und verließ die Halle. Ares sah ihm noch einen Moment lang nach, dann stand er auf und drehte sich seinem Lehrer zu.

„Herk, was muss man alles tun, um ein Springer zu werden?“

Sein Lehrer brauchte einen Augenblick, um den Sinn hinter seinen Worten zu verstehen, dann verengten sich Herks Augen und energisch schüttelte er den Kopf.

„Ares, denk erst gar nicht daran!“, knurrte er, doch der Blonde ließ sich von der Warnung nicht einschüchtern. Ernst trat er einen Schritt auf den Älteren zu.

„Herk, bitte! Ich will es versuchen!“

„Du wirst dich damit schwer langlegen.“

Nun schüttelte Ares mit dem Kopf und machte eine weit ausgreifende Handbewegung. „Das ist mein Problem. Ich will gegen Orpheus kämpfen und das kann ich nur, wenn er mich als ebenbürtig ansieht- also, was muss ich anstellen, um diesen verdammten Rang zu erhalten?“

In Ares` hellem Irispaar funkelte es entschlossen und für Sekunden starrten sich die beiden nur stumm an, dann gab Herakles seufzend auf und fuhr sich über seinen Dreitagebart.

„Du bist der nervigste Bastard, den Zeus mir je zugeteilt hat…“, brummte er schlecht gelaunt und stellte seine Flasche beiseite. „Du willst unbedingt ein Springer werden? Das wird nicht einfach werden, das sag ich dir jetzt schon!“

„Ich werde es versuchen.“, entgegnete Ares noch einmal ernst und als Herk ihn diesmal ansah, konnte der Krieger ein Schmunzeln nicht länger unterdrücken. Dieser Junge war größenwahnsinnig- nicht einmal drei Monte hier und schon setzte er sich die unbequemsten Ziele…

Der Leutnant schaute sich kurz in der Halle um, dann deutete er auf einen Mann, der nicht weit von ihnen entfernt stand und mit einem anderen redete.

„Siehst du den Typen mit den hellbraunen Haaren dort? Er hat `nen halbes Jahr vor dir hier angefangen und steht, wenn du so willst, in der Rangordnung über dir.“ Er sah kurz zu Ares, der verstehend nickte. „Fang mit dem an, wenn du dich hocharbeiten willst. Mehr kannst du nicht tun; die eigentliche Entscheidung, ob du ein Springer wirst, liegt allein bei Zeus und Hades.“
 

„Hey, Orpheus, hast du schon das Neuste gehört?“

Fragend sah der Angesprochene zu Jason auf und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr dieser weiter fort: „Dieser Neue von Herk- Ares- hat schon wieder einen auf die Bretter geschickt.“

Stirnrunzelnd stockte Orpheus in der Bewegung, seine Bandagen zu wickeln. Er sah, wie das Lächeln seines Partners im Sekundentakt breiter wurde und Orpheus bemühte sich, sein folgendes Schulterzucken so gleichgültig wie möglich wirken zu lassen.

„Er ist ein paar Ränge aufgestiegen, na und?“, entgegnete er gelangweilt und wandte sich wieder den langen Bandagen zu. „Wenn du mich fragst, wird das seinem Ego nicht gerade gut tun. Der Typ stirbt noch irgendwann an seinen Größenwahn.“

„Es mögen vielleicht nur ein paar Ränge sein, aber hast du mal dabei die Zeit bedacht, die er erst hier ist?“, fragte Jason ungläubig, während er sich streckte und seine Arme dehnte. Wieder zuckte Orpheus nur mit den Schultern.

„Zeus hat schon immer ein Händchen für talentierte Leute gehabt…“

„Dann gibst du also zu, dass du ihn für gut hältst?“, mutmaßte Jason grinsend, was ihm einen ernsten Seitenblick des Springers einbrachte.

„Dass ich ihn für talentiert halte, bedeutet noch lange nicht, dass ich ihn für gut halte.“, brummte Orpheus und ballte zum Test seine bandagierte Hand zur Faust, dann sah er wieder zu Jason auf. „Ich gebe zu, dass ich ihm weitaus weniger zugetraut habe, aber ich halte ihn immer noch für unausstehlich und arrogant.“ Seufzend stand er auf und ließ seine Schulter kreisen. „Wenn er sein Gehabe nicht bald ändert, prophezei ich dir, dass er vielleicht noch zwei Ränge schafft, aber dann ist Schluss- selbst, wenn Herk ihn trainiert.“

„Herakles hat bis jetzt aus jedem einen guten Krieger machen können… du müsstest das doch eigentlich am besten wissen, oder?“, entgegnete Jason vorsichtig. Orpheus antwortete ihm nicht, allerdings sah Jason in den grünen Augen seines Partners, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte. Also versuchte er wieder auf das alte Thema zurückzulenken.

„Man erzählt sich überall, dass Ares es sich in den Kopf gesetzt hat, ein Springer zu werden.“

Nun schaute Orpheus sichtlich verwundert und hob eine dunkle Augenbraue. Ein paar Sekunden vergingen, dann legte sich endlich ein Grinsen auf seine mürrischen Züge und Jason erkannte in seinem Gegenüber seinen alten, immer gut gelaunten Partner wieder.

„Tja, dann solltest du vielleicht aufpassen, dass er nicht bald dich herausfordert.“, gab dieser lachend zurück, woraufhin Jason verwirrt die Stirn in Falten legte.

„Hast du nicht gerade noch gesagt, dass du ihm keine drei Ränge mehr zutraust und nun glaubst du, dass er es tatsächlich bis zum Springer schaffen könnte?“

„Herk scheint ihm zu vertrauen, ansonsten würde er es nie zulassen, dass sein Schüler sich so ein Ziel setzt. Ich halte immer noch an dem fest, was ich über ihn denke, aber du hast es ja selbst gesagt: Herks Zöglinge sind immer für eine Überraschung gut und ich bin bereit, mich überraschen zu lassen.“ Jason sah verdutzt zu Orpheus, dann schüttelte er grinsend den Kopf.

„Ich habe wirklich keine Ahnung, was dieser Typ mit euch anstellt, was andere Ausbilder nicht auch tun, aber ihr Schüler hinterlasst ohne Ausnahme bei allem einen bleibenden Eindruck- du und Theseus seid wohl der beste Beweis dafür, hm?“, stellte er lachend fest und streckte sich ein letztes Mal. „Können wir dann loslegen?“

Orpheus` Grinsen sprang nun auch auf seine Augen über. „Was denn, so scharf darauf, einen auf den Deckel zu kriegen?“, feixte er und stellte sich auf die Matte. Jason folgte ihm und klatschte grinsend in seine ebenfalls bandagierten Hände. „Denk dran, die letzten Male habe ich dich im Kickboxen geschlagen.“

„Dann sollte ich das nicht zur Gewohnheit werden lassen…“, entgegnete Orpheus, setzte seine Kopfhörer auf und griff mit einem blitzschnellen Tritt an, den Jason mit dem Unterarm abwehrte.
 

Die Monate vergingen und nach einem weiteren halben Jahr stand Ares seinem Lehrer im Ring gegenüber. Er hatte eigentlich noch lange nicht den Rang erreicht, um sich mit Herk messen zu dürfen; eigentlich, aber Ares hatte so schnelle Fortschritte gemacht, dass es sich selbst bei den Schützen herumgesprochen hatte- die meisten Gerüchte waren dank Hermes bis an die Schießstände geschwappt- dass es ein Neuer in Rekordverdächtiger Zeit geschafft hatte, sich einen Namen unter den Mitgliedern von Olymp zu machen.

Konzentriert legte Ares die zweite Hand an den langen Schwertgriff und balancierte seine Körperhaltung aus. Es war kein Kampf um den Rang, allerdings hatte es Ares in den letzten Kämpfen gegen Herakles immer mehr geschafft, seinen Lehrer ins taumeln zu bringen und einmal hatte der Ältere kurz davor gestanden, auf die Knie zu sinken…

Seitdem war Herk noch konzentrierter und ernster an ihr Training herangegangen und hatte das Tempo gewaltig angezogen, sodass jede Konfrontation, jeder Kampf zwischen ihnen eine neue Herausforderung für Ares darstellte, in der er sein bisheriges Wissen gnadenlos umsetzen musste, wenn er nicht in kürzester Zeit am Boden liegen wollte. Er sah, wie der breitschultrige Mann die Muskeln anspannte und Ares machte sich ebenfalls bereit.

Dann griff Herk an.

In weniger als einer Sekunde hatte er Ares erreicht und keinen Lidschlag später klirrten die Schwerter aufeinander. Ares wich keinen Schritt zurück, parierte konzentriert die Schwertstreiche der schwarzen Klinge und wartete geduldig auf eine der wenigen Lücken in Herks Stakkato. Einer seiner Streiche kam aus einem weniger günstigen Winkel, sodass es Ares schaffte, die Klinge mit seiner zu verkeilen und so den Angriff seines Lehrers zu stoppen. Für einen Moment, in dem sie sich musterten, bewegte sich keiner der beiden, dann löste Herakles sein Schwert mit einem Ruck und ging drei Schritte rückwärts- Fehler! , dachte Ares und ließ seinem Gegner keine Luft zum Atmen.

Sofort setzte er nach, ließ sein weitaus schmuckloseres Schwert auf Herks Seite niederfahren und zwang ihn so in eine defensive Position. Seine Angriffe waren nicht weniger schnell und er fühlte Stolz in sich aufsteigen, als er beiläufig die aufeinander gepressten Lippen seines Lehrers wahrnahm. Ares versuchte aus allen möglichen Winkeln heraus anzugreifen, allerdings war Herks Deckung unglaublich stark und er hatte den Eindruck, als wisse Herk genau, wann und wo Ares als nächstes zuschlagen würde. Wütend presste er die Kiefer aufeinander. So würden sie nicht weiterkommen- sie waren in einer Pattsituation…

Ares konnte nichts anderes tun, als auf Abstand zu gehen und erst jetzt merkte er, wie schnell sein Herz raste und dass sich der Schweiß in seinem Nacken sammelte. Tief einatmend sah er zu Herk, dessen Gesicht ebenfalls in dem grellen Neonlicht der Halle glänzte.

„Was dagegen, wenn ich `nen Gang höher schalte?“, rief er seinem Lehrer leicht keuchend zu. Herk begann zu grinsen und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn.

„Kannst du das Echo vertragen?“, konterte er ebenfalls etwas atemlos und als Antwort legte sich ein breites Lächeln auf die Züge des Jüngeren, der im nächsten Bruchteil einer Sekunde wieder auf seinen Lehrer zu rannte und das Schwert in die Rechte wechselte. Ares schlug einmal zu, was Herk wieder mit Leichtigkeit abwehrte und ließ dann einen Tritt in die freigewordene rechte Flanke folgen- allerdings hatte er die Wucht seines eigenen Schwertstreiches überschätzt. Zu seiner Verärgerung musste er feststellen, dass Herk doch nicht beide Hände an seinem Schwertgriff brauchte, um Ares` Angriff abzufangen…

Herks rechter Arm wehrte Ares` Tritt ab und schlug sein Bein mit so einer Kraft zurück, dass Ares das Gleichgewicht verlor und sich nur noch mit einem uneleganten Abrollen über die Schulter retten konnte- wertvolle Sekunden, die er dadurch verlor und die Herk sofort für sich nutzte. Kaum hatte Ares sich wieder orientiert, tauchte der Hüne über ihm auf und Ares blieb nichts anderes übrig, als in seiner knienden Haltung das Schwert hochzureißen und so die niederfahrende Klinge aufzuhalten. Das rot schimmernde Schwarz war nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht zum Stehen gekommen. Seine angespannten Muskeln zitterten, schmerzten, dennoch versuchte er sich mit ganzer Kraft gegen den Druck des Schwertes zu lehnen.

„Ich dachte, du wolltest einen Gang höher schalten.“, hörte er Herk sagen. „War ja `nen kurzes Vergnügen- ein halbherziger Tritt und das war’s?“ Ein hartes Lachen entrang seiner Kehle und ließ Ares wütend aufblicken.

„Wart` s… ab!“, presste der Jüngere zähneknirschend hervor, sammelte all seine verbliebenen Kräfte und drückte Herks Schwert so ruckartig von sich weg, sodass sein Lehrer erstaunt ein paar Schritte rückwärts stolperte. Jetzt!

Mit einem Satz war Ares vollends auf den Beinen, stürmte auf den strauchelnden Hünen zu und ließ seine Klinge mit einem zornigen Aufschrei niederfahren. Herk war sichtlich überrumpelt, wehrte den Angriff dennoch wieder ab, woraufhin Ares sofort eine Kombination aus Schlägen und Tritten folgen ließ, bei der es glatt an ein Kunststück erinnerte, diese mit einem Schwert in der Hand auszuführen oder gar abzuwehren- beides gelang, obwohl Ares den Angriff weitaus besser umsetzte, als Herks Versuch, ihn zu parieren. Der letzte Schlag durchbrach seine eiserne Verteidigung endgültig, sodass Herakles ins Taumeln geriet. Ares setzte blitzschnell nach, traf seine bewaffnete Hand, die den Griff um sein Schwert augenblicklich löste und brachte seinen Gegenüber mit einer Hebelbewegung, die auch aus jedem Lehrbuch hätte stammen können, zu Fall. Im selben Moment, in dem Herk auf dem Boden aufschlug, ertönte auch das helle Klirren der schwarzen Klinge, die einen knappen Meter neben ihm zum Liegen kam.

Schwer atmend und mit aufeinander gepressten Lippen, kniete Ares neben seinem Lehrer und sah auf ihn herab, die Linke leicht um Herks Hals geschlossen- das Zeichen, dass der Kampf entschieden war. Für Sekunden geschah nichts, dann verschwand der erstaunte Ausdruck aus Herks Gesicht und er sah Ares wieder gewohnt mürrisch an.

„Lass mich endlich aufstehen.“, brummte der Ältere und als sei Ares aus einem Traum erwacht, ging ein Ruck durch seinen Körper und er beeilte sich, die Hand von Herks Kehle zu nehmen. Ares stand auf, ging ein paar Schritte auf Abstand und sah Herk schweigend dabei zu, wie er langsam wieder auf die Beine kam. Erst jetzt bemerkte Ares, wir ruhig es in der Halle geworden war. Alle Blicke schienen auf ihn gerichtet zu sein, in einigen lag Unglauben und Verwunderung, andere ließen Fassungslosigkeit und Bewunderung durchscheinen. Herakles trat auf ihn zu und sah ihm tief in die Augen. Ares straffte sich, schaute selbstsicher zurück, dann nickte Herk kurz und abrupt und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

„Das war ein guter Kampf.“, raunte er leise und ging an seinem Schüler vorbei.

Überrumpelt blieb Ares stehen und sah Herk mit gerunzelter Stirn hinterher.

„Wo willst du hin?“, rief er dem glatzköpfigen Mann zu.

„Meine Knochen einrenken lassen; ich werd zu alt für solche Spielchen…“, antwortete der Leutnant knurrend und ließ vielsagend seine breite Schulter kreisen, dann war er aus der Halle verschwunden. Ares sah noch einen Augenblick lang in Richtung Hallenausgang, dann schloss er die Augen und atmete erleichtert tief ein und wieder aus. Er spürte, wie seine Knie zitterten und das Schwert in seiner Hand mit jeder Sekunde schwerer zu halten war, dennoch fühlte er sich ausgesprochen gut und stolz. In ihm schwoll ein Glücksgefühl an, das hartnäckig einen Weg an die Oberfläche suchte, doch in diesem Moment wurde sich Ares wieder dem Dutzend Männer bewusst, das immer noch um ihn herumstand und ihn ansah, und vor diesem wollte er sich die Blöße eines Jubelausbruchs nicht geben; ein kleines, zufriedenes Lächeln gönnte er sich dennoch.

Nur langsam löste sich die Menschenmenge wieder auf. Einige kamen auf ihn zu, nickten anerkennend oder sprachen knappe Lobe aus, unter ihnen war auch Hermes, der wie gewohnt ausgelassen und bewundernd vor sich hinplapperte und bei seinen Worten schwoll Ares‘ Lächeln zu einem ausgewachsenen Grinsen an. Gerade hatte er sich von Hermes zu einer Zigarette auf dem Dach überreden lassen- ein Ritual, das Ares, zu seiner eigenen Verwunderung, immer mehr in letzter Zeit schleifen ließ- als er Orpheus unter den Anwesenden entdeckte.

Der Brünette bemerkte seinen Blick und wandte sich sofort zum Gehen ab, doch da hatte Ares‘ unersättlicher Hitzkopf schon wieder die Überhand ergriffen.

„Du bist der nächste, Minnesänger, also komm her!“, rief er deutlich durch den Raum und deutete mit seinem Schwert auf den stehengebliebenen Orpheus. Aus den Augenwinkeln bemerkte Ares, wie Hermes die Augen verdrehte und hörbar seufzte.

„Du kannst es nicht lassen, oder?“, hörte er seinen Freund murmeln, woraufhin Ares wieder breit grinsen musste.

„Ach komm, lass mir den Spaß.“, entgegnete er ebenso leise, ohne den Blick von Orpheus zu nehmen. Hermes antwortete mit einem vielsagenden Schnauben und verließ die Matte, wohl wissend, dass er Ares seinen „Spaß“ sowieso nicht austreiben konnte. Orpheus drehte sich in diesem Moment zu ihm um und in seinem Gesicht sah Ares es arbeiten, als müsse sich der Springer arg zurückhalten, lediglich seine Augen ließen Rückschlüsse auf seine derzeitige Gefühlslage zu. Er zwang sich zu einem verwunderten Ausdruck, der den Zorn in dem Grün seiner Iris jedoch nicht ganz zu verdrängen schaffte.

„Was? Jetzt? Du bist am Ende deiner Kräfte, das wär nicht fair.“, rief er zurück. Zu seiner Linken stand einer seiner Partner, der seine Abneigung gegen den Blonden weitaus weniger gut zu verstecken wusste als Orpheus.

Ares zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich fühl mich super. Und wenn schon; du bist doch auch nicht ausgeruht, oder?“ Der Mann mit den Kopfhörern hatte sich ein Handtuch in den Nacken gelegt und seine dunklen Haare glänzten nass in dem Neonlicht der Halle. Ares‘ Aussage blieb unbeantwortet. Er sah, wie Orpheus die Lippen leicht aufeinander presste, dann wandte er sich wieder ab, als wollte er gehen.

„Meine Warnung gilt immer noch, auch wenn du Herk einmal geschlagen hast.“, entgegnete er und setzte sich in Bewegung. Seine Worte ließen den geschürten Zorn wieder in Ares hochbrodeln. Er schaute immer noch auf ihn herab! Aber diesmal würde er sich wundern, jetzt war sich Ares seiner Worte sicher! Ein Lächeln kehrte zurück auf seine Lippen.

„Gott, wie konnte ich nur so dumm sein und denken, dass dieser Springer-Kram was bewundernswertes ist?“

Es war immer wieder erstaunlich, wie ruhig es hier unten werden konnte, wenn man nur die richtigen Worte fand. Innerlich labte sich Ares an Orpheus‘ stockender Bewegung und dem versteinerten Gesichtsausdruck, den der Angesprochene ihm nun zuwarf. Die Luft um die beiden herum schien sich aufzuheizen und ein beinahe spürbares Knistern lag in ihr.

„Aber jetzt seh ich, was ihr Typen wirklich seid:“, fuhr Ares weiter fort und stellte sich wieder auf die Matte; eine eindeutige Botschaft, der Orpheus keine Beachtung schenkte- noch nicht, dachte Ares zuversichtlich.

„Feiglinge.“, vollendete er seinen Satz und spie seinem Gegenüber das Wort verächtlich ins Gesicht. „Kleine Kotzbrocken, die sich die Schwächsten als Gegner rauspicken, um selbst als überlegen und unantastbar da zu stehen- aber wenn mal jemand kommt, der ihnen ebenbürtig sein könnte, ziehen sie den Schwanz ein und suchen das Weite.“

Für einen Moment war selbst Ares ein wenig überrascht, wie finster Orpheus schauen konnte. Seine ruhige Fassade schien immer weiter zu bröckeln, dennoch rührte er sich keinen Meter und sah Ares unverblümt in die Augen. Stattdessen ergriff sein hochgewachsener Partner- Ares meinte sich zu erinnern, dass er Jason hieß- neben ihm die Initiative und wollte mit geballten Fäusten auf den Blonden losgehen, doch Orpheus ergriff ihn noch rechtzeitig am Oberarm und hielt ihn somit zurück. Der Zorn färbte Jasons Gesicht rot. Die unausgesprochene Drohung hing wie eine gespannte Guillotine über den Beteiligten; eine Bemerkung, ein Wort schien auszureichen, um die scharfe Klinge herunter schnellen zu lassen… und Ares hatte die Absicht, die Strippen zu lösen. Männer, die das Gespräch mitbekommen hatten, wichen vor den dreien zurück, riefen vorsichte Warnungen, mit dem Mist aufzuhören, doch das alles ignorierte Ares. Er würde Orpheus zeigen was er konnte und vor allem würde er allen den Zahn ziehen, diesen Springer-Typen als Held zu preisen und anzuhimmeln! Breit grinsend ließ er das Seil des Fallbeils durch seine Finger gleiten.

„Ganz ehrlich, Goldkehlchen, wie hast du es zu diesem Rang geschafft? Mit Hochschlafen?“

Schnapp.

Jason sah aus, als würde er im nächsten Moment all seine Menschlichkeit ablegen und zähnefletschend auf allen Vieren auf ihn losstürmen; Orpheus‘ Gesicht klärte dagegen auf und selbst seine angespannte Haltung verpuffte im Bruchteil einer Sekunde, als habe es den Streit nie gegeben. Er schloss kurz die Augen und Ares hörte ihn leise und ruhig ausatmen. Langsam öffnete Orpheus die Augen wieder und das Grün seines Irispaares erinnerte ihn an das wilde, ungezähmte Meer während eines Sturmes.

„Und ich hatte gehofft, du hättest dazugelernt …“, hörte er ihn noch murmeln, dann war der Springer bei ihm, hatte sein Schwert aus der Scheide gerissen und ließ es auf Ares niederfahren. Hätte er das Schwert nicht schon vorher in der Hand gehalten, hätte ihn der gnadenlos geführte Schlag in zwei Hälften geteilt, doch so konnte Ares den schnellen Hieb in letzter Sekunde noch abwehren, allerdings blieb ihm keine Zeit für einen Konter. Das helle Echo der Metallklingen war noch nicht ganz verebbt, da holte Orpheus schon wieder aus und traf Ares diesmal in einem schwerer abzuwehrenden Winkel. Wütend presste er die Lippen aufeinander. Orpheus‘ Schläge waren mit deutlich weniger Kraft geführt als die von Herakles und somit auch leichter zu parieren… wenn man nur schnell genug war, sie zu parieren. Gegen das Tempo, was der Springer vorgab, waren Herks Schwertstreiche in Zeitlupe ausgeführt. Ares hatte sich lange auf diesen Moment vorbereitet, hatte die Angriffe seines Gegners hunderte Male analysiert und eingeprägt, doch mit so schnellen Schlägen und Hieben hatte er nicht gerechnet.

Etwas hilflos war er nur noch damit beschäftigt, Orpheus‘ Angriffe abzublocken. Er versuchte etwas Abstand zwischen sich und seinem Gegner zu halten, um eine reelle Chance auf einen Konter zu erhalten, doch der Springer schloss die Lücken in der gleichen Sekunde in der sie entstanden sind. Ihm blieb nichts anderes übrig, als immer weiter vor dem Dunkelhaarigen zurückzuweichen, sodass er von Orpheus stetig an den Rand der Matte getrieben wurde. Er würde verlieren, wenn er nicht bald etwas änderte und dieser Gedanke ließ die Wut in ihm noch höher kochen.

In diesem Moment holte Orpheus weiter mit der Klinge aus als zuvor. Sein nächster Schlag würde von der Seite kommen, schoss es Ares durch den Kopf und in derselben Sekunde schnellte das Schwert schon von links heran. Ares wich dem Angriff aus indem er sich blitzschnell zur Seite warf, über die Schulter abrollte und sofort wieder auf die Beine sprang und dieses Manöver verschaffte ihm endlich die nötige Distanz, wenn auch nur für einen Augenblick. Orpheus‘ Blick ruhte auf ihm und der Zorn in seinen Augen war noch immer nicht zu übersehen. Er schwitzte und Ares meinte ihn schwer atmen zu hören, aber vielleicht war es auch sein eigener Atem, der sich zusammen mit seinem rasenden Herzen in seinen Ohren zu betäubenden Lärm vermischte. Die warnenden Signale seines Körpers ignorierend, packte er sein Schwert wieder mit beiden Händen und griff an. Orpheus ließ ihn näher kommen und wich Ares‘ Schlägen im letzten Augenblick aus, duckte sich unter seinen horizontal geführten Angriffen weg und versuchte stets aus Ares‘ Reichweite zu gelangen, um einen Konter zu starten. Trotz des minutenlangen Kämpfens fiel es Ares weiterhin schwer, den Springer zu treffen, der keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte.

Als Ares dann sein Schwert mit einem wütenden Aufschrei und mit aller Wucht auf Orpheus so von der Seite her niederfahren ließ, dass diesem keine Möglichkeit zum Ausweichen blieb, trafen die Klingen hell klirrend aufeinander und Orpheus hatte sichtlich Mühe, dem Aufprall standzuhalten. Ares sah, wie der Springer die Lippen zornig aufeinander presste und sein Schwert vor Kraft zitternd gegen Ares‘ Klinge drückte, die sich nicht von einander lösen wollten. Unweigerlich musste Ares grinsen. Nun wusste er, was zu tun war…

Orpheus‘ Überlegenheit lag in seiner Schnelligkeit und technischen Perfektion, doch sein Vorteil war die Kraft. Es hätte ihm schon früher auffallen müssen! Die drahtige Statur des Springers, seine schlanken Arme und die kräftigen Beine, alles an ihm war auf Geschwindigkeit und wendige Bewegungen ausgelegt. In diesem Punkt konnte ihm niemand das Wasser reichen, doch wenn er in die Enge getrieben und zum defensiven Kampf gezwungen wurde…

Orpheus drehte sein Schwert um wenige Zentimeter und veränderte den Winkel zwischen den Klingen so weit, dass er sich aus Ares‘ Angriff befreien konnte und ging ein paar Schritte zurück. Der Zorn in seinen Augen war nicht weniger geworden, dennoch sah Ares nun einen Hauch von Verwunderung durch das dunkle Grün hindurch schimmern.

Nur ein paar von diesen Schlägen mehr und er würde vor ihm auf die Knie gehen, dachte Ares triumphierend und das Grinsen breitete sich wieder in seinem Gesicht aus.

„Was ist? Machst du schlapp?“, rief Ares ihm zu, seinen eigenen hektischen Atem bewusst ignorierend, und zuckte mit den Schultern. „Wenn du `ne Pause brauchst, sag Bescheid; ich kann dir ja in der Zwischenzeit mal den Unterschied zwischen einem Baseballschläger und einem Schwert erklären.“, feixte er und sah mit Genugtuung die schäumende Wut in Orpheus‘ Gesicht. Wortlos ließ dieser sein Schwert fallen und stellte sich seitlicher hin, die Rechte zur Faust geballt. Pikiert zog Ares eine Augenbraue hoch.

„Wie? So schnell gibst du auf, wenn du merkst, dass du mit deinen üblichen Tanzeinlagen nicht mehr weiterkommst?“ Er schnaubte angewidert, legte aber sein Schwert ebenfalls zur Seite. „Wusste ich es doch- ihr Springer seid alle nur heiße Luft und aufgeblasene Ar-“

Der Rest des Satzes ging in einem erstaunten Luftholen unter, als Orpheus‘ Faust im nächsten Moment keine zwei Zentimeter vor seinem Gesicht zum Stehen kam. Mit aufgerissenen Augen schielte Ares zuerst auf die geballten Finger, dann suchte er den Blick des Springers. Das verärgerte Grün stach aus seinem Gesicht markant heraus, das nun viel näher vor ihm war, als er einen Augenblick vorher noch gedacht hatte. Die Welt schien um sie herum angehalten zu haben.

„Im dumm Rumschwatzen bist du tatsächlich ungeschlagen“, sagte Orpheus leise und zog seine Faust minimal zurück. „Allerdings solltest du vorsichtig sein, wen du mit deinen Reden langweilst.“

Der erste Schreck war vergessen und Ares‘ berühmtes Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück. „Was denn? Hab ich dich etwa beleidigt?“

Zu seiner Verwunderung schlich sich ein Lächeln auf Orpheus‘ Züge. „Oh, ganz und gar nicht… ich bin eher verwundert, wie du mit diesem Axtschwingen so weit kommen konntest.“ Er machte ein enttäuschtes Gesicht. „Deine Technik ist immer noch eine Zumutung, dass ich mich tatsächlich frage, ob Herk nicht vielleicht wirklich zu alt für den Job geworden ist, wenn er sich mit sowas schon schlagen lässt.“ Ares‘ Grinsen machte allmählich einem säuerlichen Lippenkräuseln Platz, was Orpheus jedoch keineswegs davon abhielt seinem Gegenüber provokant in die Augen zu sehen. „Ich will mir dieses Gemetzel nur nicht länger antun, hinterher hackst du dir noch ein Bein ab und das wäre irgendwo doch schade. Nein, ich würde gerne sehen, wie du dich ohne eine Waffe in der Hand gegen mich schlägst- ich hoffe doch sehr, dass du dich dabei etwas feinfühliger anstellst.“ Sein Grinsen nahm schlagartig zu und war schon für sich allein stehend viel schlimmer, als hätte Orpheus ihm in diesen Moment ins Gesicht gespuckt. „Oder bist du in allen Lebenslagen so grobschlächtig? Mir tut jetzt schon die Frau leid, die dich mal abkriegt…“

Etwas legte einen Schalter in Ares‘ Kopf um und kappte die Verbindung zu dem kleinen, vernünftigen Teil seines Gehirns, der ihn die ganze Zeit über versucht hatte zu beruhigen. Er brüllte zornentbrannt auf, schlug Orpheus‘ Rechte zur Seite und setzte mit seiner eigenen einen Schlag nach, der direkt auf das breite Grinsen des Springers gezielt war. Sein Gegner wich der Faust aus und setzte zum Konter an, den der Blonde zähneknirschend abwehrte und so ging es hin und her. Ohne Schwert war Orpheus noch schneller und somit schwieriger zu treffen und Ares spürte mit zunehmender Länge des Kampfes, wie seine Arme immer schwerer wurden, wobei sein Gegner weiterhin sein zu Anfang angesetztes Tempo gnadenlos beibehielt; Orpheus‘ Kondition war durch das jahrelange Training seiner weit überlegen, das musste er sich neidlos eingestehen.

Der Springer traf ihn in diesem Moment mit einem Fußtritt gegen den Oberschenkel und der betäubende Schmerz breitete sich binnen weniger Sekundenbruchteile in seinem ganzen Körper aus. Ares fühlte, wie sein Bein unter seinem Gewicht nachzugeben drohte, da tauchte der Dunkelhaarige plötzlich vor ihm auf und wollte ihn mit einem frontal gegen die Brust geführten Tritt endgültig zu Fall bringen. Ares sah den Angriff auf sich zukommen und handelte im letzten Augenblick. Er drehte sich zur Seite, wobei er kurzfristig seinen Schwerpunkt ganz auf sein rechtes Bein verlagern musste, dass es sich anfühlte als würde jemand ein Schwert in seinem Oberschenkel versenken und umdrehen, holte mit der Faust aus und schleuderte sich mit allem was er noch aufbringen konnte gegen den Springer, der dem Schlag mit aufgerissenen Augen entgegen starrte und nicht mehr ausweichen konnte. Orpheus‘ Kopf flog zur Seite und ungebremst schlug er auf der Matte auf. Ares konnte das Gleichgewicht nicht länger halten und keinen Augenblick später lag auch er keuchend am Boden und umklammerte sein pulsierendes Bein.

Sein Blick suchte den Springer, der ihn mit einem Ausdruck ansah, den Ares nicht zu deuten vermochte. Der Faustschlag hatte Orpheus‘ Wangenknochen tiefrot gefärbt und aus seiner Nase, gegen die er eine Hand fest gedrückt hielt, tropfte Blut. Ares‘ rasendes Herz pumpte weiterhin Wut und Hass durch seine Adern und auch in Orpheus‘ Augen hatte sich der Zorn noch nicht gelegt- und beide wussten, dass ihr Kampf noch lange nicht vorbei war.

Die grünen Augen seines Gegenübers zuckten plötzlich und richteten ihre Aufmerksamkeit auf etwas, das links neben Ares lag und in diesem Augenblick sah er es in seinem Augenwinkel kurz hell aufblitzen. Sein Schwert lag eine Armlänge neben ihm, er brauchte also nur danach greifen.

In diesem Moment sprang Orpheus mit einer Geschwindigkeit wieder auf die Beine, die er ihm nicht mehr zugetraut hätte und schnappte sich seine eigene Klinge, die, einem Wink der Götter gleich, zu seinen Füßen gelegen hatte. Ares verstand die Botschaft, streckte sich ebenfalls nach seinem schmucklosen Schwert und zog sich auf die Beine. Orpheus besaß den Anstand ihm die Zeit zu lassen, das Gleichgewicht wiederzufinden, dann stürmte er vorwärts.

„Komm her, Drecksack!“, spie Ares ihm hasserfüllt entgegen und machte sich bereit, den brennenden Schmerz, in den sich sein Körper verwandelt hatte, ausblendend. Er hörte warnende Rufe um sich herum, Befehle, die Einhalt verlangten, doch das ignorierten sie beide. Die Schwerter klirrten erneut aufeinander.
 


 

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Hallo, an alle, die bis hierher gelesen haben!

Es ist wahrscheinlich fies, euch an so einer Stelle zappeln zu lassen, aber "Memori3s" wird von nun an eine etwas längere Pause einlegen- wobei Pause nicht Abbruch bedeutet ;)

Ich werde das hier durchziehen, auch wenn es etwas länger dauern wird.

Die Gründe sind schlicht Zeitmangel und die damit verbundenen Dinge, die im Moment einfach wichtiger sind. Ich kann noch nicht sagen, wie lange die Geschichte still stehen wird, aber es wird länger dauern, das kann ich mit Sicherheit sagen.

Ich würde mich freuen, wenn ihr an "Memori3s" trotz der Pause dennoch nicht das Interesse verliert und weiterlest, wenns weitergeht :)

Ich gebe euch auch gerne Bescheid, wenn das nächste Kapitel in den Startlöchern steht, lasst es mich nur wissen.

... also, ich geh dann mal in Deckung ^^"

Bis bald!

Myori

Krieger und Barde

Die Schwerter klirrten erneut aufeinander, zweimal, dreimal, wild und ungehalten, bis ein donnerndes „GENUG“ beide Männer bis ins Mark erstarren ließ.

Als seien die umstehenden Statuen, in die sich die Mitglieder von Olymp mit der Zeit verwandelt hatten, wieder zum Leben erwacht, stürmten sie im nächsten Moment auf Ares und Orpheus zu, hielten sie an Schultern und Armen zurück und entrissen ihnen ihre Waffen. Ares wehrte sich gegen ihre Griffe, zerrte an seinen eisernen Fesseln und fluchte, genauso gebärdete sich auch der sonst so gesammelte Springer ungehalten gegen seine Bewacher. Hermes zischte neben Ares Beruhigungen und halbherzige Warnungen in sein Ohr, bis Herks wütende Stimme ein weiteres Mal die Anwesenden zum Verstummen brachte.

„Schluss mit dem Theater!“, knurrte der Leutnant und stellte sich mit verschränkten Armen zwischen die beiden Parteien. „Da ist man mal zwei Minuten nicht da und schon benehmt ihr euch wie Dreijährige!“

Orpheus stellte seinen Widerstand sofort ein und senkte etwas den Blick, doch Ares dachte gar nicht daran, klein bei zu geben. Fluchend stellte er sich erneut gegen den Griff der Männer, die ihn festhielten.

„Misch dich hier nicht ein, Herk! Er hat es so gewollt und ich beende, was ich angefangen habe!“ Er wollte noch seine Bewacher anschreien, dass sie ihn endlich loslassen sollten, doch dazu kam er nicht mehr. Herakles hatte sich zu ihm umgedreht und ließ seine mächtige Pranke an Ares‘ Kehle vorschnellen. Augenblicklich war der Schmerz in seinem Bein vergessen - das Gefühl der ausbleibenden Luft war um einiges schlimmer. Herk sah nicht besonders wütend aus, er hob lediglich eine Augenbraue in Richtung kurzen Haaransatz, doch in dieser kleinen Bewegung lagen mehr angestaute Emotionen, als in dem kehligen Fauchen einer Raubkatze.

„Noch ein Wort und ich beende es, klar?“, zischte er leise und sah seinem Schüler tief in die Augen, sodass auch der letzte rebellische Gedanke restlos verpuffte. Ares versuchte zu nicken, soweit das mit einer zudrückenden Hand am Hals möglich war, und das schien Herk schon zu genügen. Er löste den Griff wieder, sodass Ares hustend nach Luft schnappte und sah die umstehenden Männer an.

„Lasst die beiden los.“

Wortlos befolgten die Anwesenden seinen Befehl, egal welchen Rang sie inne hatten. Mürrisch betrachtete Herk die beiden verfeindeten Männer, die mit gesenkten Schultern und gebeugten Rücken vor ihm wie zwei geprügelte Jungen standen. Orpheus hielt den Blick weiterhin gesenkt, während er sich die blutverschmierte Hand am Shirt abwischte; Ares starrte anfangs noch giftig zu dem Leutnant hoch, ehe auch er dem durchdringenden Blick des hochgewachsenen Mannes auswich. Herakles stieß ein hartes, genervtes Seufzen durch die aufeinander gepressten Zahnreihen und wandte sich von den Anwesenden ab.

„Zeus will euch sehen- jetzt.“, fügte er knurrend hinzu und warf seinem aktuellen Schüler einen warnenden Blick über die Schulter zu, dann ging er los. Zögernd folgten Ares und Orpheus ihm und kaum hatten sie die Halle hinter sich gelassen, hallte ein wildes Gemurmel von den Wänden. Grummelnd fuhr sich Ares über den Nacken.

„Toll, jetzt zerreißen sich diese Waschweiber da drinnen bestimmt die Mäuler über uns…“, brummte er missmutig. Er hatte Mühe mit Herks Tempo mitzuhalten, denn mit jedem Schritt pulsierte der Schmerz in seinem Bein stärker, was nicht gerade dazu beitrug, seine Laune anzuheben. Er wagte nicht zu Herk aufzuschließen und so humpelte er neben Orpheus her, der sich eine Hand wieder gegen die Nase gedrückt hatte, und zwang sich dazu, den breiten Rücken seines Lehrers zu taxieren; die ramponierte Visage des Springers hätte er keine Sekunde lang ertragen.

„Mal ehrlich, Herk, musste das sein?!“, rief er nach ein paar Sekunden ungehalten. „Wie stehe ich denn jetzt da?“

Herakles machte sich nicht einmal die Mühe zurückzublicken, lediglich seine Hände ballten sich zu hammergroßen Fäusten.

„Das sollte ich dich fragen!“, erwiderte er knurrend und ging im strammen Tempo weiter. „Ihr habt mich blamiert, so etwas habe ich euch nicht gelehrt.“ Nun sah er doch kurz über die Schulter zurück und seine kalten Augen ließen Ares zusammenzucken. „Ich hätte mehr Besonnenheit und vor allem mehr Verstand von euch erwartet!“

Trotz der warnenden Kälte in seinem Blick, konnte der Blonde sich ein spöttisches Lachen nicht verkneifen. „Ich dachte immer, ich sollte nicht denken, Herk.“, entgegnete Ares spitz und zog provokant eine Braue hoch, doch statt des Leutnants antwortete ihm der Springer.

„Nein, das tust du tatsächlich nicht, aber das entschuldigt dennoch nicht deinen fehlenden Respekt anderen gegenüber.“, näselte er leise und zog die Nase hoch. Augenblicklich fuhr Ares‘ Kopf in seine Richtung.

„Erzähl du mir nichts von Respekt, Lackaffe! Du hast mich genauso provoziert, wie-“

Schnauze! Alle beide!“ Die leeren Gänge spielten mit Herks Stimme Tennis und ließen sie mehrfach von den weißen Wänden abprallen und wie immer erzielte der Ausbilder damit den gewünschten Effekt. Bis zum Büro von Zeus umhüllte die drei Männer eine Wolke des Schweigens, die nur lediglich durch die wütenden Monologe von Herakles durchbrochen wurde, die allerdings niemand mehr wagte weiter zu kommentieren.

Zeus‘ Bürotür hob sich in keiner Weise von den anderen unzähligen Türen in diesem Gang ab, dennoch schien sie von einer Aura umgeben zu sein, die das Licht um sie herum dämpfte, als beginne eine andere Welt hinter ihr. Herk blieb vor dem Büro des Gottes stehen und lehnte sich, die Arme gewohnt vor der Brust verschränkt, gegen die gegenüberliegende Wand. Mürrisch betrachtete er die Jungen, die nun etwas zögernd vor der weiß gestrichenen Tür standen. Ungeduldig bedeutete er den beiden, sie zu öffnen. Orpheus befolgte die Geste, klopfte leise an und drückte dann tief durchatmend die Tür auf. Ares verweilte wo er stand und sah sich verwirrt zu seinem Lehrer um.

„Willst… du nicht mit reinkommen?“, fragte Ares ihn vorsichtig, woraufhin Herk nur verwundert die Brauen hob.

„Wofür? Soll ich Händchen halten?“ Sein Blick verfinsterte sich anklagend. „Du hast doch immer darauf bestanden, deine Angelegenheiten selbst zu regeln - also beweg deinen Hintern nun da rein und steh zu dem, was du verbockt hast!“
 

Das Schließen der Tür klang in Ares‘ Kopf wie das donnernde Aufschlagen eines Richthammers. Zeus saß hinter seinem Schreibtisch und räumte einen Stapel von Blättern zur Seite. Vor ihm stand Orpheus mit gestrafften Schultern, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt, wie ein Soldat, der vor seinem Kommandanten stand. Niemand sagte ein Wort; Zeus schien die gerade Eingetretenen nicht einmal wahrzunehmen. Seelenruhig widmete er sich weiterhin seinen Dokumenten, und doch war die Situation zum Zerreißen angespannt. Erst, als sich Ares neben den Springer gestellt hatte, sah Zeus auf.

Er musterte die beiden Männer mit einer neutralen Miene, die keinerlei Rückschlüsse auf das gab, was darunter lag. Seine dunklen Augen blieben an Orpheus‘ blutverschmiertem Gesicht hängen. Ein leichtes Stirnrunzeln warf Schatten über sein Gesicht.

„Wie ist das passiert?“, fragte er in einem Tonfall, der perfekt zu seiner ruhigen Fassade passte. Orpheus wollte antworten, doch da kam ihm Ares zuvor.

„Ich war das.“, platze es dem Jüngeren heraus und der überhebliche Trotz in seiner Stimme brachte ihm einen giftigen Seitenblick von Orpheus ein, doch davon ließ sich Ares nicht beeindrucken. Unbeirrt fuhr er fort: „Wir haben gekämpft und ich-“

„Nun, das sehe ich.“, unterbrach ihn Zeus schon eine Spur energischer und zog merklich eine Braue in Richtung Haaransatz. „Ich hoffe doch sehr, dass es ein Übungskampf war. Streitereien habt ihr gefälligst auf anderen Wegen zu klären, für so etwas sind sie Waffen, die ich euch gebe, nicht gedacht.“ Zeus‘ Blick verlangte herrisch eine Antwort.

„Ja, Sir.“, murmelte Orpheus neben ihm sofort und sah wieder seinen Anführer an.

„Ja, Sir…“, presste auch Ares zähneknirschend hervor und schluckte seine restlichen Bemerkungen wieder hinunter. Er hasste es zu katzbuckeln, sei es nun vor Herk oder Zeus, doch war er nicht so lebensmüde und missachtete die eindeutigen Warnungen, die unumstößlich über dem Gott in der Luft hingen. Zeus schien ihre Zustimmungen zu genügen und brach den fesselnden Blick kurzerhand ab, um seine Aufmerksamkeit einem Blatt zu widmen, das vor ihm auf dem Tisch lag.

„Vor allem von euch beiden verlange ich in Zukunft eure Meinungsverschiedenheiten nicht mehr mit Gewalt zu diskutieren; am besten schafft ihr diese Diskrepanzen ganz aus der Welt, das wäre für alle eine Wohltat und Vereinfachung der Umstände.“

Auch wenn Ares sich vorgenommen hatte, seine Bemerkungen ab jetzt mit größerer Vorsicht zu wählen, veranlasste ihn Zeus‘ Aussage zum verwirrten Blinzeln. „Wie… was für Umstände?“, fragte er sofort, doch Zeus überging ihn und sah wieder Orpheus an.

„Wie lange arbeitest du schon als Springer für mich?“

„Seit drei Jahren.“, entgegnete der Angesprochene augenblicklich, als habe er auf diese Frage gewartet. Zeus nickte zustimmend.

„Drei Jahre“, wiederholte er leise und in sich gekehrt. „Eine kleine Ewigkeit hier. Du hast in dieser Zeit sehr viele Aufträge erfolgreich abgeschlossen.“ Ein Lächeln schlich sich auf seine blassen Lippen. „Es gab bis jetzt keinen Zeitpunkt, an dem ich je bereut hätte, dir diese Position anvertraut zu haben.“

Verwirrung legte sich in Orpheus‘ Blick. „Danke, Sir“, sagte er zögerlich. „Das… bedeutet mir viel.“ Er zwang sich zu einem stolzen Ausdruck, doch das misstrauische Stirnrunzeln wollte nicht ganz weichen. Ares sah stumm zwischen den beiden Anwesenden hin und her und biss sich auf die Zunge. Ihm kam das alles ziemlich suspekt vor, dennoch verkniff er sich jeglichen Kommentar. Mit zu viel Reden kam man bei Zeus nicht weit, das hatte er schon früh festgestellt; der Göttervater hatte bis jetzt immer den längeren Atem behalten.

Zeus ließ Orpheus‘ Dank für Sekunden unbeantwortet im Raum hängen, dann faltete er die Hände vor sich auf dem Tisch und setzte von neuem an.

„Ich kenne dein Team, Orpheus. Es hat schon seit langem in dieser Zusammensetzung Bestand und ihr seid überaus gut auf einander eingespielt; und sowohl Jason, als auch Theseus sind sehr gute Männer, auf die Olymp stolz sein kann.“ Er sah dem Springer forschend ins Gesicht, als erwarte er eine Zustimmung, doch dann fuhr er weiter fort: „Ich habe vor, einen von ihnen in den Stand eines Springers zu erheben. Wen würdest du auswählen, Orpheus?“

Ares bemerkte, wie sich der Angesprochene neben ihm anspannte. Die Hände in seinem Rücken umgriffen sich stärker, bis die Fingerknöchel hervortraten und Orpheus presste die Lippen merklich aufeinander, was Ares nicht ganz nachvollziehen konnte. Zeus‘ Worte schienen dieselbe Wirkung wie eine Ohrfeige oder Beleidigung gehabt zu haben…

Der Springer musste sich sichtlich um Ruhe beherrschen, als er dem Schwarzhaarigen antwortete.

„Ich halte beide für geeignet, allerdings würde Jason mit der Führungsposition und der Verantwortung besser zurecht kommen; Theseus folgt lieber, als dass er befehlt.“ Ein Teil seiner Anspannung fiel von Orpheus ab, allerdings hatte Ares nicht das Gefühl, als ob ihm diese Aussage Erleichterung verschafft hatte; vielmehr schien etwas in ihm einfach aufgegeben zu haben. Erwartend sah Ares zu Zeus. Dieser nickte wieder und sein Lächeln verblasste.

„Diesen Anschein hatte ich ebenfalls.“ Er nahm einen Stift zur Hand und setzte eine schwungvolle Unterschrift unter das Dokument, das vor ihm auf dem Tisch lag. Dann stand er auf und sah ernst zu den beiden jungen Männern.

„Orpheus, hiermit enthebe Ich dich aus dem Rang des Springers. Jason wird deine Nachfolge antreten.“ Bei dem Worten weiteten sich Ares‘ Augen und fassungslos starrte er Zeus an.

„Mit welcher Begründung?“, platzte es aus ihm ungehalten heraus. Hatte Orpheus so etwas geahnt? Hatte er deshalb so niedergeschlagen geschaut? Er konnte ihn zwar nicht ausstehen, aber so etwas hatte das Goldkehlchen nun auch nicht verdient. „Wenn es um den Vorfall von gerade eben geht, dann nehm ich das allein auf meine Kappe!“, fuhr Ares fort und deutete auf den ehemaligen Springer, der stumm dastand und mit kreidebleichem Gesicht zur Seite starrte. „Ich habe den Kampf gewollt, er hat sich nur provozieren lassen!“ Er holte Luft für weitere Verteidigungen, als ihm Zeus mit einer einhalt gebietenden Handbewegung das Wort abschnitt.

„Lass mich ausreden.“, warnte er den Blonden mit ernstem Blick, der Ares tatsächlich zum Verstummen brachte. „Ich habe beschlossen, dass Orpheus mit einem festen Partner weitaus besser einzusetzen ist. Seine Erfahrungen, mit und in größeren Gruppen zu agieren, werden euch beiden Vorteile schaffen, die ihr-“

„Uns?“, fuhr ihm Ares ungläubig dazwischen und auch Orpheus sah verwirrt auf. Nach Zeus‘ pikiert hochgezogener Augenbraue zu urteilen, trieben Ares‘ unzählige Unterbrechungen ihn langsam an seine Grenzen des Ertragbaren.

„Herakles hat ein Wort für dich eingelegt und mich gebeten, für dich einen Partner zu finden“, sagte er weiterhin gelassen, auch wenn seine Körpersprache eine andere war. „Und wir sind zu der Übereinstimmung gekommen, dass du von Orpheus in Zukunft mehr lernen kannst, als von Herk.“

Zuerst waren Zeus‘ Worte wie eine eiskalte Dusche, unter die er auf einmal gestellt wurde, doch dann ballte Ares wütend die Fäuste. „Und wir werden gar nicht gefragt?“, knurrte er und trat einen Schritt auf Zeus zu. „Ihr könnt euch euren Partner-Scheiß sonst wo hinstecken, ich werde niemals-“

Orpheus‘ Finger gruben sich deutlich spürbar in Ares‘ Schulter und ließen ihn verstummen; sein Zorn allerdings zog aus dieser Berührung nur neue Kraft, sodass er sich aufbrausend zu dem ehemaligen Springer umdrehte. Dutzende Drohungen und wüste Beschimpfungen kochten in ihm hoch, doch Orpheus‘ Blick bremste ihn beinahe im selben Augenblick wieder aus. Todernst schüttelte der Dunkelhaarige den Kopf und der Ausdruck in seinen Augen war autoritärer als jede Standpauke des Leutnants, dass es Ares eiskalt den Rücken runter lief. Für Sekunden starrte er ihn an, dann presste er widerwillig die Lippen aufeinander und beugte sich der deutlichen Warnung. Wer konnte hier, in Olymp, eigentlich nicht mit seinen verdammten Blicken töten?

„Gut, ich denke, dann ist alles geklärt.“, löste Zeus die angespannte Situation einen Moment später auf und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Du kannst gehen, Ares. Orpheus, ich möchte mit dir noch ein paar Worte unter vier Augen wechseln.“

Der junge Mann folgte der Aufforderung ohne weitere Widerworte, dennoch musste er sich stark zurückhalten, um nicht die Tür mit aller Wucht hinter sich zuzuknallen. Am liebsten hätte er in diesem Moment an jemandem seinen Zorn abgebaut, doch der einzige, der nun vor ihm stand, war Herakles, der ihn mit einem erwartungsvollen Blick von oben bis unten musterte. Zuletzt blieb er an Ares‘ wutverzerrten Gesicht hängen und hob erstaunt die Augenbrauen.

„Ich seh keinen Tropfen Blut an dir“, stellte er verwundert fest und ein kleines Lächeln stahl sich unter seine überraschte Miene. „Sag bloß du hast Zeus und Orpheus tatsächlich am Leben gelassen…“

Aus irgendeinem Grund schrumpfte sein Ärger in diesem Augenblick auf ein erträgliches Minimum zusammen, sodass er nur genervt schnaubte und sich gegen die Wand neben Zeus‘ Bürotür lehnte, direkt gegenüber von seinem Lehrer. Es hatte keinen Sinn mehr, sich groß gegen die gefallene Entscheidung aufzulehnen, das wurde ihm auf einmal schmerzlich bewusst.

„Du hast die ganze Zeit über gewusst, was Zeus vorhatte.“

Herk zuckte mit den breiten Schultern. „Er dürfte dir und Orpheus erzählt haben, dass es meine Idee war.“

„Hat er“, bestätigte Ares mürrisch und verengte merklich die Augen. „Warum?“

„Ich kann dir nichts mehr beibringen, Ares.“, gab der Leutnant mit einem leichten Seufzen zu, woraufhin Ares verwundert die Stirn runzelte.

„Nur weil ich dich einmal besiegt habe? Ich bin noch lange nicht soweit, das wissen wir beide.“

Auf einmal wurde Herks Blick eine bedeutende Spur ernster. „Wir könnten noch dutzende Male gegeneinander kämpfen und ich würde dich hundertprozentig auch noch das ein oder andere Mal windelweich prügeln, aber was würde dir das weiterhelfen?“ Sein Lehrer stieß sich von der Wand ab und kam ein paar Schritte auf ihn zu. Langsam schüttelte er den Kopf. „Du brauchst einen Partner, Junge. Jemand, von dem du noch Techniken lernen kannst; andere Techniken, kapiert? Ich bin nicht dafür da, um aus dir mein perfektes Abbild zu machen - ich bleibe lieber einzigartig.“, fügte er schmunzelnd hinzu und sah seinem ehemaligen Schüler verändert in die Augen. Ares hätte gerne etwas erwidert, doch da löste Herakles auf einmal die Gürtelschnalle seines Schwertes und hielt es Ares entgegen. Verwirrt starrte der Blonde auf die dargebotene Klinge.

„Wenn du von nun an auf Missionen gehst, solltest du auch `nen anständiges Schwert haben.“, brummte der Leutnant gewohnt mürrisch und drückte Ares die Klinge mit Nachdruck in die Hand. Perplex blinzelte der Jüngere den Gegenstand an und zog das Schwert ein Stück weit aus der Scheide. Seine Augen weiteten sich sprachlos, als sich das kalte Licht auf dem schwarzen Metall rötlich brach.

„Aber-“, schnappte er kleinlaut nach Luft und sah wieder zu Herk auf. „Das ist- das ist dein Schwert!“ Entsetzen brachte seine Stimme ins Schwanken.

Herks Braue wanderte in gewohnter Manier verärgert nach oben. „Blitzmerker. Und? Ist es deshalb nicht gut genug für den werten Herrn?“

Ares beeilte sich den Kopf zu schütteln und umklammerte das Schwert stärker. „Nein, ich- Herk, das kann ich nicht annehmen…“ Er wollte es dem Mann wieder zurückgeben, doch da hatte sich dieser schon zum Gehen abgewandt.

„Gott, verschon mich mit dieser sentimentalen Speichelleckerei.“, knurrte er und sah warnend zu Ares zurück. „Die Klinge hat keinen einzigen Kratzer und das soll auch so bleiben, hast du gehört?“ Er wartete Ares‘ Antwort gar nicht erst ab, drehte stattdessen dem Blonden wieder den Rücken zu und ging. „Blamier mich nicht, sonst zieh ich dir das Fell über die Ohren. Und wenn du auch nur daran denkst, dich jetzt bei mir für alles zu bedanken, kotz ich dir hier vor die Füße, also verkneif‘ s dir!“

Fassungslos sah Ares seinem Lehrer hinterher, bis er, vor sich hin grummelnd, hinter der nächsten Ecke verschwunden war. Dann senkte sich sein Blick wieder auf das Schwert in seinen Händen und ein ungewohntes Kribbeln jagte seine Arme hinauf, das sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Die schwarze Klinge wog mit einem Mal ungewöhnlich schwer, dass sich seine Hände stärker um das verzierte Holz der Schwertscheide klammerten. Er erinnerte sich, als er es das letzte Mal gehalten hatte, damals, als er damit gegen Orpheus antreten wollte und so vorgeführt worden war. Das kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Herks Schwert. „Mein Schwert…“, murmelte Ares leise und lächelte stolz.

„Du hast Herk ziemlich beeindruckt, das muss man dir lassen.“

Die Stimme erklang so unerwartet hinter ihm, dass Ares zusammenzuckte und erschrocken auf dem Absatz herumfuhr. Orpheus hatte zu seinem alten Jungenlächeln wieder zurückgefunden. Mürrisch rümpfte Ares die Nase.

„Ach ja? Und? Was juckt dich das?“ Er hatte wenig Lust, mit diesem eingebildeten Idioten viel mehr als unbedingt nötig zu reden und so ließ er den Dunkelhaarigen einfach an Ort und Stelle stehen; Orpheus schien dagegen noch einiges loswerden zu wollen.

„Es ist nicht üblich, dass Ausbilder ihre Schwerter an ihre Schüler weitergeben.“, begann er und holte eilig zu dem sichtlich verstimmten Ares auf. „Ein Schwert ist für Herk ein Heiligtum. Du kannst wirklich stolz auf dich sein.“

Ares stoppte so abrupt in seinem Gang, dass Orpheus erst nach zwei weiteren Schritten auffiel, dass der Jüngere nicht mehr neben ihm her stiefelte. Überrascht sah er zu ihm zurück.

„Was wird das, wenn’s fertig ist?“, zischte Ares giftig und sah Orpheus säuerlich ins Gesicht. „Willst du dich einschleimen? Sowas zieht bei mir nicht!“ Die beiden Männer starrten sich für Sekunden stumm an, dann brach Orpheus den Blickkontakt mit einem Schulterzucken ab und ging seines Weges.

„Nein, ganz sicher nicht; an deinem riesen Ego prallt wirklich jeder Versuch eines normalen Gesprächs ab.“, sagte er und schob seufzend die Hände in die Hosentaschen. Normalerweise hätte Ares nicht viel auf das Wort dieses nervenden Typen gegeben. Normalerweise hätte er sich in dieser Situation nicht einmal dazu herabgelassen, irgendetwas auf so einen Spruch zu erwidern und wäre einfach nur froh gewesen, ihn endlich losgeworden zu sein… normalerweise. Doch zu seiner eigenen Verwunderung ertappte er sich nun dabei, wie er nervös auf der Unterlippe herum kaute und nach den passenden Worten suchte. Orpheus‘ Aussage hatte ihn neugierig gemacht und innerlich ärgerte er sich schwarz über diesen Umstand. Der ehemalige Springer war schon einige Meter von ihm entfernt, da platzte es einfach aus ihm heraus.

„Hat… jemand vor mir schon mal ein Schwert von ihm erhalten?“, fragte er in dem beiläufigsten Ton, den er im Moment zustande brachte. Tatsächlich blieb der Angesprochene stehen und sah, die Augenbrauen in Richtung Haaransatz gezogen, zu ihm zurück, während Ares zwanghaft versuchte, etwas Interessantes an der rechten Betonwand zu entdecken. Orpheus zuckte noch einmal mit den Schultern und kam wieder auf den Jüngeren zu, ein kleines zufriedenes Schmunzeln auf den Lippen.

„Ich hab davon gehört, aber selbst miterlebt habe ich es noch nicht…“ Orpheus lachte etwas verlegen und fuhr sich mit einer Hand durch die dunkelbraunen Haare. „Ich persönlich habe nur einen Schlag in den Nacken von ihm bekommen, als ich einem Team zugeteilt worden bin; und die Warnung, dass ich doch ja nicht auf die Idee kommen sollte, dort draußen abzukratzen.“, fügte er etwas leiser werdend hinzu, woraufhin Ares verwundert aufsah und ihn ungläubig musterte.

„Du warst auch Herks Schüler?“

Nun war es Orpheus, der verblüfft starrte, doch dann stahl sich ein breites Grinsen auf seine Züge. „Ja… sag bloß, das hat dir keiner erzählt?“, stichelte er und konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen, als Ares in diesem Augenblick kurz rot anlief. Schnell wandte der Blonde den Blick wieder ab und drängte sich verärgert an Orpheus vorbei. Das war genügend Smalltalk für eine ganze Woche gewesen, beschloss er schnaubend und verfluchte sich selbst dafür, überhaupt den Mund noch einmal aufgemacht zu haben.

„Hör zu, Sonnenschein, du scheinst Stalker gewohnt zu sein, aber ich gehör ganz sicher nicht zu deinem Fanklub!“, zischte er verstimmt und beeilte sich, so viele Meter wie möglich zwischen sich und dem Spinner zu bringen. „Und ich werde auch nie dein Partner, Sandkastenfreund oder was auch immer sein, verstanden?“, beendete er wütend und kochte vor Zorn, als ihm dieser Umstand wieder im Gedächtnis rumspukte. Hier war das letzte Wort noch nicht gesprochen, das schwor er sich!

„Ares, warte!“

Wütend blieb er stehen und drehte abrupt auf dem Absatz um. „Was willst du?!“

„Mit dir reden, was hältst du davon?“, fragte Orpheus und holte erneut zu ihm auf. „Ich weiß, wir hatten einen schlechten Start, aber vielleicht können wir ja die Vergangenheit einfach ruhen lassen und wieder bei null anfangen?“

Orpheus versuchte es mit einem versöhnlichen Lächeln, was Ares jedoch nur dazu bewegte, die Stirn skeptisch in Falten zu legen. Orpheus überging seine Reaktion und fügte gut gelaunt hinzu: „Ich kenne einen wirklich netten Laden hier in der Gegend, das ‚Red Duchess‘. Wie wär’s? Hast du Lust? Ich schmeiß auch `ne Runde.“, schloss er breit grinsend und sah seinen Gegenüber erwartungsvoll an. Den tiefen Furchen auf Ares‘ Stirn folgte eine misstrauisch hochgezogene Augenbraue.

„Bist du schwul?“, fragte er trocken.

Orpheus‘ Blick bekam etwas feixendes. „Angst, ich könnte dir an die Wäsche wollen?“, konterte er sofort schmunzelnd und Ares spürte, wie die Hitze in seinen Kopf zurückkehrte. Er musste einen ziemlich lächerlichen Anblick geben, da der Ältere erneut lachend den Kopf schüttelte „Ich kann dich beruhigen, für kein Geld der Welt würde ich sowas tun wollen.“ Sein helles Lachen verebbte im nächsten Moment und mit einem Mal wurde er wieder ernster. „Nein, hör mir einfach kurz zu.“, bat er. Ares hätte ihm am liebsten den Kopf abgeschlagen; stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und sah Orpheus, immer noch leicht rot im Gesicht, abwartend an. Dieser wirkte nun etwas entspannter und holte tief Luft, ehe er wieder ansetzte.

„Das mit uns als Team ist beschlossene Sache und daran können wir auch nichts mehr ändern. Es ist kein Geheimnis, dass wir nicht viel voneinander halten, aber es ist Zeus und Hades scheißegal, ob wir uns nun verstehen oder gegenseitig die Pest an den Hals wünschen - solange wir da draußen nur unsere Arbeit zufriedenstellend erledigen. Und glaub mir, das wird wesentlich angenehmer und besser gehen, wenn wir uns zumindest etwas leiden können.“

Verwundert schüttelte Ares den Kopf und lachte trocken auf. „Würdest du auch vom Hochhaus springen, wenn Zeus dir das befehlt?“, fragte er nüchtern und ungläubig nach. So einen bedingungslosen Gehorsam hatte er dem Typen nun wirklich nicht zugetraut. Er würde sich nie so herumkommandieren lassen! Doch Orpheus lächelte nur.

„Ich vergaß, dass du noch nicht so lange bei Olymp bist… du wirst noch einiges lernen müssen.“ Dann streckte er Ares auf einmal seine Hand entgegen. „Und? Wirst du dem ‚Duchess‘ und mir `ne Chance geben?“

Für Sekunden starrte Ares auf die dargebotene Hand hinab, dann suchte er Orpheus‘ Blick. Er entdeckte weder den üblichen frechen Hochmut in dem tiefen Grasgrün, noch eine Spur von Feindseligkeit; er schien es tatsächlich ernst zu meinen. Orpheus war bereit, alles, was in der Vergangenheit zwischen ihnen vorgefallen war, ruhen zu lassen und von neuem zu beginnen - und das nur, weil Zeus es ihm befohlen hatte? Ares konnte mit jedem verstreichenden Augenblick weniger glauben, dass er diesem rückgratlosen Schoßhund so sehr nachgeeifert hatte, so ungern er sich das auch eingestehen wollte. In diesem Moment wurde er sich wieder dem Gewicht des Schwertes in seiner Hand bewusst. Herk hatte ihm sein Schwert geschenkt, weil er ihn beeindruckt hatte - weil er Orpheus schlagen wollte und deshalb wie ein Besessener trainiert hatte…

Du wirst noch einiges lernen müssen, hallten Orpheus‘ Worte durch seinen Verstand. Von dir…, ergänzte Ares in Gedanken - und unweigerlich musste er grinsen. Er würde lernen, ja, und das Gelernte würde er gegen Orpheus verwenden, um mit ihm den Boden zu wischen!

Ares schlug ein und ein böses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich schwöre dir, irgendwann werde ich dir dieses Sunnyboy-Lächeln noch aus dem Gesicht schlagen…“

Auch Orpheus begann wieder zu grinsen. Das Grün seiner Iris flackerte frech auf.

„Wenn du das Echo aushalten kannst…“
 

„Sag mal“, nahm Ares nach einer Weile des Schweigens das Gespräch wieder auf. „Ist dieses ‚Red Duchess‘ `ne Kneipe oder sowas?“

Sie waren auf dem Weg zurück zur Trainingshalle, um ihre restlichen Sachen zu holen, die sie liegen gelassen haben, als sie von Herakles zu Zeus zitiert worden waren. Innerlich machte sich Ares auf einen längeren Aufenthalt dort gefasst; sie werden sich erklären müssen, warum Zeus sie in ganzen Stücken gelassen hatte und warum Jason so unerwartet in Orpheus‘ Fußstapfen treten würde. Bei dem Gedanken an die anderen Mitglieder von Olymp konnte Ares sich ein genervtes Schnauben nicht verkneifen; die Sensationsgier und Neugierde seiner Kollegen übertrafen sogar die von Vorstadthausfrauen mittleren Alters, die Sonntagnachmittag Kaffekränzchen auf ihrer Veranda abhielten.

„Auch“, holte Orpheus ihn grinsend aus seinen frustrierenden Gedanken. „Primär geht man da allerdings wegen den Damen hin.“

Ares brauchte einen Moment, ehe er die Anspielung verstand und seine Augenbraue fassungslos in die Höhe schoss.

„Du willst dich allen Ernstes in einer Stripbar mit mir versöhnen?“

Ihm war klar, in was für einer Umgebung sich Olymp befand und dass es solche Etablissements hier wie Sand am Meer gab, aber er fand so einen Ort nun wirklich nicht passend für ihre… Zwecke. Ares hatte vorgehabt, in so kurzer Zeit wie möglich so viele Biere wie möglich herunter zu kriegen, um die Angelegenheit schnell hinter sich zu bringen und danach einfach wie ein Stein ins Bett zu fallen und seinen Rausch auszuschlafen, in der Hoffnung, dass der Alkohol die eine oder andere Erinnerung an diesen Tag aus seinem Gedächtnis strich. Aber so…? Bei dem Gedanken, dass er gleich in eine Stripbar geschleppt werden würde, wurde ihm anders - ungewöhnlich anders…

Als hätte Orpheus seine Gedanken gelesen, legte er Ares grinsend einen Arm um die Schulter.

„Sieh es als einen Gefallen. Du kannst mir nichts vormachen, Ares; du bist seit einem dreiviertel Jahr bei uns und Herks Zwangszölibat ist noch an niemandem spurlos vorbeigegangen.“

Der erste Schritt

Die Musik berauschte ihre Sinne.

In ihrer Welt existierten nur noch die dröhnenden Bässe, die hohen Töne, die sich immer weiter in eine nicht enden wollende Klimax hochschraubten, von der sie mitgerissen und gefangen genommen wurde. Sie fühlte sich, als würde sie fliegen, hoch oben über der Stadt, fernab von allen anderen; lediglich die fremden Hände auf ihren Hüften belehrten sie eines besseren.

Die Finger packten sie fester und fuhren forschend unter ihr Top, sodass sie die rauen Schwielen des Fremden auf ihrer verschwitzten Haut spüren konnte. Eine rasierte Wange schmiegte sich an ihre, dass sie sein noch leicht an ihm haftendes Aftershave riechen konnte, bis der DJ erneut die Nebelmaschine betätigte und der Geruch frischen Trockeneises ihr in die Nase stieg und alles andere verdrängte. An das Gefühl seines Oberkörpers an ihrem Rücken hatte sie sich schon lange gewöhnt; sie bewegten sich im Rhythmus der Musik, als seien sie eine Person. Er hatte ihr zu Anfang, nachdem er sie in dem Getümmel auf der Tanzfläche entdeckt hatte, seinen Namen gesagt, jedoch hatte sie es nicht für Nötig gehalten, ihn sich zu merken - sie würde den Typen sowieso nicht wiedersehen und sie war sich sicher, dass er ihren Namen ebenfalls schon vor Minuten wieder vergessen hatte. Namen schienen für ihn nicht das Wichtigste an einer Frau zu sein, dachte sie, als seine Rechte in diesem Moment am unteren Ende ihres kurzen Rockes angekommen war und nun den Weg unterhalb des Stoffes wieder zurück suchte. Die empfindliche Berührung an ihrem Oberschenkel weckte für einen Augenblick ihre trunken gewordenen Sinne, die etwas in ihrem Kopf klingeln und sie wieder halbwegs klar denken ließen.

Ihre eigene Rechte griff nach seiner und zog diese von ihrem Bein weg. Mit einem Ruck drehte sie sich zu ihm um und starrte zu ihm hoch. Ihr fremder Namenloser tanzte ungestört weiter, als habe er nicht einmal mitbekommen, dass sie nicht mehr an ihm klebte. Kurz ließ sie ihren Blick über ihn wandern. Er schwankte nach vorne und hinten mit grotesk wirkenden Ausfallschritten, die man mit bestem Willen keinem Tanzstil zuschreiben konnte, er grölte den spärlichen Text der Musik mit und seine Pupillen waren erbsengroße Schlunde. Sein Hemd war halb aufgeknöpft, seine helle Jeans zeigte rote und blaue Flecken der verschütteten Drinks, die in diesem Klub ausgegeben worden sind. Er gab eine jämmerliche Gestalt ab; aber zumindest schien er nicht so viel getrunken zu haben, dass sie befürchten müsste, er könnte seine etlichen Drinks nicht in sich behalten. Und er sah gut aus - zumindest halsaufwärts.

Er schien sich mit einem Mal wieder an sie zu erinnern und glotzte sie aus groß gewordenen Augen an, und als in diesem Moment der wechselnde Rhythmus der Bässe ein neues Lied ankündigten, breitete sich abermals das selbstsichere Grinsen vom Anfang in seinem Gesicht aus. Er begann, sie von neuem anzutanzen. Sie allerdings hatte beschlossen, diesen Abend zum Abschluss zu bringen.

Sie ließ seine auffordernd ausgestreckten Arme außer Acht, packte ihn am Hemdkragen und raubte ihm die stickige, vom Trockeneis schwangere Luft.

Wodka, stellte sie schnell fest. Wodka und Zigaretten. Eine abartige Mischung.

Sie beschloss es zu ignorieren. Sie hatte schon lange aufgehört, allzu wählerisch zu sein…

Ihr Fremder überwand seine anfängliche Überraschung recht schnell und nutzte sogleich die ihm gebotene Gelegenheit, um seinen alten Plan von neuem aufzunehmen - und obwohl ihr es diesmal egal war, dass er sie in der Öffentlichkeit halb auszog, kam er dennoch nicht viel weiter als bei seinem ersten Versuch.

Izumi spürte eine dritte Hand, die sich um ihren Oberarm schloss, sie mit einem energischen Ruck von dem Mann trennte und durch die volle, nebeldurchflutete Diskothek zerrte. Ihre Bekanntschaft starrte ihr einen Moment lang hinterher, dann, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand, sah sie noch flüchtig, wie er sich eine Hand gegen den Mund presste und sich nach vorne beugte. Izumi verzog das Gesicht. Ihre Einschätzung zu seinem Alkoholpegel war anscheinend doch nicht ganz korrekt gewesen…

Um nicht zu stolpern, drehte sie sich im nächsten Moment um und ließ sich, ein genervtes Augenrollen unterdrückend, mitschleifen. Erst als ihnen die kühle Nachtluft um die Köpfe wehte, ließ er sie los. Sie hatte ihre Jacke noch drinnen in der aufgeheizten Diskothek, sodass der schneidende Septemberwind ihr eine Gänsehaut auf die nackten Oberarme und Beine zauberte. Ihre Eskorte ließ keinen Augenblick verstreichen und baute sich zugleich vor Izumi auf, die Arme vor der Brust verschränkt und die dunklen Brauen tadelnd nach oben gezogen; mehr brauchte es nicht, damit sie jetzt schon genug von ihm hatte.

„Bist du eigentlich noch ganz bei Sinnen?“, fragte er überflüssigerweise und hielt sie am Arm zurück, als sie in diesem Moment wieder umkehren und reingehen wollte. „Was sollte das da drinnen werden?“

„Ach, darf ich seit neustem auch nicht mehr feiern gehen?“, fauchte sie ihr Gegenüber bissig an und riss ihren Arm los. Toshihikos Augen verengten sich erbost und energisch deutete er auf den Laden in ihrem Rücken.

„Wer war das gerade eben? Ein Freund von dir?“

„Nein!“ Ihre Stimme drückte pure Entrüstung aus. Ihr Bruder schloss die Augen und schien sich sichtlich zusammennehmen zu müssen, um nicht loszubrüllen. Statt eine Standpauke anzufangen, packte er Izumi wieder am Handgelenk.

„Du wirst jetzt mit mir nach Hause kommen, ich denke, für heute hast du genug gefeiert.“ Das letzte Wort sprach er aus, als wäre schon allein der Gedanke daran abartig. Izumi ballte die Hand zur Faust und blieb einfach stehen. Verärgert schaute Hiko über die Schulter zurück, doch Izumi ließ sich davon nicht einschüchtern. Vor ihrem Bruder, egal wie böse er auch gucken konnte, hatte sie noch nie Angst oder großen Respekt gehabt. Respekt musste man sich in ihren Augen verdienen und bekam man nicht einfach mit irgendeiner Betitelung gleich mitgeliefert.

„Ich habe aber nicht vor, nach Hause zu gehen.“

Die Zornesfalten auf seiner Stirn wuchsen zu Tälern heran. „Ich werde dir aber keine Wahl lassen. Du wirst jetzt mit mir mitgehen, Izzy, und wenn ich dich knebeln muss.“

Doch seine Schwester wollte sich keinen Millimeter rühren, sodass sie sich wie ein Kleinkind gegen seinen Griff lehnte und in die andere Richtung zog. Dass sie damit gegen ihren, fast drei Köpfe größeren Bruder recht wenig ausrichten konnte, war ihr sehr wohl bewusst, aber Izumi wollte auch nichts unversucht lassen. Er würde ihr den Abend nicht versauen!

„Du hast mir nichts vorzuschreiben! Lass mich los, Hiko!“, schrie sie ihn laut an, dass sich die Türsteher der Disko schon verwundert herüberschauten. Vielleicht würden sie ja eingreifen, wenn sie sich nur wild genug gebärdete. Toshihiko schien das alles kalt zu lassen.

„Es ist mir egal, wie du das siehst, aber ich lasse bestimmt nicht zu, dass du in diesen Schuppen heute nochmal reingehst und mit irgendwelchen wildfremden Typen rummachst!“, entgegnete er für jeden vernehmlich, sodass sie peinlich berührt rot anlief. Wie sich das anhörte…

„Was ich mache hat dich nicht zu interessieren!“, zischte sie etwas leiser und versuchte ein letztes Mal, die Handschellen, in die sich die Hand ihres Bruders verwandelt hatte, abzustreifen; vergeblich. Widerwillig stellte sie ihren Widerstand etwas ein und ließ sich nun doch mitziehen. Ihren Frust über die Niederlage überspielte sie mit einem genervten Seufzen. „Lass mich wenigstens noch meine Jacke holen, mir ist kalt.“, murrte sie und fuhr sich mit der freien Hand durch die frisierten Haare. Von dem Hünen kam keine Erwiderung. Wie sie sein dickes Fell doch hasste! „Hiko!“

Er ließ sich mehrere Sekunden Zeit, ehe er den Kopf schüttelte und über die Schulter zu ihr zurück schaute.

„Du brauchst dich echt nicht wundern, dass Vater immer so viel an dir auszusetzen hat - du bemühst dich nicht einmal die Regeln einzuhalten.“, sagte er anklagend. Genervt rollte Izumi mit den Augen. Natürlich musste er jetzt auch noch das leidige Thema anschneiden; wahrscheinlich war ihr Vater auch der eigentliche Grund gewesen, warum Hiko überhaupt noch nach 22 Uhr vor die Tür gegangen war und sie gesucht hat - wobei sie stark anzweifelte, dass ihr alter Herr seinem Sohn das aufgetragen hatte, vermutlich hatte er ihr Verschwinden noch gar nicht bemerkt. Ihr Bruder wollte nur wieder einmal den Streitschlichter raushängen lassen.

„Warum sollte ich auch?“, entgegnete sie gereizt und hielt dem Tadel in seinen grünen Augen trotzig stand. „Solange du nach seiner Pfeife tanzt und ihm in den Hintern kriechst, ist er doch zufrieden! Ich bin ihm egal.“

Abrupt blieb der Angesprochene stehen und sah sie teils wütend, teils verzweifelt an. „Du bist ihm nicht egal! Wir machen uns alle Sorgen um dich, Izzy…“ Er meinte die Worte ernst, das wusste sie, auch wenn die Wahrheit eine andere war. Nein, nicht sie machten sich Sorgen; ihr Bruder, ja, der vielleicht, oder ihre Mutter noch, aber es war sehr naiv von ihm zu glauben, dass das auch auf den Rest ihrer verdammten Familie zutraf.

„Davon merk ich wenig.“, konterte sie mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen und hoffte so, Hiko die Illusion nehmen zu können. Dieser sah jedoch nur weiterhin besorgt zu ihr hinab, dass es immer schwerer wurde, in so viel offensichtliches Wunschdenken zu schauen. Schnaufend schloss sie zu ihm auf und bedeutete Hiko damit, dass sie nun folgen würde. Zögernd öffneten sich endlich seine Finger um ihr Handgelenk, als sei er sich nicht ganz sicher, ob sie nicht doch im nächsten Moment auf dem Absatz kehrt machen würde; sein befürchteter Fluchtversuch blieb allerdings aus. Sie folgte nur um seinetwegen, rechtfertigte sie sich innerlich. Dieses Riesenbaby würde ja sonst gar keine Ruhe mehr geben und ihre Lust war schon lange in der Eiseskälte dieser Nacht fortgetrieben worden. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Sie vermisste ihre warme Jacke. Für Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her, ehe Toshihiko sich an einem neuen Gespräch versuchte.

„Vater möchte mit uns zusammen morgen zu Abend essen.“, begann er etwas zögerlich, als könne er sich schon ausmalen, wie Izumi darauf reagieren würde; sie enttäuschte ihn nicht.

„Auch das noch…“, brummte sie leise in sich hinein, dennoch schien Hiko es mitbekommen zu haben.

„Versprich mir, dass du auftauchst.“, erwiderte er sofort im ernsten Tonfall. Wenn er so sprach, fühlte sie sich schmerzhaft an ihren Vater erinnert. Hiko schien immer mehr ein perfekter Klon von ihm werden zu wollen.

„Ja doch.“, gab sie genervt zurück und kickte einen alten Flaschenverschluss vor ihr über den Asphalt.

„Und reiß dich bitte zusammen.“ Noch mehr ernst. Noch mehr ihr verhasster Vater. Ruckartig sah sie auf und funkelte die jüngere Ausgabe ihres Alten wütend an.

„Soll ich auch noch mein Rüschenkleid anziehen und was auf der Blockflöte vorspielen?!“

Die Fassade bröckelte und unter der harten Maske kam ihr Bruder zum Vorschein, der mit den Nerven am Ende angelangt zu sein schien. Seufzend massierte er sich seinen geraden Nasenrücken.

„Izzy…“
 

Yoshiyuki Kato war für vieles bekannt und für noch mehr berüchtigt; Familienvater gehörte jedoch nicht zu seinen hervorstechenden Eigenschaften. Das wussten er und sein Umfeld und daher gab er sich auch nicht die Mühe, das zu verstecken. Er war keiner der Väter, die Bilder ihrer Kinder im Portemonnaie mitführten und diese Geschäftsleuten oder Freunden stolz präsentierten. Auf seinem Schreibtisch im Büro stand ein kleines eingerahmtes Familienfoto, das allerdings schon ziemlich alt war; es war zur Einschulung seines Sohnes beim Fotografen geschossen worden. Toshihiko stand darauf stolz neben seinem Vater, der eine Hand auf seine schmale Schulter gelegt hatte. Izumi drängte sich an den Rock ihrer Mutter und machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und dieser Ausdruck erinnerte ihn stets daran, wie schwer es damals gewesen war, die Dreijährige ruhig zu bekommen; an ihrem aufmüpfigen Verhalten hatte sich bis heute nicht viel geändert.

Yoshiyuki Kato konnte nicht von sich behaupten, dass er seine Kinder liebte, zumindest nicht so, wie die Gesellschaft um ihn herum Liebe definieren würde. Er war stolz auf seine Kinder; er war stolz auf seinen Sohn, der die Aufnahmeprüfung an der Hochschule von Tokio mit Leichtigkeit geschafft hatte. Er war froh, dass seine Kinder sich bester Gesundheit erfreuen konnten; sein Erbe hatte zu einem der besten Sportler in seiner Oberschule gehört. Er liebte es, wenn seine Kinder Leistung erbrachten, denn das war es, woran Kato seine Mitmenschen maß; er selbst lebte es schließlich vor.

Izumi war mit dem Gedanken aufgewachsen, dass sie in den Augen ihres Vaters nur etwas wert sei, wenn sie seine hochgesteckten Ziele und Erwartungen erfüllte; die gleichen Hindernisse, die ihr Bruder stets vor ihr überwand, weil er der ältere war. Anfangs hatte sie sich noch Mühe gegeben und den Ehrgeiz besessen, ihrem großen Bruder in allem nachzueifern. Aber sie war nicht halb so sportlich wie er, ihre Vorbereitungen für Klausuren reichten nie für die beste Note aus und durch die Aufnahmeprüfung für Toshihikos Uni war sie knapp durchgefallen. Ihre Leistungen würden niemals „hervorragend“ werden, und je älter sie wurde, umso mehr akzeptiere sie diesen Umstand und hörte auf, ihrem Vater gefallen zu wollen.

Da Yoshiyuki Kato der Leiter einer hoch angesehenen Kanzlei war und auch außerhalb Tokios Straffälle übernahm, war er selten zuhause. Stören tat ihn das wenig. Izumi ebenfalls. So war es schon immer ein verkehrtes Bild für sie gewesen, wenn ihr Vater am Esstisch saß und mit seiner Familie zu Abend aß. Die Stimmung war eine andere. Tiefgekühlt. Auf Eis gelegt. Und das Essen, so gut die angestellte Küchenhilfe auch kochte, schmeckte fade, wenn einem der Vater beim Essen auf die Finger guckte.

Izumi war mit der Zeit äußerst sensibel auf diese Blicke geworden. In einem leichten Anflug von Wut - den sie mit aller Kraft zu zügeln versuchte, ihrem Bruder zuliebe, der schon wieder alarmiert über den Tisch zu ihr starrte - sah sie von ihrer Vorspeise auf und schaute ihn an. Katos Augen strahlten unverfrorene Missbilligung aus; die gewöhnliche Reaktion auf seine Tochter und dennoch stieß das Izumi immer noch sauer auf.

„Mache ich irgendetwas falsch, Vater?“, fragte sie um einen höflichen Tonfall bemüht. Die Braue ihres Vaters rutschte ein Stück weit in die Höhe.

„Ist einer deiner Kommilitonen verstorben, oder warum sitzt du in Trauerkleidung am Tisch?“

Izumi presste die Lippen aufeinander und sah an sich herab. Sie hatte sich das schwarze Kleid erst vor ein paar Tagen gekauft, für ein Punkrock-Konzert, auf das sie schon Monatelang gespannt und in Vorfreude wartete. Die schwarzen Overknees und der nietenbesetzte Gürtel passten, wie sie fand, sehr gut zu dem kurzen Schnitt des Kleides. Sie liebte dunkle Kleidung und ihr Stil war schon öfters der Anlass für einen Streit zwischen ihr und ihrem Vater gewesen. An dem Tisch war es noch leiser geworden, alle sahen sie an, bis auf Yoshiyuki, der sich in der Zwischenzeit wieder seiner Suppe gewidmet hatte.

„Ich warte immer noch auf deine Antwort.“, verkündete er irgendwann zwischen zwei Löffeln der cremigen Gemüsesuppe. Kein Kommilitone, Vater, dachte sie, aber seh dich doch mal im Raum um, vielleicht fällt dir ja etwas auf. Ihre Mutter, ihre liebevolle, herzensgute Mutter, saß in sich zusammengesunken da und fuhr Kreise mit dem Löffel in ihrer Suppe nach, immer wieder unsicher zu ihrem Mann blickend, als rebellierten innerlich ihre weggesperrten Beschützerinstinkte ihren Kindern gegenüber. Hiko saß nur da und sah sie tadelnd an, als sei sie ein kleines trotziges Kind, das nicht verraten wollte, warum es von oben bis unten mit Schlamm bedeckt war.

„Das ist ein ganz normales Kleid.“, presste sie widerwillig hervor und tauchte ihren Löffel wütend in die inzwischen lauwarm gewordene Suppe. Ignorier ihn, sprach sie sich selbst beruhigend zu.

„Es ist zu kurz“, entgegnete ihr Vater in einem beiläufigen Tonfall. „Du siehst damit aus wie ein billiges Mädchen von der Straße.“

Die erste Ohrfeige an diesem Abend. Und das schon bei der Vorspeise. Wie schwer es doch war, mit verkrampfter Hand so einen dämlichen Löffel zum Mund zu führen. Ignorieren!

Sie hörte auf die leise Stimme in ihrem Inneren nur widerwillig, presste die Lippen aufeinander, um jeden unbedachten Kommentar im Keim zu ersticken. Ihr Vater schien ihr Schweigen zu genügen und so ließ er das Thema fallen, um sich ihrem Bruder und seinem hervorragenden Werdegang an der Uni zuzuwenden. Izumi war das ganz recht. Hiko liebte es mit seinen guten Noten vor ihrem Erzeuger zu prahlen und dieser bekam dadurch auch gleich bessere Laune; selbst ihrer Mutter stand dann der Stolz ins Gesicht geschrieben und ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Manchmal, in solchen Situationen, packte Izumi der Neid, aber der verflog recht schnell wieder. Neidisch auf Hiko zu sein lohnte sich genauso viel wie Vögel um ihre Flügel zu beneiden – warum sich um Dinge scheren, die sowieso für einen unerreichbar sind? Sie blendete das Gespräch zwischen Vater und Sohn aus, als ihr Bruder schon wieder davon anfing, dass er für den Leichtathletik-Kader aufgestellt worden war – etwas, dass sie sich schon fünfmal anhören durfte – und genoss die vorzügliche Suppe mit jedem Löffel mehr. Sie musste der Küchenhilfe unbedingt das Rezept entlocken.

„-eigentlich, Izumi?“ Die tiefe Stimme ihres Vaters schwappte an ihr Ohr und ließ sie erschrocken aufschauen. Sein Blick war wieder gewohnt kühl geworden. „Antworte, wenn man dich etwas fragt.“, sagte er verstimmt.

Izumi schluckte und versuchte sich an einem versöhnlichen Lächeln. „Entschuldige, ich… ich habe nicht zugehört…“ Dass ihm diese Antwort nicht zusagte, bemerkte sie sofort im nächsten Moment. Yoshiyukis Brauen bildeten eine steile Falte auf der Stirn.

„Wie läuft dein Studium, habe ich dich gefragt.“

Studium. Natürlich, das hätte sie sich auch selber denken können… Beherrscht setzte sich gerader hin.

„Nun, die Prüfungen für dieses Semester habe ich alle bestanden und bald-“

„So schwer können die Prüfungen für Kindergärtner ja auch nicht sein.“

Die nächste Ohrfeige. Ihre Hände verkrampften sich unter dem Esstisch. „Vater, noch einmal“, sagte sie im ruhigsten Tonfall, den sie hinbekam, dennoch sah Hiko alarmiert zwischen ihr und ihrem Vater hin und her. „Ich werde keine Kindergärtnerin, ich studiere Pädagogik…“

Kato zuckte desinteressiert mit den Schultern. „Das kommt auf dasselbe hinaus. Die meisten Studenten landen doch hinterher in Kindertagesstätten um Kleinkinder zu bespaßen.“

„Nicht alle!“ Wut belegte ihre Stimme und ließ sie leicht zittern.

Die Braue ihres Vaters wanderte erstaunt in Richtung Haaransatz. „Ach, und du glaubst, du gehörst zu den wenigen, die das nicht werden?“ Er gluckste belustigt und griff nach dem Brotkorb, der auf dem Tisch stand. „Du solltest das Studium lieber rechtzeitig abbrechen und eine Ausbildung anfangen; etwas, womit du Toshihiko hinterher in der Kanzlei unterstützen kannst. Ich habe mir sagen lassen, dass es sehr gute Computerkurse für Sekretärinnen gibt-“

„Du willst allen Ernstes von mir, dass ich mein Studium hinschmeiße um Sekretärin zu werden?“, zischte Izumi schneidend und starrte ihren Vater mit zornigen Augen an. Verkrampft hockte sie auf ihrem Stuhl und versuchte das Zittern in ihrem Inneren nicht nach außen sichtbar werden zu lassen. Ignorier ihn, reg dich nicht auf, beschwor sie etwas tief in ihr.

Yoshiyuki sah ihr unverfroren ins Gesicht. „Man sollte wissen, wo seine Neigungen und Leistungsgrenzen einzuordnen sind.“, antwortete er gelassen, biss von der Brotscheibe ab und seufzte hörbar. „Manchmal bin ich doch sehr froh, dass Toshihiko der ältere von euch beiden ist; so komme ich nicht in die schmähende Bredouille, meinen Nachfolger zu enterben.“

Das war zu viel. Die kleine besonnene Stimme in ihrem Kopf verlor bei diesen Worten die Kontrolle über sie. Geräuschvoll landete ihr Besteck auf dem halb leer gegessenen Teller und sie stand so energisch auf, dass ihr Stuhl lautstark nach hinten kippte. Wieder waren alle Blicke auf sie gerichtet, doch diesmal sah sie in allen nur blankes Entsetzen, selbst ihr Vater schien mit so einer Reaktion nicht gerechnet zu haben.

„Izumi, setz dich wieder hin.“, sagte er beherrscht ruhig und sie konnte sehen, wie seine Hände sich zusammenballten. Er war wütend. Sie beachtete es nicht weiter. Stumm wandte sie sich ab und verließ das Esszimmer.

„Izumi!“, hörte sie ihren Vater poltern. Auch ihre Mutter rief ihr flehend ihren Namen hinterher, doch sie reagierte immer noch nicht. Sie hatte endgültig genug. Mit ausgreifenden, beinahe rennenden Schritten eilte sie die Treppe im großen Flur hinauf.

„Ich kümmere mich um sie.“ Die Stimme ihres Bruders drang leise und gedämpft ins erste Stockwerk hinauf, ehe sie ihre Zimmertür hinter sich zuknallte und den Schlüssel umdrehte. Keine zehn Sekunden später wurde die Klinke erfolglos heruntergedrückt und gegen das Holz geklopft.

„Mach bitte auf, Izumi.“ Hiko klang nicht wütend, er klang auch nicht wie ihr Vater. Es lag Traurigkeit in seinen Worten, Verzweiflung und Verständnis. Dennoch presste sie die Lippen aufeinander und lehnte sich schweigend gegen die Tür.

Als sie nicht antwortete, klopfte ihr Bruder erneut, jedoch zaghafter als zuvor. „Izzy, komm wieder mit runter, ich verspreche dir, wir werden zusammen mit Vater reden.“

Wieder brach etwas in ihr und neue Wut packte sie. Mit der flachen Hand schlug sie laut gegen die Tür. „Lasst mich in Ruhe! Ihr alle! Ich hasse euch!“ Sie spürte wie die Tränen über ihre Wangen liefen und in der Hoffnung, das Schluchzen zu unterdrücken, presste sie sich die Hand gegen den Mund. Sie wollte nicht, dass ihr Bruder sie weinen hörte, dass er mitkriegt, dass sie unter den Worten ihres Vaters so litt.

Es blieb still auf der anderen Seite, aber sie war sich sicher, dass Hiko immer noch dastand und verzweifelt auf seiner Unterlippe herum kaute. Ihr naiver Bruder. Sie wischte die verhassten Tränen weg, sah zu ihrem großen Zimmerfenster und ein Gedanke keimte in ihr auf, einer, den sie schon oft hatte, und den sie oft - für Hikos Geschmack zu oft - umgesetzt hatte.

Kurzerhand nahm sie ihre Geldbörse von ihrem Schreibtisch, öffnete das Fenster weit und schwang ihre Beine über die Bank nach draußen. Unter ihr lag in zwei Metern Tiefe das Blechdach der Gartenlaube, von da aus war es nur ein weiterer kleiner Sprung bis sie durch den Garten ungesehen zur Straße gelangte. Ohne zu zögern kletterte sie, sich an der Fensterbank festhaltend, hinab und versuchte den Lärm des Wellblechs unter ihren Füßen so gering wie möglich zu halten. Hiko würde zwar schon sehr bald merken, dass sie nicht mehr in ihrem Zimmer war, aber sie musste ihn ja nicht sofort auf ihre Flucht aufmerksam machen. Routiniert federte sie ihren Sprung von der Laube ab und lief durch den dunklen Garten, zwängte sich durch die vereinzelt lichte Hecke und kletterte über die mannshohe Steinmauer. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, machte sie sich im Laufschritt auf in die Innenstadt.

Der erste Blick

Ihre erste Anlaufstelle war die Disko, in der sie am Vorabend noch ausgelassen feiern wollte, ehe ihr Bruder aufgetaucht war und sie vorzeitig nach Hause eskortiert hatte. Ihre Jacke lag an der Garderobe aus, die sie sich dann Minuten später zufrieden überstreifte. Izumi spielte kurz mit dem Gedanken noch ein wenig zu bleiben, verwarf diesen jedoch wieder schnell; ihr Bruder würde wahrscheinlich hier als erstes nach ihr suchen und sie wollte so lange wie möglich ihre Ruhe vor ihm haben. Daher schlug sie einen anderen Weg ein, der weg von dem Tumult des direkten Kerns des Bezirks und in eine weniger belebte Gegend führte. Manche hätten sie dafür mit besorgter Miene angesehen, dass sie alleine in solchen abgelegenen Stadtteilen umherstreifte, doch sie hatte noch nie besonders viel Unwohlsein oder gar Angst hier verspürt; man musste nur richtig auftreten, dann ließen einen die meisten Leute von Anfang an in Ruhe.

Ihr Ziel lag in einer schmalen Seitenstraße, die feucht und leicht nach Abfällen roch. Fröstelnd zog sie die Schultern gegen den wehenden Wind hoch und holte nur widerwillig ihre Hand aus der warmen Jackentasche heraus, um die schwere Kneipentür aufzustoßen.

Drinnen war die Luft auch nicht viel besser; der einzige Unterschied zu draußen war, dass hier die Luft von Zigarettenrauch statt mit dem Geruch von Moder erfüllt war, was für sie allerdings keine große Verbesserung darstellte. Zumindest war es hier wärmer als auf der Straße. Ein paar Männer, die an einem Tisch über Bier und Karten zusammenhockten, sahen kurz über die Schulter zu ihr hoch, ansonsten blieb ihr Eintreten so weit unbemerkt. Ihre Stiefel ließen den alten Holzboden knarren, als sie zum Tresen ging, hinter dem ein bekanntes Gesicht sie mit einer Mischung aus Überraschung und argwöhnischen Gedanken an letzte Besuche begrüßte.

„Na, dass ich dich hier nochmal antreffe...“, sagte der alte Kneipenbesitzer heiser, zog ein letztes Mal kräftig an seiner selbstgedrehten Zigarette und warf sie anschließend in eine leere Bierflasche, die als Aschenbecher diente. Izumi versuchte sich an einem Lächeln und spürte, wie ihre Haut über den Wangen leicht spannte, was sie an ihre Tränen erinnerte und sie hoffte, dass man ihr diese nicht mehr ansah.

„Keine Sorge, ich werde brav sein“, entgegnete sie plaudernd und setzte sich auf einen der hohen Barhocker. „Ich bin heute alleine hier.“

„Aha“, war seine knappe Antwort, doch das Misstrauen in diesem Wort war nicht zu überhören. Izumi ließ sich nichts anmerken, lächelte weiterhin unbeschwert und bestellte, was ihren Erfahrungen nach mit am meisten Alkohol besaß und legal in Bars ausgeschenkt werden durfte. Hoffentlich fand Hiko sie nicht im noch stocknüchternen Zustand. Immer noch mit einer gewissen Voreingenommenheit brachte der Mann ihr Gewünschtes und zufrieden trank sie zwei große Schlucke, dass sie dachte, ihr Rachen stünde in Flammen. Nach wenigen Minuten spürte sie, wie der Alkohol begann ihre Sinne zu vernebeln und mit einem wehleidigen Gefühl dachte sie an die letzte Nacht zurück; an die Disko, an die Musik, an ihre Bekanntschaft.

Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach seinem Namen, doch er wollte ihr partout nicht einfallen, was sie irgendwie schon verärgerte. Ihr Fremder hatte wirklich gut ausgesehen, wenn man sich die von Drinks verklebten Sachen wegdachte und von seinen frechen Fingern mal absah. So, wie er sie angefasst hatte, hatte er das wahrscheinlich nicht zum ersten Mal bei einer Frau getan und Izumi war ein Stück weit neugierig geworden, was er noch so zu bieten gehabt hätte. Doch dann tauchte das entsetzt und zugleich tadelnde Gesicht ihres Bruders vor ihr auf und als würde er tatsächlich neben ihr stehen, fing sie ihre Fantasie, die den letzten Abend in ihrem Kopf hitzig weitergesponnen hatte, ertappt wieder ein. Sein Blick sprach Bände, strafte und verurteilte sie und für eine Sekunde lang senkte sie beschämt die Augen wie ein geprügelter Hund, dann aber verdrängte ihr Stolz wütend die Scham und grimmig versuchte sie die Gedanken an ihren Bruder mit einem weiteren Schluck Hochprozentigem wegzuspülen. Ihm konnte egal sein, was und vor allem mit wem oder wie oft sie etwas tat! Sie war Zweiundzwanzig! Vielleicht sollte sie Hiko bei Zeiten mal erzählen, auf was sie so alles stand und dieser Gedanke zauberte ihr ein böses Grinsen auf die Lippen. Ihrem prüden Bruder würden die Ohren abfallen und er würde vor Scham auf dem Boden zerfließen, aber vielleicht erreichte sie ja dadurch, dass er endlich begriff, dass seine kleine Schwester schon lange nicht mehr klein war.

Mit diesem Plan im Kopf wollte sie noch einen Schluck nehmen, jedoch war bis auf ein paar Tropfen das Glas bereits geleert. Mürrisch schielte sie auf den Grund des durchsichtigen Bodens und wollte beim Kellner einen neuen Whisky bestellen, als sie bemerkte, dass der Mann nicht mehr hinter dem Tresen stand. Suchend schaute sie sich in dem Kneipenraum um - und blieb an einem der hinteren Tische mit dem Blick hängen.

Zwei Männer saßen sich an einem, in einer Nische stehenden Tischchen gegenüber. Einer der beiden drehte ihr den Rücken zu und schien mit dem anderen im Gespräch zu sein. Soweit war diese Szene nichts besonderes, doch sein Gegenüber sah wie gebannt zu ihr herüber. Er bewegte die Lippen, als würde er etwas erzählen, doch seine Augen starrten an seinem Gesprächspartner vorbei direkt in ihre Richtung. Izumi lief ein Schauer über den Rücken. Gerne hätte sie weiter nach dem Kellner gesucht, doch diese hellen Augen fesselten sie, nahmen sie gefangen und sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie nie mehr von diesen Augen loskommen würde, egal wie sehr sie sich wehrte.

Wer weiß, wie lange sie noch so dagesessen hätte.

Vielleicht hätte sich der andere Mann irgendwann stirnrunzelnd zu ihr umgedreht, um nachzuschauen, was sein Gegenüber da überhaupt so anglotze; vielleicht wäre der Mann mit den hellen Augen auch irgendwann aufgestanden und wäre zu Izumi an die Bar gekommen, um ihr einen Drink auszugeben, um in ihr einen interessanteren Gesprächspartner als seinen derzeitigen zu finden, um ihre vorherigen Fantasien Wirklichkeit werden zu lassen - obwohl… das bezweifelte Izumi dann doch stark, so verzweifelt, dass sie mit alten Typen ins Bett ginge, war sie noch lange nicht. Vielleicht wäre ihr auch nur irgendwann das Glas endgültig aus ihrem locker gewordenen Griff gerutscht und auf den Holzdielen zerschellt; doch ihre Reflexe ließen sie noch rechtzeitig die Finger fester um das schlüpfrige Glas fassen und durchbrachen so den fesselnden Bann.

Mit pochendem Herzen starrte Izumi auf den leeren Becher hinab und atmete tief durch. Um ein Haar wäre der hauchfeine Frieden zwischen ihr und dem Kellner dahin gewesen. Etwas unsicher sah sie wieder auf und suchte nach dem Typen an dem kleinen Tisch. Dieser hatte jedoch den Blick abgewandt und redete, die Hände dabei mitbenutzend, mit dem anderen Mann so vertieft, als hätte es sie nie gegeben.

Sie blinzelte verwirrt, beschloss allerdings, über ihn nicht weiter nachzudenken und stellte stattdessen mit zittrigen Fingern das Glas auf den Tresen zurück, ehe sie ein erneuter Schwächeanfall überrascht hätte und dann tatsächlich noch ein Unglück passiert wäre. Der alte Kellner war in der Zwischenzeit vom Tische bedienen und abräumen wieder zurückgekehrt und machte sich daran, saubere Gläser mit bestellten Getränken zu füllen. Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln, als sie nach einem weiteren Whisky fragte und nahm zwischen zwei Handgriffen ihr benutztes Glas entgegen, um es zu spülen, als sein Blick auf einmal an ihr vorbeiglitt und sich augenblicklich verfinsterte.

„Na super“, sagte er leise und seine Stimme erinnerte sie dabei stark an ein Hundeknurren. Mit einem beklemmenden Gefühl im Magen drehte sie sich um und auch ihr entwich im selben Moment ein gequältes Stöhnen.

„Scheiße…“, fluchte sie zischend und drehte sich wieder mit dem Rücken zur Tür, in der Hoffnung, dass der gerade Eintretende sie nicht gesehen hatte. Jedoch sollten all ihre Hoffnungen für diesen Abend zerschlagen werden. Sie musste sich nicht noch einmal umdrehen, um sein breites Grinsen zu sehen, mit dem er auf sie zukam; sie spürte seinen Blick und das war schon ätzend genug. Der Moment, in dem sie sich vielleicht noch auf die Damentoilette hätte retten können, zog wie ein Pistolenschuss an ihr vorbei und im nächsten Moment tauchte das Gesicht des Mannes neben ihr auf, den sie weder hier noch irgendwo anders auf dieser verdammten Welt je hätte wiedersehen wollen.

„Izzy! Du bist hier?“ Sie schloss die Augen, wünschte sich, sein Kopf würde einfach platzen und somit endgültig aus ihrem Leben verschwinden.

„Du hast hier nichts zu suchen, Junge.“, kam ihr der Kellner ungewollt zur Hilfe. Seine Heiserkeit, die auf ihre eigene Art und Weise sogar sympathisch wirken konnte, hätte in diesem Moment mit Leichtigkeit durch Stahl geschnitten. Masao hob abwehrend die Hände.

„Hey, ich weiß schon, ich wollt‘ mich nur kurz hier drinnen aufwärmen. Ich trink schon nix, mach‘ dir nicht ins Hemd.“, erwiderte er und trat ein paar Schritte vom Tresen und Izumi zurück, die immer noch stur geradeaus starrte und ihn ignorierte.

„Es geht hier nicht um den Alkohol“, konterte der Mann lauter werdend, „und Aufwärmen kannst du dich wo anders. Verschwinde von hier, und zwar zügig!“

Masao zuckte genervt mit den Schultern. „Brüll mich nicht an, ich versteh‘ dich auch so. Gut, ich hau ab“ Mit einem Mal umfasste er Izumis Hüfte, dass dieselbe Wirkung auf sie hatte wie ein Stromschlag. „Aber die Kleine hier nehm ich mit, immerhin warst du damals auch auf sie verdammt sauer, wenn ich mich richtig erinnere.“, fügte er grinsend an Izumi gewandt hinzu, die sich sogleich aus seinem Griff befreite und ihn von sich stieß. Masaos Beschwerden über ihr Verhalten ausblendend, wandte sie sich mit einem entschuldigenden Blick an den Kellner.

„Ich habe nicht gewusst, dass er hier auftaucht, ehrlich!“, versuchte sie sich zu verteidigen, doch der Blick des Mannes hinter dem Tresen war auch ihr gegenüber hart und unbarmherzig geworden.

„Bezahl, was du getrunken hast, und verschwindet dann.“

Seine Worte ließen keinen Widerspruch zu und damit war die Sache gelaufen. Ihre innere Wut herunter kämpfend, tat sie, was von ihr verlangt worden war und ging, gefolgt von ihrem Exfreund, vor die Tür der Kneipe. Dort drehte sie auf dem Absatz zu Masao um und hätte ihm beinahe eine Ohrfeige gegeben - was sie davon abhielt, wusste sie selbst nicht so ganz genau; vielleicht die Tatsache, dass seine Dummheit vielmehr auf seinen Cannabiskonsum als auf einen angeboren niedrigen IQ zurückzuführen war und er, in einem gewissen Stadium, einfach nichts mehr für seine Aktionen konnte… zumindest redete sie sich das, damals wie heute, immer wieder ein. Ihre zurückgehaltende Rechte juckte, dennoch beließ sie es dabei, Masao einen guten Meter weit von sich weg zu stoßen, als er sie in diesem Moment wieder in die Arme zu schließen versuchte.

„Was willst du von mir?“, keifte sie den schlaksigen Mann giftig an. Dieser versuchte sich mit ungelenken Bewegungen auf den Beinen zu halten und strich sich einige fettige Strähnen aus dem Gesicht.

„Warum bist du so mies drauf? Darf ich nicht einmal mehr Hallo sagen?“

Ihre Hand zuckte immer noch verführerisch. „Nicht nach dem, was du damals abgezogen hast! Ich habe dir gesagt, dass ich dich nie wieder sehen will, Masao.“

„Es war wirklich nur Zufall, dass ich dich da drin‘ gerade getroffen habe“, nuschelte er und rieb sich mit der Hand über den Nacken. „Das musst du mir glauben, ich sollte dort eigentlich wen treffen und…“ Er brach seinen Satz ab, als er bemerkte, dass sich Izumi inzwischen augenverdrehend von ihm abgewandt hatte und wegging. Etwas unschlüssig trabte er hinter ihr her. „Izzy, warte!“

„Du kannst dir dein Izzy sonst wo hinschmieren, ich lasse mich nicht noch einmal in deine Geschäfte mit hineinziehen.“

„Izumi, bitte…“

Schnaufend blieb sie stehen und deutete anklagend mit einem Finger auf ihn. „Du hast mich benutzt, Masao! Ich war dein verdammter Lockvogel, den du irgendwo an einer gottverlassenen Straßenecke abgestellt hast, um deine Geschäftspartner zu ködern!“, rief sie wütend und trat immer weiter auf den Älteren zu, der mit jedem Wort mehr zusammenschrumpfte.

„Es tut mir leid, Izz…Izumi“, verbesserte er sich schnell, als er ihren mahnenden Blick bemerkte, „Ich… ich hätte das nicht tun sollen, das weiß ich jetzt. Bitte verzeih mir. Hör mir bloß einen Moment lang zu, ich flehe dich an! Bitte… ich möchte nur kurz mit dir reden…“ Seine Stimme wurde zunehmend dünner, bis sie nur noch ein Wispern war. Izumi starrte ihn mit zusammengepressten Lippen an und kämpfte ihren Zorn herunter. Ein winziger Teil in ihr, der, der auch nach so vielen Jahren noch an ihm zu hängen schien, bemitleidete den Mann vor ihr, der kaum noch Ähnlichkeiten mit dem Jungen hatte, in den sie sich einst halsüberkopf verliebt hatte. Diese Zeit schien so weit zurück zu liegen… die Zeit, in der sie der Illusion von einer Beziehung mit einem Jungen, mit dem einen perfekten Jungen, nachgerannt war; sie dachte mit einer bitter schmeckenden Ironie daran, jetzt, da das ernüchternde Ziel ihrer Suche von damals nun vor ihr stand und mehr einem Straßenköter glich, als dem erträumten edlen Ritter auf weißem Ross. Ihre Erinnerung ließ sie über sich selbst den Kopf schütteln und frustriert blies sie die angehaltende Luft aus der Lunge. Warum brachten ihr eigentlich alle Männer Unglück?

„Es wird weiterhin dabei bleiben, dass ich dich nicht sehen will“, sagte sie ernst und verengte misstrauisch die Augen. „Spuck also schon aus was du willst, aber wenn du jetzt auf Knien herumrutschst und mir sagst, dass du mich liebst, trete ich dich ins nächste Viertel, kapiert?“

Masao nickte unterwürfig und wagte es, ihr in die Augen zu sehen, nur für einen kurzen Moment, ehe er wieder auf seine nestelnden Hände herabsah.

„Ich bin diesen Monat… nicht so flüssig wie sonst und da dachte ich-“

„Nein!“, fauchte sie energisch und brachte Masao somit vorzeitig zum Verstummen. Innerlich schlug sie sich selbst für ihre Gutgläubigkeit und Geduld ihm gegenüber. Sie hätte sich doch denken können, dass es dem Kerl nur um Geld ging. Masao klappte den Mund auf, was bei ihm an einen nach Wasser schnappenden Karpfen erinnerte, und brachte kein Wort heraus. Er begann irgendwann stammelnd von neuem seine Argumente vorzubringen, doch da hatte sich Izumi schon wieder zum Gehen abgewandt. Sie hörte, wie er hinter ihr herlief und verzweifelt ihren Namen rief, allerdings reagierte sie nicht darauf. Mit solchen Typen zu diskutieren hatte sie noch nie sonderlich weit gebracht.

Eine weitere kleine Seitenstraße kreuzte ihre und ohne auf Autos oder andere Passanten zu achten, die hier eh nicht vorbeigekommen wären, überquerte sie die Kreuzung, ihr winselnder Anhang weiterhin im Nacken wissend, doch auf einmal wurde Masao von jemanden gerufen, was auch sie etwas verwirrt abbremsen ließ.

Ein zweiter Mann stand, als sie sich zu ihrem Exfreund umdrehte, neben ihm und irgendetwas zog sich in Izumi schmerzhaft zusammen. Sie hatte den Mann schon irgendwo mal gesehen, damals, als sie mit Masao zusammen war. Er war ein kleines Stück größer als Masao und sein Haar war heller, aber trotz des verschlafenden Blickes in dem Gesicht des Kleineren war die Ähnlichkeit der beiden nicht zu übersehen. Sein Bruder, fiel es Izumi schlagartig wieder ein. Sie hatte ihn nur ein paar Mal in den zwei Monaten, in denen sie Masaos Freundin war, gesehen und dennoch verspürte sie kein gutes Gefühl bei seinem Anblick. Minoru schien sie für den Moment allerdings nicht zu beachten, denn er war damit beschäftigt, den konfusen Schilderungen seines Bruders zu folgen.

„Und was ist jetzt mit dem Deal?“, fragte Minoru ungeduldig, was sein kleiner Bruder mit einem Schulterzucken beantwortete, das ihm ziemliches Unbehagen zu bereiten schien.

„Ich hab die Kerle da drinnen nicht gesehen, aber…“, sagte Masao in seinem nuschelnden Tonfall, was ihn einen nicht grad zaghaften Schlag auf den Hinterkopf einbrachte.

„Du Idiot, was kannst du eigentlich?“, brummte Minoru gereizt und hielt den taumelnden Masao am Hemdkragen, damit er nicht umfiel. „Du solltest weniger kiffen, ansonsten muss ich dir demnächst noch wieder beibringen, wie man ins Klo scheißst!“

„Du tust mir weh, lass mich los!“, wimmerte Masao lautstark und hielt sich den Hinterkopf. Izumi hatte genug gesehen. Sie wollte sich nicht weiter in diese Geschichte mit reinziehen lassen und die beiden schienen sie nicht zu beachten, deshalb drehte sie einfach wieder auf dem Absatz um und ging weg. Du empfindest nichts mehr für diesen Waschlappen, geh einfach und lass ihn weiter sein Leben ruinieren, es geht dich nix an! Eine Kreuzung noch und sie würde wieder in den belebteren Teil des Bezirks kommen; auf die Gesellschaft dieser beiden Idioten konnte sie verzichten.

„Du bist ein Volltrottel! Wir brauchen die Kohle, falls du dich erinnern kannst!“ Minorus wütende Stimme hallte von den Häuserwänden der leeren Straßen wider, und gab ihr den Eindruck, als stünde er direkt hinter ihr. Das ließ ihre Schritte schneller werden. Masao war nicht sehr schlau, aber sein Bruder dagegen hatte schon immer etwas bedrohliches an sich gehabt…

Sie hat Geld!“

Masaos Worte durchzuckten sie mit der Härte einer Eisenstange und ließen ihr Herz schneller schlagen. Minoru schien etwas zu erwidern, was Izumi aber nicht verstand, worauf Masao dann mit überschnappender Stimme antwortete: „Doch, doch, ihr Alter ist Anwalt oder so! Die Kleine schmeißt mit Kohle um sich, glaub mir!“

Als sei es ein geheimes Stichwort, rannte sie los. Sie sah sich nicht um, sie rannte einfach, angetrieben von den donnernden Echos der Schritte, die hinter ihr laut wurden. Die rettende Kreuzung, voll mit Menschen, die ihr vielleicht sogar geholfen hätten, kam immer näher, aber es sollte nicht reichen. Nach vierzig Metern umklammerten sie Minorus riesige Hände, die sie beinahe durch den Zusammenstoß zu Boden gerissen hätten. Sie begann aus Leibeskräften heraus zu schreien und um sich zu treten, doch da packte seine rechte Hand nach ihrer Kehle und drückte zu, dass ihre Stimme gurgelnd abbrach und letztendlich verstummte. Die Linke klammerte sich um ihren Bauch und presste sie an den Körper des Mannes hinter ihr.

Minoru schnaufte hörbar und fluchend wartete er auf seinen viel langsameren Bruder, der von hinten an die beiden heran getrabt kam.

„Hilf mir!“, blaffte er Masao an und zerrte sie von der Straße runter in eine Gasse. In Panik riss Izumi an Minorus Armen und versuchte ihn irgendwo mit Tritten und Schlägen zu treffen, doch da packte Masao ihre Beine, sodass sie auch die nicht mehr benutzen konnte. Angst umfasste ihr Herz endgültig und ließ die grausame Welt vor ihr durch Tränen verschwimmen. In der dunklen Gasse ließ Masao ihre Beine los, was sie sofort zum Anlass für einen neuen Befreiungsversuch nahm; als Dank dafür presste Minoru sie gegen die nächste Häuserwand und keilte sie mit seinem Körper ein, die Rechte nun auf ihren Mund gedrückt. Erst jetzt schien er sie näher im Zwielicht zu betrachten und Erkenntnis leuchtete in seinen Augen auf, die nur wenige Zentimeter vor ihr schwebten.

„War das nicht mal `ne Freundin von dir?“, fragte er seinen Bruder außer Atem und drehte sich zu diesem um. Ob Masao nickte oder nicht, konnte sie nicht genau erkennen; den ungläubigen Blick dagegen, den Minoru ihr daraufhin kurz zuwarf, erkannte sie mit erschreckender Genauigkeit.

„Hast du sie geknallt, kleiner Bruder?“, fragte er laut, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Seine Augen musterten ihr verweintes Gesicht, seine freie Hand presste sie näher an seinen Körper.

„Sie wollte nie…“, kam es nuschelnd aus der Dunkelheit und das Leuchten in Minorus Augen bekam etwas amüsiertes, etwas belustigtes… etwas gefährliches.

„Kein Wunder, die Kleine scheint so viel Würde und Verstand zu besitzen, um zumindest dich nicht ranzulassen.“, raunte er grinsend und ging mit ihr ein paar Schritte von der Wand zurück. Mit letzter Kraft, die ihre Angst ihr noch gelassen hatte, versuchte sie sich wimmernd aus seinem Griff zu winden, doch Minoru übertraf sie sowohl in Körperkraft als auch –masse um Längen. „Ich hab’s dir doch schon so oft gesagt, Masao: wasch dich ein bisschen öfter, und vielleicht rennen die Püppchen, auf die du so stehst, dann nicht sofort weg, wenn sie dich riechen.“ Masao grummelte daraufhin etwas leise und Minoru lachte.

„Weißt du“, sagte er dann erklärend an Izumi gewandt, „mein Bruder und ich teilen uns vieles - außer Weiber, da bin ich ein wenig eigen.“ Er begann wieder zu grinsen und mit einem Mal stieß er sie von sich, sodass sie kraftlos zu Boden viel und für zwei Sekunden nach Luft schnappend dort lag, bis sich Minoru auf sie setzte und sie an den Schultern vollends auf den kalten Asphalt herunter drückte. „Tja, Glück für mich, würde ich da mal sagen!“

Izumi hätte gerne um Hilfe geschrien, diesen Kerl über ihr angespuckt oder um sich getreten, aber sie starrte nur mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hoch. Ihr Körper fühlte sich an, als hätte er noch nie so etwas wie Kraft besessen.

Dann meldete sich Masao auf einmal zu Wort. „Hey, was soll das werden? Ich dachte, wir wollten ihr Geld, davon, dass du-“

Minoru warf ihm das Portemonnaie zu, das sie in der Innentasche ihrer Jacke getragen hatte. „Da hast du und nun gib Ruhe!“

Tatsächlich sah Masao stumm auf die Geldbörse herab, die vor ihm im Dreck lag, dann bückte er sich danach und wandte sich von ihr und seinem Bruder ab, den Inhalt des Täschchens im Schein der Straßenlaternen untersuchend. Die Hoffnung, die sich einen kurzen Moment lang in Izumi aufgebäumt hatte, viel lautlos im nächsten wieder in sich zusammen. Sie konnte Masao immer noch nicht leiden, aber sie hätte jede Hilfe, egal von wem sie gekommen wäre, dankend angenommen. Sie sah dem Jüngeren der Brüder einige Augenblicke nach, wie er sich schweigend immer weiter von ihr entfernte, ehe Minoru sie aus ihren Gedanken ins Hier und Jetzt zurückholte.

Seine kalte Hand schob sich unter ihr Kleid und die Berührung rüttelte ihre paralysierten Instinkte wieder wach. Sie holte japsend Luft und wollte schreien, doch der Mann über ihr presste ihr seine andere Hand abermals auf Mund und Nase, sodass sie nur noch schwer atmen konnte. Sie zerrte mit ihren frei gewordenen Händen an seinem Handgelenk, drückte seinen Oberkörper weg, kratzte über sein Shirt, in der Hoffnung, ihn so zu verletzten, doch Minoru schien das alles nicht weiter zu bemerken. Ein Schluchzen kroch ihre Kehle hinauf, was ihr, gedämpft durch die Männerhand, wimmernd entwich. Mit einem Mal tauchte Minorus in Schatten getauchtes Gesicht wieder über ihr auf.

„Hör auf zu zappeln!“, zischte er zornig und erhöhte den Druck seiner Hand auf ihren Mund, dass sie beinahe vor Schmerz aufgeschrien hätte. „Je mehr du dich wehrst, umso unangenehmer wird das hier - für uns beide, also hör auf!“

Izumi starrte Minoru aus geweiteten Augen an. Sie spürte, wie heiße Tränen an ihren Wangen herabliefen, an Minorus Hand entlang, ehe sie zu Boden fielen und dort in Vergessenheit gerieten. Der fast volle Mond schob sich hinter den Wolken hervor, als sei er neugierig geworden, und zerrte das Gesicht des Mannes über ihr aus seinen Schatten. Das Licht ließ seine Augen dunkel wirken, bräunlich, wie dunkles Holz. Normalerweise fiel es ihr nicht schwer, in dem Gesicht eines anderen zu lesen, aber jetzt, in diesem Moment, schien ihr Körper, einer Schutzreaktion gleich, einfach alles auszublenden und ließ sie nur noch das braune Augenpaar sehen.

Rehaugen. Die Farbe von Augen voller Unschuld. In ihren jugendlichen Träumen hatte der Junge immer Rehaugen gehabt, egal wie gewöhnlich andere Menschen braune Augen fanden, sie hatte das ruhige, tiefe Braun schon immer fasziniert. Jetzt jedoch verspürte sie nur noch tiefsitzende Angst. Am Rand ihres Bewusstseins bekam sie mit, wie seine kalte Hand ihren Oberschenkel von innen entlangfuhr, immer höher, bis sie sich um den Stoff ihrer Unterwäsche legte. Einem Reflex folgend wollte sie die Beine zusammenpressen, doch Minoru drückte sie mit seinen Knien eisern auseinander. Izumi hörte ihren gequälten Atmen, das rauschende Blut in ihren Ohren, ihr Herz, das in ihrer Brust schmerzhaft stolperte. Sie sah, wie Minoru über ihr die schmalen Lippen zu einem breiten Grinsen verzog und die Rehaugen gierig leuchteten. Bei ihrem Anblick drehte sich Izumi der Magen um, sodass sie die Augen schloss und in ihrem Inneren gab etwas den verzweifelten Widerstand endgültig auf. Minorus Hände schlossen sich um ihren Slip, als er auf einmal in seiner Bewegung verharrte. Sie spürte, wie er sich auf ihr über die Schulter umschaute und sich leicht verdrehte, sodass auch sie die Augen wieder aufriss und an ihm vorbei zurück zur beleuchteten Straße starrte.

Ein Passant war stehen geblieben und versuchte nun an Masao vorbei in die Gasse zu schauen, der sich ihm in den Weg stellte und in seinem nuschelnden Tonfall auf ihn einredete. Minorus Körper verkrampfte sich.

„Was glotzt du so?“, rief er dem Fremden wütend zu, „Hau ab, das hier geht dich nichts an!“

Doch der Mann blieb stehen und endlich erkannte Izumi ihn. Die Unvorsichtigkeit von Minoru ausnutzend, riss sie in einem letzten Versuch an seinem Handgelenk, dessen Pranke er ihr auf den Mund gepresst hatte. Sie befreite sich aus seinem locker gewordenen Griff und holte tief Luft.

Hiko!

Ihre Stimme klang schrill und brüchig. Durch die dunkle Silhouette am Gasseneingang ging ein Ruck. Sie wollte noch einmal seinen Namen rufen, doch da fuhr Minoru zu ihr herum und schlug ihr ins Gesicht, sodass ihr Schrei abrupt erstickte und sie einen Moment lang nur bunte Lichtflecken tanzen sah. Sie hörte den Mann über ihr Verwünschungen und Flüche zischen, die wahrscheinlich ihr gegolten haben, doch sie verstand sie in der Unruhe nicht, in die sich im nächsten Moment ihre Welt verwandelte. Lärm erfüllte die Gasse, aus der sie ihren Namen heraushörte, Masaos Stimme, die dagegen hielt und Minorus wütende Befehle.

„Bring ihn zum Schweigen, verdammt!“

Izumis gelähmte Instinkte erwachten zum neuen Leben. Sie begann sich wieder unter Minoru zu winden, drückte ihn weg, doch auch der Mann war aufmerksamer geworden. Mit einem zornigen Knurren presste er ihr seine Hand abermals auf den Mund, dass sich seine Finger schmerzhaft in ihre Wangen gruben.

„Halt dein scheiß Maul!“, zischte er und seine zweite Hand legte sich um ihren Hals und drückte zu, dass ihr ganzer Körper mit einem Mal erstarrte. Die wegbleibende Luft versetzte sie in Panik, ihre Augen weiteten sich verängstigt und mit einem hysterischen Wimmern griff sie nach seinen Handgelenken, zerrte daran, schlug nach ihnen, vergrub ihre Fingernägel in seiner Haut, sodass blute Striemen zurück blieben, doch Minorus eiserne Fesseln lösten sich nicht.

Hinter dem Rücken des Mannes hörte sie ihren Bruder wütend rufen, sie vernahm Geräusche eines Kampfes, Schläge, Tritte, schmerzhaftes Schnaufen und Stöhnen. Über ihr zischte Minoru. Sie hatte Angst in seine verdammten Rehaugen zu schauen, aber genauso viel Angst hatte sie davor die Augen wieder zu schließen und sie nie wieder öffnen zu können. Ich bekomme keine Luft! Ihr Widerstand verlor zunehmend an Kraft, vor ihren Augen begann die Welt zu flackern. Ihr Blick blieb ungewollt an Minoru haften, an seinem vom Zwielicht erhellten Gesicht, an den vor Hass und Wut entstellten Augen. Der Druck auf ihre Kehle wurde unerträglich.

Ein gurgelnder, vor Schmerz verzerrter Laut schwappte zu ihr in ihren Dämmerzustand herüber, dann ein zweiter, direkt darauf, und beinahe im selben Augenblick peitschte ein Schuss durch die Luft. Minorus Körper erbebte kurz, sein Kopf machte eine nickende Bewegung und etwas Nasses spritzte Izumi ins Gesicht. Dann gaben seine Hände sie frei, ehe er sie mit seinem Körper unter sich begrub.

Panisch schnappte sie nach Luft, hustete und starrte in den wolkenverhangenen Himmel hinauf. Sie wusste nicht, wie lange sie so da lag, ehe ihr Verstand wieder zu arbeiten begann und die vorangegangenen Geräusche zuordnen konnte. Jemand hat geschossen!

Eine neue Angst ergriff sie und so schnell es ihre verbliebenden Kräfte zuließen, schob sie Minoru zur Seite. Er starrte sie nicht mehr an; vielmehr schienen die verdrehten, glanzlosen Augen zu dem Loch auf seiner Stirn hinauf zu schielen, als wunderte er sich, wie es dort hingekommen war. Immer noch nach Atem ringend, sah sie in sein Gesicht. Ihr war nach schreien zu Mute, doch dafür fehlte ihr einfach die Luft. Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht, die sie beiläufig hinters Ohr streichen wollte, als ihre zitternden Finger etwas nasses auf ihrer Haut fühlten. Die Erkenntnis traf sie beinahe im selben Augenblick und erschrocken starrte sie auf ihre blutverschmierten Fingerkuppen hinab, mit denen sie zuvor durch ihr Gesicht gegangen war. Ein ersticktes Keuchen kroch ihre Kehle hinauf.

Plötzlich hörte sie Schritte und dieses Geräusch ließ sie aufschauen. Am Anfang der Gasse lagen zwei Männer auf dem Boden, zwei weitere standen um sie herum. Einer von ihnen kam auf sie zu, mit zielgerichtetem Gang, der andere hielt einen merkwürdigen, langen Gegenstand in der Hand und verharrte an Ort und Stelle. Und keiner von den beiden konnte Toshihiko sein… was war ihr los?

Das Echo seiner Schritte verstummte neben ihr und als würde sie aus einem Traum erwachen, zuckte sie erschrocken zusammen, als der Fremde auf einmal direkt vor ihr in die Hocke ging, Minorus Leiche kurz untersuchte und ihr dann in die Augen sah. Izumi brauchte ein paar Momente, bis ihr Verstand das helle Irispaar in dem kantigen Gesicht richtig zuordnen konnte. Und wieder war sie zu nichts anderem fähig, als ihn anzustarren.

„Alles in Ordnung?“ Seine Stimme erinnerte sie an einen besorgten Jungen und ließen den Mann um etliche Jahre verjüngen. Einem Reflex folgend wollte sie nicken, doch dann wurde ihr wieder bewusst, was beinahe und was tatsächlich passiert war, und diese Erinnerungen ließen sie den Kopf schütteln, den Blick dabei starr auf ihren fremden Gegenüber geheftet. Sie spürte ihren Körper zittern, ob vor Kälte, Furcht oder Erschöpfung, konnte sie nicht sagen, ihre Kehle wurde immer enger, dass selbst das aufkommende Schluchzen keinen Weg mehr nach draußen fand. Sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und hätte sich auf den kalten Asphalt gelegt; wie oft hatte sie schon Filme oder Serien gesehen, in denen Frauen stets in den schrecklichsten Situationen einfach in Ohnmacht fielen… warum konnte sie das nicht auch tun?

Der Fremde umfasste behutsam ihre Oberarme, um ihr aufzuhelfen, als auf einmal die viel dunklere Stimme des anderen Mannes die zerbrechliche Stille durchbrach.

„Der hier lebt noch.“

Der Mann stellte sie auf wackeligen Beinen ab und drehte sich zu dem zweiten Anwesenden um. „Welcher? Der kleine Bruder?“

Das letzte Wort durchfuhr ihren Verstand wie eine tödlich geführte Streitaxt.

Bruder…

Bruder!

„Nein, der andere.“

Ihr Kopf schnellte herum, sah zurück zu den Gestalten, die am Boden lagen und erst jetzt, jetzt, nach so quälend langen Minuten bemerkte, hörte sie die leisen, röchelnden Laute und die kleinen, windenden Bewegungen der linken Person.

„Hiko.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Sie riss sich von dem wohl gemeinten stützenden Griff des Fremden los und rannte zu den anderen Männern, immer wieder den Namen ihres Bruders stammelnd. Woher besaß ihr Körper eigentlich noch die Kraft sie auf den Beinen zu halten? Doch nach den lächerlich wenigen Metern schienen auch diese wundersamen Reserven aufgebraucht gewesen zu sein, sodass Izumi kraftlos und über ihre eigenen Füße stolpernd neben Toshihiko auf die Knie fiel. Das viele Blut erinnerte in der Dunkelheit der Nacht an schwarze, glänzende Farbe.

Die fiebrig trüben Augen ihres Bruders hefteten sich sofort auf sie, als sie den panischen Aufschrei hinter ihren verklebten Händen verstecken wollte. Die schwarze Flüssigkeit quoll aus seinem Mund, aus dem weiterhin das leise unmenschlich klingende Röcheln drang, das sie zuerst gar nicht wahrgenommen hatte. Seine Hände griffen zittrig nach seinem Hals, seine Finger fuhren an den Rändern der klaffenden Wunde entlang, als wolle er die Ausmaße der Verletzung ertasten. Izumi konnte durch das Schwarz des Blutes kaum etwas erkennen, doch ein Blick in seine vor Angst und Schmerz geweiteten Augen, verriet ihr mehr, als sie ertragen konnte. Hikos Lippen formten Wörter; einmal meinte sie ihren Namen in dem leichten Verziehen seines Mundes erkennen zu können, doch die meiste Zeit schrie er nach Hilfe, obwohl nie ein artikulierbarer Laut seine aufgeschnittene Kehle verließ. Wieder wünschte sie sich in die Arme der Bewusstlosigkeit.

„Ich war nicht schnell genug. Verzeih.“, sprach jemand leise neben ihr.

Izumi wandte den Kopf in Richtung der Geräuschquelle, die so unwirklich in ihre Welt aus Schmerz und Verzweiflung passen wollte. Der andere Fremde hielt immer noch den langen, schmalen Gegenstand in der Hand, von dem es verräterisch tropfte und der Anblick fesselte sie für Sekunden. Beinahe automatisiert drehte sie dann doch den Kopf zur anderen Seite und suchte Masao. Ein blutiges Messer blitzte in seiner Hand auf, doch das lenkte sie nur kurzweilig von seinem glänzenden Körper ab. Schnell wandte Izumi den Blick wieder ab, ihren rebellierenden Magen unter Kontrolle haltend, doch die Bilder hatten sich auf ihre Netzhaut gebrannt, dass sie kurz die Augen zusammenkniff und die frische Erinnerung zu verdrängen versuchte.

Auf einmal fasste etwas nach ihrem Handgelenk, sodass sie erschrocken die Augen wieder aufriss und verbittert zulassen musste, dass sich neue Bilder in ihrem Gehirn festsetzten. Hikos Hand war eiskalt. Sein Blick flehte sie an. Und sie hätte am liebsten einfach nur angefangen zu weinen. Wie hilflos sie sich doch fühlte, wie überfordert.

„Er braucht Hilfe“, flüsterte sie mit kratzender Stimme, schaffte es weiterhin nicht die Augen von ihrem blutenden Bruder abzuwenden. Hilfe, echote ihr narkotisierter Verstand immer wieder leise vor sich hin, als sei er froh darüber, überhaupt so weit gedacht zu haben.

„Ich fürchte, es ist zu spät dafür…“

Sie spürte, dass sich ihre Augen nach so langer Zeit doch endlich mit Tränen füllten. „Jemand muss Hilfe holen“, wiederholte sie heiser, die vorangegangenen Worte des Fremden ignorierend. „Er braucht einen Arzt.“ Izumis Hand umfasste Hikos.

„Miss, er wird… wir können nichts mehr für ihn tun…“ Nun erklangen wieder Schritte. Der zweite Mann kam näher, bis sie seine Präsenz hinter ihrem Rücken wahrnehmen konnte. Langsam sickerte die Bedeutung der Worte in ihr Bewusstsein und entfachte dort ein rauchendes Feuer. Die Panik umklammerte ihr Herz und ließ sie zischend nach Luft schnappen.

„Nein“ Energisch schüttelte sie den Kopf und sah zu dem Mann mit dem Schwert auf. Natürlich ist es ein Schwert, du hohle Nuss, erkennst du nicht einmal das mehr? „Sie müssen einen Krankenwagen rufen! Bitte!“ Jedes Wort kam hysterischer aus ihr heraus als das vorangegangene. Mitleid spiegelte sich in dem Gesicht ihres Gegenübers wider, das fast milchweiß im Mondschein wirkte.

„Es tut mir leid, aber das können wir nicht.“ Sie hörte ihren hektischen Atem und Hikos klägliche Versuche, dasselbe zu tun, die verzweifelten Worte des Mannes, denen sie mit ungläubig aufgerissenen Augen begegnete. Angst und Wut ergriffen die Übermacht in ihr und ließen sie erstaunlich kraftvoll aufspringen.

„Warum nicht?“, japste sie und packte den Kragen seines langen Ledermantels. „Er erstickt, sehen Sie das nicht?! Er braucht Hilfe!“ Wild schüttelte sie den Mann, riss an dem Mantel und schrie immer wieder dieselben Sätze, die in dem Mann keine Reaktion hervorrufen konnten. Wie lange stand sie hier eigentlich schon? Wie lange kämpfte Hiko schon gegen den Tod? Bei dem Gedanken flossen weitere Tränen. Er durfte nicht sterben. Nicht wegen ihr, seiner dummen, törichten Schwester.

Wieder berührte eine Hand sie; diesmal an der Schulter, mit derselben Vorsicht, wie sie zuvor ihre Arme berührt hatten, dennoch ließ diese Nähe Izumi mit ihren aufgekratzten Emotionen unnatürlich stark zusammenfahren. Die Hand des Mannes mit den hellen Augen brannte auf ihrer Haut.

„Es gäbe eine Möglichkeit.“, sagte dieser mit ruhiger Stimme und tatsächlich horchte Izumi hoffnungsvoll auf, nur der Blasse schien von den Worten des anderen wesentlich weniger begeistert zu sein.

„Das wären leere Versprechungen.“, knurrte er, doch sein Gegenüber quittierte dies nur mit einem Kopfschütteln.

„Wenn wir ihn jetzt sofort zu uns bringen-“

„Nein!“

Erschrocken über den energischen Tonfall fuhr Izumi zu dem Blassen herum, allerdings nur kurz, denn die Verzweiflung ließ sie sich augenblicklich wieder an den anderen Fremden wenden.

„Bitte! Wenn Sie etwas tun können, dann bitte!“

Der Blick des Mannes wurde ernst. Kurz sah er schweigend zu dem Mann mit dem Schwert, dann senkten sich seine hellen Augen auf Izumi und bohrten sich in ihr Innerstes.

„Würdest du alles für ihn tun?“

Sie antwortete ohne zu Zögern.

„Er ist mein Bruder. Ich würde… wirklich alles tun, nur bitte… retten Sie ihn.“ Als sie die Worte sprach, veränderte sich der Blick des Mannes, als sie wieder verstummte, trat er dichter auf sie zu und Izumi meinte sich ein Lächeln auf seinen Zügen einzubilden - kein zufriedenes Lächeln, kein belustigtes; es war mehr etwas, das Izumi einen Schauer über den Rücken jagte, bis der Fremde so nahe stand, dass er sich zu ihr runter und an ihr Ohr beugen konnte.

„Ich nehme dich beim Wort, Kleine.“

Danach verschwamm das letzte Licht, das die Nacht der Welt gelassen hatte, um sie herum, begleitet von einem dumpfen Schmerz, der in ihrem Nacken pulsierte.

„Nein! Hades, was-“ Die Worte drangen gedämpft an ihr Ohr, als sei sie von Wasser umgeben.

Hades?

… Würde sie jetzt sterben?
 

Izumi Katos letzter Gedanke war ein belustigter. Sie hatte noch nie viel für Geschichte übrig gehabt. Noch weniger hatte sie sich für Religion interessiert. Dementsprechend hatte sie in diesen Fächer selten richtig aufgepasst. Daher fand sie es einen doch äußerst sarkastischen Wink ihres angeschlagenen Verstandes, dass ihr ausgerechnet in ihrem letzten Moment auf dieser Erde die Bedeutung dieses verdammten alten Wortes wieder einfiel. Und dann auch nur mit der Absicht, dass sie jetzt darüber nachdachte, ob sie nun wirklich in die Hölle kam – in die griechische Hölle, den Hades, wohl gemerkt. Dabei war sie noch nie in Griechenland gewesen…

Habe ich das wirklich verdient?

Sie dachte an die letzten Stunden zurück, an die letzten Jahre, an ihre Taten, an die vielen verletzenden Worte, die sie ihrem Bruder bei so verdammt vielen Gelegenheiten an den Kopf geworfen hatte. Ein verzweifelter Teil in ihr, der an dem Leben weiterhin krampfhaft festhielt, stellte sich die Frage erneut.

Der Rest ihres Bewusstseins brach in schallendes, überschnappendes Gelächter aus.

Meet-and-Rebuff

„Das Mädchen, Izumi Kato, wurde in einen Auftrag von Hades und mir verwickelt, den wir trotz der anfänglichen Schwierigkeiten, zu denen sie ebenfalls beigetragen hatte, erfolgreich zu Ende bringen konnten. Wir fanden sie und die Zielpersonen in einer Gasse vor, in der einer der beiden gesuchten Männer versucht hatte sie zu missbrauchen; durch unser Eingreifen konnte dies allerdings verhindert werden. Eine weitere Person war anwesend, die schwere Verletzungen davongetragen hat – wie sich im Nachhinein herausstellte, handelte es sich dabei um Izumis Bruder. Auf ihr Bitten hin, haben wir den Mann mitgenommen. Außerdem hat sie … sich dazu entschlossen, Olymp beizutreten.“

Zeus stockte kurz in seinem Monolog und kaute auf seiner Unterlippe. Die Worte waren nicht richtig und für einen Moment dachte er darüber nach, das Tape wieder zu löschen. Doch das wäre Hades sauer aufgestoßen. Er hatte auf diese Wortwahl bestanden…

Er seufzte leise und fuhr sich durch die schwarzen Haare. „Ihr Zustand ist stabil, es gab keine Komplikationen mit Memoria. Über ihren Namen wird Hades entscheiden, da er für ihre Aufnahme bürgt.“ Er sah schweigend auf das alte Diktiergerät hinab. Dieser Teil war geschafft – fehlte nur noch die noch unangenehmere Aufgabe. Er griff nach einem Klemmbrett, das auf dem Tisch lag.

„Ihr Bruder, Toshihiko Kato, wurde von unseren Ärzten bestmöglich behandelt. Er hatte sich bei dem Versuch, seiner Schwester zu Hilfe zu kommen, in einen Kampf mit einem der beiden Zielpersonen verwickeln lassen. Dabei wurde er mit einem Taschenmesser lebensbedrohlich verletzt.“ Er überflog kurz die Seiten der Krankenblätter, ehe er sachlich fortfuhr: „Neben Prellungen an Schultern und Thorax und einer leichten Platzwunde, erlitt er eine zentimetertiefe Schnittwunde quer über den Hals, wobei die tiefste Stelle oberhalb des Kehlkopfes liegt und dort bis auf die Stimmbänder geht, sodass diese durchtrennt wurden und die Luftröhre an diesem Punkt angeschnitten worden ist. Die Wunde der Trachea konnte behandelt und verschlossen werden, die Stimmbänder werden allerdings nach jetzigem Stand nicht mehr wiederherstellbar sein. Sein Zustand ist weiterhin instabil, vor allem bedingt durch den hohen Blutverlust, den der Junge erlitten hat, sodass sein Überleben noch nicht ganz bestätigt werden kann.“ Zeus unterbrach sich für einen Moment und holte tief und lange Luft, um sich zu sammeln. Das Klemmbrett wieder weglegend fuhr er fort: „Falls Toshihiko seine Verletzungen überleben sollte, werden wir ihn ebenfalls bei Olymp aufnehmen; in diesen Fall wird er meinen Männern unterstellt werden und Äneas heißen.“ Er hatte lange über einen passenden Namen für ihn nachgedacht, immerhin wusste er nicht das Geringste über den jungen Mann, lediglich die Tatsache, dass er sich für seine Schwester in Lebensgefahr gebracht hatte. Das Bild des Mädchens tauchte vor seinem geistigen Auge wieder auf, wie sie an seinem Mantel gezerrt und ihn um Hilfe angefleht hatte. Dieser Toshihiko liebte seine Schwester und deshalb fand er den Namen des Romgründers, der ebenfalls seine Familie vor den Flammen Trojas beschützt hat, am treffendsten.

Zeus überlegte kurz, ob er etwas vergessen hatte, dann drückte er die Stopp-Taste des Memogerätes und lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück. In seinem Kopf hämmerte es schon seit Stunden und er wartete nur noch auf den Moment, in dem sein Schädel einfach explodierte. Seine letzte ruhige Nacht, die man ihn hatte durchschlafen lassen, lag auch schon ein paar Tage zurück, erinnerte er sich und wie zur Bestätigung musste er gähnen. Das Geschwisterpaar raubte ihm alle Nerven. Seit drei Tagen operierten ihre Ärzte an dem Jungen herum und auch das Mädchen war, seit Hades sie in der Gasse betäubt hatte, nicht mehr ansprechbar gewesen. Ständig kamen neue Nachrichten über Toshihikos Zustand, die tendenziell schlechter als besser wurden. Und wie oft hatte er sich seit dieser Zeit schon wieder mit Hades in die Haare gekriegt? Zu oft, schloss er in Gedanken. Hades wollte sich nicht von der Idee abbringen lassen, die junge Frau bei Olymp aufzunehmen. Zeus sah das kritisch und konnte nicht wirklich den Sinn hinter dieser überstürzten Aktion entdecken. Aber nun war es eh zu spät, nun war das Gedächtnis der Kleinen gelöscht.

Er seufzte genervt und fuhr sich noch einmal durch den schwarzen dichten Schopf. Wenn das hier irgendwann mal ausgestanden war, würde er wahrscheinlich schlohweiß sein…

Die Müdigkeit umhüllte ihn mit jeder Sekunde mehr, sodass er einfach die brennenden Augen schloss und sich dieser hingeben wollte, als es auf einmal an der Tür klopfte – zum wievielten Mal an diesem Tag?

„Ja“, brummte er verstimmt und richtete sich wieder in seinem Stuhl auf. Ein Mann in weißem Kittel öffnete die langsam verhasste Bürotür und lugte ins Zimmer hinein. Anscheinend konnte man Zeus seine schlechte Laune ansehen, so vorsichtig wie der Arzt zu ihm herüberschaute.

„Verzeihen Sie“, begann er zögerlich. „Das Mädchen ist wach.“

Mit einem Schlag war seine Müdigkeit dahin.

„Wie geht es ihr?“

„Soweit gut. Memoria scheint erfolgreich gewesen zu sein. Hades ist bereits bei ihr.“

Mit einer Geschwindigkeit, die er sich selbst gar nicht mehr zugetraut hätte, kam er auf die Beine und verließ sein Büro, dass sich der junge Arzt gegen den Türrahmen pressen musste, um seinen Chef vorbei zu lassen. Mit eiligen Schritten folgte er dem Gott, nachdem er die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte.

„Bleib bei dem Jungen und berichte mir, wenn sich sein Zustand verändern sollte.“

„Ja, Sir.“

„Und bete, dass die nächste Nachricht, die du mir überbringst, die ist, dass er aufgewacht ist“, fügte er ungewollt tief knurrend hinzu, dass der junge Arzt neben ihm zusammenzuckte. „Und das sollte frühestens erst Morgen der Fall sein – haben wir uns verstanden?“

Der Mann beeilte sich zu nicken; anscheinend hatte er Zeus‘ unterschwellige Botschaft bemerkt. „Ich… denke, das ließe sich einrichten… Sir.“

„Gut.“, brummte der Gott nun etwas milder gestimmt und bog um die letzte Ecke, ehe sie den Krankentrakt erreichten.
 

Das Mädchen sah Hades aus geröteten Augen an. Ihr Irispaar leuchtete in dem unnatürlichen Licht der Neonröhren über ihren Köpfen blau wie das Meer, durch das sich tiefgrüne Fäden zogen. Ihre vollen Lippen waren rau und an einigen Stellen aufgeplatzt, doch er war sich sicher, dass das nur an der harten Zeit lag, die sie hinter sich hatte. Auch ihren langen dunkelbraunen Haaren sah man die Strapazen der letzten Tage an; ungekämmt, zerzaust und fettig klebten sie dem Mädchen am Rücken. Sie war unglaublich blass und unter ihren großen Augen lagen tiefe Ringe. Alles an ihr machte einen schwächlichen, kümmerlichen Eindruck.

Für ihn war sie eine Schönheit.

Egal, wie mitgenommen sie im Moment aussah, sie würde wieder so schön wie an dem Abend werden, an dem Hades sie das erste Mal gesehen hat. So jugendlich schön. Hades kannte ihr Alter und wusste somit, dass sie längst keine Jugendliche mehr war, aber ihre Erscheinung strafte ihn dennoch Lügen, so kam es ihm vor. So unschuldig, so zerbrechlich. Sein Blick tastete jeden Winkel ihres Gesichtes ab, blieb an ihren fragenden Lippen hängen, an ihrer zierlichen Nase, an ihren Augen, ihren wunderschönen Augen. Ihr Anblick brachte ihn zum Lächeln.

„Ich weiß, das muss alles für dich noch sehr angsteinflößend klingen“, antwortete er auf ihre stumme Frage. „aber du musst dich nicht fürchten…“ Er zögerte, wenn auch nur für einen kurzen Wimpernschlag ihrer blassen Lider, aber für ihn fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Ihr Name lag ihm schwer auf der Zunge. „…Persephone.“

Etwas veränderte sich in ihrem Blick, eine Nuance von etwas, das Hades nicht zu deuten vermochte, ihm selbst allerdings das Herz mit der Angst belegte, dass sie ihm entglitt, sie vor ihm zurückwich, langsam nur, jedoch beständig. Du hast ihr nicht ihr Allgemeinwissen genommen, sie weiß um die Bedeutung ihres Namens. Einem Reflex folgend, griff er nach ihrer Hand, vorsichtig, als nähere er sich einem wilden, scheuen Tier. Ihr Blick huschte kurz zu ihrem Handrücken, der nun unter seiner im Vergleich viel größeren Pranke verborgen lag, dann starrte sie ihn erneut an, ihr Gesicht eine einzige verwirrte Frage.

„Ich werde dich ab jetzt immer beschützen. Egal vor was, egal vor wem.“

Ihre Augen sahen ihn hypnotisch an, er spürte, wie ein Ruck durch ihre kalten Finger ging, sah sie Luftholen, als wolle sie ihm antworten und dieses Erwachen, diese kleine Bewegung ihrer wunderbaren rosa Lippen, ließ in Hades eine ungewohnte Euphorie explodieren, die ihn noch breiter grinsen ließ. Dann jedoch zuckte ihr Blick zur Seite um ihr Augenmerk auf etwas anderes zu richten und im selben Moment zog sie ihre Hand unter seinem lockeren Griff hervor. Hätte sie ein Messer gezogen und wäre damit auf ihn losgegangen, es hätte in ihm genau denselben Schock ausgelöst, den er nun mit Mühe zu unterdrücken versuchte. Er ließ sich Zeit damit, sich auf seinem Stuhl umzudrehen; er wusste auch so, wer eingetreten war. Viel Auswahl an Befugten, die diesen Trakt betreten durften, gab es nicht, und die Zahl der Leute, die es dazu auch noch wagen würden, sich einfach ohne anzuklopfen in ein Zimmer herein zu schleichen, war da noch übersichtlicher. Der Schock machte mit jedem Herzschlag einer tief verankerten Wut immer mehr Platz in seinem Inneren.

Zeus war an das Krankenbett getreten, mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen, als besuche er seine kleine Schwester.

„Wie mir scheint, bist du wieder wohlauf.“, begann er aufatmend und setzte sich an das Fußende des Bettes. Den säuerlichen Blick, den Hades ihm dabei zuwarf, schien ihn davon keineswegs abzuhalten. „Du hast uns allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“, fügte er mit einem besorgten Stirnrunzeln hinzu, woraufhin das Mädchen verlegen den Kopf senkte.

„Hades hat mir alles erzählt.“, sagte sie leise und mit heiserer Stimme. Die schmalen Finger, die Hades vor ein paar Augenblicken noch in seiner Hand gehalten hatte, nestelten nun an dem Stoff der Bettdecke herum. Er widerstand dem Drang, noch einmal schützend und mit einer gewissen Begierde nach ihnen zu greifen; er spürte Zeus‘ bohrenden Blick und Hades wusste, dass sein Partner diese Geste sehen und falsch interpretieren würde. Das letzte, was er wollte, war das Mädchen durch ihren stummen Streit, der definitiv dann ausbrechen würde, zu belasten.

„Es ist meine Schuld, dass ich … so schwer verletzt wurde“, fügte sie zögernd hinzu und hob tapfer den Blick zu den Männern, die sie so sehr musterten. „Ich hätte nicht alleine dort raus gehen dürfen. Ich hätte … Olymp nicht verlassen dürfen, ohne ein Wort zu sagen.“ Sie verzog ihre aufgeplatzten Lippen zu einem vorsichtigen Lächeln, das, so musste Hades wütend erkennen, nur an Zeus gerichtet zu sein schien. „Hätten Sie und Hades mich nicht rechtzeitig gefunden, dann-“ Sie verstummte hilflos und zuckte nur abschließend mit den schmalen Schultern. Hades nutzte den Moment, den Zeus zu langsam war, um zu antworten, um selbst das Wort zu ergreifen. In sein Lächeln legte er alles Liebevolle, zu was er imstande war.

„Jetzt bist du ja wieder in Sicherheit. Und sobald du wieder auf den Beinen bist, werde ich dafür sorgen, dass du lernst dich verteidigen zu können. Dann brauchst du keine Angst mehr zu haben, Persephone.“

Er bemerkte den Ruck, der bei seinem letzten Wort durch Zeus‘ Haltung ging, ebenso wie seinen starrenden Blick, der fast schon körperlich schmerzte. Ich bewege mich auf den Abgrund zu… Etwas in ihm ergötzte sich an Zeus‘ Unruhe und hätte, trotz allen vernünftigen Stimmen in seinem Kopf, das Spiel gerne noch weiter fort getrieben, doch da kam der Schwarzhaarige ihm zuvor.

„Liebes, würdest du uns für einen Moment entschuldigen?“, sagte er sanft an die junge Frau gewandt, die, nach ihren nervös hin und her huschenden Augen zu urteilen, die angespannte Stimmung sehr wohl mitbekommen hatte. Ihr zaghaftes Nicken kaum abwartend, legte er Hades eine Hand von hinten auf die Schulter und die Warnung, die mit dieser Geste stumm einher ging, hätte nicht deutlicher sein können. „Ich will mit dir unter vier Augen reden.“, sagte er nun leiser und Hades konnte seinen Zorn, der unterschwellig in seiner Stimme mitschwang, beinahe wie eine Gänsehaut auf seinen Armen spüren. Er sah über die Schulter in Zeus‘ dunkle Augen, die bedrohlich funkelten, dann fiel die weiß gestrichene Tür in sein Blickfeld. Wenn er jetzt da hinaus ging, würde ein neuer Streit vom Zaun gebrochen werden. Unausweichlich.

Hades stand auf und Zeus tat es ihm augenblicklich gleich. Sein Partner neben ihm kochte vor Wut, warum, das wusste Hades ganz genau. Und es war ihm scheißegal. Er konnte von sich selbst auch nicht behaupten, vollends entspannt zu sein; nicht mehr, seit dem der blasse Nervenaufreiber diesen Raum betreten hatte. Er hatte eine Entscheidung für sich gefällt und von der ließe er sich auch nicht mehr abbringen. Das letzte, was er tun würde, wäre vor Zeus zu kriechen, nur um ihn zu beruhigen! Er sah noch einmal auf Persephone hinab. Seiner Persephone. Ein zuversichtliches Lächeln huschte über sein Gesicht, dann wandte er sich ab und ging, gefolgt von Zeus, vor die Tür.
 

Sie brauchte noch zwei weitere Tage, bis die Ärzte und Hades ihr erlaubten, das Krankenzimmer zu verlassen. Nach dem Zwischenfall an dem Tag, an dem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte Persephone Zeus kein einziges Mal mehr gesehen. Hades hatte ihn immerzu entschuldigt und die viele Arbeit als Argument für sein Fernbleiben angebracht. Persephone spürte in ihrem Inneren, dass es etwas anderes sein musste; sie hatte die Reaktion und den plötzlichen Stimmungswechsel mitbekommen, und so sehr die beiden Männer wohl auch bemüht gewesen waren sich leise zu streiten, so hatte sie dennoch ein paar undeutliche Gesprächsfetzen der Diskussion hinter der Tür gehört, die sie allerdings so gut es ging zu ignorieren versucht hatte. Dass es allerdings in dem Streit um sie ging, war nicht zu überhören gewesen, so oft wie ihr Name gefallen war.

Hades war täglich mehrmals bei ihr gewesen, hatte sich zu ihr ans Bett gesetzt und ihr von Olymp erzählt. Doch wirkliche Vorfreude, dieses triste Zimmer ohne Fenster endlich verlassen zu dürfen, stellte sich trotz der vielen Schilderungen nicht ein. Umso mulmiger war ihr zu Mute, als sie ihre bereitgelegten Sachen anzog, nachdem sie zum letzten Mal vom Arzt untersucht worden war. Dort draußen wartete Hades, das wusste sie, um sie abzuholen. Sie konnte sich nicht erklären, wovor sie eigentlich solche Bedenken hatte. Vielleicht die einfache Tatsache, dass sie wusste, welche Welt sie hinter dieser Tür erwartete, Hades hatte ihr ja ausführlich von ihr erzählt; nur, und das verunsicherte sie, hatte sie selbst keinerlei Erinnerungen an sie. Keine einzige.

Hades hatte gesagt, dass sie von Olymp weggelaufen sei, kurz nachdem sie der Organisation beigetreten war, und war nach den ersten zehn Minuten ihrer Flucht in eine Gruppe von gewalttätigen Männern gerannt. Hades hatte an dieser Stelle bedeutungsschwanger geschwiegen. Sie hatte nur dagesessen, in ihrem bequemen Krankenbett, und ihn angestarrt. Tatsächlich waren bei seinen Worten Bilder durch ihren schmerzenden Kopf gezuckt, von einem Mann, der sie zu Boden drückte und würgte. Wären Hades und Zeus nicht aufgetaucht, wäre sie wahrscheinlich nicht mehr am Leben…

Noch jetzt jagte dieser Gedanke ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Und das, was hinter dieser weißen Krankenzimmertür lag, kam ihr auch nicht viel verlockender vor. Aber das war ihr Leben, oder? Ihr selbstgewähltes Leben. Wieso fühlte es sich dann nur so an, als würde sich alles in ihr umdrehen, warum zog sich ihre Kehle bei dem Gedanken zu, dort hinaus zu Hades zu treten?

Sie atmete tief ein. Ja, Hades würde bei ihr sein, ihm konnte sie vertrauen! Mutig reckte sie das Kinn vor, ballte die Hände zu Fäusten und drückte die kalte Klinke der Tür hinunter.

Tatsächlich wartete der große Braunhaarige dort, doch er war nicht alleine. Ein weiterer Mann stand neben ihm, schlank gebaut, dabei allerdings recht muskulös, mit längeren schwarzen Haaren, die er zu einem kurzen Pferdeschwanz im Nacken gebunden trug. Nicht unansehnlich, fuhr es ihr durch den Kopf, bis sich der Mann zu ihr umdrehte und sie mit braunen Augen abweisend musterte. Der kalte Blick ließ sie zurückweichen. Hades drehte sich in dem Moment auch zu ihr um und lächelte sie gewohnt freundlich an.

„Ah, da bist ja endlich. Bereit? Kann’s los gehen?“

Sie brauchte ein paar Sekunden um ihre Sprache wieder zu finden und den stechenden Blick des Fremden auszublenden.

„Wo ist Zeus?“

Hades‘ Lächeln brach kaum merklich ein Stück weit in sich zusammen. „Er hat leider keine Zeit, aber er muss ja auch nicht unbedingt anwesend sein, wenn ich dich den anderen vorstelle.“ Sein Lächeln nahm wieder zu, als er ihren besorgten Blick bemerkte. „Als … Ersatz sozusagen habe ich D mitgebracht.“, fügte er aufmunternd hinzu und deutete auf den Fremden. Persephone zwang sich, D aus Höflichkeit in die kalten Augen zu sehen, was diesem anscheinend recht wenig interessierte, denn kaum trafen sich ihre Blicke, wandte er sich auch schon wieder ab.

„Ich werde die Kleine noch früh genug kennen lernen müssen, lass uns diese dämliche Vorstellungsrunde einfach hinter uns bringen.“, sagte er schlecht gelaunt und ging den langgezogenen Trakt hinab. Verwirrt und eingeschüchtert zugleich sah Persephone diesem komischen Typen mit klopfenden Herzen hinterher, dann fuhr ihr Kopf zu Hades herum, der leise und gekünstelt zu Lachen begonnen hatte.

„D neigt leider zum Zynismus.“, entschuldigte er sich etwas hilflos lächelnd und bedeutete ihr, dem Schwarzhaarigen zu folgen.

Das erste, was Persephone an Olymp auffiel, war seine Tristheit; zumindest in Bezug auf die endlos verworrenen Gänge, die alle den gleichen elfenbeinfarbenen Anstrich besaßen. Wären Hades und Dark Amor – D’s vollständiger Name, den Hades ihr leise im Gehen zugeflüstert hatte – nicht bei ihr gewesen, hätte sie sich wahrscheinlich nach zwei Gängen hoffnungslos verlaufen.

Ihr Ziel lag keine drei Minuten von dem Krankentrakt entfernt und schon von weiter weg konnte sie das Stimmengewirr, das aus dem großen Gemeinschaftssaal schwappte, vernehmen. Auf dem Weg dorthin kamen ihnen nun immer häufiger Mitglieder entgegen, die, sobald sie Persephone entdeckten, sich ungläubig die Hälse im Gehen nach ihr verdrehten. Etwas verschüchtert musterte sie die in Schwarz gekleideten Männer.

„Und das sind alles … Massenmörder?“ Sie hatte sich die Frage selbst gestellt und auch so leise gesprochen, dass sie davon ausgegangen war, dass niemand anderes als sie gehört hatte, umso erschrockener fuhr sie zusammen, als D neben ihr auf einmal schulterzuckend antwortete.

„Die meisten, aber nicht alle. Viele sind noch viel zu dämlich, um jemanden umzubringen.“

Sie starrte ihn fassungslos an, doch D verzog keine Miene und sah stur geradeaus. Verzweiflung schnürte ihre Kehle zu und wimmernd fuhr sie sich durchs Gesicht.

„Das kann doch alles nicht real sein…“, wisperte sie und ein Schauer lief ihr den Rücken runter. D schnaufte genervt.

„Was willst du jetzt von mir hören?“ …dass ich gleich schweißgebadet in meinem Bett aufwache.

Sie blieben vor dem Eingang des Saals stehen, der mit an die 40 Männer gefüllt war, die an hier und da verstreuten Tischen saßen. Keiner schenkte ihr Beachtung; noch nicht, schoss es ihr durch den Kopf und erinnerte sich an die Blicke derjenigen, die sie schon gesehen hatte. Sie fuhr mit den Augen die Menge prüfend ab, nicht sicher, was sie genau suchte, dennoch kam ihr etwas an dem Bild verkehrt vor. Stirnrunzelnd sah sie zu D hinauf.

„Gibt … es eigentlich Frauen, die für Olymp arbeiteten?“ Die Worte kamen ihr nur zögerlich über die Lippen; D vermittelte immer noch den Eindruck, als habe man ihn zu einem Shoppingausflug mit seiner Freundin verdonnert. Der schon beinahe vertraute, abfällige Blick traf sie nun, als er auf sie herabblickte und eine dunkle Braue nach oben zog.

„Dich.“, sagte er nur, doch das reichte schon aus, um Persephone einen weiteren Schauer durch ihren ganzen Körper zu jagen. Man ließ ihr keine Zeit, ihre Gesichtszüge, die sich in Verwirrung, Schock und überforderter Hilflosigkeit auftrennten, wieder zu ordnen, denn im nächsten Moment trat Hades an ihre andere Seite und schob sie in den Saal.
 

Eine ansehnliche Menge von Scheinen wurde zwischen ihnen auf den Tisch gelegt und kritisch von beiden Parteien beäugt. Nach ein paar Augenblicken der Stille beugte sich Hephaistos über die Tischplatte hinweg Orpheus entgegen.

„Hektor gegen deinen Zögling.“, brummte der Ältere und grinste siegessicher, dass sich die Narben um seine Mundwinkel herum grotesk verzogen. Ein junger Mann stand hinter ihm und schaute mit versteinerter Miene auf den Braunhaarigen hinab. Seine nackten Oberarme gaben den Blick auf stählerne Muskeln frei, die durch stundenlanges, schweißtreibendes Krafttraining geformt worden sind. Orpheus‘ Miene blieb unverändert neutral und stumm wechselte das Geld den Besitzer.

„Gerne.“, entgegnete er jetzt freundlich und zählte die Scheine kurz nach. „Sag mir wann und wo.“

Die Augen des alten Schmiedes von Olymp begannen zu leuchten und lachend erhob er sich. „Hektor wird mit Ares den Boden wischen. Morgen, um halb zwei.“

Gelassen sah Orpheus auf und nun lag auch auf seinen Lippen ein kleines Geschäftsmann-Lächeln. „Wir werden da sein.“

Damit drehte sich der breitschultrige Alte auf dem Absatz um und ging seines Weges; sein stummer Anhang stapfte hinter ihm her und wich Hephaistos keinen Meter von der Seite, als seien sie miteinander verwachsen. Mit spöttisch hochgezogener Augenbraue sah Orpheus den beiden hinterher und unweigerlich spukten Herks berühmte Worte in seinem Kopf herum:

Du glaubst nicht, du denkst nicht, du weißt!

Dass diesem aufgepumpten Kämpfer das Denken abtrainiert wurde, stand ihm regelrecht auf der Stirn tätowiert … Hephaistos gehörte, noch mehr als Herk, zum alten Schlag, der diesen „Leitspruch der Handelnden“ tatsächlich weiterhin wörtlich nahm.

Der Gedanke ließ ihn amüsiert den Kopf schütteln, dass er gar nicht richtig mitbekam, wie ihm im nächsten Moment die Geldscheine aus der Hand gepflückt wurden.

„Und, wie viel bin ich diesmal wert?“, brummte Ares mürrisch und wollte gerade nachzählen, doch da hatte sich Orpheus die Scheine schon wieder zurückgeangelt und ließ sie in seiner Mantelinnentasche verschwinden, was der Jüngere mit einem Schmollen quittierte.

„Eine Menge“, antwortete sein Partner gut gelaunt. „Und wenn du dich ein wenig konzentrierst, werden das leicht verdiente Mücken sein.“

Ares schien von dieser Vorstellung immer noch nicht sonderlich begeistert zu sein. „Ist das eigentlich normal hier, dass man seine jüngeren Partner wie Rennpferde verwettet? Falls es dich interessiert, ich fühle mich ziemlich benutzt!“

Zuerst sah ihn der Schwarzhaarige mit einem fragenden Blick an, dann begann er wieder zu grinsen und klopfte Ares auf die Schulter. „Komm schon, dir gefällt das doch.“, gab er feixend zurück. „Du kannst kämpfen und bekommst auch noch Geld dafür, dass du alle grün und blau schlägst, wo ist dein Problem?“

„Weiß nicht - vielleicht das Gefühl, dass du dich dabei manchmal wie mein Zuhälter aufführst?“

„Nun zick‘ nicht rum, Lucy.“, konterte Orpheus schmunzelnd; Ares dagegen schien den Scherz dahinter weniger zu begeistern.

„Findest du das witzig?“, knurrte er düster und augenblicklich wurde auch sein Partner wieder ernst.

„Nein, eher wichtig! Du musst gegen viele verschiedene Gegner kämpfen, sonst verbesserst du dich nie. Jeder kämpft anders, jeder hat seinen eigenen Stil. Es gibt keinen Prototyp, genauso wenig wie es den Kampfstil gibt, mit dem du alle anderen schlägst. Was glaubst du warum Herk dich damals gegen alle Mitglieder hat antreten lassen?“

Für Sekunden brodelte der stumme Kampf zwischen ihnen weiter, dann gab sich Ares schnaufend geschlagen. Immer noch verstimmt fuhr er sich durch die kurz geschnittenen Haare.

„Irgendwie schein ich aber der einzige Depp zu sein, der alle anderen verprügeln muss.“, murrte er. Orpheus fand nun wieder zu seinem altbekannten Lächeln zurück.

„Ja, aber dadurch bist du auch einer der besseren Deppen hier.“

Etwas begann wieder in Ares‘ Augen zu funkeln, doch bevor der Blonde auch nur Luft holen konnte, veränderte sich spürbar die Stimmung im Saal, der ungewöhnlich still geworden war. Immer mehr Leute sahen zum Eingang, sodass auch Ares verwirrt den Kopf drehte. Hades war eingetreten, an seiner Seite der frisch gebackene Springer aus den Reihen seiner Scharfschützen. Was die Blicke aller Anwesenden jedoch fesselte, war die dritte Person, die zwischen den beiden hochgewachsenen Männern etwas verloren wirkte. Die junge Frau war äußerst blass in Gesicht, was durch die dunklen Sachen, die sie trug, noch unterstrichen wurde, und mit unsicherem Blick starrte sie der Menge der Mitglieder entgegen. Ihre langen schwarzen Haare waren in einem lockeren Pferdeschwanz zusammengehalten, dennoch vielen ihr einige Strähnen ins Gesicht, als habe sie sich in Hektik frisiert. Ihre schmalen Hände nestelten und fuhren immer wieder über den Saum des schwarzen Tops, das sie trug, als wisse sie nicht recht, wohin mit ihnen.

Als Hades ihr in dem Moment eine Hand auf die Schulter legte, sah sie kurz zu ihm auf und ihre Nervosität schien etwas von ihr abzufallen. Vereinzelt hörte Ares gemurmelte Gespräche, die hinter vorgehaltener Hand hier und da geführt wurden, doch in dem Moment erhob der Gott der Unterwelt seine Stimme und sofort verstummte wieder jedes Geräusch.

„Das hier ist Persephone.“, begann Hades laut und ließ den Blick durch den Saal schweifen, als wolle er jeden direkt ansprechen. „Sie ist unser neustes Mitglied und wird meiner Truppe beitreten. Und somit meinem direkten Befehl unterstehen.“ Er legte eine kurze Pause ein. Die Mitglieder tauschten unsichere oder skeptische Blicke aus, auch erblickte Ares das ein oder andere fassungslose Kopfschütteln in der Menge. Orpheus neben ihm wurde immer ernster. „Behandelt sie mit Respekt und sieht sie als euresgleichen an.“, fuhr er mit dominanter Stimme fort. „Und helf ihr, sich hier zurecht zu finden.“

Hades ließ seine Worte noch ein paar Sekunden nachklingen, dann klopfte er der Frau neben sich mit einem aufmunternden Lächeln auf die Schulter und verließ schweigend den Saal. D verweilte noch kurz an ihrer Seite, dann ging er auf eine der Tische zu, an dem andere Scharfschützen saßen, und ließ das neue Mitglied somit allein in der Mitte des Raumes stehen. Überall brachen augenblicklich Gespräche aus, manche hitzig, die dann mit verstohlenen Gesten und Blicken auf Persephone unterstrichen wurden, andere von fassungsloser oder neugieriger Natur. Ares starrte die junge Frau, die etwa in seinem Alter zu sein schien, blinzelnd an, dann drehte er sich wieder zu Orpheus um.

„Okay, das war mal `ne merkwürdige Ansprache.“, sagte er und zog verwirrt die Stirn kraus. „Veranstaltet Hades immer so ein Drama, wenn er `nen neuen Schützen aufnimmt?“ In den viereinhalb Jahren, die er nun schon bei Olymp war, hatte er den einen oder anderen Eintritt in die Organisation mitbekommen, allerdings war dabei kein einziges Mal ein Mitglied so, eskortiert von dem Chef persönlich, den anderen vorgestellt worden. Er sah sich skeptisch im Saal um. Die Situation hatte einen angespannten Unterton erhalten, der ihm nicht ganz geheuer war - anscheinend war er nicht der einzige, der sich über den Auftritt dieser Frau wunderte.

Einige sind in der Zwischenzeit auf Persephone zugegangen und versuchten sie in ein Gespräch zu verwickeln, doch sie wimmelte jeden mit einem aufgesetzten Lächeln ab und sah sich etwas hilflos wieder im Saal um. Kurzerhand steuerte sie auf den Kaffeautomaten zu, der neben dem Eingang stand, als wolle sie sich in irgendeine Tätigkeit retten. Orpheus‘ düstere Stimme ließ Ares wieder herum fahren.

„Es geht nicht um das neue Mitglied an sich, sondern um die Tatsache, dass es sich dabei um eine Frau handelt…“

Unweigerlich musste Ares schmunzeln. „Wieso, sind in unserem Klub keine Mädchen erlaubt?“, fragte er mit spöttischem Unterton, der ihn allerdings nur einen giftigen Blick des Dunkelhaarigen einbrachte, sodass er sofort wieder versuchte ernst zu wirken.

„Es wurde noch nie eine Frau aufgenommen.“, formulierte Orpheus seine Antwort neu. „Es ist kein ungeschriebenes Gesetz, aber bis jetzt haben sich Zeus und Hades immer geweigert, Frauen das anzutun.“ Ares zog fragend die Brauen zusammen, ob der merkwürdigen Formulierung seines Partners, doch Orpheus ignorierte ihn. Mehr zu sich selbst fuhr er dann, den Blick auf die unerwünschte Frau gerichtet, fort: „und dass Zeus nicht hier ist, macht mich auch stutzig…“

Ares tat dies mit einem Schulterzucken ab. „Du weißt doch, Zeus ist immer beschäftigt; grenzt schon immer an ein Wunder, wenn man ihn mal außerhalb seines Büros antrifft.“

Sein Partner machte nicht den Eindruck als hätte er ihn gehört. Immer noch sah er angespannt zu Persephone hinüber, die sich an einen einsamen Tisch gesetzt hatte und mit beiden Händen den mit Kaffee gefüllten Pappbecher umschloss, wobei ihr Blick misstrauisch auf den anderen Mitgliedern lag, die wiederum verstohlen zurückstarrten. Ares erinnerte das Bild an eine Antilope, die sich direkt neben einem Löwenrudel zum Wasserloch begeben hatte. Als Orpheus auch nach Sekunden nicht reagierte, stieß Ares ihn genervt an der Schulter an.

„Hey, jetzt werd mal wieder gelassener! Freu dich doch, dass wir hier unten endlich was zu Gucken haben.“ Er lächelte tapfer gegen Orpheus‘ von Skepsis zerfressenen Gesichtsausdruck an. „Die Kleine sieht echt niedlich aus!“

Die Andeutung verfehlte ihre Wirkung um Kilometer; statt eines prüfenden, neugierigen Blickes in Richtung der offensichtlichen Schönheit, erdolchte Orpheus seinen grinsenden Freund mit tödlicher Präzision.

„Ares, merkst du gar nichts?“, fuhr er ihn gereizt an. „Diese Stimmung?“ Er deutete in die angespannte Runde. „Sie dürfte nicht hier sein! Sie wird nur Probleme streuen - für uns und vor allem für sie selbst!“

Nun breitete sich auch in Ares die Wut aus. Abwehrend hob er die Hände.

„Alter, bleib locker, es ist nur eine Frau! Kerngesund und sie macht auf mich auch nicht den Eindruck, als könnte sie uns alle im Schlaf erdrosseln…“

Orpheus schüttelte energisch den Kopf. „Ich rede nicht von solchen Problemen. Hast du Hades‘ Worte gehört? Hast du mitbekommen, wie sie heißt?“

Ares hob ungläubig eine Augenbraue. „Persephone, und?“

„Wer ist Persephone in der Mythologie?“ Orpheus schien mit jedem Wort einer Explosion näher zu rücken.

„Was hat das mit ihr-“

„Wir erhalten unsere Namen nicht umsonst, Ares, das müsste auch dir langsam mal aufgefallen sein.“, schnitt er ihm gereizt das Wort ab und bevor Ares ihm für diese Aussage zurechtstutzen konnte – ob verbal oder mit den Fäusten, konnte er in diesem Moment nun wirklich nicht mehr entscheiden, dafür machten ihn diese dämlichen Paranoia seines Partners zu rasend - fuhr Orpheus ungeduldig fort: „Also: wer ist sie?“

Kurz spielte Ares mit dem Gedanken einfach aufzustehen um in sein Zimmer zu gehen und dem drohenden Streit so den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sollten doch alle ruhig verrücktspielen, weil ein kleines Mädchen auf ihrem Spielplatz nun mitmischen durfte, ihm war das egal! Doch dann atmete er einmal tief durch und versuchte das ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Orpheus war nicht der Mensch, der sich von einer Veränderung im Alltag so nervös machen lässt – und schon gar nicht würde er wegen so einer Veränderung, die nun unschuldig in der einen Ecke ihres Aufenthaltsraumes saß und ihren Kaffee kalt pustete, so schnell seine Gelassenheit verlieren; im Gegenteil hatte er sogar gedacht, dass der ehemalige Springer einer der Ersten wäre, der diese Chance für sich ausnutzen würde, um seinen Charme spielen zu lassen. Immerhin wusste Ares, wie Orpheus ticken konnte, wenn man ihn ließ…

Seine eigene Unruhe herunter kämpfend, dachte er einen Moment über Orpheus‘ Frage nach, ehe er schulterzuckend zur Antwort ansetzte.

„Persephone ist die Unterweltgöttin, Hades‘ Frau…“ Er unterbrach sich stockend und zog die Stirn kraus. „Moment. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die was mit dem Alten am Laufen hat?“ Sein Blick fuhr ungläubig zu der Dunkelhaarigen herum.

„Es hat einen Grund, warum sie diesen Namen trägt.“, hörte er Orpheus düster sagen, was ihn wieder skeptisch zurückschauen ließ.

„Meinst du nicht, dass du die Flöhe husten hörst, Orpheus?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es hätte noch dutzende von anderen Namen für sie gegeben…“

„Ach ja? Und welche?“, fragte er und musterte sie von neuem nachdenklich. „Hera?“, fragte er sich selber und fing amüsiert an zu schmunzeln. „Nun, hier unten wird sie wohl kaum auf eine Rivalin treffen, auf die sie eifersüchtig sein könnte. Aphrodite vielleicht? Obwohl, nein; Aphrodite könnte ich mir nicht mit einer Waffe in der Hand vorstellen - und irgendwie würde der Name auch nicht hierher passen … hm, Artemis…?“, murmelte er leise und seufzte sehnsüchtig. „Oh, ich bete darum, dass sie nicht so wie Artemis tickt-“

Orpheus neben ihm verdrehte nur genervt die Augen. „Okay, Ares, tu mir den Gefallen und fang wieder an, mit deinem Verstand zu denken…“

Der Blonde, so aus seinen verträumten Gedanken gerissen, funkelte ihn verstimmt an.

„Willst du irgendetwas andeuten?“, brummte er lauernd, worauf Orpheus lediglich mit den Schultern zuckte.

„Ich will dich nur daran erinnern, was sie ist: ein Mitglied und als solches solltest du sie auch behandeln. Sie ist keine der Frauen da draußen, denen du einfach Geld zusteckst und sie dir dann gefügig hinterher dackeln.“ Ares‘ Farbwechsel im Gesicht ignorierte er und seufzte nur geschlagen. „In dem Sinne muss ich Hades wohl oder übel Recht geben; wir sollten sie mit Respekt behandeln.“

„Du glaubst also, dass ich nicht mit Frauen vernünftig umgehen kann?“

Ares‘ eingeschnappter Ton ließ ihn versöhnlich lächeln und abwehrend hob er die Hände.

„Das habe ich nicht gesagt, ich meinte nur-“

„Oh doch, das meintest du!“, fuhr ihn Ares sichtlich beleidigt dazwischen. Natürlich war er nicht abgeneigt von Persephones Erscheinung, aber ihm zu unterstellen, er könnte sie nicht mit Respekt behandeln, war eine bodenlose Frechheit; besonders aus seinem Mund. Nach der richtigen Dosis Alkohol verhielt sich Orpheus Frauen gegenüber auch nicht mehr wie ein frommer Priester. Selbstsicher stand er auf und sah auf den leicht verdutzt blickenden Braunhaarigen herab. „Ich werde dich vom Gegenteil überzeugen.“ Und dabei warf er Persephone einen entschlossenen Blick über die Schulter zu. Orpheus verfolgte seinen Blick und fuhr sich stöhnend übers Gesicht.

„Ares, komm schon…“

Doch dieser unterbrach ihn nur mit einer abschneidenden Handbewegung und begann zu grinsen – ein deutliches Zeichen dafür, dass Ares‘ Dickschädel nicht mehr umzustimmen sei. „Sieh zu und lerne.“
 

„Persephone?“

Sie zuckte leicht zusammen, als er sie so aus dem Nichts ansprach und blinzelnd sah sie zu ihm hoch.

„…ja?“, fragte sie zögernd. Er lächelte aufmunternd.

„Hi, ich bin Ares.“, grüßte er und reichte ihr die Hand. „Ich bin einer von Zeus‘ Leuten.“

Kurz starrte Persephone auf die dargebotene Rechte, als hielte er ihr etwas Abscheuliches unter die Nase. Dann brachte sie ihre Züge schnell wieder unter Kontrolle und ergriff seine Hand zaghaft. Durch den Kaffee, den sie zuvor umschlossen gehalten hatte, waren ihre Finger angewärmt, dennoch spürte Ares die Kälte, die darunter in ihren Knochen festsaß.

„Aha… ähm, hi.“, erwiderte sie flüchtig lächelnd, blickte kurz in Ares‘ Augen, um dann den Blick wieder auf etwas anderes zu lenken. Davon ließ Ares sich aber nicht beirren. Sie ist nervös, aber wer war das nicht am Anfang?

„Du bist noch nicht allzu lange hier in Olymp, oder?“, plauderte er weiter und zog sich beiläufig einen Stuhl heran, auf den er sich kurzerhand setzte. Persephone beäugte diese Bewegung mit einem Blick, der zwischen Unwohlsein und Verwirrung hin und her schwankte und immer wieder fixierten ihre Augen einen der Anwesenden, die entweder mit unverhüllter Abneigung an ihr vorbei gingen, um den Saal zu verlassen, oder sie von weiter weg kritisch musterten. Selbst auf Ares lagen vereinzelte Blicke, die er allerdings zu ignorieren versuchte. „Diese Gänge sind riesig und total unübersichtlich, ich hab mich am Anfang hier nur verlaufen.“, setzte er das Gespräch selbst fort, als von ihr keine Antwort kam, und fing unbeschwert zu lachen an. Persephone dagegen zog nur skeptisch die Braue hoch und musterte ihn.

„Das kann ich mir vorstellen…“, entgegnete sie nüchtern, von Ares‘ heiterem Anblick vollkommen unbeeindruckt. Er spürte, dass sie in beginnender Verärgerung über seine Hartnäckigkeit die Stirn kraus zog und wie er langsam ihr Interesse verlor; genauso bröckelte zusehends sein positives Auftreten, dennoch bemühte er sich um ein authentisch aufmunterndes Lächeln.

„Ich weiß, zu Beginn kommt einem alles düster und angsteinflößend vor, aber du wirst sehen: so schlimm ist es hier unten gar nicht. Aber zuerst ist es wirklich sehr hilfreich, wenn man jemanden hat, an den man sich wenden kann, wenn man Probleme hat.“ Er zog alle Register und grinste sein liebevollstes Jungenlächeln. „Also, wenn du mal Hilfe brauchst, dann denk an mich, ja?“, schloss er mit einer Wärme in der Stimme, für die er sich selbst innerlich loben musste. Er war sich sicher, jede andere Frau wäre bei diesem Tonfall errötend und dankbar in seine Arme gesunken; doch statt einem schüchternen Augenniederschlag oder rosa Wangen, schenkte ihm diese Frau nur eine in Unglauben hochgezogene Augenbraue.

„Warum, damit ich weiß, wen ich genau nicht frage?“ Sie stand auf, sodass nun Ares verdutzt zu ihr aufsehen musste. „Danke für die Warnung.“

Sie griff nach ihren noch halb vollen Kaffeebecher und warf diesen in einen Abfalleimer, der neben dem Automaten stand, dann drehte sie sich wortlos um und verschwand.

Es verlangte Ares verdammt viel Selbstbeherrschung ab, um nicht einfach die Kinnlade fallen zu lassen und ihr dumm hinterher zu glotzen; einen verwirrten Blick zum Ausgang konnte er dennoch nicht unterdrücken. Hatte ihn diese Frau gerade tatsächlich so kalt abblitzen lassen?

Von irgendwoher hörte er prustendes Gelächter und erst da wurde ihm wieder bewusst, wo er sich gerade befand. Nein, sie hatte ihn nicht nur einfach in den Wind geschlagen, sie hatte es vor der versammelten Mannschaft getan…

Mit beginnender Zornesröte sah er sich zu den Geräuschen um, konnte allerdings den Verantwortlichen nicht ausfindig machen. So gelassen und gleichgültig wie nur eben möglich, stand er dann im nächsten Moment auf und ging an seinen Tisch zurück, an dem Orpheus ihn schon mit vielsagendem Blick erwartete. Bereits von weitem erkannte er die verkrampft aufeinander gepressten Lippen des Älteren, die nur wenig erfolgreich das amüsierte Grinsen vertuschen konnten. Nun brannten Ares‘ Wangen doch und warnend deutete er auf seinen Freund.

„Sag jetzt einfach gar nichts.“, grollte Ares bedrohlich und setzte sich Orpheus gegenüber, der das Lachen nicht länger zurückhalten konnte.

„Du hast’s echt drauf, Casanova.“, gab er in sarkastischer Bewunderung zu, dann platzte ein atemloses Kichern aus ihm heraus, das Ares mit einem zornigen Blick quittierte.

„Halt die Klappe!“, fauchte er ihn und sah schmollend zum Ausgang zurück, als er merkte, dass seine Drohung für den Moment nicht den geringsten Effekt auf seinen Partner hatte. „Blöde Ziege.“, knurrte er leise zu sich selbst. „So macht die sich hier sicherlich keine Freunde.“

Nach ein paar Sekunden hatte sich Orpheus wieder halbwegs gefangen und schlug ihm aufmunternd auf die Schulter.

„Komm schon, vergiss sie.“, sagte er versöhnlich, aber immer noch grinsend. „Viel wichtiger als diese Frau ist der Kampf gegen Hephaistos‘ Anabolikahaustier morgen Mittag. Bis dahin sollten wir uns eine Strategie ausgedacht haben. Nicht, dass es noch so einen ruhmlosen Auftritt gibt - hinterher fällt das noch alles auf mich zurück.“

Zumindest das schien Ares wieder auf andere Gedanken zu bringen. Mit übertrieben hoch gezogenen Augenbrauen, zog er die Luft ein und starrte den Braunhaarigen an.

„Dein Ansehen würde in den Keller rutschen!“, machte er entsetzt. „Nein, sowas kann ich meinem geliebten Zuhälter doch nicht antun.“

Kurzerhand entschied Orpheus, das begonnene Spiel mitzuspielen, und sah Ares tief und mit gespieltem Ernst in die Augen. „Ganz recht, Lucy. Und nun hopphopp an die Arbeit, Papa will sich nächsten Monat was gönnen!“

Zuerst blieb der Blick seines Gegenübers eine Mischung aus Unglauben und Wut, dann jedoch rollte Ares mit den Augen und konnte ein breites Grinsen nicht länger unterdrücken. „Vergiss nicht, dass der Löwenanteil immer noch an mich geht.“

Nun ließ auch Orpheus seine ernste Fassade fallen und lachend verließen sie zusammen den Aufenthaltsraum. Er wusste, dass man den Jüngeren schnell auf Hundertachtzig bringen konnte, allerdings brauchte es nur ein paar richtig gesetzte Worte, um diesen Hitzkopf wieder abzukühlen. Zwar ließ Ares weiterhin vereinzelt das ein oder andere schlechte Wort über die Neue fallen, aber das hielt ihn nicht von einem konzentrierten Training ab. So viel hatte Orpheus in den vergangenen dreieinhalb Jahren über Ares gelernt: hatte der junge Mann ein Ziel vor Augen, dann verfolgte er es mit einer zumeist nützlichen Verbissenheit; man musste ihm nur den richtigen Ansporn geben.

Aller Anfang ist schwer

Die Schüsse durchschlugen die abgestandene Luft mit solcher Wucht und Lautstärke, dass Persephone jedes Mal zusammenzuckte und die Hände schnell gegen die Ohren presste. Aufgereiht standen acht Männer an dem Stand, den Blick starr nach vorne auf die in fünfzig Metern Entfernung angebrachten Scheiben gerichtet, jeder eine Waffe in den Händen haltend. Im Gegensatz zu ihr trugen alle Schützen große Kopfhörer, um die sie sie etwas beneidete; ihre Hände dämpften die knallenden Schüsse für ihren Geschmack zu wenig.

Sie musterte jeden der anwesenden Männer, die ihr den Rücken gekehrt hatten, in der Hoffnung, die Person, auf die Ds Beschreibung passte, hier zu finden. Der Wart am Eingang hatte ihr versichert, dass er im Moment hier trainieren würde. Tatsächlich wurde sie fündig: ganz rechts in der Reihe stand eine schmächtiger wirkende, kleinere Gestalt mit auffallend gefärbten Haaren. Eine neue Welle von abgefeuerter Munition brach asynchron aus den Pistolen hervor, dass sich Persephones Hände wieder instinktiv auf ihre Ohren legten. Sie spürte ihr Herz immer schneller rasen, als seien die Waffen auf sie gerichtet. Sie fühlte sich unwohl und fehlplatziert an diesem lauten Ort; umso schneller wollte sie von hier wieder verschwinden können, also gab sie sich einen Ruck und näherte sich dem Blauhaarigen von hinten. Bis jetzt war sie für die Männer, die konzentriert auf die Scheiben zielten, unsichtbar geblieben, auch, als sie nun direkt hinter dem Gesuchten stand.

Sie zögerte nachdenklich. Ihn jetzt, in dem Moment, in dem er schoss, auf sich aufmerksam zu machen, erschien ihr eine schlechte Idee, also wartete sie geduldig ab, bis er die Waffe wieder senken würde. Hier, genau in seinem Rücken, waren die Pistolenschüsse noch lauter und Persephone meinte sogar die Wucht, mit der die Kugeln aus dem kurzen Lauf hervorschnellten, nun körperlich spüren zu können; bei jedem Knall fühlte es sich an, als würde ihr Herz von der verdrängten Luft zusammengepresst werden und in ihrem Kopf erwachte ein dumpfes Pochen.

Obwohl sie nun schon für Sekunden hinter ihm stand, hatte er sie immer noch nicht bemerkt, als schien er seine Umwelt vollkommen auszublenden. Eine merkwürdige Neugier wuchs in ihr heran, die sie vorsichtig an dem Mann vorbei auf die Schießanlage spähen ließ. Die kleine beige Zielscheibe war so weit entfernt, dass Persephone sie im ersten Augenblick gar nicht entdeckte. Sie kniff die Augen etwas zusammen und beugte sich nach vorne, um besser sehen zu können. Die Augen dieser Schützen mussten ja unglaublich sein, wenn sie so ein kleines Papier auf diese Distanz sehen und dann auch noch treffen konnten…

Der rhythmische Lärm seiner Waffe ließ einen Takt aus, und erst jetzt bemerkte sie, dass sie beinahe so weit an ihm vorbei gegangen war, dass sie neben ihm in sein Sichtfeld gerückt war. Sofort ließ er die im Anschlag gehaltene Pistole sinken und sicherte sie. Durch seinen Körper war kein erschrockener Ruck gegangen, als er sie bemerkt hatte – im Gegensatz zu ihr, die durch die plötzliche Bewegung schnell vor ihm zurückgewichen war. Er blinzelte sie nur verwirrt an und zog sich die neongelben Schützer von den Ohren; wahrscheinlich war Schock ein Zustand, den man sich in seinem Beruf einfach nicht erlauben konnte.

Sein Blick wurde immer fragender, als sie ihn auch nach Sekunden immer noch überrascht anstarrte, also zwang sie sich zur Ruhe und strich sich fahrig eine Strähne hinters Ohr.

„Äh … bist du Hermes?“, fragte Persephone, ihr wild pochendes Herz weiterhin versucht unter Kontrolle zu bringen. Gott, eigentlich müsste er derjenige sein, der über ihr Auftauchen aus dem Nichts so aus dem Konzept gebracht wurde! Was war nur los mit ihr?

Der junge Mann nickte und im gleichen Moment bildeten sich Falten auf seiner Stirn, die unter seinem blauen Schopf halb verborgen lag. Er hatte einen hellen Teint und auf seiner schmalen Nase und seinen Wangen zeichneten sich kleine Sommersprossen ab. Aufgeweckte, dunkelblaue Augen musterten sie mit einer gewissen Neugier, die etwas in ihr dazu verleitete, beschämt den Blick senken zu wollen. Als er dann jedoch den Kopf leicht schief legte, sodass ihm ein paar widerspenstige Strähnen tiefer ins Gesicht fielen und ihn um glatt fünf Jahre verjüngen ließen, konnte sie die Augen nicht mehr von ihm abwenden. Und so etwas Niedliches tötete Menschen?! Sie ertappte sich dabei, wie ihre Lippen für einen Augenblick zu zucken begannen, als wollten sie den Gedanken laut aussprechen und sofort wurde ihr wärmer im Gesicht.

„Warte … du bist die Neue, oder? Persephone.“

Er begann zu grinsen und nun war sie sich sicher, dass ihre Wangen glühten. Schnell rettete sie sich in einem Nicken.

„Ja ... ich …“ Verdammt, ihre Stimme erinnerte sie an eine Krähe, die sich verschluckt hatte! Über sich selbst verärgert, holte sie Luft. „D hat mich zu dir geschickt. Du sollst mir … zeigen, wie man schießt.“

Hermes‘ wunderschönes Jungengesicht verzog sich wieder in Skepsis. „Und da schickt er dich ausgerechnet zu mir?“

Sie konnte nichts anderes tun, als mit den Schultern zu zucken. „Er sagte, er hätte keine Zeit.“, entgegnete sie entschuldigend. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber Persephone wollte ihm nur ungern unter die Nase reiben, dass der Springer schlicht und ergreifend keine Lust auf sie gehabt hatte. „Hades hat nicht explizit mich dazu aufgefordert, dich zu unterrichten, sondern nur, dass ich mich darum kümmern soll, dass du lernst `ne Waffe richtig rum zu halten; dafür braucht es nicht mich, das kann jeder Idiot.“, hatte D sie heute Morgen zurechtgewiesen, nachdem sie Hades‘ Büro verlassen hatten, und als ersten „Idioten“ hatte er dann eben Hermes genannt.

Zu der krausen Stirn gesellte sich nun eine verwundert hochgezogene Augenbraue. „Hat er das?", fragte Hermes misstrauisch, woraufhin Persephone nur erneut die Schultern heben konnte. Er musterte sie ein wenig unschlüssig, dann seufzte er ergebend und strich sich die Haare mit seiner freien Hand zurück.

„Sieht ihm ähnlich“, sagte er leise und kratzte sich kopfschüttelnd am Hinterkopf. „Sein neuer Titel macht ihn noch arroganter als vorher…“

Anscheinend hatte er sie doch durchschaut. Verlegen senkte sie den Blick.

„Sorry, ich wollte dich nicht vom Training abhalten.“

„Ach was, kein Problem“, erwiderte er abermals grinsend, legte Waffe und Kopfhörer aus der Hand und machte ihr Platz, sodass sie sich besser neben ihn stellen konnte. „Komm, die Technik dahinter ist nicht wild, du wirst schnell selbstständiger trainieren können.“

Zögernd befolgte sie Hermes‘ auffordernde Geste und stellte sich in die Mitte, der junge Mann trat seitlich hinter sie und griff nach der schwarzen Pistole. Die plötzliche Nähe brachte ihr Herz wieder aus dem Rhythmus. Mit einer schnellen Handbewegung löste Hermes das Magazin heraus und reichte die leere Waffe an Persephone weiter.

„Das ist eine Glock“, erklärte er nah an ihrem Ohr, da der Lärm um sie herum erneut an die Grenze des Erträglichen angeschwollen war, und legte ihre zitternden Hände um den Griff. „Das Modell gehört zu den leichteren, deshalb üben wir am besten damit.“

Persephone nickte, nicht wissend, was sie mehr verunsicherte; dieses tödliche Stück Metall in ihren Händen oder der Mann in ihrem Rücken. Wie konnte er sich nur so an sie drücken, sie musste glühen wie ein offener Kamin! Geduldig erläuterte Hermes ihr alle Bestandteile der Pistole, übte mit ihr das Entsichern und den richtigen Stand, wobei er ihre Arme hob und lenkte, als sei sie eine Marionette. Nach wenigen Minuten nahm er ihr die Glock wieder ab und setzte das Magazin ein. Erneut strahlte er sie mit diesem breiten Lächeln an.

„Sehr gut, dann machen wir doch gleich mal ernst, oder?“

Ohne auf ihr Einverständnis zu warten, drückte er einen der Knöpfe, die vor ihm an der Ablage angebracht waren, woraufhin sich die Zielscheibe langsam auf sie zubewegte.

„Wir beginnen auf zwanzig Metern“, verkündete er und gab ihr die Pistole zurück, die nun deutlich schwerer als vorher war. Er bemerkte ihren skeptischen Blick und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Es kann nichts passieren, denk einfach nur an das, was wir trocken geübt haben.“ Von hinten korrigierte er ihre Position leicht. „Arme gerade durchstrecken, den Griff nicht krampfhaft umklammern. Und erschreck dich nicht vor dem Rückschlag, man gewöhnt sich schnell daran, glaub mir.“

Sie nickte gewappnet, dann setzte er ihr die Kopfhörer auf, sodass zum ersten Mal fast alle Geräusche um sie herum erstarben und sie sich in ungewohnter Stille wiederfand; lediglich ihr eigener Atem rauschte überdeutlich in ihren Ohren. Sie spürte wie Hermes ein paar Schritte Abstand nahm. Konzentriert fixierte sie die beige Papierscheibe. Jetzt, so nah, erkannte sie auch die schwarzen Kreise, die sich in regelmäßigen Abständen um einen schwarzen Punkt in der Mitte der Scheibe herum zogen. Der Punkt dieses Zieles war von vielen kleinen Löchern zerfressen, die wahrscheinlich von Hermes‘ vorangegangener Trainingseinheit stammten. Sie atmete ein letztes Mal ein, hob mit beiden Händen die Glock und richtete den Lauf auf die Scheibe aus. Der Gewichtsunterschied machte sich bemerkbar, die Pistole tanzte vor dem Ziel auf und ab, dass sie verbissen die Lippen aufeinander presste und ein Auge zukniff, doch es half nichts. Ihre Hände und Arme fingen unter der Last zu zittern an, was die Waffe nur noch mehr schwanken ließ, also drückte sie kurzerhand ab und kniff, einem Reflex folgend, die Lider zu. Ein Ruck ging durch ihre Arme, der ihr alle aufgebaute Spannung nahm, sodass der Lauf der Glock nach oben hin ausbrach, als sei die Pistole auf einmal lebendig geworden. Erschrocken riss sie die Augen wieder auf und senkte mit klopfendem Herzen die Waffe. Hermes trat wieder an ihre Seite und erinnerte sie mit einer Geste daran, die Glock zu sichern.

„Für das erste Mal war das gar nicht so übel“, sagte er versöhnlich, als sie in dem Moment die Kopfhörer runternahm. Sie schaute zur Scheibe und verzog missmutig das Gesicht.

„Ich habe nicht einmal ansatzweise das Papier getroffen…“

„Das kommt mit der Zeit. Vergiss aber nicht die Arme angespannt zu lassen, dann liegt die Waffe auch gleich viel ruhiger in der Hand.“ Wieder nickte sie nur, doch auch der zweite Versuch zeugte nicht von größerem Fortschritt. Hermes wurde allerdings nicht müde, sie geduldig zu korrigieren und ihr Tipps an die Hand zu geben.

„Stell dir einfach das Gesicht von jemandem auf der Scheibe vor, den du überhaupt nicht leiden kannst“, versuchte er es irgendwann und holte das Papier per Knopfdruck noch ein Stückchen näher heran. Inzwischen kam sie sich wie eine Idiotin vor, so oft, wie sie nun schon vorbei geschossen hatte. Sie wollte gar nicht wissen, wie die rückwärtige Wand der Schießanlage nun aussah. Hoffnungslos schaute sie Hermes an, der bis jetzt kein Stück seines Lächelns eingebüßt hatte und weiterhin tapfer den geduldigen Lehrer für sie spielte. „Komm schon, irgendwen, der dir unglaublich auf die Nerven geht!“

Skeptisch runzelte sie die Stirn, befolgte dennoch seine Geste und drehte sich wieder der Scheibe zu, die Beine schulterbreit auseinander, mit beiden Händen die entsicherte Glock fest umschlossen. Persephone betrachtete das löchrige Papier, das nur noch lächerliche zehn Meter von ihr entfernt war und dennoch hatte sie dieses verdammte Ding bis jetzt nicht einmal angekratzt. Sie verengte nachdenklich die Lider.

Jemanden, den sie nicht ausstehen konnte…

Augenblicklich tummelten sich die namenlosen Gesichter einiger Mitglieder auf der Scheibe, die sie misstrauisch beäugten oder mit dem Blick eines Verhungerten auf sie herab starrten, der nach qualvollen Wochen endlich etwas zu Essen vorgesetzt bekam. Und dann plötzlich kristallisierte sich zusehends ein Blondschopf aus dem irren Chaos heraus, markante Züge folgten und ein zuckersüßes, breites Lächeln, das vor aufgesetzter Freundlich- und Dreistigkeit so sehr triefte, dass ihr sofort wieder schlecht wurde.

Wenn du Hilfe brauchst, dann denk an mich. In knallroter Schrift prangten die vier Buchstaben seines Namens, einer Leuchtreklame gleich, im nächsten Moment auf dem Papier. Mit einem Ruck riss sie die Waffe hoch, alle Anweisungen vergessend, und schoss auf Ares‘ imaginäres Antlitz.

Und schoss.

Und schoss.

Wütend biss sie die Zähne aufeinander und drückte immer und immer wieder ab, wobei jeder Schuss an ihren Trommelfellen zu explodieren schien, da sie vergessen hatte, die Kopfhörer aufzusetzen. Sie fühlte regelrecht, wie ein brummender Tinnitus in ihren Ohren heranwuchs. Die Munition konnte für ihren Geschmack gar nicht schnell genug abgefeuert werden. Elender, eingebildeter Mistkerl! Glaubte er tatsächlich, dass sie sich an den erstbesten heran schmeißen würde? Dass er sie allein mit seinem schmierigen Gefasel rumkriegen würde?

Die Glock bockte immer mehr in ihrer Hand, sodass sie den vom Schweiß rutschig gewordenen Griff fester umklammerte, und feuerte, was die Waffe hergab, bis die Schüsse erstarben. Verbissen zog sie noch ein paar Mal an dem Auslöser, doch die Munition schien endgültig leer zu sein. Schnaubend ließ sie die warm gewordene Pistole sinken und mit einem weiter anwachsenden Frust musste sie feststellen, dass sie immer noch nicht getroffen hatte. Vielleicht hatte sie größere Chancen, wenn sie einfach die ganze verdammte Pistole nach diesem scheiß Ziel warf…

In ihren Ohren dröhnten die Schüsse dumpf nach, doch dann bemerkte sie langsam, dass dies das einzige Geräusch war, das sie nun noch vernahm; alle anderen Schützen um sie herum hatten ebenfalls das Feuer eingestellt. Die Erkenntnis sickerte wie zäher Schleim in ihren Verstand und ließ sie unsicher zu Hermes umdrehen. Dieser war zwei gute Meter von ihr zurückgewichen, hatte die Hände gegen die Ohren gedrückt und starrte sie perplex an; vielleicht war es auch Angst oder Entsetzen oder alles zusammen, sie wusste es nicht – jedenfalls schrie sein Ausdruck förmlich, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Die anderen Schützen beugten sich aus ihren Zellen zu ihr herüber, die, die weiter weg geschossen haben, standen mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck hinter dem Blauhaarigen und starrten sie ebenfalls an. Sie schluckte hart.

Sie hörte im nächsten Augenblick die Eingangstür aufschlagen und der Wart schaute mit hochrotem Kopf hinein.

„Verdammte Scheiße, wie oft hab ich euch Jungs nun schon gesagt, dass ihr nicht besoffen auf meine Anlage gehen sollt?! Hermes!“, brüllte der ins Rentneralter gekommene Mann wutentbrannt, als er die kleine Menschentraube entdeckte, die sich um sie und Hermes gebildet hatte. Dieser zog unter dem donnernden Tonfall des Alten den Kopf zwischen die Schultern und machte sich kleiner, als er sowieso im Vergleich zu den anderen schon war. Persephone lief rot an und beeilte sich, die Glock aus der Hand zu legen. Ihr Herz klopfte ihr schon wieder bis zum Hals hinauf.

Der Wart schmiss die Tür nach einigen Sekunden wieder fluchend zu und auch die anderen Mitglieder zogen sich zurück in ihre eigenen Zellen, nicht ohne ihr einen vielsagenden Blick als stummen Abschied dazulassen. Dieser Auftritt würde ihnen wohl im Gedächtnis bleiben, was Persephone noch mehr die Röte in die Wangen trieb. Um ein authentisches Lächeln bemüht, griff Hermes langsam nach seiner Waffe und steckte sie an seinen Gürtel.

„Ich denke, wir sollten für heute aufhören…“, sagte er vorsichtig, woraufhin Persephone beschämt den Blick senkte. Sie hatte Hermes bis auf die Knochen blamiert.

„Tut mir leid, ich-“

„Schon gut“, sagte er schnell und lächelte mitfühlend. „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.“

Möglichst unauffällig verließen sie die Anlage, wobei man ihr dennoch den ein oder anderen fassungslosen Blick hinterwarf, und an dem alten Wart mussten sie sich regelrecht vorbeischleichen, so verärgert sah er ihnen nach. Draußen auf der Straße atmete Hermes die angehaltene Luft langsam und erleichtert aus. Schweigend trottete sie neben ihm her, während sie die wenigen Straßenkreuzungen zurück zu Olymp zu Fuß nahmen.

Irgendwann räusperte Hermes sich neben ihr und vergrub die Hände in dem schwarzen Parker, den er trug. Weiße Atemwölkchen tanzten vor ihren Gesichtern. In der letzten Nacht waren die Temperaturen rapide abgefallen, sodass alles darauf hindeutete, dass der Winter dieses Jahr bereits sehr früh vor der Tür stand.

„Sag mal“, begann er langezogen und versuchte dabei beiläufig zu klingen. „An wen … hast du da eigentlich gerade gedacht? Du scheinst ja einen regelrechten Hass auf den Typen zu haben, so wie du ausgeflippt bist…“ Er lachte kurz und gekünstelt.

Sie sah noch tiefer zu Boden und zuckte mit den Schultern.

„So ein eingebildeter Idiot, der mich gestern angegraben hat … nen blonder Macho, der meint, die Coolness mit Löffeln gefressen zu haben.“, murmelte sie und spürte den veränderten Blick, den Hermes ihr nun zuwarf.

„… jemand von Zeus‘ Leuten? Hochgewachsen, breite Schultern?“, fragte er vorsichtig nach und diesmal sah Persephone ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Ja … wieso?“

Seine Nasenspitze wurde bei ihrem misstrauischen Tonfall um eine Nuance blasser und schnell schüttelte er mit dem Kopf, ehe er wieder auf den Gehweg vor sich achtete und die Schultern hochzog, sodass sein Gesicht bis unter die Nase hinter seinem Schal verschwand.

„Ach … nur so.“, meinte er schwammig und wich Persephones hartnäckig bohrenden Blick den ganzen Weg zurück über aus.
 

Hermes hatte sich noch nie besonders wohl in D’s Nähe gefühlt, aber da war er nicht der einzige. So gut wie alle seiner Kollegen hielten einen respektablen Abstand zu der „dunkeln Putte“ ein; natürlich nannten sie D nur hinter seinem Rücken so. Er war zwar kein Mann der vielen Worte, allerdings sprachen seine Taten dagegen Bände epischen Ausmaßes – vor allem wenn man sich einen Scherz mit ihm erlaubte…

Schon allein die Tatsache, in diesem kleinen Büro direkt neben ihn stehen zu müssen, ließ ihn nervös immerzu das Standbein wechseln. Zu allem Überfluss standen sie sogar noch vor beiden Oberhäuptern Olymps, die ihn aufmerksam musterten, während er seinen Bericht mit trockenem Hals vortrug. D in seinem Rücken wissend, Hades und Zeus vor ihm und dann lauerte auch noch D’s Gegenstück, zumindest was den autoritären Status anging, direkt neben dem rettenden Ausgang, die Arme in seiner gewohnten Manier vor der Brust verschränkt. Hermes schmorte in seinem persönlichen Fegefeuer.

Umso erleichterter war er, als Hades nickte, zwar nicht zufrieden, aber allem Anschein nach hatte er genug gehört, sodass Hermes gnädiger weise in den Hintergrund treten durfte. Er war froh, nicht mehr in der vollen Aufmerksamkeit seines Chefs stehen zu müssen, der die Runde von Männern vor ihm mit einem Ausdruck musterte, als habe man einem Kind neben seinem Stubenarrest zusätzlich noch Hausarbeit aufgebrummt. Zeus, der neben ihm saß, schaute nicht weniger begeistert, dennoch schaffte er es seine Gedanken weitaus besser hinter einem langgezogenen Seufzen zu verstecken, als sein beruflicher Partner.

„Irgendwelche Vorschläge, wie wir nun weiter vorgehen sollen?“

D zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wir könnten ihr ein Maschinengewehr in die Hand drücken und sie in die erste Reihe stellen – das würde auf jeden Fall Verwirrung stiften und wenn wir Glück haben, trifft sie vielleicht sogar jemanden…“, antwortete er mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme. In Hades‘ hellen Augen blitzte es wütend auf.

„Sie ist kein Kanonenfutter.“, zischte er gefährlich, was D allerdings nicht einmal ein Muskelzucken abrang, im Gegenteil zu Hermes, der schnell den Blick senkte. Er fühlte sich schuldig, immerhin war er ja nicht ganz unbeteiligt gewesen. Er hätte nach dem ersten Tag schon zu D gehen sollen, um Persephones Ausbildung in seine Hände zurückzugeben, dann hätte er sich auch dieses Kreuzverhör hier ersparen können.

Zeus versuchte die aufwallenden Wogen im nächsten Moment wieder zu glätten. „Nach einer Woche zeigt sich bei den wenigsten ein deutlicher Fortschritt, wir sollten sie weiterhin beobachten.“

„Bei allem Respekt, aber diese Frau ist lernresistent“, gab Hades‘ Springer daraufhin mit hochgezogener Augenbraue zu bedenken und sah Hermes von der Seite her durchdringend an, sodass sich erneut ein unangenehmes Bauchkribbeln in seinem Inneren ausbreitete. „Sie trifft selbst jetzt noch nicht ansatzweise die Ziele, egal wie nah sie vor ihrer Nase hängen.“ Zumindest das hätte ich dir zugetraut, ließ sein abfälliger Tonfall für Hermes unüberhörbar zwischen den Worten hindurch sickern. Ungewollt sackte er mehr in sich zusammen. Er wollte hier raus, und zwar sofort!

Wieder war es Zeus, der die Situation vor schlimmeren bewahrte. „Herk, was hast du uns zu berichten? Wie geht es bei dir voran?“ Zum ersten Mal, seit das Gespräch zwischen den Anwesenden begonnen hatte, rührte sich der Hüne, trat aus seinem Schatten des Schweigens heraus und stellte sich neben D und Hermes.

„Sie bemüht sich“, begann er und sprach dabei Hades und Zeus zu gleichen Teilen an. „Sie muss ihre Vorsichtigkeit ablegen, sie hat Angst, auszuteilen und noch mehr Schiss davor, einstecken zu müssen.“

„Also auch keine großen Fortschritte.“, schlussfolgerte Hades mürrisch, was Herk mit einem zweideutigen Schulterzucken zu beantworten versuchte.

„Ich gebe Zeus recht, sie braucht wahrscheinlich nur ein wenig mehr Zeit, um-“

„Nein.“ Das Wort verließ so bestimmt und hart Hades‘ Lippen, dass selbst Herakles augenblicklich verstummte. Alle Blicke richteten sich auf den Gott der Unterwelt, der mit ernst verengten Augen ins Leere starrte. „Die Woche hat mir gezeigt, dass das nicht das Richtige für Persephone ist.“

In leichter Verwirrung zog Zeus die Stirn kraus. „Nun brich nicht alles übers Knie. Gut, vielleicht hat sie kein Talent zum Schützen, aber lass sie zumindest weiter mit Herk trainieren.“, bat er ruhig, und augenblicklich fuhr Hades‘ Kopf zu ihm herum und starrte ihn mit einem Blick an, der durch Stahl geschnitten hätte.

„Seit wann stellst du Besitzansprüche an meine Mitglieder?“, grollte er drohend.

Niemand antwortete ihm; selbst D hatte bei den scharfen Worten verwundert die Augen aufgerissen. Hermes hielt die Luft an und sah nervös zwischen den beiden Anführern hin und her. Hades‘ Blick blieb unverändert gefährlich, Zeus starrte seinen Partner nur undefinierbar an; Hermes konnte nicht sagen, ob dieser eingefrorene Ausdruck Schock oder Wut darstellte, vermutlich war es eine Kombination aus beiden und dutzend anderen Gefühlen. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass Herk die Lippen hart aufeinander presste und die Fäuste ballte. Von allen anwesenden Mitgliedern kam der Ausbilder vom Alter her am nahesten an das der beiden Anführer heran und Hermes wusste, dass Herk zumindest zu Zeus ein sehr freundschaftliches Verhältnis pflegte. Für ihn mussten Hades‘ Worte ein noch gewaltigerer Schlag unter die Gürtellinie gewesen sein.

Hermes hatte nicht darauf geachtet, wie lange diese bedrückende Stille in der Luft gehangen hatte, bis Hades sie endlich wieder losließ. „Von nun an werde ich mich selbst um sie kümmern“, begann er in normalen Tonfall, den fesselnden Blick von Zeus lösend, als sei er als Sieger aus dem stummen Krieg hervorgegangen, und wandte sich an Hermes und D. „Ich brauche euch nicht mehr, ihr könnt gehen.“

Der schwarzhaarige Springer hatte sich anscheinend wieder gefasst, zumindest ließ er sich seine vorangegangene Verblüffung nicht weiter anmerken, sondern nickte nur kurz und wandte sich zum Gehen ab. Hermes warf noch einen kurzen Blick auf Zeus, der sich immer noch nicht rührte, dann drehte auch er sich um und folgte D vor die Tür, froh darüber, dieser Hölle endlich entgehen zu können. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er Zeus‘ kratzende Stimme im Hinausgehen vernahm, die Herk bat, ebenfalls das Büro zu verlassen. Er brauchte dem Göttervater nicht ins Gesicht zu schauen, um zu erraten, wie er sich nun, nachdem er aufgetaut war, fühlte. Er wartete noch, bis Herk neben ihm hinaus aus den Flur getreten war und die Tür hinter sich zugezogen hatte. Er wollte etwas sagen, ihn fragen, ob alles in Ordnung sei, doch der hochgewachsene Mann wandte sich augenblicklich schweigend nach links und stapfte mit ausgreifenden Schritten davon. D ging in die entgegengesetzte Richtung. Hermes zögerte unschlüssig, dann jedoch vernahm er die ersten lauter und in Zorn gesprochenen Worte, die aus dem Büro drangen, und er beeilte sich, D zu folgen.
 

„Was ist los mit dir?“

„Was soll mit mir sein?“

Wütend und um Beherrschung ringend atmete Zeus tief ein und starrte seinen jüngeren Partner an, der gelassen zu ihm hochsah. Er hatte es nicht mehr ausgehalten, neben ihm zu sitzen, also war er aufgestanden und ging wie ein Tiger im Käfig in dem Büro auf und ab, in der Hoffnung, seinen aufgewühlten Emotionen so ein ungefährliches Ventil anbieten zu können. Die gespielte Gelassenheit des Anderen spielte ihm bei diesem Vorhaben allerdings wenig in die Hände.

Kurzerhand beendete er seinen Rundgang, kam vor Hades‘ zugestellten Schreibtisch zum Stehen und deutete auf die Tür in seinem Rücken.

„Du weißt schon noch, was du mir gerade im Beisein unsere Mitglieder an den Kopf geworfen hast, oder?“, fragte er zähneknirschend und in seiner Stimme lag wahre Skepsis. Manchmal hatte er die ernsthafte Befürchtung, dass Hades in den unpassendsten Augenblicken seinen Kopf einfach ausschaltet, sobald er den Mund aufmacht.

Hades hob verwundert eine Augenbraue.

„Hatte ich denn damit Unrecht?“

Zeus‘ Fäuste zuckten gefährlich und gerade so konnte er seine animalisch gewordene Wut so weit drosseln, um nicht im nächsten Moment Hades‘ Schreibtisch mit einem Schlag abzuräumen.

„Ich wollte dir nur einen Vorschlag unterbreiten, einen Ratschlag, mehr nicht!“, presste er zischend hervor. „Und was sollte dieses Besitz-Gerede?! Diese Menschen da draußen gehören dir nicht!“

Hades‘ Miene blieb unverändert gleichgültig und das machte ihn rasend. Sein Partner sah ihn einige Sekunden schweigend an, dann runzelte er leicht die Stirn und legte provokant den Kopf schief.

„Darf ich dich an deine eigenen Worte von damals erinnern?“, fing er im zu freundlichen Tonfall an und neigte den Kopf noch ein wenig mehr. Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer, als würde er nachdenken. „Wie war noch gleich der Wortlaut?“

Zeus verstand die Anspielung, was die Situation jedoch nicht besser machte. Hades war wieder dabei die Tatsachen zu verdrehen und gerade Zeus wusste, wie gut der Jüngere das konnte.

„Das gehört hier nicht her…“, knurrte er drohend, doch Hades ließ sich nicht mehr abbringen; im nächsten Moment klarte sein Gesicht in Erkenntnis auf und ein kleines, widerliches Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ach ja: bedingungslos ergebene Diener…“

„Schluss damit!“, platzte es aus Zeus heraus und seine Faust fand nun doch lautstark den Weg auf die Tischplatte, dass selbst Hades‘ unnahbare Maske für einen Moment bröckelte und sein eingeschüchtertes Inneres kurz ans Licht gezerrt wurde.

Stille umhüllte die zwei Anwesenden, die sich nicht mehr aus den Augen ließen, bis Hades schließlich den Bann brach und sein Ausdruck etwas fassungsloses, anklagendes erhielt.

„Und du verurteilst mich?“, fragte er trocken.

Der Blasse beugte sich ihm entgegen, sah ihm genauso urteilend in die kalten Augen. „Ich erhebe keine Besitzansprüche an sie.“

Hades begann zu schmunzeln und zog erneut eine Braue in Richtung Haaransatz, der mit den Jahren etwas spärlicher geworden war. „Nein, natürlich nicht, das hast du ja noch nie getan…“, entgegnete er sarkastisch und unterdrückte ein Lachen.

Zeus‘ Augen verengten sich. „Du verwechselst mich gerade mit dir.“

„…halte sie daraus.“ Hades‘ Stimme war beängstigend monoton geworden.

Sofort, wie auf ein Stichwort hin, brach die belustigte Fassade seines Gegenübers in sich zusammen und darunter kam ein Ausdruck zum Vorschein, der Zeus deutlich machte, dass er das falsche Thema in die Diskussion mit eingebracht hatte, dass ein Streit nun unausweichlich war; nur, dass das Zeus inzwischen herzlich egal geworden war. Sein so lang zurückgedrängter Zorn schwenkte euphorisch die Siegerfahne.

„Wieso? Es ist die gleiche Situation wie damals!“, erwiderte er ernst.

„Dann gibst du zu, dass du sie mir wegnehmen wolltest?!“, zischte Hades und stand energisch auf, sodass er mit Zeus wieder auf gleicher Augenhöhe war. Hinter Zeus‘ Stirn pochte der Zorn schmerzhaft weiter.

„Wie hätte ich dir etwas wegnehmen können, das dir nie gehörte?“

Es hätte nicht viel gefehlt, um seinem verblendeten Partner diese Worte ins Gesicht zu schreien; was ihn genau davon abhielt, war ihm schleierhaft, wahrscheinlich bloß die Tatsache, dass er einfach zu erschöpft war, um seine letzten Reserven in seine Stimme zu investieren, und so kam es ihm ganz gelegen, dass Hades sich in diesem Moment dazu entschloss, nicht zu antworten. Wieder schwiegen sie nur, starrten sich gegenseitig mit todbringenden Blicken an. Doch irgendwann war selbst das Zeus zu viel und so brach er den Augenkontakt kopfschüttelnd ab.

„Ich habe weder die Geduld noch die Kraft dazu, mich mit dir zu streiten“, gab er entkräftet zu und nahm ein paar Schritte von seinem Gegenüber Abstand. Hades verfolgte seine Bewegungen mit weiterhin versteinerter Miene. „Ich verstehe dein Problem an der Sache nicht, dass Persephone von Herk unterrichtet wird; bis jetzt sind alle deine Schützen zu meinen Männern für das Nahkampftraining gekommen.“ Er zuckte mit den Schultern und sah Hades ein letztes Mal ernst an. „Mach, was du willst, nur versprich mir, dass du dich darum kümmern wirst, dass sie eine ordentliche Unterweisung erhält. Die wird sie dort draußen früher oder später brauchen, es sei denn, du hast vor, sie hier unten auf ewig einzusperren.“

Nun stahl sich ein zynisches Lächeln in Hades‘ Mundwinkel. „Hältst du mich für so einen Unmenschen?“, fragte er und zog eine Augenbraue hoch. Zeus blickte ihn skeptisch an und wollte schon antworten, als auf einmal ein lautes Klopfen die Aufmerksamkeit beider Männer auf die Bürotür lenkte, durch die keinen Augenblick später unaufgefordert ein Arzt ins Zimmer gestürzt kam. Seine geweiteten Augen glühten vor Aufregung und Eile.

„Zeus, der Junge, er … er ist endlich wieder bei vollem Bewusstsein!“, sagte er etwas atemlos, aber dennoch erleichtert. Sofort waren alle Streitigkeiten für den Moment vergessen und Zeus spürte eine seit Wochen anhaltende Anspannung von ihm abfallen. Ohne zu Zögern drehte er sich um und wollte dem Arzt hinaus folgen, der schon wieder dabei war, zurück zum Krankentrakt zu laufen, als er doch noch einmal stoppte und sich im Türrahmen zu Hades umdrehte. Der Jüngere hatte sich keinen Zentimeter gerührt.

„Versprich es mir, ansonsten werde ich dir auf die Finger schauen müssen.“

„Behandelst du mich dann im Gegenzug nicht mehr wie ein Kleinkind?“, entgegnete er daraufhin sarkastisch, was Zeus dazu bewegte, warnend eine schwarze Braue zu heben, sodass Hades schnell und abwehrend die Hände hob und beschwichtigend lächelte.

„Keine Angst, ich versichere dir, dass ich mich darum kümmern werde, dass die Kleine jeden erdenklichen Schutz erhält.“ Sein Lächeln veränderte sich eine kleine Spur weit, die Zeus für eine Sekunde unruhig machte. „Bei mir ist sie am sichersten, vertrau mir.“

Zeus überlegte kurz, ob er auf einen weiteren Schwur bestehen sollte, doch in seinem Hinterkopf kreisten seine Gedanken zu sehr um Toshihiko und seinen Zustand, sodass er einfach auf dem Absatz kehrt machte und aus Hades‘ Büro eilte.

Die Gattin

Es war spät, als Hades an diesem Abend vor ihrer Zimmertür aufgetaucht war und sie gebeten hatte, ihm in sein Büro zu folgen. Etwas skeptisch war sie dennoch mit ihm ohne große Widerworte mitgegangen. Wahrscheinlich wollte er ihr nur mitteilen, dass sie am nächsten Tag irgendwo anders irgendwen treffen würde, der sie in was auch immer unterrichten sollte. Von Hermes wusste sie, dass er heute ihrem gemeinsamen Chef, Hades, vorsprechen musste, da er wissen wollte, wie ihr Training mit dem jungen Schützen voranging. Persephone war nicht dumm und konnte sich selbst gut genug einschätzen, um den Ausgang des Gesprächs zu erahnen; Hermes hatte sich zwar nicht viel anmerken lassen, aber dass ihre Leistungen nicht ausreichend, geschweige denn als Fortschritt zu betiteln waren, hatte sie auch selbst gewusst.

Ihre Laune hielt sich dementsprechend in engen Grenzen, als sie Hades die Gänge entlang folgte. Mit schlechtem Gewissen dachte sie kurz an Hermes und hoffte, dass man nicht zu streng mit ihm umgegangen war, dann öffnete der Mann vor ihr die schlicht gestrichene Bürotür und hielt sie ihr höflich auf. Sein Gesicht zierte das bekannte Lächeln, das er ihr immer schenkte, wenn sie ihn zufällig irgendwo in Olymp antraf oder er mit ihr reden wollte, und ein kleiner Teil ihres unwohlen und demotivierenden Gefühls fiel von ihr ab. Tapfer lächelte sie zurück. Sie wusste, dass Hades ernst und stets mit einer gewissen Erwartung den Mitgliedern seiner Organisation gegenübertrat, was ihm einen gewissen Ruf von Härte und Autorität eingebracht hatte; ihr gegenüber allerdings ließ er diese Maske regelmäßig sinken, und zeigte ihr eine umsorgende und freundliche Seite an ihm, die ihm wohl viele Männer gar nicht zugetraut hätten. Persephone hütete dieses seltene Privileg stolz und zog daraus die Stärke, hier unten nicht völlig durchzudrehen oder zu versagen.

„Wir haben heute Abend über dich gesprochen, Persephone“, begann Hades ohne große Umschweife und bot ihr lächelnd einen Stuhl an. Wer ‚Wir‘ nun genau war, schien er ihr nicht verraten zu wollen, allerdings konnte sich Persephone schon denken, wer dem Gott alles Bericht erstatten musste. „Und ich bin zu einer Entscheidung gekommen.“

Aha. Also doch. Mutlos presste sie die Lippen aufeinander und unterdrückte den Drang, sich seufzend durch die Haare zu fahren. Um sich nichts anmerken zu lassen, lächelte sie weiter und tat erwartungsvoll.

„Ich denke, dass du für Missionen außerhalb von Olymp … leider nicht geeignet bist. Ich sehe deine Stärken woanders.“

Bei seinen Worten zog sie die Brauen verunsichert zusammen und als er ihren veränderten Blick bemerkte, bekam sein Gesicht etwas beschwichtigendes und stumm stellte er einen schwarzen Laptop direkt vor ihr auf den Tisch, was ihr Stirnrunzeln allerdings nur noch tiefer werden ließ.

„Ich möchte, dass du mir in Zukunft bei den anstehenden Recherchearbeiten zu Missionen assistierst.“, sagte er ruhig. „Bis jetzt habe ich das alleine gemacht, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass ich jemand Neues anlerne.“

Diese Eröffnung ließ sie stocken und dann verwirrt Luft holen. Sie und Computer? Recherchieren? Als sie seinen erwartungsvollen Blick bemerkte, zwang sie sich zu einem Nicken und griff mit kaltgewordenen Fingern nach dem Laptop.

Unsicher, ob sie nur träumte oder sie tatsächlich hier saß, befeuchtete sie ihre Lippen mit der Zungenspitze und runzelte wieder die Stirn.

„Das … muss doch immer sehr zeitaufwendig gewesen sein, das alles alleine zu bewerkstelligen. Olymp hat doch genügend Leute, warum haben Sie sich nicht schon früher Hilfe geholt?“

Warum ausgerechnet mich?, fügte sie in Gedanken verwirrt hinzu.

Hades‘ Blick wurde mit einem Mal härter.

„Weil ich bis jetzt niemanden soweit vertrauen konnte.“ Er machte eine auslandende Handbewegung und fasste kurz sein ganzes Büro in seinen Blick. „Ich habe das alles hier mit aufgebaut, ich kenne die Akte von jedem Mitglied, ich vergebe mit Zeus die Aufträge, und diese Quelle, mein Wissen, teile ich nur ungern oder überlasse sie Leuten, denen ich nicht vollends vertrauen kann.“ Seine Augen verengten sich im leichten Argwohn, der Persephone schlucken ließ. „Und das trifft auf so gut wie jeden Menschen hier zu. Zu oft musste ich mit ansehen, wie Menschen, denen ich etwas anvertraut habe, mir in den Rücken gefallen sind; das hinterlässt mit der Zeit Narben. Ich bin schon immer ein misstrauischer Mensch gewesen.“

Sie hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen. Müsste sie sich jetzt geehrt fühlen, dass er nun ausgerechnet sie in sein Handwerk einarbeiten wollte? Ihn bemitleiden, dass die Welt ihn so oft enttäuscht hatte? Persephone holte tief Luft und wollte sich so noch etwas Zeit zum Nachdenken verschaffen, doch Hades gab ihr nicht einmal die Chance zum Antworten

„Und dass ich dich nun einweihe, bedeutet nicht, dass ich bereit bin, dir zu vertrauen.“, unterbrach er sie barsch. Als er sah, wie sehr seine Worte Persephone verunsicherten und zusammensinken ließen, glätteten sich seine Züge ein wenig. Kurz schloss er seine Augen, dann fixierte er sie erneut ernst und bestimmt. „Ich bringe dir die harmlosen Sachen bei, bei denen ich mir sicher sein kann, dass du mit diesem Wissen mir oder der Organisation nicht schaden kannst. Du wirst von mir lernen, wie man an den Grenzen zum Illegalen entlang an Informationen über Personen rankommt, und du wirst mir helfen, die Missionen, an denen meine Männer, also Olymps Schützen, beteiligt sind, zu organisieren.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als wolle er damit seine vorangegangene ruppige Art wiedergutmachen. „Damit wäre mir schon sehr weit geholfen.“

Persephone schwieg erst einen langen Moment lang, dann jedoch nickte sie. „Ich werde mein Bestes geben.“

Hades‘ Lippen verzogen sich in gewohnt freundlicher Manier und das beflügelte auch sie innerlich ein bisschen. Hades hatte seine Eigenarten, aber wer hatte die nicht? Mit ihm zu arbeiten würde bestimmt nicht viel leichter werden, als mit Hermes oder Herk, aber sie schöpfte aus diesem warmherzigen Lächeln neue Zuversicht.

„Hades?“

Er sah fragend auf. „Ja?“

Zum ersten Mal seit langem grinste sie aus vollem Herzen „Ich werde Ihnen beweisen, dass Sie mir vertrauen können!“, versprach sie selbstsicher und zuerst schien Hades diese Reaktion zu verwundern, doch dann lächelte er breit zurück, dass seine geraden Zahnreihen sichtbar wurden.

„Das wäre wundervoll.“
 

Das ‚simple‘ Recherchieren in legalen Grenzen erwies sich als anstrengender, als zuvor von Persephone angenommen. Zu Beginn erhielt sie von Hades lediglich einen Namen und ein Foto des Gesuchten, ein Standbild einer Überwachungskamera, und mit diesen spärlichen Angaben durchforstete sie beinahe eine Stunde lang Datenbanken, Zeitungsartikel und Seiten der Polizei, ohne dabei auf bedeutende Informationen zu stoßen. Hades gab ihr immer mal wieder Hinweise und verriet mit der Zeit mehr Angaben über die Zielperson, welche vor kurzem als ein Spion der Regierung entlarvt worden war, der sich für Wochen in die illegale Waffenszene der Stadt eingeschleust hatte. Aber weder fand sie genauere Angaben über seine Vergangenheit, noch bekam sie den richtigen Namen des seit zwei Tagen vom Erdboden verschluckten Mannes heraus. Als sie dann nach einiger Zeit des weitestgehend erfolglosen Suchens lustlos durch die gepostete Bildergalerie einer Polizeistation irgendeines kleinen Bezirkes scrollte, blieb sie an einem älteren Gruppenfoto mit den Augen hängen und setzte sich aufrechter hin. Eine knapp fünf Jahre jüngere Ausgabe ihres Zieles lächelte ihr freudestrahlend entgegen und präsentierte stolz seine eben erhaltene Dienstmarke. Euphorisch lächelte sie zurück.

„Ich hab ihn!“

Sofort stand Hades hinter ihr und nickte anerkennend. „Sehr gut, das ist ein vielversprechender Anfang.“

Seine Worte ließen ihre Mundwinkel wieder nach unten sacken. Ein Anfang? Nur? Wie lange hatte sie nun für diesen Anfang gesucht? Sie schnaubte leise und hoffte, dass Hades ihr schmollendes Gesicht nicht in dem Bildschirm ihres Laptops widerspiegeln sah. Sieh es positiv, nun hast du eine Spur und vielleicht schon bald einen Namen, sprach sie sich aufmunternd selbst zu und durchsuchte die gefundene Quelle nach einer Namensliste der Absolventen des entsprechenden Jahrgangs. Zwölf Absolventen, Zehn Namen. Natürlich hatte man nachträglich die Namen der Männer, die für Inkognito Aufträge weitergebildet wurden, aus der Kartei entfernt; ganz unvorsichtig und dumm war die Polizei auch nicht, auch wenn viele Mitglieder von Olymp diese so darstellten...

Seufzend grub sie sich tiefer in die Archive. Irgendwo gab es bestimmt noch Hinweise auf diesen verdammten Kerl! Doch ihre Recherche fand nach weiteren zwei Minuten ein jähes Ende: ein Eingabefenster prangte im nächsten Moment über der Seite, die sie eigentlich öffnen wollte, und verlangte nach einem Passwort.

„Verdammt“, zischte sie leise und strich sich einige Strähnen aus der Stirn. Wieder tauchte Hades neben ihr auf und schmunzelte.

„Warte, ich helfe dir.“ Er beugte sich über ihre rechte Schulter und griff von beiden Seiten an ihr vorbei, um mit kurzen Handgriffen ein Programm zu öffnen. Die plötzliche Nähe ließ sie erstarren. Sie spürte Hades‘ Hemdkragen an ihrer Wange kitzeln und eine herbe Duftmischung aus Duschgel, Kaffee und dem individuellen Eigengeruch eines jeden Menschen stieg ihr in die Nase. Ungewollt begann ihr Herz zu rasen.

Hades schien von ihrer Anspannung nichts zu bemerken. Ohne großes Zögern tippte er einige Kürzel in ein Feld des Programmes ein und gab den Befehl zur Passwortsuche. Schneller, als Persephone mit bloßem Auge gucken konnte, huschten Zahlen- und Buchstabenkombinationen über den Bildschirm. Endlich richtete sich Hades hinter ihr wieder auf, ging um den Tisch herum und setzte sich zurück in seinen Drehstuhl. Für einen kurzen Moment atmete sie ihr unwohles Gefühl aus, nur um im nächsten Augenblick blinzelnd auf das zu starren, was sich vor ihr auf dem Bildschirm abspielte.

„Und wie lange braucht das … Ding nun, bis es das Passwort geknackt hat?“

Hades hatte sich in der Zwischenzeit wieder seinem eigenen PC zugewandt und sah konzentriert auf den Bildschirm. Er hob nicht den Blick, lediglich ein Schmunzeln legte sich auf seine Lippen.

„Je nach Passwortlänge fünf bis zehn Minuten.“

Verblüfft starrte Persephone auf das Fenster. „Aber … das ist doch bestimmt illegal!“

Hades‘ Grinsen wurde noch breiter. „Unsere ganze Existenz ist illegal, meine Liebe.“

Das unwohle Gefühl breitete sich wieder in ihr aus. Natürlich hatte sie nie gedacht, dass an Olymp irgendetwas gesetzlich korrekt sei, aber nun selber auf solchen Pfaden zu wandeln, war noch eine Spur unheimlicher.

„Und wenn jemand nun bemerkt, dass wir uns zu dieser Seite Zugriff verschaffen, indem wir sie hacken? Das … tun wir doch gerade, oder?“

„Keine Sorge, ich habe Maßnahmen einprogrammiert, sodass es unmöglich ist, unsere Wege zurückzuverfolgen.“

Seine Worte ließen sie aufhorchen. „…Sie haben das programmiert?“

Nun sah Hades doch von seinem Computer auf. Etwas blitzte vergnügt in seinen hellen Augen auf. Er antwortete ihr nicht, allerdings sprach sein breites Grinsen ausreichende Worte.
 

Persephone brauchte noch zwei weitere Abende, bis sie den Agenten zu nahezu hundert Prozent durchleuchtet hatte. Sie kannte seinen richtigen Namen, seine Anschrift, sie wusste sogar um seine Vorliebe für billige Hotels in der Umgebung, in denen er häufiger mit Begleitung gesehen wurde; er kannte sich in diesen Kreisen aus, wahrscheinlich ist er deshalb auch mit der Aufgabe, die Waffenszene zu beschatten, betreut worden. Stolz präsentierte sie ihre mehrseitige Analyse Hades, der ebenfalls sehr zufrieden mit ihren Ergebnissen zu sein schien.

„Ich bin beeindruckt“, gab er lächelnd zu. „Du scheinst ein Händchen für Recherchen zu haben. Mein Gefühl hat mich also nicht getäuscht.“

Sein Lob trieb ihr die Wärme in die Wangen und verlegen senkte sie die Augen, ihr breites Grinsen nahm allerdings noch weiter zu. Es tat gut, nach so langer Zeit endlich eine positive Bestätigung zu erhalten, etwas richtig getan zu haben.

„Du bist erstaunlich, Persephone.“

„Naja, ich denke, Sie hätten viel weniger Zeit benötigt, um-“

„Nein, das meinte ich nicht.“

Hades‘ veränderter Tonfall ließ sie innerlich stocken und verwirrt musterte sie ihn. Ihr Gegenüber sah ihr fest in die Augen, sein Gesicht eine undurchdringbare Maske. Etwas an ihm ließ ihr Herz einen schnelleren Rhythmus anschlagen.

Als er keine Erwiderung erhielt, fuhr Hades ruhig fort: „Du bist wunderschön. Das sollte man dir häufiger sagen, weißt du? Nicht so, wie die anderen hier es sagen. Nicht so plump.“ Er verstummte kurz, als wartete er auf etwas ihrerseits, doch Persephone brachte keinen Ton heraus. Mittlerweile brannte ihre Gesichtshaut. Hades erhob sich aus seinem Stuhl und ging an ihr vorbei durch den Raum. „Ich weiß, dass dich viele hier ansprechen“, begann er auf einmal in ihrem Rücken, sodass Persephone sich schnell zu ihm umdrehte. Er steuerte auf die Tür zu. „Stört dich das? Nerven dich die niveaulosen Annäherungen?“ Hades blieb stehen, sah sie, weiterhin hinter seiner Maske versteckt, an. „Wenn du mich fragst, hast du so ein Verhalten nicht verdient.“

Wie von selbst begannen ihre Finger an dem Saum ihres Shirts zu nesteln und nervös wandte sie den Blick ab. Was sollte das auf einmal? Ihr Kopf glühte immer noch, ihr Herz raste, doch etwas zog sich in ihr schmerzhaft zusammen. Seine Fragen wurden ihr unangenehm…

Um Worte ringend schnappte sie nach Luft.

„Es stört mich zwar, aber … aber es gibt schlimmeres.“, stammelte sie leise und versuchte mit den Augen irgendetwas in diesem Raum ausfindig zu machen, auf das sie ihren Blick konzentrieren konnte; alles wäre ihr recht gewesen in ihrer Verlegenheit, nur nicht der Gott, der sie mit bohrendem Blick musterte.

Hades erwiderte nichts. Er schwieg nur. Umso deutlicher hörte sie den Schlüssel, der sich im Schloss der Tür, neben der Hades verweilte, umdrehte. So schnell wie ihr das Blut in den Kopf geschossen war, sackte es ihr in diesem Moment in die Beine. Was war hier los?

„Du bist schwach“, begann er im ernsten Tonfall und ging langsam auf sie zu. Ihre Augen blieben an seiner Bewegung kleben und mit jedem Schritt, den er näher kam, wollte sie vor ihm zurückweichen, doch ihre Beine fühlten sich kraftlos und steif an, gehorchten ihr nicht mehr. „Wenn sie dich wirklich wollten, hättest du nicht die geringste Chance gegen sie.“ Er hatte sie erreicht. Schweigend blieb er vor ihr stehen, ehe er seine Hand an ihr Gesicht hob, um eine verirrte Strähne von ihrer Wange zu wischen. „Sie sind darauf trainiert worden, das zu kriegen, was sie wollen. Was man ihnen aufträgt.“

Persephone spürte die Berührung kaum; ihr Körper war kalt und leblos wie Stein geworden. Krampfhaft fixierten ihre Augen seinen Hemdkragen, unfähig und zu schwach, den Kopf weiter anzuheben.

„Du kannst keine Hilfe von irgendjemandem da draußen erwarten.“ Sein rauer Daumen strich ihr sanft über die Wange, fuhr tiefer, berührte ihren verkniffenen Mundwinkel. Sie hörte ihn lächeln. „Ich bin dein einziger Freund, Persephone. Ich habe dir versprochen, dich vor allem zu beschützen.“ Er fuhr ihre Unterlippe nach und hob ihr Kinn an, dass sie ihm in die Augen sehen musste. Sie spiegelte sich in den weiten Pupillen, eingerahmt von einem kalten Irispaar. Etwas schrie in ihr, dass sie weglaufen solle; ihr Körper gehorchte ihr allerdings immer noch nicht. Die Spur seines Daumens auf ihrer Haut war nicht mehr als ein taubes Kribbeln.

Sie bemerkte am Rande ihres Bewusstsein, wie sein Gesicht näher kam und im nächsten Moment legten sich seine Lippen auf ihre; zaghaft, vorsichtig, als wolle er ihr den nächsten Schritt überlassen. Doch statt den Kuss zu erwidern, brach der intime Kontakt in ihr alle Blockaden auf, sodass ihr Verstand wie heiße Lava durch ihr Gehirn floss und endlich die Kontrolle übernahm. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie ihn von sich gestoßen und starrte ihn aus geweiteten Augen an.

Hades stand für einen Moment lang die Verwirrung und Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, dann war da nur noch grenzenlose Wut und ohne Vorwarnung holte er mit der flachen Hand aus, um sie zu ohrfeigen. Noch ehe sie reagieren konnte, brannte ihre rechte Wange wie Feuer und japsend presste sie die Hand auf die sofort pochende Stelle. Sie hatte kaum realisiert, was passiert war, da hatte sie der Mann an den Schultern gepackt und gegen Wand gedrückt, was ihr die Luft für einen kurzen Augenblick aus der Lunge trieb.

„Du undankbares Stück!“, rief er gefährlich grollend und seine Hände gruben sich noch fester in ihre Oberarme. „Ich habe für dich gebürgt, ich habe mich um dich gekümmert, ich bin bereit, dich vor allem zu beschützen und das ist dein Dank?!“ Im nächsten Augenblick brannte auch ihre andere Wange und der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. „Ich verlange doch nur ein wenig Dankbarkeit von dir, mehr nicht!“ Er unterbrach ihr Schluchzen, indem er sie grob schüttelte. „Und hör auf zu heulen! Ich hasse sowas!“

Wimmernd und die Tränen herunterschluckend wagte sie es, ihm ins Gesicht zu blicken. In seine Augen war eine Kälte getreten, die sie so noch nie in ihnen erblickt hatte. Nichts war mehr geblieben von der Warmherzigkeit, dem Liebe- und Verständnisvollen. Vor ihr stand ein anderer Mensch.

„Bitte“ Ihre Stimme war ein dünnes Zittern geworden und so sehr sie es zu unterdrücken versuchte, rollten die Tränen dick und schwer über ihre brennenden Wangen. „Bitte lassen Sie mich gehen…“

Das Lächeln, was sich nun in sein Gesicht stahl, war fast noch schlimmer als der kalte Blick. Persephone spürte, wie die Finger seiner rechten Hand sich von ihrem Arm lösten, nur um im nächsten Augenblick auf ihrer Hüfte zu ruhen. Die Berührung ließ sie zusammenzucken und hätte sie nicht die Wand im Rücken gehabt, wäre sie vor ihm zurückgewichen; so aber gab es keinen Ausweg mehr für sie. Sein Zeigefinger fuhr von innen den Bund ihrer Jeans entlang, bis er den Knopf erreichte. Ihr Verstand lief Amok, wollte ihre Arme, ihre Beine dazu bewegen, um sich zu schlagen … doch ihr Körper schien abgestorben zu sein. Einzig und allein ihr Herz schlug wie besessen hart und schnell in ihrer Brust, wie das letzte Zucken und Gebärden eines tödlich verletzten Tieres.

„Ich will dir nicht wehtun, Persephone“, sagte Hades leise. Zeigefinger und Daumen hatten inzwischen den Knopf geöffnet. „Das liegt nicht in meiner Absicht. Ich möchte nur ein kleines „Dankeschön“ von dir für meine Mühen. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“ Sie hörte das typische Geräusch eines Reißverschlusses, der sich öffnet; wessen Reißverschluss es war, wollte sie nicht wissen. In ihrem Kopf schrie alles nur noch nach Hilfe und Erlösung.

„Bitte“ Hatte sie es tatsächlich geschafft, noch ein artikulierbares Wort über die Lippen zu bringen? Etwas erwachte noch einmal in ihr, bäumte sich auf, wollte sich gegen Hades‘ Griff wehren, gegen das, was er vorhatte. „Ich tue alles, was Sie verlangen, nur bitte-“

Sein Blick veränderte sich und das ließ sie innerhalten. Sie konnte es nicht definieren – war es Mitleid? Ärger? Verwunderung, Schadenfreude? Egal was es war, es jagte ihr einen Schauer über den Rücken, und das letzte Bisschen Überlebenswille gefror bei seinem eisigen Blick.

„Ich weiß“, begann er ruhig; zu ruhig. „Das hast du mir schon einmal versprochen. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du dein Versprechen endlich einlöst, findest du nicht?“

Während er sprach, rutschte ihre Jeans langsam ihre Beine hinab, dann drückte er sich gegen sie.

Auch der letzte Widerstand in ihr gab nach und gebrochen schloss sie die Augen.
 

Leise, fast vorsichtig, drückte sie die Tür hinter sich ins Schloss und verharrte an Ort und Stelle. Angestrengt suchte sie in ihrem Gedächtnis nach dem, was sie nun tun wollte. Tun sollte. Sie erinnerte sich, dass es spät war. Sie sollte schlafen gehen. Oder? Sie wartete darauf, dass sich ihre Beine in Bewegung setzten, doch aus irgendeinem Grund brachte sie nicht einmal die Kraft auf, einen Muskel zu bewegen, geschweige denn einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie bemerkte, wie sie im Stehen leicht hin und her schwankte.

Persephones Kopf war leergefegt. Ihr Körper war taub, zumindest fühlte er sich nicht so an, als gehöre er ihr. Wieder versuchte sie sich zu bewegen. Vergeblich. Dann spürte sie auf einmal ein leichtes Kribbeln in ihren Fingerkuppen und sie brachte es tatsächlich fertig, ihre Hand vors Gesicht zu heben. Regungslos starrte sie das Stückchen Haut an und plötzlich brachen die Erinnerungen wie ein Platzregen über sie herein.

Sei dankbar!

Das leichte Kribbeln in ihren Fingerspitzen breitete sich in ihren Handflächen aus, wurde stärker, bis sie wieder die raue Struktur der hell gestrichenen Wand auf ihnen spürte, gegen die sie sich abgestützt hatte.

Immer mehr Erinnerungen, Bilder, Emotionen explodierten in ihr und füllten ihre menschliche Hülle, in der sie gefangen war, in Sekundenschnelle aus.

Sei dankbar!

Sie hörte seine befehlende Stimme in ihrem Rücken, sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr, wie er ihr diese zwei Worte immer und immer wieder entgegen zischte, hauchte, stöhnte, sie spürte ihn, und das ließ sie japsend nach Luft schnappen, einmal, zweimal, schnell und tief, dass ihr schwindelig wurde und schwarze Flecken vor der verschwommenen Welt ihrer Augen auf und ab tanzten.

Alles war wieder da. Jede einzelne Sekunde. Und als sie bemerkte, wo sie sich noch immer befand, schlug sie sich schnell die Hand vor den Mund und befahl ihrem Herzen sich zu beruhigen.

Du wirst niemanden davon erzählen. Das hatte er ihr zugeflüstert, kurz nachdem er sich von ihr verabschiedet hatte, und wie zur Bestätigung fühlte sie ein Ziehen an ihrer Kopfhaut, da, wo Hades ihr Haar gepackt und sie somit aufgehalten hatte, ehe sie durch die Tür hätte treten können. Wenn ich erfahre, dass du mit jemanden hierrüber redest, muss ich das leider als Vertrauensbruch werten. Wieder kitzelte die Erinnerung an seinen Atem an ihrem Ohr und unweigerlich stellten sich ihre Nackenhaare auf. Du weißt, ich will dich nur beschützen. Mit einem Ruck hatte er sie am Arm gepackt und näher zu sich gezogen. Und dafür gehörst du mir.

Mir. Unbarmherzig hämmerte das Wort, einem Echo gleich, in ihrem Kopf und mit jedem mir erinnerte sich ihr Körper immer besser an seine Berührungen, an jedem Zentimeter ihrer Haut schien der Druck und die Wärme seiner Hände, seiner Lippen, alles von ihm, an ihr zu kleben. Unter die Tränen mischte sich ein Gefühl von Ekel und sofort begann ihr Magen zu rebellieren. Da endlich schienen ihre Beine sich an das zu erinnern, wofür sie da waren, und stolpernd wankte sie los, die Hand weiterhin vor den Mund geschlagen.

Ein Schatten kam ihr entgegen, dem sie, schwindelig und kraftlos wie sie sich fühlte, so gut wie möglich auszuweichen versuchte. Töne schwappten an ihr Ohr, durchdrangen den schmerzend lauten Kanonen aus überlappenden Satzfetzen dumpf, doch sie verstand keinen Sinn in diesem Geräusch. Erst die Hand auf ihrer Schulter, dessen Druck sie erneut die letzten Minuten – oder waren es Stunden gewesen? Tage? – mit brutaler Realität durchleben ließ, brachte sie dazu, schreiend herumzufahren.

Zeus zog seine Hand sofort wieder zurück und sah sie aus verwundert wirkenden Augen an. Die Luft anhaltend starrte Persephone zurück, ihrem donnernden Herzschlag lauschend. Nach wenigen Augenblicken legten sich leichte Falten auf die Stirn des Mannes vor ihr und nichts erinnerte mehr an den Schock, den er Sekunden zuvor verspürt zu haben schien.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Zeus besorgt und trat einen vorsichtigen Schritt wieder auf sie zu. Nervös presste sie die Lippen aufeinander. Wenn sie Zeus etwas erzählte, würde Hades das mit Sicherheit erfahren und unweigerlich spürte sie von neuem seinen schmerzenden Griff an ihren Oberarmen, wie er sie gegen die Wand presste. Ihr wurde noch flauer im Magen. Zeus‘ Blick wurde immer besorgter und am liebsten wäre sie einfach vor ihm weggerannt. Stattdessen wich sie seinen dunklen Augen aus und strich sich eine Strähne hinters Ohr.

„Ja, mir geht es gut.“ Ihre Stimme zitterte und war brüchig, als hätte sie sich heiser geschrien. Hatte sie das nicht auch; eine Ewigkeit lauthals gefleht und geschrien? Nein, das hatte er ihr verboten. Ihre Kiefer erinnerten sich an den schmerzenden Druck, mit dem sie diese aufeinander gepresst hatte und für einen kurzen Moment dachte sie fieberhaft darüber nach, ob man die Abdrücke ihrer Zähne auf der Unterlippe noch sehen konnte.

Ihre gegenläufige Körpersprache schien Zeus nicht verborgen zu bleiben. Mit tief gerunzelter Stirn sah er kurz an ihr hinab, ehe sich sein Blick wieder auf ihr Gesicht heftete.

„Bist du dir sicher? Du bist kreidebleich.“

Persephone schluckte gegen das beklemmende Gefühl in ihrer Kehle an und zwang sich zu einem Lächeln; dass dies ihr tatsächlich gelang, überraschte sie selbst am meisten.

„Ich bin nur ein wenig müde“, begann sie leise und ging ein paar Schritte rückwärts, weg von Zeus, weg von ihm, seiner Tür, die immer noch in ihrem Blickfeld war. „Es war ein langer Tag. Ich sollte jetzt besser Schlafen gehen.“

Wieder musterte Zeus sie für einen Moment, dann nickte er. „Ja, tu das.“ Seine Stimme klang nachdenklich, als sei er mit seinen Gedanken woanders.

Keine Sekunde zögernd, drehte sie sich um und eilte den Gang hinab, obwohl ihre Beine so zitterten, dass sie jede Sunde damit rechnete, zusammenzubrechen. Sie war ein paar Meter weit gekommen, als Zeus sie noch einmal ansprach. Beim Klang ihres Namens wand sich innerlich ihr ganzer Körper und abrupt blieb sie stehen. Persephone gab sich einen Moment, ehe sie sich noch einmal zu dem Gott umdrehte. Hatte er ihre zitternden Hände bemerkt? Oder ihre zusammengesackte Haltung? Sie wappnete sich so gut wie möglich, versuchte sich irgendwelche Ausreden zurechtzulegen, doch Zeus sah sie nur an. Sie bemerkte, wie es in seinem Gesicht arbeitete, als wolle er etwas sagen, doch der Gott blieb stumm.

Nach ein paar Sekunden wurde sie zu nervös, um länger stehen bleiben zu können und im Hintergrund, hinter Zeus, auf Hades‘ Bürotür sehen zu müssen.

„Ja?“, fragte sie leicht ungeduldig. Zeus schien bei diesem Wort endlich aus seinem Schweigen auszubrechen und mit ernstem Blick sah er ihr ein letztes Mal in die Augen und schüttelte den Kopf.

„Schon gut, ich-“ Er verstummte und für einen Moment schien er wieder in seine Gedanken vertieft zu sein, ehe er leicht lächelte. „Es ist spät, geh ins Bett. Gute Nacht, Persephone.“

Sie erwiderte nichts, machte nur schnell auf dem Absatz kehrt und ging. Etwas in ihr war erleichtert. Der Rest war immer noch ein Chaos, das sie von innen heraus zu zerfressen begann.
 

Das laute Schließen seiner Bürotür ließ Hades verwundert aufschauen. Zeus verweilte im Türrahmen und starrte schweigend zurück. Als nach ein paar Sekunden immer noch keine Reaktion seitens des Göttervaters deutlich wurde, runzelte sein jüngerer Partner die Stirn und richtete sich etwas in seinem Stuhl auf.

„Ist was passiert, oder warum tauchst du so spät noch hier auf?“, fragte er mit einem prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. Es war weit nach Mitternacht. Auf Zeus‘ bislang emotionslosen Gesichtszügen, brach langsam tiefer Zorn durch, der Hades skeptisch seine eigenen verziehen ließ. „Alles in Ordnung?“

Bei dieser Unschuld und Ahnungslosigkeit heuchelnden Frage, erwachte Zeus endlich aus seiner Starre. Er biss die Kiefer aufeinander, trat auf den Braunhaarigen zu und holte ohne Vorwarnung mit der Rechten aus. Hart traf seine Faust Hades‘ Wangenknochen, sodass er polternd zu Boden ging und von dort verwirrt und erschrocken zu Zeus hochstarrte, die Linke gegen die rot anlaufende Gesichtshälfte gepresst.

„Das frage ich dich.“, zischte der Ältere um Beherrschung bemüht. Seine Rechte war weiterhin zur Faust geballt und juckte verführerisch, bereit, wieder zuzuschlagen, sollten ihm Hades‘ folgende Worte nicht gefallen. Er schluckte gegen das zuschnürende Gefühl seines eigenen Hasses in seiner Kehle an. „Du hast mir in den letzten Jahren immer wieder bewiesen, zu was du alles fähig bist und ich habe es geschluckt und toleriert. Aber so was Perverses habe ich selbst dir nicht zugetraut!“

Das Verwirrte in dem Gesicht seines Gegenübers machte gespielt wirkendem Unglauben Platz. „Ich weiß nicht wovon du-“, begann Hades mit einem kleinen Lachen auf den Lippen, als wolle er so die Situation auflockern, doch in Zeus‘ Augen war das genau die falsche Reaktion gewesen. Er beugte sich zu ihm runter, zog Hades am Kragen in die Höhe und drückte ihn mit einer Wucht gegen die Wand, dass Hades kurz schmerzvoll das Gesicht verzog. Zeus‘ vor Zorn funkelnde Augen fixierten Hades.

„Sieh mir in die Augen und sage mir, dass du Persephone nicht angerührt hast!“

Für einen kurzen Augenblick klebte weiterhin Verwunderung an dem Jüngeren, dann jedoch verfinsterte sich Hades‘ Blick, dass der Funken Unschuld, der Zeus immer noch an seinen alten Freund erinnerte, den er damals, vor Jahren, im Gefängnis kennen gelernt hatte, restlos verschwand. Zeus konzentrierte sich so sehr auf Hades‘ kalte Augen, dass er nur am Rande seines Bewusstseins spürte, wie sein Gegenüber nach seinem Handgelenk gepackt hatte und erbarmungslos zudrückte.

„Lass mich los.“ Seine Stimme strahlte eine unnatürliche Ruhe und Dominanz aus, die Zeus kurzweilig einen Schauer über den Nacken jagte. Dennoch ließ er sich nicht beirren; er kannte diesen Tonfall. Er wusste, dass Hades begann, wütend zu werden, eine Tatsache, die vielleicht ihren Mitgliedern zu bedenken gab. Ihn veranlasste dieser Umstand nur die Augen zu verengen.

„Antworte mir.“, knurrte er und zog Hades noch näher zu sich. Seine rechte Hand fing spürbar zu kribbeln an. Auch Hades‘ Blick wurde eine Spur härter und zorniger.

„Ich bin dir keine Antwort schuldig! Ich bin keiner deiner kleinen Zinnsoldaten, Zeus, vergiss das nicht!“

Schweigend starrten sie sich an.

„Lass … mich los.“, wiederholte der Gott der Unterwelt dann irgendwann düster und trotz der langsam gesprochenen Worte hörbar ungeduldig.

Hinter Zeus‘ Stirn begann etwas zu arbeiten. Eine leise Stimme murmelte beruhigende Worte und griff mit zaghaften Fingern nach seinen verkrampften Fäusten, die Hades‘ inzwischen zerknitterten Hemdkragen immer noch umklammerten. Er hatte sich, mal wieder, in eine Sackgasse manövriert, hatte Hades mit seinen Anschuldigungen so sehr in eine Ecke gedrängt, dass dieser augenblicklich auf Stur geschaltet hatte und nun den Spieß, mal wieder, langsam umdrehte und ihn nun dazu zwang, nach seinen Vorgaben weiter zu verhandeln. Und das stieß Zeus sauer auf. Wieder ertappte er sich dabei, an frühere Zeiten zu denken. Hideki wäre schon bei dem ersten lauten Wort und spätestens bei seinem groben Handgriff wimmernd und flehend vor ihm zusammengebrochen. Aber Hideki wäre auch nicht zu so etwas fähig gewesen, oder?, fragte er sich in Gedanken. Frustrierend musste er feststellen, dass seine Erinnerungen ihm darauf keine zufriedenstellende Antwort geben konnten.

Zähneknirschend gab er seinem Verstand nach, der in solchen Momenten der letzte Teil in seinem Gehirn war, der noch etwas mit dem Begriff „friedliche Verhandlungen“ anfangen konnte, und ließ Hades endlich los. Er spürte eine Ader an seiner Stirn pochen.

„Sie ist mir auf dem Weg zu dir kreidebleich entgegen gekommen.“, begann er beherrscht, trat zwei Schritte rückwärts und sah Hades dabei zu, wie er seinen Kragen richtete und sich noch einmal prüfend über die Wange fuhr. „Sie hatte Angst vor mir.“, fügte Zeus ungeduldig hinzu, um seine Aufmerksamkeit wieder zu erlangen. Tatsächlich sah Hades auf, das Gesicht wieder glatt und emotionslos, und schenkte ihm ein gelangweiltes Schulterzucken.

„Nun, dafür kann ich nichts. Wenn sie sich vor dir fürchtet, solltest du dann lieber den Fehler bei dir suchen, anstatt mich dafür zu schlagen.“ Wie zur Untermalung, betastete er seine anschwellende Lippe und besah eindringlich seine blutigen Fingerkuppen, was ein leichtes Stirnrunzeln bei dem Jüngeren hervorrief, ehe er sich das Blut ableckte.

„Du kannst mir nicht weismachen, dass nichts vorgefallen ist.“, entgegnete Zeus nun schon weitaus gereizter. Hades verdrehte nur genervt die Augen.

„Wahrscheinlich war sie nur etwas durch den Wind und erschöpft. Sie hat die letzten drei Nächte fast durchgängig an einem Fall gesessen und ihn heute zum Abschluss gebracht.“ Er griff nach einer Akte, die auf seinem Schreibtisch lag und hielt sie Zeus auffordernd unter die Nase. „Das, was sie aufgedeckt hat, scheint ihr ein wenig zu nahe zu gehen; sie ist halt noch eine blutige Anfängerin.“

Widerwillig nahm Zeus den Bericht entgegen und überflog die Zeilen. Hades hatte ihm schon vor ein paar Tagen von diesem Fall berichtet; ein Spion in den Reihen der Waffenschmuggler und Händler. Olymp selbst gehörte zu den Kunden der ausspionierten Gemeinschaften, womit auch sie irgendwann Probleme bekommen hätten. Zeus stieß beim Durchblättern auf Fotos und Aufnahmen von Kameras der Umgebung. Auf allen war ein junger Mann mit kurzen schwarzen Haaren zu sehen. Viele davon zeigten den Spion vor einem Etablissement, das bekannt für sein SM- und Bondageangebot war. Ein Räuspern in seinem Rücken, das höflich wirken sollte, ließ ihn wieder aufschauen. Hades war an die Tür getreten, eine Hand schon auf die Klinke gelegt.

„Wenn du also so freundlich wärst, und mich endlich in Ruhe lassen könntest…“, begann er und wollte die Tür aufziehen, doch Zeus ließ ihn mit einem Kopfschütteln innerhalten.

„Ich glaube dir nicht.“, sagte er bestimmt und legte die Akte zurück auf den Tisch. Vielleicht war es nicht sehr angenehm, in den dunklen Geheimnissen und Vorlieben anderer Menschen herum zu stöbern, und vielleicht war das ein oder andere davon für manche Gemüter abstoßend und unverständlich, aber niemand, nicht einmal die naivsten unter ihnen, würde sich so sehr von solchen Tatsachen aus der Bahn werfen lassen.

Schaufend fuhr sich Hades durch die sowieso schon strubbligen Haare.

„Dann tu es halt nicht!“, rief er und vollendete die angefangene Bewegung, die Tür zu öffnen. „Geh, ich bin müde.“

Zeus rührte sich nicht. Hades sah verständnislos und ungeduldig zurück. „Wo ist dein Problem?“, fragte der Jüngere und nun lag ein Hauch Verzweiflung in seiner Stimme, als steuere er auf das Ende seiner Ideenquelle zu, Zeus ohne Gewalt vor die Tür zu kriegen.

Zeus‘ Augen verengten sich warnend. „Wenn ich herausfinde, dass du sie zu irgendetwas zwingst, dann-“

„Dann was?“, zischte sein Gegenüber und trat wieder auf ihn zu. Zeus wich keinen Zentimeter zurück, trotz der Wut, die nun wieder in den hellen Augen seines Freundes aufloderte. „Es hat dich nicht zu interessieren, was ich tue! Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig und vor allem lasse ich mir nicht von dir drohen.“

„Wir haben eine Verantwortung unseren Mitgliedern gegenüber. Und ich habe ihrer Aufnahme ganz sicher nicht zugestimmt, damit du sie missbrauchst.“

Zeus‘ Anklage hing für Sekunden stumm in der Luft, in denen Hades ungläubig das Gesicht verzog, ehe er kopfschüttelnd ein hartes Lachen hervorstieß.

„Du wirst mit jedem Wort lächerlicher, Zeus!“

„Dann schwöre mir, dass meine Zweifel unberechtigt sind.“, entgegnete Zeus augenblicklich ernst, was seinen Gegenüber verändert aufschauen ließ. Zu seiner eigenen Verwunderung seufzte Hades im nächsten Moment und hob die Schultern.

„Wenn du dann endlich Ruhe gibst…“, ergab er sich wenig überzeugend, trat Zeus noch einmal direkt unter die Augen und legte in seinen Blick puren Ernst. „Ich habe nichts getan.“, raunte er düster, ehe ein vielsagendes Grinsen über seine Lippen huschte; eine Geste, die Zeus schon ausreichte, um sein Urteil zu fällen. Seine Finger zuckten. „Zumindest nichts gegen ihren kleinen, naiven Willen – will heißen, dass sie sich nicht gewehrt hat, also kannst du mir auch nichts vorwerfen.“, gab er Zeus seine Bestätigung. Allein die Tatsache, dass Hades sofort wieder auf Abstand ging, rettete ihn vor einen weiteren Fausthieb. Für einen Moment hatte Zeus zu lang gezögert, war zu entsetzt gewesen über die Dreistigkeit seines Partners, über seine Abgebrühtheit, über sein Handeln. Seine Hände ballten sich so stark, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Hades linste auf diese herab. Langsam glätteten sich seine Gesichtszüge wieder.

„Du solltest jetzt gut aufpassen, was du tust, Zeus.“ Er schaute wieder auf, die Augenbrauen leicht zusammengezogen. „Meine Geduld ist zu Ende und ich werde mich nicht ein zweites Mal von dir schlagen lassen. Das Spiel lässt sich auch andersherum spielen.“

Diese Annahme ließ Zeus‘ Mundwinkel verräterisch zucken. „Glaubst du?“, fragte er skeptisch, woraufhin auch in Hades‘ Gesicht ein selbstsicheres Lächeln zurückkehrte.

„Tu nicht so, als wüsstest du nicht, dass ich gegen dich sehr wohl eine reelle Chance habe. Du hast es doch gerade eben selbst gesagt: du weißt, wozu ich fähig bin.“ Er verstummte kurz und schaute Zeus noch eindringlicher an. „Immerhin warst du mein Lehrer.“ Hades trat noch weiter vor Zeus zurück und stellte sich wieder neben die geöffnete Tür, die Arme vor der Brust verschränkt. „Und nun verschwinde endlich!“

Zeus verharrte weiterhin an Ort und Stelle und presste die Lippen hart aufeinander. In seinem Kopf suchte er nach den passenden Worten, nach Argumenten, gegen die Hades nichts hätte erwidern können, doch da war nichts. Kein noch so kleines Widerwort. Es hatte keinen Sinn mehr, jetzt an dieser Stelle stur zu bleiben. Er schloss kurz die Augen und entspannte seine schmerzenden Finger. Den Blick weiterhin auf den Jüngeren gerichtet, ging er dann doch auf die Tür zu. Vor Hades blieb er jedoch noch einmal stehen.

„Ich schwöre dir, wenn ich etwas herausfinde, werde ich mich nicht länger zurückhalten.“, sprach er seine letzte Warnung aus. Hades zuckte nur gleichgültig mit den Schultern; eine Geste, die Zeus deutlich die Überlegenheit des Gottes zeigen sollte und die in diesem Augenblick schlimmer und demütigender war, als sein herablassendes Grinsen von vorhin.

„Frag sie, wenn es dich beruhigt.“ Hades wandte gähnend den Blick ab und ging zurück in den Raum. „Die Kleine wird dir auch nicht das sagen, was du unbedingt hören willst.“

Zähneknirschend schluckte Zeus seinen Konter runter, der ihm schon auf der Zunge lag. Er hatte bereits nach der Klinke gegriffen, um die weiße Tür in seinem Rücken zuzuziehen, als Hades ihn noch einmal ansprach.

Langsam drehte Zeus sich wieder um. Hades hatte sich in der Zwischenzeit gegen seinen Schreibtisch gelehnt. In seiner Hand lag die dunkle Desert Eagle, die Zeus nur zu gut kannte. Als habe er seine Umwelt vergessen, drehte Hades die Waffe in seiner Hand und sah sie mit einem leicht verträumten Blick an. Weiterhin auf die Eagle achtend, sprach er dann zu Zeus: „Misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein. Ich bin mein eigener Herr. Ich treffe meine eigenen Endscheidungen.“ Er hielt inne und suchte nun doch noch einmal Zeus‘ Blick. Nichtssagend. Keine Emotion. Gleichgültigkeit; und das, so wusste Zeus gut genug, war sein gefährlichster Zustand. „Und die hast du gefälligst zu akzeptieren.“

Zeus‘ Hand lag weiterhin ruhig auf der Klinke. Seine Miene ließ nichts von seinen aufgewühlten Emotionen hindurch scheinen. Er nickte leicht, verengte seine Augen nur etwas zu ernsten Schlitzen.

„Das beruht auf Gegenseitigkeit.“

Die Bedeutung von Rosen

Hätte ihn jemand in dieser Nacht noch einmal angesprochen, wäre dieser Jemand wahrscheinlich mit Knochenbrüchen und Platzwunden ins nächste Krankenhaus eingeliefert worden. Aber sein Gesicht schien so viel von seiner emotionalen Lage durchsickern zu lassen, dass alle Menschen, die ihm auf der Straße entgegen kamen, instinktiv einen sicheren Abstand von ihm einhielten. Wieder landete eine bis auf den Filter herunter gerauchte Zigarette achtlos hinter ihm auf dem Asphalt. Mit seinem jetzigen Konsum hätte man locker eine Schnitzeljagt durch das Rotlichtviertel veranstalten können. Zeus hatte kein Ziel, seine Beine wollten einfach nur in Bewegung bleiben. Gesprächsfetzen hallten wie ein Echo durch seinen Kopf und schürten die Wut. Er hasste Hades‘ Gleichgültigkeit. Er hasste sein skrupelloses Handeln. Sein Grinsen. Seine Taten, die Abgebrühtheit, mit der er ihm ins Gesicht log und doch im nächsten Moment die Wahrheit so kalt offen darlegte!

Er hasste sich.

Abrupt blieb er auf dem Gehweg stehen und starrte zu Boden, seine Hände erneut zu Fäusten geballt. Ja, am meisten hasste er sich selbst. Zeus, der Zeus, der stets alles selbst in die Hand nahm und die Zügel nicht abgab, Zeus, der nie die Kontrolle verlor – bis auf dieses eine verdammte Mal, das nun schon gute drei Wochen zurücklag, als er Izumis Aufnahme nicht verhindern konnte. Nein, korrigierte er sich in Gedanken, nein, es war ihm schon einmal passiert und damals, bei Hitomi, hatte er auch nichts mehr unternehmen können. Zumindest war ihm nichts mehr eingefallen. Wütend presste er die Lippen zu blutlosen Strichen aufeinander. Er war wieder zu spät gewesen. Knurrend griff er sich in die Haare, zerrte an seinem dichten schwarzen Schopf und biss die Kiefer aufeinander, um einen Aufschrei zu unterdrücken. Er schüttelte den Kopf, atmete tief durch die Nase ein und aus und versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen. Es gab keinen Ausweg mehr. Er hatte die Fehler begangen, er, nur er, alles war von ihm aus gegangen. Er hätte es beenden sollen, er hätte die Entscheidung fällen sollen, damals, nach der Sache mit Hitomi. Er hätte niemals Hades wieder aufsuchen sollen, um weiter mit ihm zu arbeiten. Er hätte-

„Hey!“

Der hohe Laut ließ ihn zum Teil erschrocken, zum anderen Teil wutentbrannt aufschauen, bereit, dem Besitzer dieser ekelhaft süß klingenden Stimme den Mund mit seinen eigenen Zähnen zu stopfen. Stattdessen hielt er sich einen Moment lang zurück und beließ es bei einem wütenden Blick. Das Mädchen, das vor ihm aufgetaucht war, schien einen Augenblick lang zu bereuen, ihn angesprochen zu haben, so unsicher wie es nun vor ihm zurückwich. Sie war anderthalb Köpfe kleiner als er, schien endlos lange Beine zu besitzen, was allerdings wohl den hohen Absätzen ihrer Stiefel zu verdanken war, und trug die auf niedlich getrimmte Lolita-Kleidung, die gerade bei den hier arbeitenden Damen so in Mode war. Ihre auffallend roten Haare hatte sie zu einer wirr aussehenden Frisur verknotet und unter dem feuerroten Pony leuchtete ihm ein dunkelgrünes Irispaar entgegen, in das der antrainierte Verführerblick langsam zurückkehrte. Etwas an diesen Augen ließ Zeus‘ angestauten Zorn an ein erträgliches Level angleichen; vielleicht war es aber auch einfach nur der lächerliche Versuch des Mädchens sexy auszusehen; das Kaugummi, auf dem sie dabei schmatzend herum kaute, zerstörte diese Illusion jedoch gänzlich. Das grüne Kaugummi, fügte Zeus innerlich kopfschüttelnd hinzu, als die Rothaarige zu grinsen anfing und das Ding deutlich mit der Zunge in ihrem Mund von einer Seite auf die andere schubste.

„Du siehst aus, als könntest du eine Ablenkung brauchen.“, sagte sie und verringerte den Abstand zwischen ihnen. Eine Hand legte sich auf seinen Oberarm und begann diesen mit dem Daumen sanft zu streicheln. „Ich kann dich auf andere Gedanken bringen.“, raunte das Mädchen nahe an seinem Ohr, wobei zwischen ihren leisen Worten das rhythmische Schmatzen laut erklang. Aus den Augenwinkeln musterte Zeus die Kleine einen Moment lang, ehe er sie von sich wegschob und an ihr vorbeiging.

„Du würdest mir nur Gewissensbisse bescheren.“, erwiderte er noch unbeeindruckt, ehe er sich in Bewegung setzte und sie stehen ließ, doch da hatte sich erneut ihre Hand um seinen Arm geschlossen. Verärgert starrte er auf diesen Berührungspunkt herab. Sie hatte sich die Fingernägel in den grellsten Farben lackiert. Von dem Mittelfinger zwinkerte ihn ein Smiley zu.

„Hast’ ne Freundin, oder was?“, fragte das Mädchen weiter und grinste breit. „Keine Angst, meine Lippen werden kein einziges Wort hierrüber verlassen.“

Schnell packte Zeus nach ihrem Handgelenk und drückte zu, dass sie die Luft zischend einsog. Er zog sie zu sich heran und sah ihr tief in die jadegrünen Augen.

„Was hältst du davon, gänzlich die Klappe zu halten, und einfach nach Hause zu deinen verdammten Eltern zu gehen, anstatt dich hier für ein besseres Taschengeld an fremde Kerle heran zu schmeißen?“ Er sah, wie sie verärgert die Augen niederschlug. Also hatte er einen wunden Punkt getroffen. Umso besser, dachte er, vielleicht rüttelt sie das ja wach. Er ruckte noch einmal an ihrem Arm und beugte sich zu ihr herunter „Du bist eindeutig zu jung hierfür.“, zischte er. „Es mag Männer geben, die auf sowas stehen, aber ich gehöre da ganz sicher nicht zu.“

Zu seiner eigenen Verwunderung befreite sich die Kleine aus seinem Griff und funkelte ihn mit vorgeschobener Unterlippe grimmig an. „Ich bin längst volljährig, falls dich das stört!“, giftete sie zurück, was Zeus‘ Braue unweigerlich in die Höhe schnellen ließ. „Willst’e meinen Ausweis sehen?“ Sofort begann sie in einer kleinen Handtasche zu kramen, welche die Form eines plüschigen Schafes hatte, doch Zeus nutzte die Gelegenheit, um wieder auf dem Absatz umzudrehen; zu seinem Bedauern bekam die Rothaarige das leider mit und versuchte augenblicklich auf ihren zwölf Zentimeter Absätzen Schritt zu halten.

„Du bist hartnäckig“, seufzte er, und ein Hauch von frechem Stolz huschte über ihr geschminktes Gesicht. „Aber es bleibt dabei: ich bin nicht in der Stimmung!“ Er griff in seine Jackentasche und holte eine neue Zigarette zum Vorschein, die er sogleich anzündete. Der Qualm wehte dem jungen Ding entgegen, sodass die kurz zu husten anfing, dennoch gab sie nicht auf. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie ihm zuzwinkerte.

„Du glaubst ja gar nicht, wie schnell ich daran etwas ändern könnte. Komm schon“, lockte sie ihn, und stellte sich Zeus erneut in den Weg, beugte sich vor und ließ ihn einen tiefen Blick in ihr recht übersichtliches Dekolleté erhaschen. „Was hast du denn schon zu verlieren?“

Zeus hielt inne, einen frischen Zug seiner Zigarette nehmend, und musterte sie von oben bis unten. Als sie seinen prüfenden Blick bemerkte, fing sie wieder an zu grinsen; und wieder leuchtete dieses Kaugummi hervor. Zeus tat nachdenklich, ehe er mit den Schultern zuckte.

„Wahrscheinlich so um die 10000 Yen.“

Zum ersten Mal trat wahrer Zorn in ihr Gesicht und ließ dieses rot anlaufen.

„Hältst du mich für `ne billige Nutte?“

„Wenn dir ein anderes Synonym einfällt, dann nur raus damit.“

Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf, ging auf ihn zu und tippte ihm gegen die Brust.

„Hör zu, Mister!“, fauchte sie aufgebracht und sah ihm tief in die Augen. „Ich lasse mich ganz sicher nicht von irgendeinem Arsch als billiges Flittchen beschimpfen! 10000 Yen, dafür erhältst du von mir nicht mal `nen verdammten Blowjob! So nötig habe ich dich und deine scheiß Kohle auch nicht, als dass ich mich unter meinen Wert verkaufen müsste!“

Schmunzelnd ließ er sie weiter zetern. Zeus‘ Wut auf die Welt war beinahe gänzlich verraucht. Vielmehr fand er die Kleine, die gerade zur Furie mutierte, äußerst unterhaltsam. Grinsend zog er an seiner Zigarette und blies ihr den Qualm ins Gesicht, sodass sie, mit der Hand den Rauch wegwedelnd, zwei Schritte vor ihm zurückwich.

„Dafür, dass du mich nicht nötig hast, lässt du aber nicht locker.“, sagte er und hielt den glimmenden Stängel in eine andere Richtung, als er merkte, dass sie der Qualm wirklich zu nerven schien, so angeekelt, wie sie den Mund verzog. Das Mädchen lief von neuem Rot an, was sie hinter einem Schmollmund zu verstecken versuchte. Das brachte ihn noch mehr zum Schmunzeln.

„Die bittere Wahrheit ist allerdings“, sagte er dann, „dass ich nicht mehr als 10000 momentan dabei habe.“ Er zuckte mit den Schultern und seufzte langgezogen. „Tja, da scheinen wohl du und ich heute leer auszugehen. Es sei denn du lässt dich auf einen Kaffee überreden. Oder bist du dir dafür auch zu schade?“

Mit innerer Genugtuung sah er es in ihrem verwirrten Gesicht arbeiten. Ihre schmalen Augenbrauen runzelten sich in Skepsis, und er bemerkte, dass sich ihr vorlautes Mundwerk wieder kauend in Bewegung setzte.

„Nen Kaffee“, wiederholte sie ungläubig. „Ist das so ein ätzender Anmachspruch?“

„Eher mein letztes Angebot.“

„Du hast nicht einmal mit mir verhandelt.“

„Weil du mich gleich zu Anfang in Grund und Boden geschimpft hast.“

Sie kaute eine Weile nachdenklich, dann schüttelte sie den Kopf, dass sich ein paar Strähnen aus ihrer Frisur lösten, die sie sich eilig hinter das Ohr klemmte und die Arme vor der Brust verschränkte. „Was erhoffst du dir davon?“

„Ablenkung.“, antwortete er ihr sofort. „Ich muss auf andere Gedanken kommen. Und da kommt mir ein Gespräch mit einer Fremden ganz recht.“

Er sah, dass sie zögerte. Jedoch nur für einen kurzen Moment. Dann trat sie neben ihn, hakte sich bei ihm unter und ging mit ihm weiter.

„Nur reden“, erinnerte sie ihn mahnend. „Für mehr-“

„Fehlt mir das nötige Kleingeld, schon klar.“, fiel er ihr lachend ins Wort und drückte die Zigarette schnell mit dem Schuh aus. „Wie heißt du eigentlich?“

„Rose, und du?“

Zeus wollte schon zu seiner gewohnten Antwort, die er für jeden Fremden parat hatte, ansetzten, als er sich dann doch noch um entschied. „Zeus.“

Wieder runzelte sich ihre Stirn. Die übliche Reaktion auf seinen Namen. „Zeus? Echt?“

„Ja, echt.“, entgegnete er grinsend und sie fing an zu kichern.

Sie verließen das Rotlichtviertel nach fünf Minuten und betraten den zivilisierteren Teil der Stadt. Sofort wurden sie schräg von der Seite gemustert; wer nun mehr Aufmerksamkeit auf sich zog – Rose in ihren auffälligen Kleidern und mit dem kindlichen Gesicht, oder Zeus in seinem dunklen Trenchcoat und mit wesentlich gepflegterem und viel älterem Aussehen, was zusammen eine grotesk wirkende Kombination ergab, die vermutlich viele Menschen den Kopf hätte schütteln lassen - konnte sich nicht wirklich sagen lassen. Beide störten sich nicht an den Blicken, dennoch zog es Zeus vor, so schnell wie möglich von der offenen Straße zu verschwinden, sodass er das erstbeste Lokal ansteuerte.

Ehe sie eintraten, hielt er Rose noch einmal zurück, woraufhin sie ihn fragend ansah.

„Was?“

Schweigend hielt Zeus ihr seine Handfläche unter die Nase, was sie dazu veranlasste, skeptisch auf seine Pranke zu schielen.

„Spuck das Kaugummi aus. Das geht mir schon die ganze Zeit auf die Nerven.“, entgegnete er und klang dabei wie ein Lehrer, der eine ungezogene Schülerin belehrte.

Ungläubig starrte sie zu ihm hoch, doch sein Blick blieb eisern und abwartend. Rose versuchte es kurz mit einem unschuldigen Augenaufschlag und einem lieblichen Schmollmund, doch das brachte Zeus nur dazu, die Braue noch höher zu ziehen. Kurzerhand gab sie sich geschlagen und ließ das Kaugummi augenverdrehend in seine Handfläche fallen. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen, bei dem Rose kurz der Atem wegblieb.

„Braves Mädchen.“, sagte Zeus und tätschelte ihr den Kopf.

Wütend schlug sie seine Hand zur Seite. „Ich bin volljährig!“

„Schon klar…“
 

Es war bei dem Kaffee und ein paar Drinks geblieben. Nachdem Rose ihm dann doch ihren Ausweis unter die Nase gehalten hatte, lag den ganzen Abend über ein triumphierendes Grinsen auf ihren knalligen Lippen, da Zeus sich, in der Hinsicht, wohl oder übel geschlagen geben musste und ihr zur Wiedergutmachung einen Cocktail ausgegeben hatte. Trotz seiner Vermutung, dass Rose an Alkohol gewöhnt sein müsste, schien der eine Drink auszureichen, um ihre Zunge so weit zu lockern, dass sie beinahe ohne Luft zu holen stundenlang zu erzählen begann; zuerst hielt sie ihm lautstark einen Vortrag darüber, was er alles angesichts seiner derzeitigen Geldknappheit verpasste, wofür den beiden der ein oder andere schiefe Blick seitens der um sie herum sitzenden Gäste geschenkte wurde. Zeus hörte ihr nur schmunzelnd dabei zu, wie sie ihre bemerkenswerten Vorzüge anpries, und beinahe nahtlos dazu überging, ihre Kolleginnen in ein schlechtes Licht zu rücken.

Sie plauderte über ihre noch weitestgehend rosige Kindheit im Waisenheim, über ihren ersten Freund, über ihr erstes Mal mit ihm und über ihr zweites erstes Mal mit ihrem ersten Freier, dessen Erinnerung sie peinlich kichern ließ, da sie sich, nach eigener Aussage, so dämlich angestellt habe. Zeus selbst saß ihr nur lächelnd gegenüber, nickte an den passenden Stellen oder lachte leise, wenn auch sie zu lachen begann. Sie fragte ihn kein einziges Mal über seine Person aus und das fand er auch gut so. Ein wenig, ein kleines Bisschen nur, wenn sie so verträumt und in Vergangenes versunken dasaß, erinnerte Rose ihn an Hitomi und unweigerlich musste er an seine erste Begegnung mit ihr denken, wie sie die kleinen, stichelnden Anekdoten über sich und Hideki erzählt und sichtlich die unbeschwerte und ausgelassene Situation genossen hatte. Er ertappte sich dabei, selbst in schwer und tief sitzende Erinnerungen abzudriften, sodass er die Gedanken an die blonde Frau, an seinen und Hades‘ Fehler, schnell wieder zu verdrängen versuchte, ehe sie alte Wunden von neuem aufreißen konnten.

Seine Armbanduhr zeigte schon vier Uhr an, als er Roses Redefluss unterbrach und bei der Bedienung nach der Rechnung fragte. Das Mädchen fing wieder an zu schmollen. Anscheinend hatte sie Gefallen an „nur reden“ gefunden.

„Seh ich dich irgendwann wieder?“, fragte sie ihn, als er mit ihr zurück in ihr Viertel ging. Sie hatte sich wieder bei ihm wie selbstverständlich eingehakt. Die Worte versetzten Zeus einen Stich und unweigerlich hallten die Worte in seinem Kopf wider, nur diesmal war es nicht die Stimme des rothaarigen Mädchens neben ihm, welche sprach.

Als er nicht sofort antwortete, sah Rose fragend zu ihm auf und für einen kurzen Moment leuchteten ihre Augen in einem kristallklaren Blau, sodass Zeus verwirrt stehen blieb. Einen Lidschlag später starrte er wieder in sattes Grün, das ihn immer erwartender anstarrte.

Nein, sprach er sich beruhigend in Gedanken zu, nein sie ist nicht Hitomi. Sie würde es niemals sein. Und es würde niemals so mit ihr enden, wie mit Hades‘ und seiner gemeinsamen Freundin. Dafür würde er sorgen!

Zeus lächelte Rose an und beugte sich zu ihr herunter. „Du bist immer noch hartnäckig“, raunte er neckend in ihr Ohr. „Bist du dir sicher, dass du auf mich verzichten kannst?“

Er hörte sie verschmitzt schnaufen. „Ich habe dir zu viel anvertraut, als dass ich dich jetzt einfach so gehen lassen könnte.“ Eine Hand legte sich auf seine Brust und fing an, an den Knöpfen seines Mantels zu nesteln. „Und ja, ich find‘ dich gar nicht so übel“, gab sie dann zögernd zu, was Zeus dazu verleitete, sie von der Seite her neugierig zu mustern.

„Der Gedanke daran, dass du irgendwann mal eine meiner Kolleginnen flachlegen könntest, dreht mir den Magen um.“, grummelte sie auf einmal und sah ihn wieder mit funkelnden Augen an. „Ich teile nicht gerne, weißt du?“

Zeus‘ Braue wanderte skeptisch in die Höhe. Mit einem Mal erinnerte sie ihn nicht mehr an ein kleines, unbeholfenes Mädchen, sondern an das, was sie die ganze Zeit über gewesen war. Ihre gestellten Besitzansprüche zauberten ihm ein freches Grinsen ins Gesicht.

„Wirklich? Und wie willst du das verhindern?“

Da war er wieder, dieser typische Verführerblick, den jede Nutte hier draufhatte. Und zum ersten Mal gab etwas in Zeus Verstand diesem Blick nach und verzehrte sich unweigerlich nach seiner Besitzerin.

„Bring das nächste Mal genügend Geld mit und ich zeige es dir.“, schnurrte sie leise und ging ein paar Schritte rückwärts, sodass sie Zeus von oben bis unten mustern konnte, als sei er ihr Eigentum. Ein siegessicheres Lächeln tauchte in ihren Mundwinkeln auf, als sie bemerkte, dass sie heute von Zeus wohl keine spitze Erwiderung mehr zu befürchten hatte und diese Runde für sich verbuchen konnte. Rose wartete noch zwei Sekunden, ehe sie in ihre Jackentasche griff und ein neues Kaugummi hervorzog, das sie sich, die jadegrünen Augen weiterhin verführerisch auf Zeus fixiert, langsam in den Mund schob, um dann auf ihren Absätzen umzudrehen und die Straße hinab zu stolzieren.

Ungeniert schaute Zeus ihr noch eine Weile hinterher, ehe er das Grinsen nicht länger zurückhalten konnte und sich kopfschüttelnd abwandte.

Oh ja, er würde wiederkommen. Und dann würde sich zeigen, wer hier wem hinterherrannte.
 

Er ging nicht auf direktem Weg zurück, sondern wanderte noch für lange Zeit in den vielen Seitenstraßen auf und ab, seinen eigenen Gedanken ungestört nachhängend. Das alte Parkhaus wurde in die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages getaucht, als er den Heimweg antrat. Kurz blieb er vor dem Gebäude stehen und sah an Olymps grauer Fassade hinauf, welche in einen kräftigen Gelbton getaucht war, sodass es den Eindruck machte, als ob die lachende Sonne, die weit oben an der Fassade angebracht worden war, seit langem doch wieder strahlte. Zeus hatte dieses Ungetüm aus Neonröhren, die wahrscheinlich noch nie vollständig funktioniert haben, schon immer hässlich gefunden; aber warum sollte sowas auf einmal von einem angeblich verlassenden Parkhaus abgenommen werden?

Die Straßen waren leer, kaum ein Auto fuhr noch. Für die normale Gesellschaft war der frühe Morgen der Beginn des neuen Arbeitstages; hier ging der alte gerade erst zu Ende. Nur zu dieser Zeit schien dieses Viertel friedlich zu wirken. Zwei Atemzüge lang genoss Zeus noch die Ruhe, die ihn schon immer irgendwie an die Stille auf einem verwüsteten Schlachtfeld erinnert hatte, ehe er Olymp betrat. Er ließ die Sonne und ihre wärmenden Strahlen zusammen mit der Erinnerung an Rose hinter sich und wurde im nächsten Moment gänzlich von der Dunkelheit des Parkdecks verschluckt.

Als hätten sie nur darauf gewartet, schlugen die erfolgreich zurückgedrängten Ereignisse der vergangenen Nacht von neuem über ihn zusammen und kurz befürchtete er wieder an der Situation zu verzweifeln. Doch zu seiner eigenen Verwunderung blieb er ruhig. Fast schon gelassen. Er fühlte nichts, als er die Stufen in Olymps Herz hinunterstieg, keine aufwühlende Wut, keine nagende Verzweiflung, keinen Hass. Auf niemanden. Einer von Hades‘ Schützen kam Zeus in lockerer Sportkleidung entgegen, nickte ihm kurz im Vorbeigehen zu und verschwand dann wieder schnell aus seinem Blickfeld. Niemanden sonst traf er an. Die unterirdische Anlage war menschenleer. Ruhig wie ein Schlachtfeld nach dem Kampf…

Auf dem Weg zu seinen Zimmern kam er an Hades‘ kleiner Wohnung vorbei und plötzlich wollten seine Beine nicht mehr weiter gehen. Etwas zog sich wieder in ihm zusammen, ließ ihn die Zähne aufeinander beißen und sein Herz einen schnelleren Takt anschlagen. Der Hass strich verführerisch sanft über sein Herz und wie von selbst hob sich seine Hand zur Türklinke. Kurz bevor sich seine Finger um das kalte Metall schließen konnten, zuckte er zurück und hielt inne.

Was bringt mir das jetzt?, fragte er sich müde und ließ seine ausgestreckte Hand in der Luft ruhen.

Gar nichts, war die nüchterne Antwort.

Zeus war froh, endlich wieder klar denken zu können, war glücklich über seine innere Ruhe. Hätte er Hades nun wieder zur Rede gestellt, hätte es nur böses Blut gegeben. Wieder. Er sah auf seine Hand und die Klinke hinab. Es würde gar nichts bringen. Er würde nicht mehr zu Hades vordringen können. Wieder einmal nicht. Warum also die Kraft aufwenden für einen weiteren erfolg- und hoffnungslosen Versuch?

Leise seufzend ließ er die Hand sinken und wandte sich ab. Nein, er musste der Wahrheit ins Gesicht sehen. Und er musste zu seinen Taten stehen. Aus ihnen lernen.

Er musste endlich handeln. Nicht, indem er sinnlos gegen Hades‘ Sturheit anrannte, nein!

Er schloss seine eigene Tür auf und betrat die kleine beschauliche Wohnung dahinter. Im Gehen zog er sich seinen Trenchcoat aus und ließ diesen achtlos zu Boden fallen. Sein Blick fixierte den unaufgeräumten Schreibtisch, auf denen sich Papier- und Aktenstapel türmten. Aus einer kleinen Schublade holte er das alte Diktiergerät hervor und suchte nach einer neuen Kassette.

Er musste mit dem Vergangenen abschließen. Er musste nach vorne blicken und endlich handeln. Seine Hände begannen zu zittern, sodass es schwieriger wurde, die Kassette in das kleine Gerät zu stecken.

Er konnte sich nicht auf Memoria setzen, sosehr ihn die Erinnerungen auch quälten. Alle, nur nicht Hades und er, dafür war ihre Verantwortung viel zu groß. Aber ich muss dennoch abschließen. Und vorbereiten.

Lange ruhte sein Finger auf der Aufnahmetaste. Dann, nach gefühlten Stunden, drückte er sie mit klopfendem Herzen runter. Langsam begannen sich die Spulen des eingelegten Tapes zu drehen und nervös leckte er sich ein letztes Mal über die Lippen, ehe er Luft holte.

„Wenn … das hier jemand hört, dann … dann…“ Er stockte, seine Stimme fing an zu zittern und schnell stoppte er die Aufnahme wieder. Bebend schloss er wieder die Augen. Reiß dich zusammen, schollt er sich in Gedanken.

Hunderte von Gefühlen brachen von neuem über ihm zusammen und gegen diese versuchte er verzweifelt standhaft zu bleiben. Wie schwer es doch manchmal war, sich seine Fehler einzugestehen. Rose tauchte vor seinem geistigen Auge auf und diese Erinnerung ließ ihn wieder schmunzeln. Die Kleine schien sich als ein verdammt gutes Ventil für ihn herauszustellen. Hoffentlich brachte sie das nicht in Zukunft in Schwierigkeiten; die schien er ja irgendwie magisch anzuziehen. Sein Herzschlag beruhigte sich langsam und mit einem klaren Kopf löschte er die angefangene Aufnahme und drückte ein weiteres Mal die Taste herunter.

Er konnte nichts gegen Hades und seine Taten ausrichten. Nicht mehr. Aber er würde dennoch kämpfen. Es war schon lange kein Geheimnis mehr, dass diese ganze Situation, die schlimmer werdenden Streitereien mit Hades, die angespannte Stimmung, nur ein Spiel auf Zeit war. Irgendwann würde diese Farce eskalieren und bis dahin muss ich Vorkehrungen getroffen haben. Ich lasse das alles hier nicht umsonst gewesen sein!

Er wird alle an das erinnern, wofür Olymp stand, was Olymp für ihn bedeutet.

Die kalte Maske, in das sich nun sein Gesicht verwandelte, legte sich auch auf seine Stimme:

„Wenn das hier jemand hört, heißt das, dass ich entweder nicht mehr zu Olymp gehöre oder tot bin … egal, was nun zutrifft, es bedeutet, dass Olymp dem Untergang geweiht ist oder schon gefallen ist.“

Von Sackgassen und Auswegen

Gedankenverloren strich Persephone über die glatten Erhebungen auf der Rückseite des Medikamentenstreifens. Der Wind hier oben auf dem Dach des Parkhauses zerrte kräftig an ihrer Kleidung und wehte ihr ständig die Haare ins Gesicht, wenn die Böen erneut ihre Richtung wechselten. Sie hatte ihre Beine unter der niedrigen Absperrungsstange hindurch gesteckt, welche mehr eine Stolperfalle als eine wirkliche Sicherheitsvorkehrung war, und stützte ihre Arme auf dem kalten Metall ab. Unter ihr, gute achtzig Meter tiefer, lag ein Lichtermeer aus Neonröhren und Werbetafeln, Motorengeräusche schwappten zu ihr hoch und wenn sie den Blick hob und etwas in die Ferne schaute, konnte man von hier oben die vielen fernen, mehrspurigen Straßen sehen, die Lichter der unzähligen Autos, die sich wie eine nicht enden wollende Perlenschnur zwischen den Hochhäusern hindurch ihren Weg bahnten. Obwohl das Parkhaus sicherlich nicht zu den höchsten Gebäuden im Umkreis gehörte, war die Aussicht dennoch atemberaubend.

Ihr erschien es dagegen in diesem Moment vollkommen gleichgültig, unbedeutend, belanglos.

Den ganzen Tag war sie im Bett geblieben, hatte die Decke über ihren Kopf gezogen und vor sich hingestarrt. Sie hatte versucht zu schlafen, doch obwohl sich ihr Körper so schwer und müde angefühlt hatte, hatte sie nicht den Blick von der abgeschlossenen Tür abwenden können. Sie hatte Angst gehabt, sie aus den Augen zu lassen, als befürchte sie, dass jemand diese Unachtsamkeit ausnutzen und zu ihr ins Zimmer kommen könnte. Dabei wollte sie nur alleine sein. Diese Angst fraß sich so tief und hart in ihr Herz, dass sie irgendwann einen Stuhl mit der Lehne unter der Türklinke verkeilt hatte; das hatte sie für wenige Minuten etwas beruhigen können, doch noch immer wollten ihre Augen nicht zufallen.

Hunger, Durst, selbst das Druckgefühl auf ihrer Blase hatte sie den ganzen Tag ignoriert und weiterhin auf die helle Zimmertür gestarrt, bis sich ihr Körper für die Vernachlässigung seiner Bedürfnisse zu rächen drohte, und Persephone dann doch am Abend eilig ins Bad gewankt war. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich unter die Dusche zu stellen ohne gleich umzukippen; nach dem stundenlangen Liegen dümpelte ihr Kreislauf irgendwo auf Höhe ihrer Kniekehlen herum. Sie hatte schon letzte Nacht geduscht, direkt, nachdem sie ins Zimmer gekommen war, aber immer noch fühlte sie sich abscheulich und ekelte sich vor ihrer eigenen Haut. Heißes Wasser lief ihr über Haare und Nacken und durchnässte Shirt und Unterwäsche, welche sie nicht ausziehen wollte; etwas in ihr hatte weiterhin Angst, dass er zurück käme. Und dann wäre sie ihm nackt noch hilfloser ausgeliefert gewesen. Sie hatte versucht, mit Logik über diese Angst in ihr nachzudenken, sich einzureden, wie irrational und übertrieben sie im Grunde war, doch ihr Kopf war ein großer Hohlraum, durch den nur die verschiedensten Bilder und Szenen wie Schatten wandelten und in dem Hades‘ Stimme, zusammen mit ihren kleinen, wimmernden Ängsten, leise Echos waren, die in ihrem leeren Kopf gefangen gehalten wurden.

Der Wind hier oben übertönte diese Stimmen ein wenig und das machte in ihr Platz für ein paar leichte Gedanken. Ihr Gehirn war schon vor einer Stunde aus seiner Selbstschutzreaktion erwacht, doch da war sie noch viel aufgewühlter gewesen. Ein, zwei Mal, hatte sie zuvor ihrem Verstand erlaubt zu denken, und immer wieder waren ihre Gedanken Amok gelaufen, dass sie sich noch mehr unter der Bettdecke zusammengekauert und am ganzen Leib gezittert hatte. Das einzige, was ging, war die Tür anzustarren und auf die Geräusche hinter ihr zu lauschen. Persephone hatte Minuten gebraucht, um sich soweit wieder zu sammeln, um den Entschluss, den Wunsch, nach einer Erlösung zu formulieren. Und dieser Wunsch war schnell zu einem innerlichen Trieb herangewachsen, der sie schlussendlich dazu gebracht hatte, sich anzuziehen, den Stuhl von der Tür wegzunehmen und diese zu öffnen. Die vielen Menschen, die ihr daraufhin auf den Gängen begegnet waren, hatten sie beinahe wieder zum Rückzug bewegt. Hatte Olymp schon immer so viele Mitglieder gehabt? Sie blieb tapfer, schöpfte Mut aus dem kleinen Gedanken – ich will nicht mehr, ich will das nicht mehr! – und hielt den Blick gesenkt, immer an der Wand entlang gehend und den Augenkontakt mit jedem vermeidend. Seht mich nicht an, bitte, beachtet mich nicht und lasst mich einfach in Ruhe, flehte die Angst in ihr stetig und ließ sie verbittert schneller laufen, sich ganz darauf verlassend, dass ihre Füße den Weg kannten.

Irgendwie hatte sie es tatsächlich bis zu Chirons Behandlungszimmer geschafft. Der Arzt hatte ihr verwundert entgegen geschaut, sie aber dann doch hereingelassen - wobei Arzt nicht der richtige Ausdruck für den alten Mann war, der stets leicht gebeugt und auf etwas kauend durch die Welt hier unten ging. Er versuche mit dem Rauchen aufzuhören, gab er stets als Rechtfertigung, er habe schon alles andere ausprobiert und Nikotinpflaster haben bei ihm noch nie gewirkt, die seien ja im Grunde ja eh nur Geldmache, er wisse schließlich, wovon er da sprach. Das Ergebnis dieses schon seit mehreren Jahren andauernden Unterfangens zeichnete sich durch einen deutlich angewachsenen Bauchumfang ab. Chiron hatte vor Jahrzehnten mit dem Medizinstudium begonnen, es aber nach ein paar Semestern wieder abgebrochen, um Apotheker zu werden.

„Aufgeschnittene Menschen sind nicht mein Ding“, hatte er ihr damals erklärt, als sie für ein paar Tage auf der Krankenstation das Bett hüten musste. „Ich kümmere mich lieber um ihre von Saufgelagen davon getragenen Kopfschmerzen und Geschlechtskrankheiten – kommt hier gar nicht so selten vor, also guck nicht so verdutzt.“, hatte er dann auf ihren entgleisten Gesichtsausdruckes hin belustigt hinzugefügt. Ihr war der Mann von Anfang an sympathisch gewesen; ihn nun so auszunutzen fiel ihr daher doppelt so schwer.

Am Ende hatte er ihr dann doch die Schmerztabletten gegeben. Er war, wie zu erwarten, misstrauisch gewesen, als sie ihn kleinlaut danach gebeten hatte. Monatliche Probleme und so. Was Besseres hatte ihr noch hinkender Verstand nicht ausgespuckt. Er hatte die Lüge dennoch geschluckt - oder vielleicht doch eher schweigend gebilligt? Bevor sie aus seinem kleinen Arbeitszimmer mit den etlichen Schränken an der Wand abhauen konnte, hatte er ihr noch etwas in die Hand gedrückt. Blinzelnd hatte sie auf das Stück Traubenzucker und dann in sein Gesicht gestarrt. Sein altes Gesicht hatte Mitleid und Sorge ausgestrahlt, trotz des gewohnt freundlichen Lächelns, als habe er sie durchschaut. Natürlich sieht er dir an, dass etwas nicht stimmt, klärte sie ihren lahmen Verstand auf. Man kann vor diesen Augen keine Geheimnisse haben…

Der Wind zupfte an dem Metallstreifen in ihrer Hand, sodass sich ihre Finger stärker darum schlossen. Er würde ihr Ausweg aus dieser Situation, aus ihrem Alptraum, sein. Sie würde einfach schlafen. Für immer. Andere Möglichkeiten gab es für sie nicht. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, wegzurennen, zu fliehen und Hades und diesen verdammten Schuppen hinter sich zu lassen … aber Hades würde sie überall finden; er hatte die Mittel dafür, Persephone hatte sie ja selbst gesehen. Und eine Flucht war ihr schon einmal missglückt, oder? Sie hatte versucht, sich den Abend ihres ersten Ausbruchs wieder in Erinnerung zu rufen, doch es war alles verschwommen, als liege die Wahrheit in dichtem Nebel, der sich nicht lichten wollte. Inzwischen war sie sich sicher, dass damals ebenfalls etwas vorgefallen sein musste, das sie dazu veranlasst hatte, wegzulaufen. Vielleicht war damals dasselbe passiert, vielleicht hatte Hades sie schon einmal-

Sie begann am ganzen Körper zu zittern und brach den Gedanken tief einatmend ab. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie wollte nicht mehr. Es würde jedoch erklären, warum ich mich nicht an den Grund meiner Flucht erinnere, schloss sie eilig in Gedanken ab, ehe ihre Angst sich wieder zu Wort melden konnte.

Von neuem begann sie über die Tabletten zu streichen. Es gab keinen anderen Ausweg … sie würde ihn nie wieder sehen müssen. Ja, das war doch gut, oder? Ihre Mundwinkel zuckten verräterisch, als wolle sich ein Lächeln auf ihre Züge stehlen, ein letzter, verzweifelter Versuch, in diesem Leben noch einmal so etwas wie Glück und Freude zu empfinden, doch da ließ sie eine Stimme hochschrecken.

„Wenn du so nah am Rand sitzt, könnte man glatt auf den Gedanken kommen, du möchtest dich umbringen.“

Die Männerstimme war laut und deutlich, als stünde ihr Besitzer direkt hinter ihr. Alles zog sich in ihr zusammen und erschrocken drehte sie den Kopf, den Tablettenstreifen in eine sichere Faust geschlossen. Tatsächlich stand der Mann keine drei Meter weit hinter ihr. Das Lächeln, das anscheinend eine ätzende Angewohnheit von ihm war, war das letzte, was sie in diesem Moment hätte sehen wollen. Verärgert starrte sie Ares an.

„Deine Visage könnte tatsächlich einen dazu verleiten, hier runter springen zu wollen, um dir endlich zu entkommen!“, fauchte sie, stand auf und wollte an ihm vorbeigehen, doch der Blonde stellte sich ihr in den Weg, immer noch grinsend. In diesem Moment ließ etwas in ihr ihr Blut nach unten sacken und erinnerte sie wieder an den Umstand, dass sie mit diesem Typen, der sie nicht gehen lassen wollte, hier oben auf dem Dach völlig allein war. Prompt ließ ihre Angst Szenarien vor ihrem geistigen Auge abspielen, in denen sie gegen eine Wand gepresst wurde und Ares in ihrem Rücken knurrte, sie solle bloß nicht weinen und gefälligst dankbar sein.

Kurz war sie von diesen Bildern gebannt, konnte es nicht verhindern, von ihnen gefangen genommen und gefoltert zu werden, mit dem Ergebnis, dass sie wahrscheinlich im nächsten Augenblick einfach vor dem Mann zurückgewichen und über die wadenhohe Absperrung gestolpert wäre. Sie hätte noch ein paar Sekunden Angst verspürt, doch dann wäre alles vorbei gewesen; auch eine Möglichkeit oder? Was sie allerdings vor dieser Version des Sterbens rettete, war Ares‘ plötzlicher Rückzieher. Nicht sie ging auf Abstand, sondern er.

„Fahr die Krallen wieder ein“, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. „Ehrlich, bei deinem Temperament hätte man dich nach `ner Amazone benennen sollen.“, fügte er leise grummelnd hinzu, als habe er nur laut gedacht.

Ungewollt runzelte sich Persephones Stirn und abschätzend sah sie ihm ins Gesicht. Sie wurde aus dem Typen einfach nicht schlau. Der zusätzliche Meter Raum zwischen ihnen beruhigte ihr klopfendes Herz und so gab sie sich die Chance, über eine passende Abfuhr nachzudenken, damit er sie endlich in Ruhe ließe. Sie hatte absolut keine Nerven hierfür. Ihr Schweigen nutzte Ares allerdings zu Persephones Ärgernis aus, um von neuem ein Gespräch anzufangen.

„Beantworte mir nur eine Frage“, bat er und musterte sie nachdenklich. „Wie viel ist an deinem Namen wirklich dran?“

Sie musste zugeben, dass sie damit nun wirklich nicht gerechnet hatte. Ihr Blick spaltete sich zusehends in Verwunderung und Skepsis auf. Ja, es schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, bei diesem Kerl so etwas wie logische Denkprozesse nachweisen zu können. Trotz dass sie fand, dass die Frage etwas sehr aus der Luft gegriffen war, musste sie ihm wohl oder übel antworten, ansonsten würde sie ihn nie loswerden…

„Worauf willst du hinaus?“, fragte sie nach und zog die Stirn noch krauser. Ares zog nur ausweichend die Schultern hoch und sah kurz zur Seite, um sie dann aus den Augenwinkeln zu mustern.

„Du und Hades – läuft da was?“

Seine Stimme hatte einen beiläufigen Tonfall, doch für Persephone hätten die Worte nicht direkter sein können. Sie rissen Wunden auf, auf denen sich gerade erst leichter Schorf bildete. Ihre Hände fingen wieder an zu zittern und schnell ballte sie diese zu Fäusten, dass der harte Tablettenstreifen unangenehm in ihre Handinnenfläche schnitt. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, hätte ihn angeschrien, ihm die Wahrheit ins Gesicht gebrüllt. Nein! Nein, verdammt! Ich will diesen Mann nie mehr wiedersehen. Ich habe Angst vor ihm, verdammte Angst, gegen die ich nicht ankomme! Was sie daran hinderte? Eben genau dieser Mann, der ihre größte Furcht darstellte.

„Was täte das zur Sache?“, erwiderte sie stattdessen durch zusammengebissene Zähne. „Warum sollte dich das interessieren?“

Ares zwinkerte ihr frech zu und zuckte noch einmal gespielt lässig mit den Schultern. „Ich möchte nur gerne meine eigenen Chancen bei dir besser einschätzen können.“

Wütend verengte sie die Augen. Da war er wieder: der aalglatte, von sich selbst überzeugte Kotzbrocken!

„Deine ‚Chancen‘ sind nicht existent!“, fauchte sie ihn an und wollte endlich an ihm vorbei zur Tür des Treppenhauses gehen, doch da machte Ares wieder einen großen Schritt zur Seite, sodass er von neuem vor ihr stand. Augenverdrehend stoppte sie ab und sah wütend zu ihm auf. Ihre anfängliche Angst ihm gegenüber war vergessen, dafür überwog der Teil in ihr, der den Blonden partout nicht ausstehen konnte, viel zu sehr. Was willst du?, fragten ihre Augen stumm und gereizt; Ares schien sich allerdings davon wenig irritieren zu lassen.

„Weißt du eigentlich, dass Persephone noch einen zweiten Namen hatte?“, begann er von neuem und diesmal konnte Persephone ein genervtes Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Seine hektischen Gedankensprünge bereiteten ihr Kopfschmerzen. „Ihre Mutter Demeter nannte sie immer Kore; das bedeutet Mädchen. Klingt doch viel netter als Gattin des Höllenbosses, oder?“, schloss er und lächelte frech. Ungewollt hob sich ihre Augenbraue in Richtung Haaransatz.

„Ich bin kein kleines Mädchen, verstanden?“

Ares‘ typisches Grinsen wurde noch breiter. „Beweist du mir das mal bei Zeiten?“

„Nicht mal in deinen Träumen, Idiot!“

„Oh, willst du tatsächlich wissen, was für Träume ich habe…?“

Persephone holte wütend Luft, doch dann zwang sie sich innerlich um Beherrschung, klappte den geöffneten Mund wieder zu und setzte sich kopfschüttelnd in Bewegung. Diesmal ließ Ares sie gewähren und sah ihr nur abwartend hinterher.

„Auf das Niveau lass ich mich nicht herab, das wird mir zu dumm.“, murmelte sie im Weggehen müde und rieb sich über die Schläfen. „Lass mich einfach in Frieden.“

Sie hatte schon fast die rettende Metalltür erreicht, als seine tiefe Stimme in ihrem Rücken wieder zu vernehmen war. „Ist alles in Ordnung bei dir? Du siehst, ehrlich gesagt, nicht sehr gut aus.“, rief er und eine gewisse Sorge und Unsicherheit schwang in seinem Tonfall mit. Als hätte er ihr etwas gegen den Kopf geschmissen, blieb sie abrupt stehen. Ihr Herz raste bedrohlich schnell in ihrer Brust, sodass sie tief ein und wieder ausatmete. Dann konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Sie hasste, hasste, hasste diesen Kerl, dieses verdammte Arschloch, mit seinen verdammten Fragen!

Augenblicklich drehte sie sich herum und rief zornig: „Blitzmerker, mir geht’s nicht gut. Wenn du’s unbedingt genau wissen willst: es geht mir beschissen!“ Ihre Stimme überschlug sich vor Wut und grimmig hielt sie ihre rechte Hand flach über ihren Kopf. „Mir steht dieser scheiß Laden mit seinen verdammten Haufen an Kerlen bis hier oben, und du hast nichts besseres zu tun, als deine scheiß Sprüche an mir auszutesten, die so klingen, als seien sie aus einem Klatschblatt, das vor dreißig Jahren mal aktuell gewesen war! Ich will nur meine Ruhe - deshalb war ich hier oben, kapiert? Also halt endlich die Klappe und latsch mir nicht ewig hinterher!“ Ihrem restlichen Ärger gab sie durch ein tiefes, schnaubendes Ausatmen den nötigen Freiraum.

Zum ersten Mal war Ares‘ Grinsen verschwunden und er sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an; in Anbetracht ihres Wutausbruchs war das eine verhältnismäßig nüchterne Gefühlsreaktion seinerseits, doch immerhin hatte sie sein ätzendes Zähneblecken ausradiert bekommen. Was sollte dieses Dauergrinsen überhaupt? Es erinnerte sie an einen Hengst, der ständig flehmen musste, wenn eine Stute, egal ob potentiell willige Kandidatin oder nicht, den Fehler beging und sich in sein Gesichtsfeld verirrte.

„Glaubst du, dass man dich deshalb ab jetzt mit Samthandschuhen anfassen wird?“

Seine Frage riss sie aus ihren Gedanken. „Wie bitte?“

„Das, was du gerade beschrieben hast … das Gefühl hatte jeder hier, als er bei Olymp anfing.“, sagte Ares und kam wie beiläufig ein paar Schritte näher. Er schaute immer noch verändert; kein Funken Belustigung oder übertrieben gespielter Charme war in seinen Zügen mehr zu erkennen. „Meine ersten Wochen, ach was, Monate waren die reinste Höllenqual. Herk hat mich zum Aufwärmen halb totgeprügelt, jeden verdammten Tag. Und? Hab ich deshalb mit meiner schlechten Laune um mich geschmissen?“ Er hielt plötzlich inne und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, als müsse er sich selbst noch einmal die Tatsachen ins Gedächtnis rufen. „Nein, um ehrlich zu sein bin ich irgendwann wütend auf Herk losgegangen und wollte ihm die Zähne ausschlagen…“ Ares‘ Gesicht wurde noch nachdenklicher und sein Blick glitt zur Seite. „Als Dank hat er mir mit einem Tritt die Rippen geprellt, sodass ich theoretisch eine Woche lang hätte aussetzen müssen. In der Praxis hat mich dieser verdammte Leutnant dann Treppen auf Zeit laufen lassen.“ Mit einem Mal hellte sein Blick wieder auf und ein kleines, stolzes Schmunzeln kehrte in seine Mundwinkel zurück. „Ich war gar nicht so schlecht, mein Rekord liegt bei anderthalb Minuten von ganz unten bis hier rauf.“

Persephone zog es vor zu schweigen und verzog nur ungläubig und skeptisch das Gesicht. Ares zuckte wieder mit den Schultern, als wolle er die Erinnerung somit abstreifen.

„Was ich sagen will“, fuhr er fort, „der Anfang hier unten ist niemandem leicht gemacht worden. Jeder kommt früher oder später an den Punkt, an dem er denkt, dass er das alles nicht mehr packt. Wenn man hier etwas in den ersten Wochen lernt, dann, dass das Leben niemals vorhersehbar ist; es kommt nie, wie man es sich vorstellt, meistens wird es nämlich nur schlimmer.“

Unwillkürlich zuckte Persephone zusammen und sah schnell zu Boden, ehe ihr Gegenüber ihre aufeinander gepressten Lippen bemerken konnte. Nein, wollte sie sagen, nein, das scheiß Leben macht nie das, was man erwartet. Aber das, was du erlebt hast, ist nichts gegen mein Leben. Du hast keine Ahnung davon, was ich durchmachen musste. Wenn du es wüsstest, würdest du mir eine so dumme Floskel nicht an den Kopf werfen! Aus den Augenwinkeln sah sie Ares zuversichtlich grinsen.

„Aber das ist noch lange kein Grund verzweifelt aufzugeben, hörst du? Es gibt immer einen Ausweg und weglaufen ist garantiert der Falsche.“

Halt endlich deinen verdammten Mund! Ihre Hände zitterten, egal wie sehr sie sich zu beherrschen versuchte. Sie hätte Ares so gern die Wahrheit gesagt, so gern, nur um ihn sein Grinsen damit wieder aus dem Gesicht zu wischen. Doch dann würde er es erfahren, dass ich geredet habe…

„…bist du endlich fertig?“ Sie war erstaunt darüber, wie ruhig ihre Stimme auf einmal klang, obwohl in ihr ein Sturm tobte. Dieselbe Gleichgültigkeit schaffte sie nun auch in ihren Blick zu legen, als sie zu Ares hinaufschaute. „Du langweilst mich mit deinen verstaubten Reden. Was kommt als nächstes - `ne Ansprache über Freundschaft und gemeinsam gibt es kein Hindernis im Leben?“ Sie lachte hart auf und wollte sich zum Gehen abwenden, als Ares sie blitzschnell am Arm packte und zurückhielt. Etwas erschrocken über den plötzlichen Körperkontakt, starrte sie aus geweiteten Augen in sein verändertes Gesicht. Leichte Wut zeichnete sich um seinen hart gewordenen Mund und den zusammengezogenen Augenbrauen ab.

„Wo liegt eigentlich dein Problem?“, zischte er verstimmt und zog sie etwas zu sich heran, was sie kurzzeitig aus dem Konzept brachte und ihre Gesichtszüge noch mehr zum Entgleisen brachte. Ares hatte hellblaue Augen, das fiel ihr erst jetzt zum ersten Mal richtig auf. Kalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus und floss unter der Kleidung ihren Rücken herunter. „Ich wollte dir lediglich helfen und du versprühst als Dank Gift und Galle!“

Sie fasste sich ein paar Augenblicke später, überwand irgendwie ihre erneut aufkeimende Angst vor diesen eisblauen Augen, die Hades‘ Iriden gar nicht so unähnlich waren, und riss sich los.

„Ich habe dich um keine Hilfe gebeten!“, schrie sie ihn an und stolperte weiter rückwärts, immer näher an die rettende Tür heran. Zorn packte sie wieder und hektisch einatmend tastete sie nach der Türklinke. Ares blieb da stehen, wo er war, musterte sie nur. Seine ebenfalls wütenden Augen hatten sie noch zu sehr gefesselt, als dass sie den Blick hätte abwenden können. Erleichterung durchströmte sie, als ihre schweißnassen Finger die kalte Metallklinke umschlossen.

„Wach aus deiner rosaroten Traumwelt auf!“, rief sie zu Ares herüber und schluckte gegen das zuschnürende Gefühl in ihrer Kehle an. „In der Realität ist jeder auf sich allein gestellt.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, wandte sich Persephone ab, öffnete die Tür und ließ Ares auf dem Dach allein zurück.
 

Es war erstaunlich, wie gut sich abgeschlossene, stille Räume, in denen man sich nur allein aufhielt, dazu eigneten, das eigene Denken anzukurbeln. Erstaunlich und absolut lästig.

Kaum hatte Persephone, noch immer wutschnaubend, ihre Zimmertür hinter sich zugeworfen und den Schlüssel im Schloss gedreht, kam der Strudel, in den sich ihre Emotionen entwickelt hatten, vermischt mit ihrem Verstand, zum erliegen und hinterließ eine klare, ruhige Oberfläche, in der der Medikamentenstreifen deutlich oben auf schwamm.

Ihre Erlösung.

Sich gegen ihre Tür lehnend, betrachtete sie das Stück Aluminium in ihrer Faust. Sie hatte so fest zugedrückt, dass es zerknittert und aus seiner ursprünglich glatten Form gekommen war. Nachdenklich fuhr der Zeigefinger ihrer freien, linken Hand wieder über jede einzelne Kammer, in der jeweils eine weiße Perle steckte. Eine wäre nicht tödlich. Achtzehn dagegen wären eine Dosis, die ihr Körper nicht bewältigen könnte. Ich würde einschlafen. Und dann wäre es vorbei.

Die letzte Nacht war die schlimmste in ihrem Leben gewesen; soweit sie sich erinnern kann, verstand sich. Sie wusste immer noch nicht hundertprozentig, was damals, vor ein paar Wochen, passiert war, aber das spielte hierfür keine große Rolle. Denn auch wenn ihr Verstand noch damit beschäftigt war, seine Wunden zu lecken und ihr als Ersatz für ihn, quasi als Aushilfe, diese animalische Angst dagelassen hatte, die nun seit einem Tag ihr ewiger Begleiter war, so wusste sie doch eines ganz genau: sie wollte keine Angst mehr vor Hades haben müssen. Sie wollte nicht mehr, dass seine heisere, und dennoch drohende Stimme sie am ganzen Körper erzittern ließ, wenn sie nur an deren Klang dachte; sie wollte ihn nie wieder spüren, kein Zurückhalten am Arm, keine wohlgemeinte Hand auf ihrer Schulter – bei der Erinnerung an die ersten Tage mit ihm, wie er sich um sie gekümmert hatte, wie er ihr mit seiner bloßen Anwesenheit Mut gegeben hatte, musste sie hart auflachen; sie hatte Vertrauen zu einer Lüge gefasst – keine fordernde Berührung seiner Lippen, gar nichts!

Und je mehr sich dieser Wille, dieses Wollen, in ihr einbrannte, umso deutlicher kristallisierte sich die Unmöglichkeit dieses Unterfangen dabei heraus. Sie war wehrlos gegen ihn. Punkt. Wieso sich etwas vormachen? Nein, das hatte sie schon die letzten Wochen zu genüge getan, schoss es ihr durch den Kopf und verbittert verzogen sich ihre Mundwinkel zu einer Fratze, die im weitesten Sinne einem zynischen Grinsen ähnlich sah. Das sich aufstauende Gefühl kroch ihre Kehle hinauf und schnürte ihr diese zu, ehe sie schluchzend Luft holte und die Tränen flossen.
 

Sie beruhigte sich nur langsam. Irgendwann - nach gefühlten Stunden, aber wahrscheinlich waren es nur Minuten gewesen, so, wie das ja immer der Fall war in solchen Momenten – waren ihre Tränen versiegt und sie hatte sich zum Bett hinüber geschleppt. Dort saß sie nun, auf der Bettkante, die Arme auf die Knie gestützt, den schweren Kopf gegen die gefalteten Hände gelehnt, welche das Schmerzmittel weiterhin umklammert hielten. Es war merkwürdig, aber sie fühlte sich nicht in der Lage, die Tabletten zu schlucken und so ihrem beschlossenen Vorhaben endgültig nachzugehen. Ihr Leben bot ihr nichts mehr, wofür es sich gelohnt hätte weiterzumachen und dennoch konnte sie sich nicht dazu überwinden, es zu beenden. Zynisch verzog sie einen Mundwinkel. Ich bin sogar im sich selbst umbringen eine Niete…

Sie sah noch einmal auf die Medikamente und diesmal zwang sie sich, eine der Tabletten herauszulösen. Klein und unscheinbar lag die weiße Perle in ihrer Handfläche. Bevor sich ihr Unmut wieder einschalten konnte, hob sie die Hand zum Mund.

Es war nicht die Stimme der Vernunft, die sie im nächsten Moment zurückhielt. Aus irgendeinem Grund, den sich Persephone bis heute nicht wirklich erklären kann, echoten Ares‘ Worte auf einmal in ihrem Kopf: Weglaufen ist garantiert der falsche Ausweg.

Sie hätte schwören können, dass er nun in ihren Erinnerungen vorwurfsvoller klang als vor einer halben Stunde und als hätte ihr verdammter, verräterischer Verstand nur darauf gewartet, schlug er sich sofort auf Ares‘ Seite: Genau, du bist feige! Das, was du vorhast, ist nichts anderes als flüchten. Du rennst weg, gibst auf, du bist schwach und feige, feige, feigefeigefeigefei-

Einen Schrei unterdrückend warf sie die Tablette durch den Raum und den Metallstreifen gleich hinterher. Wutschnaubend stand sie auf und hätte am liebsten ihre eigenen Gedanken aus sich heraus geprügelt; dass es allerdings ein schwieriges Unterfangen ist, sein Innerstes zum Schweigen zu bringen, hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden ja schon zu genüge ausprobiert.

Also lenkte sie ihre Wut auf Ares und seine verdammte Predigt und wünschte ihm jede erdenkliche Krankheit an den Hals dafür, dass er ihre Vernunft aus dem Koma wachgeküsst hatte. Warum hörte sie überhaupt darauf, was er in seinen schwulstigen Reden von sich gab? Es sollte sie eigentlich überhaupt nicht jucken! Er war ihr vollkommen egal, er war nebensächlich, uninteressant für sie, genauso wie die dutzend anderen Spinner in Olymp; hätte jemand von denen ihr so etwas vorgetragen, hätte sie gleich auf dem Absatz kehrt gemacht und ihn im Regen stehen gelassen, da war sie sich sicher!

Neben der Tür lag der Metallstreifen auf dem Boden, die Tablette war mit Sicherheit irgendwo hin gekullert und für immer aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden. Zähneknirschend hob sie ihn wieder auf. Schön, unterbrach sie ihre innere Stimme in Gedanken fauchend, die wie ein Kleinkind sein feige-Lied weitergesungen hatte, ich gebe nicht auf! Ich renne nicht davon! Zufrieden?, fragte sie sich selbst, als sitze tatsächlich ein kleines Kind in ihrem Kopf, das aufmüpfig seinen Willen bekommen wollte, und nun anfing von einem Ohr zum anderen ein Grinsen zu zeigen, als hielte es den begehrten Dauerlutscher endlich in den kleinen, speckigen Händen.

Genervt raufte sie sich die Haare und warf die Schmerzmittel in den Mülleimer. Da geht meine Erlösung dahin…

Feige.

Klappe!

Über sich selbst den Kopf schüttelnd stieg sie wieder ins Bett zurück, zog die Decke über den Kopf und kauerte sich zusammen.

Sie war wieder am Anfang.

Aber diesmal fühlte sie sich … auf irgendeine Art besser. Sie fühlte sich nicht wohl und schon gar nicht sicher, aber ihre Angst war zu einer ertragbaren Besorgnis zusammengeschrumpft, ein Gefühl, als habe man einen Unfall beim Sport gehabt und man müsse sich am nächsten Tag dieser Situation zum ersten Mal nach der Genesung wieder stellen. Man fühlt sich unwohl, man möchte am liebsten gar nicht mehr hingehen, aber deshalb gleich Selbstmordgedanken zu haben, war übertrieben.

Es gibt ja schließlich immer einen Ausweg.

„Herrgott, Ares, raus aus meinem Kopf!“, knurrte sie düster und verkroch sich ganz unter der dicken Daunendecke. Den Rest der Zeit, den sie noch wach lag, verbrachte sie damit, sich neue Beschimpfungen für diesen verdammten Blondie mit dem eingerasteten Zähneblecken auszudenken, ehe sich ihr langsam entspannender Körper den fehlenden Schlaf der letzten Nacht zurückholte.

Die Geister, die mich nervten

Taro stoppte das laufende Tape und streckte sich auf seinem Stuhl. Seine Muskeln schmerzten vom langen Sitzen und müde rieb er sich den steifen Nacken und die brennenden Augen. Gähnend leuchtete er mit der Taschenlampe auf seine Armbanduhr und zog leicht verwundert die Brauen zusammen. Er steckte gerademal zwei Stunden hier unten fest; ihm war es wie ein halbes Leben vorgekommen…

Um seine Augen etwas zu entspannen, schloss er diese und lehnte sich zurück. Er würde hier unten versauern und dann gelangweilt und zugestaubt sterben, da war er sich inzwischen sehr sicher. Nicht, dass die Tapes nicht interessant wären – im Gegenteil, Taro war der festen Überzeugung, dass man diese ganzen Dramen in ein Drehbuch verpacken und dann daraus eine Daily Soap machen sollte. Die Einschaltquoten wären gigantisch, immerhin gab es ja genügend Hausfrauen auf der Welt, die auf so einen Herzschmerz standen. Aber ein wenig Abwechslung täte ihm dennoch gut, Rumsitzen war auf Dauer eben auch nichts. Der Schrecken vom Anfang, die Angst vor seinem unterirdischen Gefängnis, war beinahe schon zur Gänze verflogen. Es waren halt doch nur alte Betonwände und unzählige, leere Räume, die irgendwann mal bewohnt gewesen waren. Die Risse an der Decke, die er hier und da entdeckt hatte, waren weiterhin bedrohlich, aber die letzte Erschütterung lag soweit zurück, dass er für die nächste Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit sicher war.

Obwohl … besser von Schutt und Gestein zerquetscht werden, als sich zu Tode zu sitzen, oder? Vorher werde ich wohl verhungern, dachte Taro dann mit einer leichten Bitterkeit, als sich in diesem Moment sein Magen lautstark bemerkbar machte, der sich anfühlte, als würde er sich aus Verzweiflung schon selbst verdauen. Zudem war sein Mund staubtrocken und ein schaler Geschmack lag auf seiner Zunge.

Eine Hand auf seinen protestierenden Bauch gelegt, stand er kurzerhand auf und griff nach der Taschenlampe. Die Chance, hier unten etwas Essbares zu finden, schätzte er sehr gering ein, aber er glaubte sich zu erinnern, an einer Art Waschraum vorbeigekommen zu sein; mit ein wenig Glück – Taros Blick ging vielsagend hoch zur Decke und in Gedanken sandte er einen freundlichen Gruß an Fortuna – führten die Leitungen ja noch Trinkwasser. Neuen Mut fassend trat er auf den Flur, orientierte sich kurz und ging dann nach links in Richtung des eingestürzten Eingangs zurück.

Seine Erinnerungen hatten ihn nicht im Stich gelassen, stellte Taro ein paar Augenblicke später fest, als er nach zwei, drei Abzweigungen tatsächlich auf den gesuchten Waschraum stieß. Ein kleines erleichtertes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Der Geruch von abgestandenem Brackwasser lag in der Luft, sodass er sich an einen Abwasserkanal erinnert fühlte und die Nase rümpfte. Irgendwo hörte er Wasser in einem zähen, langsamen Rhythmus tropfen. Prüfend leuchtete Taro nach links und rechts. An der einen Seite des langgestreckten Raumes erkannte er Toilettenkabinen, dessen Türen zum Teil halb offen standen oder von herabgestürzten Betonstücken aus den Angeln gerissen worden waren. Die Erschütterung schien in diesen Räumen besonders viel Schaden angerichtet zu haben; überall lagen Schutt und Putz verteilt. Aus den Kabinen strömte der beißende Geruch von Urin, dass sich Taro leicht schütteln musste. Zu seiner Rechten lag der schleusenartige Zugang zu einem weiteren Raum, aus dem auch das Tropfen zu hören war. Dort musste es zu den Duschen gehen, wie Taro aus dem an der Wand befestigten Schild deutete.

Vor Kopf befand sich eine lange Zeile mit Waschbecken. Die Wand war komplett verspiegelt, sodass sich Taro, als er dort hin leuchtete, im ersten Moment selbst blendete und schnell die Hand vor die Augen hob. Kurz fühlte er sich an das merkwürdige Flackern der Neonröhren erinnert, doch als er die Taschenlampe wieder etwas tiefer hielt, umfing ihn wieder die gewohnte Dunkelheit. Er ging auf die Waschbecken zu und betrachtete sich im Spiegel. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich sicher war, dass es wirklich er selbst war, der ihn da entgegen starrte. Seine Haare waren von Staub und Schweiß verklebt, ebenso wie seine Jacke und Jeans. Vorsichtig fasste er sich ins Gesicht. Dunkle Ringe lagen unter seinen geröteten Augen, die ihn mehr an einen Panda, als an ihn selbst erinnerten – oder an einen bereits Toten, wenn man seine vom Staub ergraute Haut mit ins Spiel nahm, und dieser Gedanke ließ ihn schaudern. Er sah vollkommen fertig und abgerissen aus! Tot, wiederholte er in Gedanken seine vorangegangene Überlegung, körperlich steh ich schon auf der Schwelle.

Von einer plötzlichen Angst gepackt, wischte er sich über die Wangen und versuchte den Staub so abzubekommen. Es klappte nicht in dem gewünschten Maße und mit nervösen Fingern drehte er hastig den Wasserhahn des Waschbeckens auf, vor das er sich gestellt hatte. Er hörte die alten Leitungen gurgeln und zischen, dass er schon das schlimmste befürchtete, doch dann spuckte der Hahn Wasser aus; erst braunes, das schlecht und abgestanden roch, doch mit der Zeit wurde es klarer. Erleichtert und nun wirklich lächelnd, legte er die Taschenlampe beiseite, schöpfte mit beiden Händen und beugte sich hinunter. Das kalte Wasser prickelte auf seiner Haut, als er sich dieses ins Gesicht spritzte, doch es tat unglaublich gut. Er spürte, wie der Dreck von ihm abfiel und ihn sauber – und vor allem lebendiger – fühlen ließ. Mehrmals rieb er sich über Wangen und Augen, ließ das Wasser über den Nacken laufen, und trank ein paar vorsichtige Schlucke, ehe er den Hahn wieder zudrehte und sich erleichtert wieder aufrichtete, um in den Spiegel zu sehen, was er im nächsten Moment auch schon wieder bereute.

Er war nicht mehr allein.

Für einen schmerzhaften Herzschlag starrte er aus geweiteten Augen in den Spiegel auf die Reflektion der Person, die hinter ihm aufgetaucht war. Er sah sie nicht richtig, dafür war der Augenblick zu kurz, sodass er nur schemenhaft blondes, langes Haar erkannte, bevor er sich erschrocken umdrehte und in die Dunkelheit sah. Taro spürte sein Herz wie einen Presslufthammer in seiner Kehle pochen – oh ja, und wie lebendig er sich nun wieder fühlte! – und drückte sich gegen den Rand des Waschbeckens. Hastig tastete er nach seiner Taschenlampe, umklammerte sie mit beiden Händen und leuchtete dorthin, wo er die Person gesehen hatte. Das Licht verdrängte die Schwärze und offenbarte weiß gestrichene Betonwände. Kein Mensch. Taro schluckte hart gegen das beklemmende Pochen in seinem Hals an und suchte mit der Taschenlampe die gegenüberliegende Seite des Raumes ab. Immer noch keine andere Seele. Langsam, einem inneren Drang nach Antworten folgend, tastete er sich an der Wand entlang bis hinaus auf den Gang und schaute sich vorsichtig um.

Er konnte immer noch nichts sehen. Aber dafür hörte er etwas. Schritte. Hastige, sich entfernende Schritte! Taro schwenkte die Taschenlampe nach rechts und sah einen Kleidersaum um die nächste Ecke verschwinden. Sein Herz erhielt einen neuen Schub Adrenalin.

„Warte!“, schrie er der Person hinterher und setzte ihr nach. Er lief so schnell, dass er bei dem Versuch, die Kurve ohne Abbremsen zu nehmen, beinahe ausgerutscht wäre. Wieder war der Fremde schneller, dass er nur für einen kurzen Lidschlag etwas an der nächsten Ecke erahnte und sofort rannte er in dieselbe Richtung.

„Warte! Bitte!“, wiederholte er atemlos und verfluchte seine erbärmliche Kondition. Nach der dritten Abzweigung gab er keuchend auf. Kurz leuchtete er noch verzweifelt umher, doch wieder einmal umringten ihn nur die kalten Wände. Entkräftet stützte er sich auf seinen Knien ab.

Das war doch keine Einbildung, sprach er sich selbst in Gedanken zu, da war jemand…

Er hatte eindeutig eine Frau gesehen. Jetzt, nachdem der erste Schock langsam abflaute, setzten sich seine Erinnerungen wie ein Puzzel zusammen und fügten zu den blonden Haaren auch noch ein blasses Gesicht hinzu, das ihn traurig angesehen hatte. Er hatte es deutlich vor Augen! Sowas konnte man sich doch nicht einbilden! Er war noch nie besonders fantasievoll gewesen; er war immer schlecht darin gewesen, sich Gutenachtgeschichten für seine Tochter auszudenken und wenn er sie mit ausgedachten Geistergeschichten belehren wollte, verzog sie stets nur ungläubig das Gesicht – warum sollte ihm dann ausgerechnet jetzt ein so echt wirkendes Hirngespinst einfallen?

Aber er konnte hier unten nur alleine sein, oder? Wer würde denn freiwillig hier hinabsteigen, vor allem, wenn eine Sprengung bevorstand? Vernunft und Wahnsinn fochten in seinem Kopf unerbittlich, dass es ihm Kopfschmerzen bereitete und er sich seufzend an den Kopf fasste.

Einen letzten Versuch startend, lauschte er noch einmal in die Dunkelheit und rief nach seiner vermeintlichen Leidensgenossin, doch auch diesmal blieb sein Ruf unerwidert.

„Einbildung…“, murmelte er leise und gab sich seiner Vernunft geschlagen, die ihm in einer maßlos überheblichen Art auf die Schulter klopfte. Du bist eben ein nervliches Wrack, verzieh sie ihm gespielt mitfühlend, woraufhin er sich sarkastisch bei ihr bedankte. Jetzt war es so weit, nun redete er schon mit sich selbst…

Seiner Umgebung wieder langsam gewahr werdend, sah er sich um. Wo war er denn nun schon wieder gelandet? Taro schüttelte mit dem Kopf. Wie groß war dieser Bunker überhaupt? Zu seiner Rechten lag ein Raum, den er kurzerhand betrat. Nun, wenn er schon mal hier war … vielleicht gab es hier noch was zu entdecken; immerhin hatte er ja um Abwechslung gebeten, obwohl er dabei nicht gerade an ein albernes Hirngespinst oder magere Verfolgungsversuche gedacht hatte.

Der Raum war der größte, den Taro bis jetzt hier unten gesehen hatte. Überall standen Tischgruppen und an den Wänden waren Regale und Pinnwände angebracht worden. Vergilbte Poster zierten die freien Flächen und haben den Saal wohl einst gemütlich und einladend wirken lassen, doch unter der dicken Staubschicht und in dem schmalen Lichtstrahl der Taschenlampe, die wirklich alles unheimlich und abweisend wirken lassen konnte, verlor sich sein Charme recht schnell. Taro ging weiter in den Raum hinein, bis er ein leises Rieseln hörte, das ihn sofort stehen bleiben ließ. Er leuchtete in die Mitte des Raumes und kleine Staubpartikel und Putz blitzten in dem Licht seiner Lampe auf. Auch über Boden und Wänden zogen sich teils tiefe Risse, wie Taro beim näheren Betrachten erkannte. Hier schien es nicht besonders sicher zu sein…

Er wollte schon wieder kehrt machen und den Saal verlassen, als auf einmal sein Handy in seiner Hosentasche zweimal kurz hintereinander vibrierte, sodass er erschrocken zusammenzuckte und sich an die Brust packte, in der sein Herz einen Infarkt nach dem anderen zu erleiden schien. Habe ich Horrorfilme wirklich mal gemocht?!

Fluchend und mit zitternden Fingern zog er das Handy hervor und schaute auf das Display. Dreizehn verpasste Anrufe in den letzten anderthalb Stunden, davon allein zehn von seiner Frau. Natürlich, jetzt war er ihr auf einmal wieder wichtig!

Und da sickerte die Erkenntnis zynisch langsam durch seinen Verstand. Verpasste Anrufe. Er hatte auf einmal wieder Empfang! Aus tellergroßen Augen starrte er auf den einen, mickrigen Balken auf dem Display seines Handys, der die Stärke des aktuellen Netzes angab. Kurz, nachdem er hinabgestiegen war, hatte er schon gemerkt, wie der Empfang immer schlechter geworden war, was keine besondere Überraschung für ihn gewesen war, bei den Tonnen Beton und Gestein, die zwischen ihm und der Außenwelt lagen. Ein Funkgerät hatte sein Chef nicht für nötig gehalten; er sollte ja schließlich „nur kurz einen Blick riskieren“, ehe der Geldhai wieder auf das große, rote Knöpfchen hätte drücken dürfen, um dann mit breitem Grinsen dabei zuzusehen, wie ein weiteres Gebäude in sich zusammenbrach, um vor ihm und seiner fantastischen, alles andere übertreffenden Einkaufskette zu weichen. Wahrscheinlich dürfte Taro sich später noch anhören, wie viel Zeit und Geld er wegen seinem ausgedehnten Ausflug verschleudert hätte. Und im nächsten Moment würde er sich die Zigarre mit 1000 Yen Scheinen anzünden. Der Gedanke ließ ihn bitter schnauben.

Es rieselte leicht über ihm und blinzelnd schaute er dem feinen Staub entgegen. Etwas Helles durchbrach die Decke seines Gefängnisses; ein tieferer Riss, der vereinzelt Lichtstrahlen durchließ und sich hier runter verirrten. Also ist die Decke hier besonders dünn und brüchig geworden, schlussfolgerte er und sein Herz begann schneller zu schlagen. Prüfend ging er zwei Schritte von der Stelle weg und hielt dabei die Netzanzeige seines Handys im Auge. Sofort war der Empfang wieder verschwunden. Taro schluckte mit einem beklemmenden Gefühl in der Kehle. Er hatte also wirklich nur hier, unter der am meisten Einsturzgefährdeten Stelle in diesem ganzen verdammten Raum, den Hauch einer Chance, mit der Welt über ihm Kontakt aufzunehmen.

Jemand musste ihn hassen.

Eindeutig.

Das, oder Gott hatte mit Buddha und Odin eine Wette am laufen.

Und der Unbekannte übernimmt die Rolle der Bank…

Auf seiner Unterlippe kauend, betrachtete er den kleinen Balken, der höhnisch in der Ecke seines Displays hockte. Frustriert fuhr er sich durch die Haare. Verdammt, zur Hölle! – Ach nein, da war er ja bereits…

Kurzerhand tippte er fluchend eine Nummer ein und lauschte ungeduldig dem Freizeichen, ein Auge stets auf die rissige Decke werfend.

Es erklang dreimal das wohl nervenaufreibendste Geräusch, das sich der Mensch ausgedacht hatte, ehe sein Anruf angenommen wurde.

„Taro?“ Die Stimme seiner Frau war leise, vorsichtig, dennoch konnte er ihre Anspannung und Nervosität fast körperlich spüren. Auch sein Herz schlug mit einem Mal schneller.

„Yuki!“, rief er in das Handy. „Yuki, hörst du mich?“

Er hörte sie schluchzend aufatmen. „Oh mein Gott, du bist es! Du bist es und du lebst!“ Sie weinte fast; Taro wusste, wie sie sich anhörte, wenn sie mit den Tränen kämpfte. „Ja … ja ich höre dich.“, beantwortete sie verspätet seine Frage und schniefte laut. „Zwar leise, aber ich verstehe jedes Wort.“

Taro spürte einen tonnenschweren Stein von seiner Seele fallen. Am liebsten hätte er ihr gesagt, wie leid ihm ihr jüngster Streit inzwischen täte, doch da unterbrach Yuki schon wieder seine Gedanken. „Taro, geht es dir gut?“

„Ja, bis auf den einen oder anderen Kratzer bin ich heile geblieben.“, antwortete er ihr schmunzelnd.

„Wo steckst du?“

Er seufzte und leuchtete mit der Taschenlampe einmal im Kreis. „Wenn ich das wüsste…“ Im Aufenthaltsraum. Drei Abzweigungen vom Folterzimmer mit dem elektrischen Stuhl entfernt. Sein Mundwinkel zuckte verführerisch und er musste den Zyniker in sich zügeln, der hier unten sein bester Freund geworden war, damit er seine Gedanken nicht laut aussprach. „Dieser Bunker ist verdammt weitläufig und alles sieht hier unten gleich aus.“

„Der Sprengstoffmeister meinte, dass die Anlage durch die abgebrochene Sprengung sehr instabil geworden sei.“, sagte Yuki mit einer leichten Unruhe in der Stimme, dennoch war Taro überrascht, wie gefasst sie nun wieder wirkte. Sie war schon immer die Tapfere von ihnen beiden gewesen. „Die haben das ganze Viertel abgesperrt, Taro, überall sind Polizisten und evakuieren Leute. Anscheinend hatten sie nicht einmal gewusst, wie weitläufig dieses unterirdische Netzwerk ist. Vor einer halben Stunde ist eine Straßenkreuzung weiter ein Stück der Straße abgesunken, als ein Laster darüberfuhr. Einfach so! Niemand traut sich mehr in die Nähe des Parkhauses.“

„Na toll.“, murmelte er missmutig. Die Worte seiner Frau munterten ihn nicht gerade auf.

„Sie haben nach einem Experten geschickt, der mit solchen Situationen anscheinend Erfahrungen hat. Wir warten alle, es kann nicht mehr lange dauern.“

Solche Situationen, wiederholte er in Gedanken. Natürlich, passiert ja schließlich jede Woche, dass sich Löcher in Innenstädten auftun…

„Dieser Guru soll sich beeilen.“, brummte Taro und sah wieder hinauf zur Decke.

„Hab noch ein wenig Geduld.“, bat Yuki und wieder verlor ihre Stimme an Substanz, dass sich der Knoten in seinen Hals weiter zuschnürte.

Er versuchte ihn mit einem freudlosen Lachen etwas zu lösen. „Hab ich denn eine andere Wahl?“

Sie antwortete mit Schweigen. Dann hörte er sie Luft holen. „Pass auf dich auf.“ Wieder eine kurze Pause. „Geh irgendwo hin, wo es sicher ist … oder sicherer.“, verbesserte sie sich ebenfalls bitter lachend, was ihm auch ein kleines, ungewolltes Lächeln auf die Lippen zauberte.

„Das werde ich.“ Er stockte. Jetzt. Jetzt lag es ihm doch auf der Zunge. Gefasst holte er Luft. „Yuki, hör zu! Das, was ich heute Morgen gesagt habe, war unangebracht von mir gewesen.“

„Schon gut. Du hattest recht mit deinen Vorwürfen. Ich habe überreagiert, verzeih mir bitte.“

„Schon passiert.“, antwortete Taro ihr leise und heiser.

Wieder war es still um sie geworden. Aus dem Handy drang das rauschende Geräusch von starkem Wind, unter das sich die jaulende Sirene eines Krankenwagens mischte. Ein merkwürdiger Kontrast zu der Stille, die ihn hier unten umgab. Er hörte seine Frau tief, aber zittrig Luft holen.

„Pass bitte auf dich auf.“, sagte sie noch einmal. Sein Herz wurde immer schwerer.

„Versprochen. Ich bin bald wieder bei dir.“ Taro schloss die Augen und atmete selbst langsam ein. „Yuki, ich lie-“

Ein Klicken ließ ihn den angefangenen Satz abbrechen. Alle Hintergrundgeräusche waren in dem Bruchteil einer Sekunde verschwunden, sodass er nur noch sein eigenes, rauschendes Blut in seinen Ohren hörte. Verwirrt ließ er das Handy sinken und starrte auf den schwarz gewordenen Bildschirm. Der Akku war leer. Gerade jetzt.

Am liebsten hätte er laut aufgeschrien. Das war doch alles ein schlechter Scherz! Ungläubig legte er seinen Kopf in den Nacken und schickte wütende Blicke in Richtung Decke.

„Was ist eigentlich dein Problem?“, rief er in die Dunkelheit. „Gönnst du mir denn gar nichts? Nur weil du die Zähne nicht auseinander kriegst, um diese beschissenen drei Wörter zu sagen, musst du deswegen deinen Frust nicht an mir auslassen, okay?“

Knurrend raufte er sich die Haare, ging einmal im Kreis, sah dann wieder nach oben und breitete die Arme aus.

„Was habe ich euch verdammten Drecks-Göttern überhaupt jemals getan, hä?“

Die Antwort war ein bedrohliches Rieseln von der Decke, auf dass sich Taro schnaubend umdrehte und den Raum schleunigst verließ, begleitet von den Echos seiner eigenen Schritte und so derben Flüchen, dass er froh war, seine Tochter in einigen Kilometern Entfernung zu wissen.

Klimax

Die unterirdischen Gänge waren an diesem Morgen fast menschenleer, da letzte Nacht eine Mission angelaufen war, für die vor allem viele Scharfschützen zum Einsatz ausgerückt sind; ein Spion der Regierung sollte ausgeschaltet werden, der sich wieder in die Obhut seiner Vorgesetzten begeben hatte und nun unter polizeilichem Schutz stand. Zeus hatte sich, zur Verwunderung seiner eigenen Mitglieder, aus den Plänen dieses Vorhaben herausgehalten, sodass bis auf ein Team kein Schwertkämpfer beteiligt war. Ares war ein wenig mürrisch gewesen, als bekannt wurde, dass Zeus‘ Männer bei dieser Mission aussetzen würden; das ewige Trainieren ging ihm langsam auf die Nerven und er brauchte dringend Abwechslung. Dass Orpheus für diesen Morgen nun eine weitere stumpfe Übung angesetzt hatte, trug dementsprechend wenig zur Besserung seiner Laune bei.

„Wofür trainieren, wenn wir doch eh nie das Tageslicht sehen dürfen…“, knurrte er verstimmt und stapfte, die Hände in die Hosentaschen vergraben und das Schwert am Gürtel, schnaubend neben Orpheus her.

„Übertreibe mal nicht, du klingst gerade so, als würde man dich hier unten festhalten.“, entgegnete sein Partner seufzend und nickte beiläufig einem entgegen kommenden Mitglied grüßend zu. Wahrscheinlich der einzige, der neben ihnen beiden bereits auf den Beinen war.

„Ich frage mich nur, wofür wir eigentlich da sind, wenn wir nicht an Missionen teilnehmen dürfen“, antwortete der Jüngere und gähnte. „Ich meine, wir kriegen nicht mal `nen vernünftigen Lohn, wenn wir nicht ausrücken!“

„Du willst für dein ständiges Gejammer auch noch Geld sehen?“, fragte Orpheus skeptisch, was ihn einen giftigen Blick des Blonden eingebrachte, auf den ein ebenso spitzer Kommentar wahrscheinlich gefolgt wäre, hätte ein plötzlicher Aufschrei einen Gang weiter nicht in diesem Moment ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kurz sahen sich die beiden Männer an, dann liefen sie auf die inzwischen wimmernde Stimme zu, unter die sich immer wieder ein barsch klingender Tonfall einer zweiten Person mischte. Sie bogen um die nächste Ecke und Ares‘ Herz machte einen schmerzhaften Satz.

Immer wieder versuchte sich Persephone lautstark gegen D’s erbarmungslosen Griff zu wehren, mit dem er sie an den Haaren gepackt und sie teils vor sich hertrieb, teils hinter sich her zog, je nachdem, wie sehr sie sich gebärdete. Ihre beiden Hände klammerten sich um D’s Handgelenk, dessen Finger sich in ihrem Schopf gegraben haben, zogen an ihm, kratzten die Haut auf, was allerdings nur zur Folge hatte, dass der Mann sie noch kräftiger zu sich zog und ihr wütende Worte zu zischte. Ares konnte sich das Schauspiel keine drei Sekunden lang ansehen. Zähneknirschend und die Rechte schon auf den Schwertgriff gelegt, wollte er dazwischen gehen, doch da legte ihm Orpheus eine Hand auf die Brust und hinderte ihn so in der Bewegung vorwärts zu eilen. Wütend und verständnislos starrte Ares seinen Partner an, doch dieser schüttelte nur bestimmt mit dem Kopf.

„Überlass das Reden mir, okay?“ Und ohne seine Antwort abzuwarten, trat der Ältere selbst auf das Geschehen zu.

„D, was ist hier los?“

Der Angesprochene reagierte nicht. Weiterhin Persephone hinter sich herziehend, ging D den Gang hinab, bis Orpheus die beiden eingeholt hatte und sich ihnen wütend in den Weg stellte. „D!“

Abschätzig schaute der Schütze auf den Brünetten hinab, auch wenn der Größenunterschied nur wenige Zentimeter betrug.

„Misch dich nicht ein, Orpheus!“, knurrte er drohend. D’s gefährliche Launen waren jedem Mitglied bekannt. So gut wie jeder hatte sie schon am eigenen Leib erfahren dürfen, was dem Springer einen berüchtigten Ruf eingebracht hatte. „Das hier geht dich gar nichts an!“

Er wollte weitergehen, doch da schloss sich Orpheus‘ Hand um seinen Oberarm. D’s Blick zuckte augenblicklich zu diesem Berührungspunkt und Ares war sich sicher, dass Orpheus schon längst eine Kugel im Kopf stecken hätte, wären die Finger von D’s Waffenhand nicht damit beschäftigt gewesen, Persephones Schopf zu umklammern.

Orpheus‘ Blick war ungewöhnlich hart geworden. Er hatte Respekt vor dem Schützen, er galt nicht umsonst als einer der Besten, allerdings hieß das noch lange nicht, dass er sich einschüchtern ließe.

„Ich will wissen, was das hier werden soll. Vorher lasse ich dich nicht gehen!“

D’s dunkle Augen verengten sich gefährlich. In diesem Moment schrie Persephone wieder auf und krümmte sich unter seinem fester gewordenen Griff. Ein Ruck ging durch Ares‘ angespannte Muskeln, doch er blieb stehen, sichere zwei Meter hinter Orpheus. Er hatte mit den Jahren gelernt, dass es in der Regel besser war, auf Orpheus‘ diplomatisches Talent zu vertrauen – seine Methoden wären hierfür mit Sicherheit weniger geeignet gewesen…

„Sie ist seit vier Tagen nicht mehr bei ihrer Arbeit erschienen.“, zischte D dann endlich, dennoch machte er nicht den Eindruck, als hätte er sich Orpheus‘ Worten gebeugt. Seine Stimme war unverändert ungeduldig und schneidend. Er drückte den Kopf der jungen Frau weiter runter und schüttelte ihren Schopf, als rüge er einen ungezogenen Hund. „Ich soll sie zu Hades bringen.“

„Indem du sie durch die Gänge schleifst?“

„Es ist meine Sache, wie ich mit ihr umgehe!“ Sein Blick wanderte noch einmal zu Orpheus’ Hand, die weiterhin seinen Oberarm umschloss. Energisch befreite er sich aus diesem Griff. „Geh mir aus dem Weg und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!“

Für Sekunden schwiegen sich die beiden Männer nur starrend an und Ares glaubte schon, dass Orpheus im nächsten Moment nachgab und D ziehen ließ, als er seinen Blick senkte und somit den Augenkontakt unterbrach. Statt sich abzuwenden sah er jedoch zu Persephone, die aus verängstigten, tränenden Augen zurückstarrte. Ihre Hände umgriffen immer noch D’s und ihr Blick, der unter den Haarsträhnen hervor blitzte, die ihr wild ins Gesicht fielen, erinnerte an ein gehetztes Tier, das in die Ecke getrieben worden ist.

„Ist das wahr?“, fragte Orpheus sie mit sanfter, aber dennoch fordernder Stimme. Ares sah, wie sie schnell die Lider niederschlug, um Orpheus‘ Blick so zu entkommen. Sie schluckte.

„Ich … ich fühlte mich nicht so besonders.“, brachte sie leise hervor und ihre Augen huschten flüchtig zu D hinauf, als wolle sie abschätzen, ob ihm diese Antwort zusagte, oder ob sie eine weitere Rüge für was auch immer zu erwarten hatte.

Orpheus ließ sich von ihrer eingeschüchterten Reaktion nicht aus der Ruhe bringen und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder D zu, der dem Treiben mit aufeinander gepressten Lippen gezwungener Weise stattgegeben hatte. Der Respekt, der hier wohl dafür sorgte, dass die Situation nicht eskalierte, schien zumindest etwas auf Gegenseitigkeit zu beruhen.

„Nun, da hast du deine Erklärung, warum sie nicht bei Hades aufgetaucht ist“, sagte Orpheus ruhig an D gewandt und runzelte leicht die Stirn. „Ich sehe keinen Grund darin, sie wie ein Tier hinter dir her zu zerren. Also lass sie jetzt endlich los!“

D’s Blick wurde noch verbissener und provozierend reckte er das Kinn vor.

„Glaubst du, du kannst mir Befehle erteilen?“, zischte er und trat näher an Orpheus heran. „Du nimmst dir zu viele Freiheiten mir gegenüber heraus. Vergiss nicht, wer ich bin! Ich stehe über dir.“

Etwas legte sich in Orpheus‘ Haltung. Er wich nicht zurück, er richtete sich D stattdessen etwas entgegen und obwohl Ares die Augen seines Partners nicht sehen konnte, so war er sich sicher, dass sich dieser dunkler Schatten wieder über das sonst so heitere Grün in Orpheus‘ Iriden gelegt hatte, welches ihm genauestens bekannt war. Er bemerkte, wie Persephones Blick nervös zwischen den beiden Männern hin und her huschte. Es fehlt nicht mehr viel, dachte er und schloss seine Finger langsam und unauffällig um den Griff seines Schwertes.

„Wegen einem Titel werde ich garantiert nicht vor dir im Dreck kriechen, D.“

„Willst du dich mit dir anlegen?“

„Nein“, entgegnete Orpheus und deutete in diesem Augenblick hinter sich auf Ares, dass sich dieser innerlich anspannte. „Aber wenn du sie nicht sofort loslässt, könnte es passieren, dass ich einen Moment lang nicht auf meinen Partner hier aufpasse und der ist nicht so friedliebend wie ich. Vor allem Springern gegenüber nicht; denen geht er besonders gerne auf die Nüsse, glaub mir.“

Für einen kurzen Moment richtete sich D’s Blick auf den Jüngeren hinter Orpheus und Ares‘ Griff um sein Schwert wurde noch fester, dann sah D zurück zu dem Brünetten vor ihm und verzog schnaufend einen Mundwinkel, dass man sich an ein verzerrtes Grinsen erinnert fühlte.

„Soll ich jetzt etwa Angst bekommen?“

„Das kommt ganz darauf an, wie schnell du die Hände von ihr nimmst.“ Nun warf auch Orpheus einen Blick auf Ares. Tatsächlich erschienen seine Iriden viel dunkler als gewöhnlich. „Noch drei Sekunden und es könnte kritisch werden ... ich an deiner Stelle würde loslassen.“, fügte er im ruhigen Tonfall hinzu und drehte sich wieder zu D um. Sein Blick streifte noch einmal Persephone. „Ich bin mir sicher, dass sie von alleine gehen kann.“

Wieder legte sich Schweigen über die Anwesenden. Sekunden passierte nichts, dann wanderte D’s freie rechte Hand auf einmal zu der Beretta an seiner linken Seite.

Er kann beidseitig schießen, ertönte Hermes‘ ehrfürchtige Stimme auf einmal in Ares‘ Gedanken und gleichzeitig erinnerte er sich an einen Abend vor ein paar Wochen zurück, kurz nachdem D zum Springer erhoben worden war.

Nahezu alle Mitglieder von Olymp hatten sich an diesem Abend zusammengesetzt und Shoot `em up gesehen. Diese geselligen Abende waren selten, aber es gab sie und dann waren alle Rivalitäten und Zwiste für ein paar ruhige Stunden unter den Mitgliedern vergessen. Bei einer Szene, in der der Protagonist einem Mann das Ohrläppchen wegschoss, weil dieser einen Ohrring trug, das ihm nicht gefiel, hatte jemand D gefragt, ob er das auch zustande bringen würde. Er hatte dabei breit gegrinst und auch andere hatten angefangen zu lachen; Ares erinnerte sich, dass zu diesem Zeitpunkt niemand mehr wirklich nüchtern gewesen war. Er selbst hatte sich auch nicht mehr zügeln können, und musste bei der Vorstellung eines karottenfressenden D’s unkontrolliert lachen.

D hatte nur ruhig dagesessen und seine Lippen leicht zu einem Lächeln verzogen.

„Würdest du dein Ohr zur Verfügung stellen?“, hatte er gefragt und jegliches Lachen war augenblicklich abgebrochen. Jeder wusste, dass D nicht scherzte.

Ares wollte neben Orpheus‘ Seite treten, als er sah, dass auch die Hand des ehemaligen Springers zu seiner Waffe wanderte, als auf einmal eine Stimme die Stille durchbrach.

„Jungs!“

Herks mahnender Tonfall ließ Ares herumfahren; D und Orpheus sahen sich weiterhin in die Augen. Der Hüne war am Ende des Ganges aufgetaucht und sah nicht minder verärgert und angespannt aus. Dann endlich löste sich D’s Hand aus Persephones Schopf, die erschöpft und verängstigt zu Boden sackte und sich den Hinterkopf hielt. D wandte den Blick immer noch nicht ab, sah Orpheus schweigend an, dann griff er nach Persephones Arm, um sie nicht weniger grob wieder auf die Beine zu ziehen. Sie hielt den Kopf gesengt und biss sich auf die Lippen, um nicht erneut aufzuschreien.

„Beweg dich.“, knurrte er und schubste sie an Orpheus vorbei den Gang hinunter. Sie wehrte sich nicht, ging nur stolpernd weiter. Ein letzter hasserfüllter Blick zu Orpheus, dann setzte sich auch D in Bewegung und drehte den Schwertkämpfern den Rücken zu. Orpheus sah den beiden hinterher, und ließ die Hand am Schwertgriff wieder langsam sinken.

„Persephone!“

Ein heftiger Ruck ging durch den Körper der Frau, ehe sie vorsichtig zurücksah. Auch D war wieder stehen geblieben. Trotz des warnenden Blickes seitens des Springers, begann Orpheus zu lächeln und deutete auf sich und Ares.

„Heute Abend wollten wir und ein paar andere noch was Trinken gehen. Du kannst dich gerne uns anschließen. Wenn du magst, hol ich dich später bei Hades ab.“

Bei den Worten legte sich Angst in ihren Blick. Sie war nicht wie die Angst vor D, die er bislang in ihren Augen entdeckt hatte; diese Angst ließ sie zusammenfahren, zwar nicht sichtbar, aber dennoch sah man ihr an, dass ihre Beine beinahe eingeknickt wären und ihre Lider zuckten, als erwarte sie eine Ohrfeige. Sie presste die Lippen aufeinander, streifte mit diesem merkwürdigen Blick kurz D, dann straffte sie die Schultern und strich sich einige Strähnen hinter das Ohr. Ihre Hände zittern, stellte Orpheus fest und dieser Anblick ließ ihn selbst auch schaudern.

„Kein Interesse“, antwortete sie knapp und in ihrer Stimme lag die gewohnte Abweisung, mit der sie jedem begegnete, dann drehte sie sich um und ging, gefolgt von D, der wieder eine Hand um ihren Oberarm geschlossen hatte.
 

Die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, sah Orpheus weiterhin den Gang hinab zu der Stelle, an der Persephone und D aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Ein Schnauben ließ ihn dann doch schließlich den Kopf drehen.

„…‘nen kleines Dankeschön ist wohl zu viel verlangt…“, brummte Ares mürrisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Hinter ihnen wurden Schritte laut, auf die Herakles neben dem Duo auftauchte und dieselbe Blickrichtung einschlug.

„Kann mir mal jemand erklären, was das gerade sollte?“

Ares zuckte mit den Schultern. „Hades‘ Art, seine Mitarbeiter zum Arbeitsplatz zu eskortieren. Sie hat anscheinend ein paar Tage krank gefeiert.“ Tief seufzend fuhr sich Ares durch die Haare und schaute zu Orpheus. „Du hattest Recht, dieses Frauenzimmer bringt nur Ärger.“

„Sie hatte Angst.“, entgegnete Orpheus nur wieder nachdenklich, woraufhin der Blonde noch einmal mit den Schultern zuckte.

„Hätte ich auch, wenn D’s Visage das erste am Morgen wär, was ich zu Gesicht bekäme.“ Er verzog mürrisch das Gesicht. „Aber davon abgesehen, hatte sie die ja schnell wieder abgelegt, nachdem wir das Problem für sie gelöst hatten. Dann war sie wieder die gewohnt kaltschnäuzige Zicke. Ich werde aus diesen Gefühlsschwankungen echt nicht schlau.“ Kopfschüttelnd wandte er sich ab und deutete in Richtung Halle. „Komm, lass uns endlich deine dämliche Trainingseinheit hinter uns bringen!“

„Geh schon mal vor.“, antwortete Orpheus sofort und augenblicklich stoppte Ares in seinem Gang, die Brauen ungläubig nach oben gezogen.

„Wie bitte?“

„Du hast mich schon verstanden“, entgegnete der Brünette und sah in Ares‘ verwundertes Gesicht. „Mir ist eingefallen, dass ich Zeus noch etwas berichten soll.“

Der Blick des Jüngeren wurde noch skeptischer. „Und das muss jetzt sein.“ Es war keine Frage, sondern eher eine anklagende Feststellung; nicht, dass Ares nun plötzlich einen wahnsinnigen Drang nach Konditions- und Krafttraining verspürte, allerdings wollte er das unvermeidbare Übel auch nicht unnötig aufschieben. Orpheus zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern.

„Ja“, entgegnete er bloß, was Ares nicht besonders zufrieden stellte. „Du bist lang genug hier, um auch mal ohne mich trainieren zu können.“ Er wandte sich schon zum Gehen um, Ares‘ leicht aus der Fassung gebrachtes Gesicht bewusst ignorierend, als Herk ihn an der Schulter berührte und neben ihn trat.

„Warte, ich begleite dich zu Zeus.“

„Wollt ihr mich verarschen?“ Ares‘ wütender Ausruf ließ die beiden Älteren fragend umschauen. „Wartet, lasst mich noch Kekse besorgen, dann können wir alle zusammen ein gemütliches Kaffeekränzchen bei Zeus abhalten!“

„Geh!“, kam es genervt von Orpheus und dem Leutnant gleichzeitig zurück und tatsächlich wagte es Ares nicht, diesem synchronen Befehl zu widersprechen. Stattdessen schnaufte er nur hörbar und drehte auf dem Absatz um, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und leise vor sich hin murrend.

Kurz sah Orpheus ihm noch nach, doch er hakte die Angelegenheit schnell für sich wieder ab. Manchmal reagierte Ares eben immer noch wie ein eingeschnapptes Kind, daran würde sich wahrscheinlich auch so schnell nichts ändern; er hatte sich damit abgefunden und es zu ignorieren gelernt. Er wollte sich schon wieder in Bewegung setzen, da zog ihn Herks Pranke sofort wieder zurück.

Stirnrunzelnd sah er zu seinem alten Lehrer hinauf. „Was?“

„Wo willst du hin?“

„Ich will zu Zeus gehen, habe ich doch gerade gesagt!“ Orpheus‘ Stimme klang immer ungeduldiger; Herks Gesicht verdunkelte sich jedoch auch zusehends, was den Brünetten etwas stutzig werden ließ.

„Und warum?“, fragte Herk weiter, woraufhin sich Orpheus aus seinem Griff befreite, indem er mit der Schulter rollte.

„Ich werde ihm erzählen, wie Hades mit Persephone umspringt.“, erklärte er ernst. „Du hast es nicht gesehen, weil du zu spät gekommen bist, aber dieser Scheißkerl D hat sie durch die Gänge gezerrt wie ein Tier auf dem Weg zur Schlachtbank! Sie hatte Angst zu Hades zu gehen, das hat man ihr deutlich ansehen können.“

Die Augen des Leutnants verengten sich weiter. „Das ist nicht unsere Sache, Orpheus.“, brummte er, was Orpheus‘ Wut nur noch weiter anfachte. Er geriet selten in Rage, aber die Begegnung mit D und nun dieses uneinsichtige Verhalten von Herk waren Zündstoff genug.

„Aber es ist Zeus‘ Recht das zu erfahren! Wir sind alle Mitglieder von Olymp und ich sehe nicht tatenlos zu, wenn ich mitbekomme, dass einer unserer Leute so behandelt wird!“, zischte er erbost.

Herk musterte ihn eindringlich, sah ihm mit gleichbleibend mürrischem Ausdruck entgegen, dann brach er den Blickkontakt ab und seufzte. „Gut, ja, D hat sich gewalttätig verhalten, aber das ist immer noch Hades‘ Angelegenheit und nicht-“

„Es geht mir nicht um D’s Handeln!“, unterbrach Orpheus ihn wütend. „Herk, sie war in Panik! Sie wollte nicht zu Hades gehen und das muss einen Grund haben.“

Wieder zog es Herakles vor, zu schweigen und die Lippen aufeinander zu pressen. Von seiner Sturheit, seinen Schüler davon abzuhalten, zu Zeus zu gehen, war kaum noch etwas geblieben, was Orpheus am Rande seiner aufgewühlten Emotionen sehr wohl wahrnahm, doch nicht weiter drüber nachdachte. Es war im Moment nicht wichtig, was Herk nun umgestimmt hatte. Orpheus suchte den Blick seines Lehrers.

„Herk, wenn … wenn Hades ihr etwas angetan hat oder noch antut, dann muss Zeus das wissen.“, versuchte er den Älteren zu beschwören. „Dann muss er etwas unternehmen!“

„Er weiß es bereits.“, murmelte Herk auf einmal, den Blick wieder abwendend. Orpheus starrte ihn an, als habe sein Gegenüber ihn geschlagen. Nach weiteren Sekunden des Schweigens nahm Herk widerwillig den Blickkontakt wieder auf und nun erkannte Orpheus dieselbe Unruhe in seinen Augen, die auch ihn befallen hatte.

„Vor drei Tagen ist Persephone zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich sie trainieren könnte. Kein normales Verteidigungstraining. Sie hat explizit danach gefragt, wie man sich aus Griffen befreien kann. Aber ich konnte sie nicht einmal fester anfassen, ohne dass sie schon verunsichert zurückgewichen ist. Danach ist sie auch nicht noch einmal wiedergekommen.“

Orpheus senkte den Blick und konnte ein Zittern nicht unterdrücken. Ihm schwirrte der Kopf.

„Vor drei Tagen?“

Herk nickte. „Ich habe Zeus davon erzählt.“, begann er, hielt jedoch sofort wieder inne und sah Orpheus verändert in die Augen. „Zeus weiß es, Orpheus. Dass Hades sie-“ Er brach den begonnenen Satz ab, doch Orpheus ergänzte ihn für sich in Gedanken und dabei lief ein eiskalter Schauer seinen Rücken hinab.

Er sah seinen Mentor schweigend und äußerlich gefasst an, dann atmete er tief durch, um auch sein Inneres etwas zu beruhigen, ehe er wieder ansetzte: „Drei Tage. Er weiß es schon so lange und er hat bisher nichts unternommen?“ Seine Stimme klang immer ungläubiger.

„Er sagte, er habe sich etwas überlegt, aber das bräuchte noch etwas Zeit.“

Bei diesen Worten kehrte seine Wut wieder an die Oberfläche zurück. „Wie lange will er sich das denn noch anschauen?“, grollte er und ballte die Fäuste. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Drei Tage und nichts war passiert! „Bis sie grün und blau ist und wirklich jeder davon Wind gekriegt hat? Oder schlimmeres passiert?!“

Der Blick seines Gegenübers verdüsterte sich wieder.

„Vertraust du Zeus?“, fragte er, doch Orpheus schüttelte nur zornig mit dem Kopf.

„Das tut doch jetzt nichts zur Sache!“

Er hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da krachte Herks Linke neben Orpheus‘ Gesicht gegen die hell gestrichene Wand, dass der Jüngere unweigerlich zusammenzuckte. Herakles war dafür bekannt, stets mit einem Gesichtsausdruck herumzulaufen, als habe man ihn um drei Uhr morgens zum Dauerlauf aus dem Bett gezerrt, aber meistens steckte nichts Ernsteres dahinter. Seine Mimik wirkte einschüchternd und respektfordernd … ideal für Neuankömmlinge und Unbelehrbare. Damit der Leutnant – ein Spitzname, der sich dank Ares mit der Zeit eingebürgert hatte – allerdings wirklich schlechte Laune bekam, musste man nur das richtige Reizthema ankratzen; und seinen Vorgesetzten und Freund in Frage zu stellen, gehörte definitiv dazu.

„Vertraust du ihm, Orpheus?“, fragte er ihn noch einmal und seine Stimme erinnerte dabei an einen Bären, den man aus seinem Winterschlaf gerissen hatte. Trotz der sichtlichen Ungeduld in Herks Blick, ließ sich Orpheus mit der Antwort Zeit. Es war nicht so, dass er mit den Titeln und Rängen irgendwann den Respekt vor seinem Lehrer verloren hätte, dennoch war er zu stolz, um vor diesem zornigen Blick sofort klein bei zu geben.

„Ja. Natürlich.“, sagte er dann doch im ruhigen Tonfall. Im Grunde hätte es sogar keiner Antwort gebraucht; die Frage war von Anfang an rhetorisch gewesen, das wussten beide Männer. Herks Gesicht klärte sich nun um eine Nuance auf.

„Gut.“, brummte er, ließ die Faust neben Orpheus‘ Wange sinken und trat einen Schritt zurück. „Dann ist diese Unterhaltung hiermit beendet. Kein Wort! Zu niemanden!“

Ohne auf eine Erwiderung zu warten, drehte sich der hochgewachsene Leutnant weg und ging seines Weges. Orpheus blieb allein zurück. Als Herakles nicht mehr zu sehen war, lehnte er sich seufzend gegen die Wand und vergrub beide Hände in den Haaren. Seine Gedanken kreisten und rebellierten in ihm unaufhaltsam. Am liebsten hätte er seine Wut laut hinausgeschrien. Vertraue ihm, sprach er sich beruhigend zu und atmete mehrere Male so tief wie möglich ein, bis er das Gefühl hatte, seine Lunge würde unter dem Druck der einströmenden Luft zerreißen wie ein prallgefüllter Luftballon. Vertraue ihm! Immer wieder aufs Neue, wie ein Gebet.

Er brauchte fünf weitere Minuten, um sich zu sammeln, dann stieß er sich von der Wand ab und ging bewusst langsam in Richtung Halle. Er musste sich abreagieren.

„Ares wird mich hassen.“, murmelte er, atmete ein letztes Mal tief ein, ehe er seine Schritte beschleunigte.

Ihr Diener

Die folgenden zwei Wochen waren keine angenehmen für Persephone. Nicht, weil Hades ihr wieder zu nah gekommen wäre - allein die Vorstellung, dass es wieder passieren könnte, war viel schlimmer. Er hatte sie geohrfeigt und den ganzen Tag finster angesehen, als sie damals von D zu Hades gebracht worden war. Ihre Wange hatte geglüht und kurz hatte sie befürchtet, dass der Gott noch weiter gehen würde. Doch nichts dergleichen war passiert. Nur dieser finstere Blick, dieses Leuchten in seinen hellen Iriden und ihr Wissen, zu was Hades fähig sein kann, wenn er nur wollte. Doch diese Mischung war Warnung genug für sie und sie war seit diesem Tag wieder regelmäßig bei Hades erschienen. Manchmal kam er ihr näher. Dann streifte sein Oberarm ihren oder er beugte sich wieder über sie, um an die Tastatur ihres Laptops zu gelangen, genau wie damals, aber das reichte Persephone schon aus und ihr Herz begann in solchen Momenten an zu rasen und zu hämmern, als würde es gleich darauf zerspringen. Und jeden Abend, wenn sie zurück in ihr Zimmer gehen wollte, verabschiedete er sie, wünschte ihr eine gute Nacht und lächelte wie früher, dass sie spürte, wie ihr Mageninhalt nach oben in Richtung Speiseröhre wanderte.

Es war die reinste Hölle. Jeder verdammte Tag.

Bis heute.

Es fing an wie immer: sie klopfte an die Tür. In wenigen Sekunden würde Hades sie hereinrufen, sie mit einer knappen Begrüßung empfangen und sie dann auf ihren Platz vor seinem Schreibtisch verweisen. Sie würde ihren mitgebrachten Laptop aufklappen und sich anhören, was Hades diesmal von ihr verlangte. Dann würde sie zur Wanduhr hinaufschauen und innerlich denjenigen verfluchen, der festgelegt hatte, dass sechs Stunden unbedingt 360 Minuten lang sein müssen. Jede Sekunde davon kam ihr viel zu lange vor.

Persephone spannte sich innerlich an und wartete auf das verhasste „Herein“, das unweigerlich auf ihr leises Klopfen folgen würde. Wie jeden Tag.

Und da war es: „Herein.“ Doch diesmal klang es ungewöhnlich tief und erwartungsvoll, dass Persephone zuerst erschrocken die Hand von der Klinke zurückzog. Diese Stimme klang nicht nach Hades…

Als sie nach fünf Sekunden immer noch nicht reagiert hatte, wiederholte der Fremde – es war eindeutig nicht Hades‘ Stimme, die würde sie überall heraus erkennen! – seine Aufforderung, einzutreten, doch gleich darauf hörte sie Schritte, die sich der Tür näherten und einen Moment später wurde diese von innen aufgezogen.

Zeus‘ fragendes Gesicht ließ sie weitere zwei Schritte zurückstolpern. Warum war er hier? Sie hatte sich doch nicht etwa in der Tür geirrt? Verunsichert huschte ihr Blick den Gang hinab. Nein, kein Zweifel, sie stand vor Hades‘ Büro…

„Ah, da bist du ja endlich!“ Zeus‘ Grinsen wurde eine Spur breiter und er trat zur Seite. „Komm rein, wir haben leider nicht viel Zeit.“

„Wofür?“ Etwas zögernd war Persephone der einladenden Geste gefolgt, doch diese merkwürdige Aussage ließ sie wieder in ihrem Gang stoppen. Zeus nickte nur, scheinbar ihre angespannte Haltung ignorierend.

„Ich wollte mit dir reden. Hades besorgt gerade Ersatzteile für ein paar Geräte, aber er wird wahrscheinlich in einer viertel Stunde wieder hier sein.“ Er zwinkerte auf einmal verschmitzt. „Ich konnte ihn dazu überreden, auf dem Rückweg Kaffee für uns Drei mitzubringen. Den Guten von Starbucks, auf Dauer schlägt einem dieser Instantkaffee hier unten ja auf den Magen. Wenn wir also Glück haben, bleiben uns noch fünf Minuten mehr.“

„Ähm … okay.“, erwiderte Persephone kleinlaut und setzte sich auf ihren angestammten Platz. Zeus setzte sich derweil auf Hades‘ Drehstuhl. Das Bild, das sich ihr nun bot, war verkehrt und passte nicht in ihre Vorstellung und unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. „Was wollten Sie denn nun mit mir bereden?“

Sah Persephone Hades nach ihrem Geschmack viel zu häufig, glänzte der zweite Anführer von Olymp dagegen mit hartnäckiger Abwesenheit. Egal zu welcher Tageszeit sie in den Gemeinschaftsraum oder die Trainingshalle ging oder sonst irgendeinen Ort in Olymp aufsuchte, traf sie in der Regel nie auf den stattlichen Mann mit den rabenschwarzen Haaren. Er hatte eine so andere Ausstrahlung als Hades; er lehnte sich in dem Drehstuhl weit nach hinten, die Hände im Nacken verschränkt, das eine Bein locker auf das andere gelegt, und sein Mund war zu einem leichten Lächeln verzogen. Obwohl er der ältere von ihnen war, wirkte Zeus in diesem Moment wesentlich jünger als Hades.

„Ich habe mich mit Hades über deine Lernfortschritte unterhalten.“, begann er und sein Gesicht bekam etwas Ernstes. Unweigerlich spannte Persephone sich an. Sie fühlte sich wie in einem Déjà-vu; genauso hatte es damals auch angefangen: man hatte über sie gesprochen und dann…

„Er spricht sehr positiv von dir. Du lernst schnell und scheinst ein gewisses Talent für diese Art von … Computerarbeit zu besitzen.“ Bei den letzten Worten kehrte ein kleines Grinsen in seine Mundwinkel zurück. „Allerdings sehe ich dein Talent sehr verschwendet, wenn du weiterhin ausschließlich für Hades arbeiten würdest. Ich finde, wir sollten noch einmal darüber nachdenken, dich für Missionen einzusetzen.“

Verwundert zog sie die Stirn kraus und versuchte das Gesagte zu verarbeiten.

„Aber … ich dachte, ich sei dafür, naja, ungeeignet?“, entgegnete Persephone vorsichtig. Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte; es klang verlockend, nicht den ganzen Tag von Hades umgeben zu sein und mit anderen zusammenarbeiten zu können und doch ließ sie dieses unbehagliche Gefühl nicht los. Sie wurde herumgereicht – wieder. Und mit jedem Mal schien die Situation sich für sie zum Schlechteren zu wenden. Sie fühlte sich machtlos.

Auf Zeus‘ Züge stahl sich ein von bitterer Wahrheit beherrschtes Lächeln.

„Nun, es ist kein Geheimnis, dass du mit Pistolen nicht besonders gut umgehen kannst.“, gab er vorsichtig zu und setzte sich etwas gerader hin. Im nächsten Moment wuchs sein Lächeln zusehends zu einem breiten Grinsen heran, das er ihr in einer gewissen Vorfreude zu schenken schien. „Daher habe ich mit Hades einen Deal ausgearbeitet.“

„Deal?“ Persephones Falten auf der Stirn wurden noch tiefer.

„Ja. Quasi eine Zusammenarbeit von seiner und meiner Abteilung. Früher bin ich sehr häufig mit Hades gemeinsam losgezogen, um Jobs zu erledigen. Ich würde das gerne wieder aufleben lassen.“ Er fügte eine Kunstpause ein, an dessen Ende er enthusiastisch auf sie deutete. „Und ihr würdet der perfekte Testlauf sein.“

Persephone stutzte und kam gar nicht mehr aus ihrer Skepsis heraus. „Wir?“, wiederholte sie mit ungläubiger Stimme, doch bevor sie weiter nachfragen konnte, hatte sich Zeus schon erhoben und zur Tür begeben. Verwirrt verfolgte Persephone ihn mit den Augen. Er schenkte ihr noch ein letztes, aufgeregtes Lächeln, dann zog er Hades‘ Bürotür auf und schaute nach draußen.

„Sehr gutes Timing, komm rein!“, rief er mit einem Mal und schien jemanden herein zu winken. Persephone konnte von ihrem Platz aus niemanden erkennen; erst als Zeus mit einer einladenden Geste zur Seite trat, konnte sie einen Blick auf die zweite Person werfen, die nun das kleine Büro betrat.

Es war ein merkwürdiger Moment. Persephone hatte den Mann, der neben Zeus kurz verharrte, nie zuvor gesehen und dennoch fühlte sie sich auf einmal auf unheimlich vertraute Weise unter Strom gesetzt, als käme die Anwesenheit des Fremden einem Richter gleich, der nun das absehbare, unangenehme Urteil über sie sprechen würde. In ihr kam das Bedürfnis auf, genervt die Augen zu verdrehen. Ohne ihr Zutun spannte sie sich von neuem an und warf ihm einen strengen Blick zu. Der Mann überragte Zeus um einen halben Kopf und trug eine Kombination aus dunkler Jeans und dunkelgrauem Rollkragenpullover. Er musste in ihrem Alter sein, wenn auch seine harten, ernsten Gesichtszüge nicht ganz zu einem Mitte Zwanzigjährigen passen wollten, so schienen zumindest seinen blaugrünen Augen ein kleiner Rest von jugendlichem Übermut anzuhaften. Seine dunklen Haare waren länger und machten den Anschein, als hätten sie einst einen modischen, kürzeren Schnitt besessen, aus dem sie mit der Zeit jedoch herausgewachsen waren. Es gab ihm etwas Ungepflegtes, obwohl alles andere an ihm akkurat und gewollt wirkte: seine aufrechte Haltung mit in den Rücken gelegten Händen, die bewusst nach hinten gezogenen Schulterblätter, die gerade Beinstellung – soldatenhaft, schoss es Persephone durch den Kopf, als sie den Blick über ihn schweifen ließ. Zuletzt blieb sie wieder an seinen Augen hängen, in denen sie ebenfalls eine ungewöhnliche Reaktion ablesen konnte. Auch er hatte sie die ganze Zeit über gemustert und hätte Persephone nicht mit absoluter Gewissheit sagen können, diesem Mann vorher noch nie begegnet zu sein, so wäre sie sich sicher gewesen, dass er sie tadelnd, aber gleichzeitig auch mit einer liebenden Besorgnis ansah. Sie erwartete beinahe, dass er im nächsten Moment sich seufzend durch die Haare fuhr und sie fragte: „Was hast du nun wieder angestellt?“

Da war etwas Vertrautes zwischen ihnen; alte, eingefahrene Riten und Verhaltensmuster, als würden sie sich schon ewig kennen. Konnte der erste Eindruck von zwei Fremden so eine gegenseitige Wirkung haben? Ihr Kopf begann zu schwirren.

Der Augenkontakt, in dem Persephone alles außer ihren Gegenüber ausgeblendet hatte, währte nur knappe Sekunden, in denen Zeus den beiden diese doch sehr privaten Blicke zusprach, dann war er um den Tisch herumgegangen, hatte sich gesetzt und auch den Mann mit einer Handbewegung gebeten, Platz zu nehmen. Dieser befolgte die Aufforderung schweigend und setzte sich neben Persephone. Ihr fiel es schwer, den Blick wieder auf Zeus zu richten, als dieser im nächsten Moment wieder ansetzte:

„Äneas, das ist Persephone.“, begann er und deutete von dem Mann zu Persephone. Die gleiche Geste wiederholte er nun rückwärts. „Liebes, das ist Äneas, unser neustes Mitglied und von nun an dein Partner.“

Die Worte trafen sie wie ein Schwall kaltes Wasser und verwirrt wechselte sie schnelle Blicke zwischen den Anwesenden. Sie musste sich verhört haben!

„W-wie bitte?“, fragte sie ungläubig und schluckte hart. Ihre Kehle war auf einmal staubtrocken. Sie wusste, was ein Partner hier bei Olymp bedeutete; sie würde sehr viel Zeit mit diesem Äneas verbringen müssen – warum nur hätte sie bei diesem Gedanken genervt aufstöhnen können?

„Wie gesagt, Hades und ich haben einen Deal ausgehandelt.“, entgegnete Zeus ruhig. In seinen dunklen Augen war weiterhin die vorangegangene Freude abzulesen. „Du wirst weiterhin halbtags von ihm lernen, wie man sich ungesehen Zugang zu jeglichen Informationen verschafft: Computer hacken, Viren basteln, eben alles, wovon ich absolut keine Ahnung habe. Den restlichen Tag wirst du mit Äneas zusammen von Herakles trainiert werden.“ Er hielt kurz inne. Dann sah er zu Äneas und seine Stimme erhielt einen Unterton, der keinen Widerspruch geduldet hätte. „Deine Aufgabe wird zukünftig darin bestehen, ihr Schatten zu sein. Du wirst sie auf Missionen nicht aus den Augen lassen und dafür sorgen, dass ihr kein Haar gekrümmt wird; selbst wenn sie mal auf die Idee kommen sollte, sich irgendwo vor zu werfen, wirst du dich gefälligst noch dazwischen quetschen.“ Er zwinkerte der Anwesenden frech zu. „Nicht, dass ich dir sowas Kopfloses zutrauen würde, aber ich denke, die Botschaft ist angekommen.“, fügte er im lockeren Tonfall hinzu, doch Persephone bekam dies nur am Rande mit. Sie hing mit den Gedanken immer noch an den vorangegangenen Sätzen fest. Ihr Partner? Computer - was?! Sie sollte bislang nur doch recherchieren! Als Zeus sich im nächsten Moment lautstark räusperte, schaute sie doch leicht erschrocken und hastig auf. „Das war einer der Bedingungen, die Hades aufgestellt hat, dass ich deine Sicherheit garantieren kann.“ Sein Blick ruhte bei den Worten nur auf ihr, doch aus den Augenwinkeln sah sie, wie Äneas mit ernster Miene nickte. Etwas zögernd und wesentlich langsamer tat sie es dem hochgewachsenen Mann gleich.

Als Zeus seine Bestätigung hatte, fuhr er fort: „Normalerweise halte ich wenig davon, Partnerkonstellationen so früh festzulegen, aber in eurem Fall dürfte das der ganzen Sache eher einen positiven Effekt einbringen.“ Wieder eine Kunstpause und erneut verfinsterte sich Zeus‘ Gesicht, dass Persephone unmerklich schluckte. Nun saß ihr wieder der gnadenlose Anführer von dutzenden Kopfgeldjägern gegenüber. „Ich erwarte von euch, dass ihr hinterher bestens aufeinander eingespielt seid. Euer Team soll als eine Art Hinterhand fungieren und da ihr bislang das einzige Team dieser Art seid, bedeutet das im Umkehrschluss, dass du“, und damit musterte er Persephone eindringlicher, „zukünftig unentbehrlich sein wirst und immer einsatzbereit sein musst und dass du“, sein Blick wanderte nun zu Äneas, „die absolute Unversehrtheit deines Schützlings gewehrleisten musst. Bis hierhin Einwände?“

Keine Reaktion. Persephone schwirrte immer mehr der Kopf und er begann zu schmerzen, dass sie sich diesen am liebsten stöhnend gehalten hätte. Sie riss sich zusammen und spannte den Körper an. Zeus‘ Blick heftete sich abwechselnd auf die ihm Gegenübersitzenden und auf einmal umspielte wieder ein sympathisches Grinsen seine Lippen.

„Sehr gut! Also werdet ihr ab heute eine volle Tagesplanung haben. Ich schlage vor, dass Äneas dich von Hades mittags abholt, Persephone, damit ihr nach einer kleinen Pause zügig weitermachen könnt.“

Persephone bewegte wieder mechanisch den Kopf. Was auch immer, schoss es ihr durch den Kopf; sie fühlte sich so zerstreut und überwältigt von den ganzen Veränderungen, dass sie zu so gut wie allen Ja gesagt hätte.

„Da wäre noch eine Sache, Persephone…“

Zeus‘ leiser Tonfall riss sie aus ihren kreisenden Gedanken, die sie zu ordnen versucht hatte. Etwas hatte sich in die Miene des Gottes gelegt, was sie wieder die Stirn runzeln ließ. Sie bemerkte, wie er für sie nicht deutbare Blicke mit Äneas wechselte, der daraufhin leicht nickte und eine Hand zu seinem Rollkragen wandern ließ.

Als er im Augenblick darauf wortlos den Stoff nach unten zog, stoppte Persephone erschrocken der Atem. Zuerst dachte sie, dass er gewürgt worden wäre, so verfärbt wie seine Haut war, die nun zum Vorschein gekommen war. Auf den zweiten Blick dann erkannte sie das viel offensichtlichere: eine frische, breite Narbe zog sich quer über Äneas‘ Hals. Unter dem Kiefer beginnend, zog sich die Wunde über den Kehlkopf und verschwand kurz oberhalb des Schlüsselbeins. Dort, wo sich die Fäden hergezogen haben, erinnerten nur noch die Einstichstellen neben der neuen rosa Haut an sie; es mussten unzählige Stiche gewesen sein. Je länger sie die Narbe aus geweiteten Augen anstarrte, desto schmerzhafter schlug ihr Herz und ihre Augäpfel begannen zu brennen, als finge sie im nächsten Moment zu weinen an. Äneas hatte den Blick abgewandt und presste die Lippen verbittert aufeinander. War es Scham? Schmerz? Oder konnte er es nicht ertragen, dass sie seine Narbe zu Gesicht bekam?

„Äneas hatte einen Unfall, der ihn wochenlang ans Bett gefesselt hat. Seine Stimmbände sind bei einer Schlägerei durch einen Messerstich durchtrennt worden.“ Zeus‘ Erklärungen kamen gedämpft und leise bei ihr an, als habe sich auf einmal eine Wand zwischen ihnen aufgebaut. Sie achtete nicht darauf, konnte sie ihren Blick sowieso nicht abwenden, auch wenn es ihr der Verstand aus Höflichkeit Äneas gegenüber befahl. Äneas drehte leicht den Kopf und musterte sie. Eine Mischung aus Angst und Besorgnis lag in seinem Blick. Und wieder kam ihr dieser Ausdruck auf merkwürdige Weise vertraut vor. Es war so typisch. Sie sah ihm direkt in die Augen.

„Ich verstehe.“, antwortete sie Zeus leise. Ja, sie verstand und doch wollte etwas in ihr protestieren, sich auf den Boden werfen wie ein kleines Kind und den Umstand nicht akzeptieren, dass dieser Mann nie wieder sprechen könnte. Sie kannte ihn nicht, woher auch, und dennoch war sie überzeugt davon, dass er der letzte war, der so ein Schicksal verdient hat. „Tut mir leid.“, sagte sie aufrichtig und kämpfte nun tatsächlich mit den Tränen.

„Ich kenne jemanden, der die Gebärdensprache unterrichtet.“, setzte Zeus von Neuem an und lenkte so die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Äneas ließ den Kragen los, sodass die Narbe nicht mehr sichtbar war. Persephone versuchte sich möglichst unauffällig über die nassen Augen zu wischen. Ihr war diese ganze Situation rätselhaft…

„Ihr werdet dreimal die Woche gemeinsam dorthin gehen.“ Zeus verstummte kurz und wartete erneut ein zustimmendes Nicken seitens der Betroffenen ab, dann sah er wieder Persephone durchdringend an. Sie erkannte leichte Sorgenfalten auf seiner Stirn. „Ich weiß, was ich … was wir dir damit alles zumuten.“, verbesserte er sich. „Ich könnte verstehen, wenn du sagst, dass du mit dieser Dreifachbelastung nicht klarkämest.“ Sein Blick wurde auf einmal weich und eine Aufrichtigkeit lag in diesem, dass ihr sofort wärmer wurde. „Das ist jedoch der einzige Kompromiss, den ich dir anbieten kann, Persephone.“

Etwas in ihr machte „Klick“ und die Wahrheit, die verhüllte Botschaft lag so deutlich vor ihr, als habe Zeus sie in großen Lettern aufgeschrieben. Er hatte es die ganze Zeit über gewusst. Natürlich hat er das. Und das alles tat er nur für sie. Natürlich tat er das – er war schließlich Zeus, belehrte sie eine leise Stimme in ihr. Unweigerlich drängte sich ein Bild in ihr auf: Hell und Dunkel. Hitze und Kälte. Zeus und Hades. Die Unterschiede lagen nicht nur in ihrem gegensätzlichen Auftreten, nein, es war viel offensichtlicher!

„… ich weiß. Und ich danke Ihnen.“ Persephone konnte nichts anderes tun als zu lächeln.

Würde es nun vorbei sein?

Nein. Wahrscheinlich wird es das nie.

Sie sah noch einmal zu Äneas und ein beruhigendes Gefühl lockerte die feste Schlinge, die sich um ihr Herz gezogen hatte. Nein, aber nun hatte sie Hilfe erhalten; man hatte ihr einen Ausweg, eine Abzweigung zu einer Parallelstraße gezeigt, auf der es weniger beängstigend zu sein schien.
 

Sie konnte hinterher nicht sagen, wie lange sie noch dort gesessen und Blicke mit Äneas ausgetauscht hatte. Diese Verbundenheit, die mit so vielen Widersprüchen einher ging, war wirklich merkwürdig. Auf der Suche nach Antworten stellte sie sich die Frage, ob die passende Bezeichnung für dieses Gefühl Verliebtheit sei, doch bei dem Gedanken musste sie innerlich fassungslos lachen. Nein, nie im Leben würde sie sich in diesen Mann verlieben! Und gleich drauf setzte sie die Frage nach dieser Gewissheit auf die Liste der ungelösten Rätsel. Vielleicht kannte ihr neuer Partner ja eine Antwort drauf…

Ohne anzuklopfen wurde plötzlich die Tür aufgestoßen und alle Anwesenden starrten auf Hades, der nicht minder verwirrt zurücksah; vor allem Zeus schien er besonders skeptisch ins Auge zu fassen. Die Erkenntnis, warum so viele Leute in seinem Büro warteten, schlich sich zusehends in sein Gesicht. In der einen Hand hielt er einen Karton mit drei Pappbechern, die Finger der anderen umschlossen weiterhin die Türklinke. Persephones Körper krampfte sich bei dem Anblick des Gottes unweigerlich zusammen und sofort verstärkte sie den Griff um die Armlehnen des Stuhles, um das aufkommende Zittern zu verbergen. Es war Zeus, der die eingefrorene Szenerie letztendlich brach, indem er breit grinsend aufsprang und Hades entgegen ging.

„Ah, endlich! Ich habe mir den Mund schon ganz fusselig geredet.“, sagte er im Plauderton und nahm es Hades ab, die Tür zu schließen. Der Blick seines Partners blieb gewohnt misstrauisch und ernst.

„Dann habt ihr alles besprochen?“, fragte er und bei den Worten fasste er Persephone ins Auge. Einem Reflex folgend beugte sie sich dem Blick seiner kalten Augen und sah zu Boden.

„Ja. Äneas und ich sind auch sofort wieder weg. Ich wollte Herk noch die frohe Botschaft überbringen.“, antwortete Zeus weiterhin mit gutgelaunter Stimme und nahm Hades einen der mitgebrachten Becher ab, den er dem nun ebenfalls aufstehenden Äneas in die Hand drückte. „Hier, du wirst ihn mehr brauchen als ich. Ich trinke eh viel zu viel von dem Zeug.“, raunte er ihm zu und ging an Hades vorbei zur Tür. Dann suchte er ein letztes Mal Persephones Blick. „Also dann, Äneas wird dich wie besprochen in vier Stunden abholen.“

Sie nickte vorsichtig und warf einen kurzen, prüfenden Blick zu Hades; dieser hatte das Gespräch mit einem bitteren Gesichtsausdruck verfolgt. Eine Hand berührte sie leicht an der Schulter und als sie sich verwundert umdrehte, drückte Äneas ihr einen kleinen Zettel in die Hand. Blinzelnd las sie die eng geschriebenen Wörter.

Ich beeile mich, dich abzuholen und dann können wir uns in Ruhe kennenlernen. Du machst einen netten Eindruck, ich denke, wir werden gut miteinander auskommen.

Als sie wieder aufschaute, hielt Äneas wie zur Erklärung einen kleinen Notizblock samt Kugelschreiber hoch und auf einmal klebte da ein winziges, verlegendes Lächeln in seinem rechten Mundwinkel. Ihre Augen wurden wieder groß und sie spürte, wie ihre Wangen glühten. Noch einmal hörte sie Zeus‘ Stimme, die nach Äneas rief und dieser Aufforderung folgte der Angesprochene dann, verließ hinter dem Gott das Büro und zog die Tür leise ins Schloss.

„Du hast also dem Vorhaben zugestimmt?“

Hades nachforschender Tonfall holte sie sofort wieder in die Wirklichkeit zurück und ließ sie auf ihrem Stuhl erschrocken zusammenzucken. Er musterte sie erwartend, als sie mit klopfendem Herzen nach den passenden Worten suchte. Die Weise, wie er die Frage gestellt hatte, hatte in ihr ein Gefühl geweckt, als habe sie etwas Falsches oder Dummes getan.

„Ja, es ... erschien mir sehr sinnvoll.“, antwortete sie ihm leise und verfolgte jede seiner Bewegungen angespannt. Hades schien wieder in diese gefährliche Stimmung gefallen zu sein. Umso mehr verdutzte sie das schnaubende Lachen, was als Reaktion von ihm folgte. Hades ging langsam um seinen Schreibtisch herum und schüttelte mit dem Kopf. Als seine Augen sie wieder fixierten, lag in seinem Blick dieses Harte und Kalte, das Persephone seit neustem immer öfter zu Gesicht bekam; dennoch lief ihr weiterhin ein Schauer über den Rücken, wenn sie es sah. Bis jetzt hatte es nie etwas Gutes bedeutet.

„Es hatte mehrere Gründe, warum Zeus dir von unserem Deal erzählt hat und nicht ich; einer davon war definitiv der, dass alles, was aus seinem Mund kommt, sich gut vermarkten lässt. Er war schon immer der Geschäftsmann von uns beiden.“, entgegnete er erstaunlich ruhig und reichte ihr einen der mitgebrachten Kaffeebecher. Er selbst trank auch einen Schluck aus seinem eigenen und musterte sie dabei nachdenklich. Sie spürte, wie die Nervosität ihr bis in die Fingerspitzen kroch.

„Da du ja in Zukunft nun mehr mit ihm zu tun haben wirst, lass dir eine Warnung mit auf dem Weg geben:“, begann er und setzte den Becher ab. „Begehe nicht den Fehler, ihm zu viel zu vertrauen. Am besten fängst du erst gar nicht damit an. Menschen, die dir was verkaufen wollen, haben nie dein Bestes im Sinn, sondern nur die Zahlen auf ihrem eigenen Konto und manche würden dafür sogar über Leichen gehen.“ Er unterbrach den intensiven Blickkontakt und sah stattdessen an Persephone vorbei zur Tür, als würde Zeus immer noch in dessen Rahmen stehen und dem Gespräch lauschen. „Ich habe aufgehört mitzuzählen, über wie viele Zeus inzwischen hinweg gestiegen ist.“, raunte er leise und ein unheimlicher Schatten legte sich über seine Gesichtszüge, sodass Persephones Herz noch schneller in ihrer Brust hämmerte.

Hades schwieg und eine unangenehme Spannung lag mit einem Mal in der Luft. Sie hasste es mit Hades alleine zu sein; aber Situationen wie diese, in denen sie schweigend voreinander saßen, und sie nicht wusste, was als nächstes passieren wird, waren die unangenehmsten. Sie spürte die Wärme des Kaffees durch die dünne Pappe des Bechers und sie begann, ihre Fingerspitzen leicht auf der Oberfläche kreisen zu lassen, nur um irgendetwas gegen diesen eingefrorenen Augenblick zu tun. Sie hasste es, mit ihm allein zu sein, nichts gegen diesen Zustand tun zu können … und da nistete sich auf einmal der Gedanke an Äneas in ihr ein, ihr Schatten, und ehe sie darüber nachdenken konnte, holte sie schon Luft und setzte zur Antwort an.

„Nun, ich bin immer der Auffassung gewesen, dass man besser seine eigenen Fehler begehen sollte.“, entgegnete sie mit gestrafften Schultern und erstaunlich selbstsicherer Stimme. Als ihr Verstand ihr neugewonnenes Selbstbewusstsein endlich eingeholt hatte, biss sie sich erschrocken auf die Lippen und verfluchte sich. Waren ihr diese schnippischen Widerworte tatsächlich über die Lippen gekommen? War sie nun völlig irre geworden?

Sie wollte schon den Blick unterwürfig abwenden, hatte dutzende Entschuldigungen bereits in Gedanken zurechtgelegt, doch Hades‘ Blick war erstaunlich mild und heiter. Amüsiert verzog er die Lippen.

„Wie recht du doch damit hast. Aus den eigenen Fehlern lernt man ja bekanntlich noch am meisten.“ Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. „Und weißt du, was die wichtigste Erkenntnis meistens dabei ist?“, fragte er sie daraufhin und drückte beiläufig auf einen Knopf an seinem Computer. Summend sprang die Lüftung des Rechners an. „Man lernt, beim nächsten Mal vorsichtiger vorzugehen und es dann geschickter anzustellen.“, beantwortete er seine Frage selbst und in seinen Blick war etwas Gefährliches getreten; Persephone hatte das Gefühl, als starrte sie einem Raubtier direkt in die Augen.

Die Botschaft traf sie mit voller Härte und es hätte nicht viel gefehlt, um sie erschrocken aufspringen zu lassen. Ihr Verstand spann die Szene in Gedanken weiter; sie würde zur Tür laufen und an ihr zerren; sie würde abgeschlossen sein – wie immer, natürlich, war Hades nicht der Letzte gewesen, der an der Tür gestanden hatte? – sie würde sich umdrehen, sehen wie Hades sich langsam erhebt und auf sie zukommt und dann … und dann…

Tränen füllten ihre Augen. Er mag keine Tränen, hör auf damit!

Doch Hades sagte nichts. Er saß ihr immer noch gegenüber und musterte sie. Sie bemerkte, wie sich sein Gesichtsausdruck wandelte, bis er genervt die Augen verdrehte und laut seufzte.

„Beruhige dich, verdammt! Sieh mich nicht an, als säße dir ein hirnloses Monster gegenüber.“, zischte er wütend, „Ich habe die Verantwortung übernommen, dir mein Wissen zu vermitteln und du würdest Olymp mehr schaden als nützen, wenn ich das nicht gewissenhaft täte.“ Er deutete auf die Tasche, die neben ihr auf dem Boden stand. „Bau deinen Laptop auf, los, wir haben in den nächsten Stunden viel zu tun!“

Für einen Moment starrte sie ihn noch aus geweiteten Augen an. Sie spürte, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste und ihre Wange herunter floss. Sofort wischte sie diese mit dem Handrücken weg und kam seiner Aufforderung nach. Ihr Herz raste unaufhaltsam, sie fühlte den Schlag bis in ihren Hals hinauf, doch etwas gab ihr die Gewissheit, dass sie Hades‘ Worten ein wenig Vertrauen schenken konnte. So paradox ihr das auch vorkam. Es ist in Ordnung, sprach sie sich in Gedanken zu, es ist alles in Ordnung, Äneas ist bei dir! Innerlich schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Sie kannte diesen Kerl gerade mal fünf Minuten und schenkte ihm schon ihr blindes Vertrauen … sie verlor langsam den Verstand.

Für Minuten herrschte wieder die Stille vor, die einzigen Geräusche waren das Summen und Rauschen der Rechner. Hades wartete geduldig, bis sie fertig war, ihren Laptop hochzufahren, dann sah er sie noch einmal durchdringend an. Er brauchte sie nicht aufmerksam machen; seine Blicke waren für sie mit der Zeit fast physisch spürbar geworden.

„Ich verlange nicht von dir, dass du auf mich hörst, aber du solltest meine Warnungen dennoch niemals vergessen.“, begann er. „Ich spreche sie nicht umsonst aus. Manchmal ist es gesünder auf die Ratschläge anderer zu hören, als auszutesten, wie weit man selbst gehen kann. Alle Fehler ziehen Folgen nach sich und manche davon können einem metaphorisch, manche aber auch wörtlich das Genick brechen. Das solltest du stets bedenken.“

Seine Worte hingen in der Luft, wiederholten sich leiser werdend in ihrem Kopf und je länger sie ihn ansah, umso deutlicher wurde die Botschaft, die in seinen hellen Iriden abzulesen war:

Lass dich auf ihn ein und du bist tot.

Du gehörst mir, vergiss das keinen einzigen Moment!

Déjà-vu

Leise stöhnend lehnte sich Persephone mit dem Rücken gegen die Wand und massierte ihre brennenden Oberarme. Sie würde morgen sicherlich mit einem herrlichen Muskelkater aufwachen. Trotz der kleinen Entlastung zitterten ihre Beine immer noch, sodass sie sich geschlagen an der Wand herunterrutschen ließ und mit letzter Kraft nach ihrer Wasserflasche griff, die neben ihr auf dem Hallenboden stand.

In solchen Momenten fing etwas in Persephone an, die Entscheidung zu bereuen, die sie bereits nun vor über einer Woche getroffen hatte. Herakles war ein Sklaventreiber. Ein Unmensch, anders konnte man es wirklich nicht beschreiben. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und leerte die angebrochene Flasche in wenigen Zügen. Manchmal fiel ihr die Wahl des schlimmeren Übels – die frühen Stunden mit Hades oder die Nachmittage mit Herk und Äneas – gar nicht so leicht. Die Arbeit am Computer forderte von ihr höchste Konzentration, Hades legte ein Lerntempo vor, das mit den Recherchearbeiten zuvor nicht zu vergleichen war. Kam sie allerdings bei ihm erst nach einiger Zeit geistig ins Schwitzen, so schaffte der Leutnant das in wenigen Minuten.

Er nahm keine Rücksicht auf ihre erbärmliche körperliche Verfassung oder darauf, dass sie bis vor ein paar Tagen noch ein nervliches Wrack gewesen war. Sie war sich sicher, dass Herakles zumindest eine leise Ahnung davon hatte, was vorgefallen war. Ihre erfolglose Initiative eines Versuchs zur Selbsthilfe war dem Hünen mit Sicherheit im Gedächtnis geblieben, so, wie sie regelrecht vor ihm geflohen war.

Zeigte er damals noch Ansätze von Geduld und Einfühlungsvermögen, so hatte er jetzt nur noch blaffende Befehle und verbale Arschtritte für sie übrig. Ihre einzige Beruhigung war, dass es Äneas nicht besser erging. Einige verschwitzte Strähnen aus dem Gesicht wischend, schaute sie zu ihrem Partner, der von Herk weiterhin gequält wurde. Der Leutnant hatte einen anderen Trainierenden dazu geholt, der nun gegen Äneas im Faustkampf antrat. Ihr Trainer stand am Rand der Matte und brüllte Anweisungen und Verwünschungen im gleichen Umfang. Persephone musste schlucken. Äneas und sie hatten schon fast zwei Stunden an diesem Tag mit Herakles trainiert und das sah man ihnen an – bei ihr war das kein großes Kunststück, aber ihr hochgewachsener Partner war in einer wesentlich besseren, körperlichen Verfassung als sie. Inzwischen waren jedoch auch ihm die letzten Stunden anzusehen und dennoch hielt er tapfer die Deckung oben und versuchte den Tritten und Schlägen des erfahrenen Kämpfers standzuhalten. Seine freien Oberarme und sein Nacken glänzten vom Schweiß und überall erkannte sie gerötete Stellen auf seiner nackten Haut, an denen die Angriffe seines Gegners doch durchgekommen waren. Wahrscheinlich würden sich morgen dort neue blaue Flecke abzeichnen, die sich so zu den ganzen alten gesellen. Kurz schaute sie an sich herunter. Auch ihre Schienbeine waren blau und grün; an ihren Oberkörper wollte sie gar nicht denken. Den Blick in den Spiegel abends vermied sie seit anderthalb Wochen so gut es ging.

Auf der einen Seite befürwortete sie es, dass Herakles ihr keine Sonderbehandlung zukommen ließ … aber zumindest könnte er ein weniger gnadenloses Trainingstempo anschlagen. Und sie vielleicht weniger beleidigen. Bereits am zweiten Tag fing er an, sie „Peach“ zu rufen, weil ihm „Persephone“ zu lang war; die Verbindung zu einer bekannten Spielreihe war ihr erst nach und nach aufgefallen. Sie fand es demütigend, zumal sie seitdem ständig die grinsenden Blicke der anderen Mitglieder im Nacken spürte, wenn Herk sie mit ihrem neuen Spitznamen zu sich rief. Peach kam definitiv direkt nach Kore auf ihrer Liste der Dinge, die sie an diesem verdammten Ort am meisten hasste.

Innerlich grummelnd lehnte sie den Kopf gegen die Wand und verfolgte Äneas‘ Kampf, Herks wütende Kommentare ausblendend, bis der Blick des Leutnants sich auf einmal auf sie heftete. Er deutete auf seine Schülerin und zeigte ihr dann mit der Hand fünf Minuten an, die er ihr noch zum Verschnaufen einräumen würde. Im nächsten Moment beschwerte er sich schon wieder lautstark über Äneas‘ mangelhafte Deckung. Persephone hätte sich am liebsten bockig und jammernd auf dem Boden gewälzt. Was für ein Unmensch! Nein, menschlich war das schon nicht mehr – das hier waren doch alles Roboter, jawohl!

Seufzend wandte sie den Blick ab, doch statt etwas Erfreulicheres zu erblicken, entdeckte sie Ares. Tolle Alternative, schoss es ihr ernüchternd durch den Kopf. Auch er war am trainieren, mit diesem Orpheus, der wohl als etwas besonderes hier bei Olymp galt – zumindest nach Hermes‘ Lobesgesängen zu urteilen, die er Persephone regelmäßig auf diesen Typen sang. Bis auf das eine Mal, als er ihretwegen die Auseinandersetzung mit D hatte, hatte Orpheus mit ihr bisher kein Wort gewechselt. Er schien, was den Kampf anging, talentiert zu sein; aber jeder, der ein Schwert schneller als in Zeitlupe führen konnte, besaß in ihren Augen ein Geschick, das für sie in unerreichbaren Sphären lag. Ansonsten war er ihr relativ egal.

Sie zog den Pfad des Einzelgängers weiterhin vor, auch, wenn Äneas quasi pausenlos an ihrer Seite verweilte. Er war da, wofür sie ihm auch sehr dankbar war, doch seine Anwesenheit brachte keine Geselligkeit mit sich; sie kommunizierten nur das nötigste, was wahrscheinlich zum größten Teil dem Umstand zuzuschreiben war, dass ihre Kenntnisse der Gebärdensprache noch nicht allzu sehr ausgereift waren und es Äneas meist zu mühselig war, alles aufzuschreiben, ganz abgesehen davon, dass sie dazu meistens auch nicht die Geduld besaß, zu warten, bis er seinen Satz zu Papier gebracht hatte. So genossen sie die Anwesenheit des anderen im Stillen. Im Gemeinschaftsraum saß sie stets an einem kleinen Tisch in der Ecke und aß für sich in aller Ruhe, nur einen abschätzenden Blick für die ausgelassenen Grüppchen übrig, die sich bei Fastfood und Aufgewärmten lautstark unterhielten und lachten. Sie war froh, Äneas an ihrer Seite zu haben; der Rest dieser verrückten Organisation konnte ihr allerdings größtenteils gestohlen bleiben.

Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie den Kampf zwischen Orpheus und Ares. Sie hielt nicht viel davon, sich mit Schwertern gegenseitig anzugreifen oder gar einen völlig Fremden töten zu wollen, egal, ob nun mit einer Klinge oder einer Pistole. Es war schwer für sie gewesen, diesen Umstand zu akzeptieren; dass sie alle nur für diesen einen Zweck ausgebildet wurden. Sie hasste es, wenn Herk ihr ein Übungsschwert in die Hand drückte und sie aufforderte, ihn damit anzugreifen. Meistens tat sie das dann mit einem unwohlen Gefühl im Magen und so zaghaft, dass es für ihren Trainer ein leichtes war, ihr das schwere Ding aus dem lockeren Griff zu schlagen. In solchen Momenten fragte Herk sie dann aufgebracht, was sie denn tun würde, wenn ihr ein echter Gegner gegenüber stehen würde.

„Du wärst tot, ehe du um Gnade flehen könntest!“

Sie zuckte immer noch zusammen, wenn dieser Satz fiel, egal wie oft sie ihn bisher nun schon gehört hatte. In ihren Gedanken kam in solchen Momenten ein Bild auf, eine Szenerie, wie irgendjemand auf sie zugerannt kam, in der Absicht sie zu töten. Selbst in Gedanken konnte sie nicht das Schwert in ihren Händen heben, um dem Typen zuvorzukommen und ihn schneller zu erledigen als umgekehrt.

Ares holte in diesem Moment mit seiner Klinge weit aus und lies sie von oben hinab auf Orpheus schnellen. Im Reflex wollte sie schon die Augen schließen, doch da wich der Angegriffene bereits elegant aus, drehte sich um die eigene Achse und griff selbst an. Ares lenkte die Bahn seines Schwertes ab und blockte Orpheus‘ Angriff in einer fließenden Bewegung keine Sekunde später und das Klirren des Metalls war deutlich in der Halle zu hören.

Persephone sog die Luft tief ein und weitete erstaunt die Augen. Die Zwei kämpften definitiv auf einem viel höheren Niveau als die meisten hier. Sie musste zugeben, dass dieser Kampf eine gewisse Faszination auf sie ausübte. Bei aller Kraft und Schnelligkeit war da etwas in den Bewegungen der beiden Männer, das sie in ihren Bann zog. Etwas Weiches, was in so einem deutlichen Kontrast zu dem Tödlichen stand, das sie normalerweise mit dem Schwertkampf verband. Sie blendete ihre Umgebung aus und konzentrierte sich nur noch auf die Bewegungen der Kämpfenden. Sie sah, wie sich Ares‘ Muskeln am Oberarm spannten, wenn er sein Schwert gegen das von Orpheus drückte, sah, wie der ehemalige Springer seine Füße mit einer Leichtigkeit setzte, wenn er seinem Gegner auswich, die sie ans Tanzen erinnerte. Das war kein Kampf in ihren Augen. Es war etwas viel ästhetischeres und mit einem Mal überkam sie der Neid. Neid und etwas, das sie nicht zuordnen konnte. Sie zitterte innerlich und gleichzeitig war ihr heiß und kalt.

Sie hätte den beiden noch stundenlang zusehen können; umso enttäuschter war sie, als Orpheus und Ares im nächsten Moment in gemeinsamer Übereinstimmung die Schwerter sinken ließen und von der Matte traten. Orpheus lächelte zufrieden und sagte etwas, das sie von ihrer Position aus nicht verstand. Auch Ares fing an zu grinsen und in einer beiläufigen Bewegung griff er den Saum seines Shirts und zog sich im nächsten Moment das verschwitzte Kleidungsstück über den Kopf aus.

Auch wenn Persephone es gewollt hätte, sie hätte den Blick nicht abwenden können. Ihre Augen schienen mit Ares‘ Bauchmuskeln verwachsen zu sein und sie betete, dass der Blonde ihr unverhohlenes Starren nicht bemerkte. Bei dem Gedanken, dass er sie nun mit seinen hellblauen Augen ansehen würde, schoss ihr das Blut in den Kopf. Etwas in ihrem Verstand registrierte fassungslos diese absolut dämliche Reaktion ihres Körpers auf diesen unmöglichen Typen, doch dieser Teil hatte gerade überhaupt keine Kontrolle über sie.

Vergiss das Schlucken nicht, sonst fängst du noch an zu sabbern, zischte er ihr schnippisch zu und gab sich gezwungenermaßen geschlagen. Ihr Glück war es, dass der Moment des freien Einblicks auf Ares‘ Oberkörper nur wenige Sekunden andauerte, bis der Blonde sich ein neues Shirt angezogen und sich abgewandt hatte.

Sie blinzelte schnell, schluckte und fuhr sich fahrig über ihre glühenden Wangen. Am liebsten hätte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht gekippt, doch ihre Flasche war nun endgültig leer. Wie peinlich…

Aus den Augenwinkeln sah sie jemanden die Halle betreten und sogleich wandte sie ihren Kopf dem Neuankömmling zu, dankbar um die Ablenkung. Hermes‘ blauer Haarschopf war unverkennbar. Er schaute sich kurz um und lief dann zielstrebig auf Ares und Orpheus zu. Er schien sie nicht weiter bemerkt zu haben. Ares begrüßte den Kleineren mit gewohnt breiten Grinsen und einem freundschaftlichen Handschlag, dass Persephones Augenbraue ungewollt nach oben wanderte. Sie wusste, dass Hermes ein guter Freund von Ares war, was sie jedoch absolut nicht nachvollziehen konnte. Sie mochte den quirligen Schützen, wenn sie es genau nahm, war er das einzige Mitglied neben Äneas, dem sie hier etwas Sympathie abgewinnen konnte; was Hermes allerdings an diesem aufgeblasenen Idioten als positiv auffasste, war ihr schleierhaft – abgesehen von einem verdammt gut gebauten Körper, fügte eine leise Stimme in ihr träumerisch hinzu und diese Erinnerung jagte kurz wieder einen heißen Schauer über ihre Wangen. Verärgert verdrängte sie ihre verräterischen Vorstellungen.

In diesem Moment entdeckte Hermes sie doch in ihrer Hallenecke sitzend und winkte ihr freudestrahlend zu. Um ein fröhliches Lächeln bemüht, erwiderte sie den Gruß; den Blick, den Ares ihr dabei zuwarf, versuchte sie zu ignorieren. Als sein musternder Blick allerdings auch nach Sekunden noch an ihr haftete, sah sie giftig zurück. Was für ein Problem hatte dieser Kerl denn nun schon wieder? Sein Ausdruck wandelte sich, je länger ihr stummes Gefecht anhielt, bis er sich mit ungläubigem Blick an Hermes wandte, zu ihm etwas sagte und dabei auf sie deutete. Hermes antwortete nur mit einem verwirrten Schulterzucken. Ares‘ Reaktion war ein fassungsloses Kopfschütteln und nun riss Persephones Geduldsfaden endgültig. Was erlaubte er sich? Nun war er wirklich zu weit gegangen!

Mit einem energischen Satz war sie auf den Beinen und wollte schon wutschnaubend die Halle durchqueren, als Herks bellende Stimme jeden Anwesenden zusammenzucken ließ. Zuerst dachte sie, dass der Einhalt gebietende Befehl ihr gegolten hatte, doch als sie sich in diesem Moment umdrehte und zu ihrem Trainer zurücksah, erkannte sie den Grund für seinen donnernden Ausruf. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Faustschlag in die Magengegend abbekommen.

Äneas‘ Trainingspartner stand wie versteinert da, die Linke noch leicht erhoben, und starrte aus geweiteten Augen auf den am Boden kauernden jungen Mann. Für einen Wimpernschlag schien die Welt still zu stehen; Zeit genug, damit sich die Szene in ihre Netzhaut einbrennen konnte, ehe Bewegung in alle Anwesenden kam und Herk auf Äneas zustürzte, den Anderen dabei unachtsam zur Seite stoßend. Auch Persephone erwachte augenblicklich aus ihrer Trance und rannte zurück. Als sie näher kam, erkannte sie, dass Äneas nach vorne gebeugt auf der Matte hockte und röchelnd mit beiden Händen seinen Hals umfasste. Sein Gesicht war kreidebleich und er hatte Augen und Mund weit aufgerissen. Er hustete und würgte immer wieder blutigen Speichel hervor, der sich auf dem groben Stoff der blauen Matte unter ihm sammelte.

Persephone glaubte ihr Herz aussetzen zu spüren und atemlos hockte sie sich neben Äneas, eine Hand auf seinen bebenden Rücken legend. Herk saß vor ihm und hielt ihn an den Schultern, ihm beruhigende Worte zuflüsternd. Bei dem Geräusch seines pfeifenden Atems zog sich alles in ihr zusammen, am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten.

„Ganz ruhig“, sprach Herakles auf den Verletzten ein. „Versuche, langsam ein und aus zu atmen.“ Doch Äneas schüttelte nur heftig mit dem Kopf und spuckte wieder keuchend Blut. Persephone sah, wie Herk ernst die Lippen aufeinander presste und wieder fühlte sie einen brennenden Schlag, der ihren ganzen Körper lähmte. Sie wühlte in ihren aufgebrachten Gedanken nach etwas, das sie tun könnte, womit Äneas geholfen wäre, doch ihr fiel nichts ein. Hilflosigkeit fesselte sie und trieb ihr die Tränen in die Augen.

„Es … es tut mir leid, das wollte ich nicht!“, stammelte jemand in ihrem Rücken. Sie drehte den Kopf zu der Geräuschquelle. Der andere junge Mann, dessen Name Persephone in diesem Moment nicht einfallen wollte, war ein paar Schritte herangetreten und beinahe genauso bleich wie Äneas. Angst und Schuldgefühle zeichneten sein Gesicht.

„I-ich habe aus Reflex gehandelt-“

„Ich handle auch gleich aus Reflex!“, knurrte Herk düster und sah wütend zu dem Mann hinauf. „Keine Schläge in Halsbereich und Lendengegend – sind deine Anatomiekenntnisse so schlecht oder rede ich undeutlich?“

Sein Gegenüber zuckte zusammen und sah eingeschüchtert zur Seite. Er murmelte etwas, das Persephone nicht verstand, worauf sich Herk ruckartig erhob und sich vor ihm aufbaute.

„Du solltest zusehen, dass du schnell aus meinem Blickfeld verschwindest! Mach dich nützlich und gib den Ärzten Bescheid, los!“

Der junge Mann wurde noch blasser, beeilte sich dann aber zu nicken und Herks Aufforderung nachzukommen. Der Leutnant kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern drehte sich sofort wieder zu Äneas um, dessen Atmung immer flacher wurde. Seine Schultern, die Persephone in ihrer Ratlosigkeit weiterhin umschloss und hoffte, ihm so einen gewissen Halt zu bieten, bebten vor Anspannung. Mit jedem seiner Versuche eines Atemzugs, zog sich auch ihr Herz schmerzhaft zusammen. Wieder donnerte Herks Stimme durch die Halle und rief diesmal nach Orpheus, der auch gleich darauf bei ihm stand.

„Hilf mir! Die verdammten Quacksalber brauchen mir zu lange; bis die ihre Ärsche hierhin bemüht haben, ist es zu spät“, knurrte der Ältere, hockte sich an Äneas‘ Seite und legte sich den einen Arm seines Schülers über die Schulter. Schweigend tat es der Angesprochene ihm gleich, wobei er Persephone vorsichtig zur Seite schob und an Äneas‘ andere Seite trat. Zusammen zogen sie ihren Partner auf die Beine und liefen sogleich mit ihm aus der Halle.

Persephone starrte ihnen hilflos hinterher und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Ohne wirklich bewusst drüber nachzudenken kam sie wieder auf die Beine und eilte hinter Herk und Orpheus hinterher, den Blick wie besessen auf Äneas‘ Rücken fixiert. Ihn einen Moment aus den Augen zu verlieren, war für sie ein unvorstellbar schreckliches Szenario. Sie spürte, dass sie nicht alleine war; neben ihr liefen noch zwei weitere Personen, die sie nach einem kurzen Seitenblick als Ares und Hermes identifizierte. Letzterer lief dicht neben ihr und warf ihr immer wieder einen prüfenden Blick zu, im Nachhinein war sie sich auch sicher, dass er mit ihr gesprochen hatte, doch sie konnte sich an kein einziges Wort erinnern. Ihre Beine trugen sie die Gänge entlang, immer hinter Äneas hinterher. Sie empfand ihren eigenen Atem als unerträglich laut. Vor ihnen im Gang tauchte eine große Doppeltür auf, dessen Flügel sich öffneten und von zwei Männern in weißen Kitteln aufgehalten wurden. Dahinter konnte sie einen ausgeleuchteten Tisch und weitere Ärzte ausmachen. Herk und Orpheus trugen ihren Partner hindurch, direkt auf den Tisch zu.

Dann schnappten die Türen zu und gleichzeitig verschloss sich auch etwas in Persephone. Wieder fühlte sich die Zeit wie eingefroren an, das Deckenlicht schien gedämmter als wenige Sekunden zuvor und jedes Geräusch um sie erstarb. Sie starrte auf die Türen wie in einem Tunnelblick und atmete bewusst ein und aus, als fürchte sie, sie könne es im nächsten Moment vergessen. Sie wusste, dass sie nicht den Raum hinter den Türen betreten durfte, nicht jetzt, und doch war da etwas rebellisches in ihr, das auf die Regeln scheißen wollte, nur um die Gewissheit zu erhalten, was nun mit Äneas passieren würde.

Sie fing an zu zittern, erst innerlich, dann an den Händen und zuletzt an den Knien und Schultern und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen und ein Schrei in ihr anwuchs, mit dem sie all ihre Hilflosigkeit und Wut über sich selbst herauslassen wollte. Ein letztes Mal wollte sie tief Luft holen, als sich auf einmal eine Hand sanft auf ihre Schulter legte. Obwohl die Berührung unerwartet kam, fuhr sie nicht erschrocken herum, sondern sah nur kurz zurück in Hermes‘ mitfühlendes Gesicht und in seinen Mundwinkeln hing ein kleines Lächeln, so, als wolle er der ganzen Situation dadurch einen Hauch Leichtmut verleihen. Persephone ließ sich nicht anstecken, ihr Gesicht blieb weiterhin emotionslos. Sie steckte immer noch halb in ihrem Schock und nur langsam trieb ihr kräftig pochender Herzschlag wieder die Zeit um sie herum an.

Die Türen hinter ihr öffneten sich nach einer Minute wieder und ruckartig sah Persephone sich zu ihnen um. Orpheus und Herakles machten auf sie keinen glücklichen Eindruck; der ehemalige Springer ging schweigend an ihr vorbei, musterte sie kurz im Gehen von der Seite und wechselte dann ein knappes Wort mit Ares, der ihm gleich darauf den Gang hinab folgte. Herakles wirkte blass und erschöpft und auch er machte den Anschein, als wolle er nur schleunigst weg von dieser Station. Ihr Hals zog sich von neuem langsam vor Angst zu.

„Was ist mit ihm?“, fragte sie leise und Herk bedachte sie mit einem Blick, der ihre Kehle noch weiter zuschnüren ließ. Müde hob ihr Lehrer die Schultern.

„Die Ärzte machen ihn nochmal auf, sie vermuten, dass die Naht an der Luftröhre durch den Schlag wieder aufgegangen ist, oder so ähnlich. Mehr weiß ich auch nicht“, fügte er entschuldigend hinzu, als er ihre geweiteten Augen sah.

Persephone schluckte und presste die zitternden Lippen aufeinander. Sie hörte Herk tief seufzen, dann fuhr sich der Hüne über die kurzen Haare und setzte sich in Bewegung.

„Tja, ich denke, für heute ist das Training gelaufen.“

Er war fast an ihr vorbeigetreten, da griff sie hastig nach Herks Unterarm, um ihn aufzuhalten.

„Wann kann ich denn zu ihm?“, fragte sie und hoffte auf eine erlösende Antwort, doch Herakles enttäuschte sie mit einem entmutigenden Schulterzucken.

„Ich bin kein Arzt“, entgegnete er müde und befreite sich sanft aus ihrem halbherzigen Griff. „Lenk dich ab, geh vor die Tür.“ Er sah kurz zu Hermes, der weiterhin neben ihr stand. „Lass dich von dem Schlumpf hier eskortieren und kauf dir was Schönes. Du hilfst Äneas nicht, wenn du vor dieser Tür dein Lager aufschlägst.“

Persephone wollte protestieren, doch da hatte sich Herk schon mehrere Schritte von ihr entfernt, dass sie ihm nur noch hinterher schauen konnte. Etwas in ihr gab diesmal ungewöhnlich schnell auf, doch ihr fehlte die Kraft, sich darüber zu wundern oder aufzuregen. Sie fühlte sich müde und seufzend strich sie sich die Haare hinter die Ohren.

„Komm“, sagte Hermes dann auf einmal und verwundert musterte sie ihn. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was er mit seiner Aufforderung gemeint hatte.

„Du musst das nicht tun“, fing sie an und schlang sich die Arme um den Bauch. Herks Anweisung Hermes gegenüber war ihr äußert unangenehm. In der Befürchtung, dass man ihr ihre Gefühle wieder an der Nasenspitze ablesen konnte, versteckte sie sich hinter einem entschuldigenden Lächeln. „Herk hat das nicht ernst gemeint. Ich bin auch viel zu müde, ich möchte nur noch schlafen.“ Sie schaute prüfend in Hermes‘ Gesicht, doch er sah nur skeptisch zurück. Sekunden verstrichen in bedrückender Stille.

„Mir geht es gut. Wirklich!“, fügte sie nachdrücklich hinzu und sie zog ihre Arme noch enger um sich, doch der Ältere ließ nicht locker. Kurzerhand trat er auf sie zu und zog sie sanft am Oberarm den Gang hinab. Beinahe reflexartig schaute sie noch einmal über die Schulter zurück zur Tür der Krankenstation, doch da merkte sie, wie Hermes‘ Griff an Festigkeit zunahm.

„Einsamkeit ist das letzte, was du jetzt brauchst“, sagte er und bedachte sie mit einem mahnenden Blick, der so gar nicht in sein sonst so freundliches Gesicht passen wollte. „Du wirst dich jetzt umziehen gehen und ich hole dich in zehn Minuten wieder ab. Dann gehen wir zusammen ein wenig raus, und bringen dich auf andere Gedanken. Keine Widerrede!“

Sofort klappte Persephone ihren Mund wieder hinzu und ließ sich schlussendlich seufzend mitziehen. Sie gab in letzter Zeit viel zu schnell auf…
 

Es war ein merkwürdiges Gefühl, die Treppenstufen hinauf zu gehen, die zum Parkdeck und dann unweigerlich an „die Oberfläche“ führten und erst jetzt wurde Persephone bewusst, wie lange sie tatsächlich nicht mehr „dort oben“ gewesen war. Es lag Wochen zurück, welche sich wie Monate anfühlten, dass sie regelmäßig mit Hermes zu dem kleinen Schießstand ein Viertel weiter gegangen war; und nun trat sie wieder mit ihm an ihrer Seite ins Sonnenlicht. Irgendwie war er immer da, wenn sie Olymp für kurze Zeit verlassen durfte und das gab ihr eine gewisse Festigkeit. Vielleicht hätte sie sich allein gar nicht auf die Straße getraut; die Vorstellung ließ sie schaudern.

Der Tag war für den November hell und freundlich. Überall türmte sich in den Straßenrinnen der weggeschaufelte Schnee und auf den Gehwegen war in den letzten Tagen so viel Salz gestreut worden, dass es bei jedem Schritt knirschte. Von oben fielen unzählige Schneeflocken auf die Straßen herab, sodass viele der ihnen entgegenkommenden Leute mit Regenschirmen unterwegs waren oder sich unter ihren tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen vor der Kälte versteckten.

Auch Hermes zog neben ihr fröstelnd die Schultern hoch und rückte seine schwarze Wollmütze zurecht, unter der seine auffälligen blauen Haare kaum noch zu sehen waren. Persephones Wangen waren nach kurzer Zeit taub und gerötet von dem leichten Wind, der durch die Häuserschluchten wehte. In stummer Übereinkunft hing jeder seinen eigenen Gedanken nach, Hermes warf ihr nur ab und zu einen prüfenden Blick zu, ansonsten gewährte er ihr, sich von ihrer Umwelt für einen Moment abzukapseln. Immer noch spukten ihr die Bilder von Äneas im Kopf herum, sein schmerzverzerrtes Gesicht, die Angst in seinen Augen und immer wieder hörte sie das würgende, röchelnde Geräusch, der verbitterte Versuch, Luft zu holen. Die Kombination all dieser Eindrücke ließ sie schwindeln. Am meisten jedoch verwirrte sie, dass ihr dieses Gefühl der Angst, speziell diese Situation so vertraut vorkam, eine Art Déjà-vu, und wieder stand es in Verbindung mit Äneas. Es war schlicht die Angst, ihn zu verlieren, ihn Sterben zu sehen, und eine innere Stimme, die darum flehte, sie dieses Gefühl nicht schon wieder durchleben lassen zu müssen. Sowas fühlte man doch nicht für einen Menschen, den man erst wenige Tage kannte. Oder? Nachdenklich runzelte sie die Stirn.

„Persephone?“

Hermes‘ Stimme zerrte sie aus ihrem Kokon hinaus in die Realität. Blinzelnd schaute sie auf und sah ihn fragend an. Der Ältere sah besorgt zurück.

„Du denkst viel über ihn nach“, stellte er ruhig fest, woraufhin sie etwas verlegen den Blick senkte. Warum war sie für jeden nur so ein offenes Buch? Hermes bemerkte ihren bedrückenden Ausdruck und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. Ohne weitere Vorwarnung setzte er ihr ihre Kapuze auf den Kopf und tätschelte ihr diesen liebevoll.

„Mach dir keine Sorgen, der wird schon wieder. Ehe du dich versiehst, wird er wieder auf den Beinen sein, da bin ich mir sicher“, sagte er und grinste zuversichtlich. Bei dem Anblick seines strahlenden Gesichtes wurde Persephone schlagartig heiß und sie hoffte, dass er ihre feuerroten Wangen der Kälte zuschreiben würde. Zaghaft lächelte sie zurück und beeilte sich dann, den Blick abzuwenden.

„Danke“, brachte sie kleinlaut hervor und ihre Lippen verzogen sich weiter zu einem Grinsen. Sie war froh, dass Hermes sie begleitete. Er strahlte etwas Positives aus, etwas Beruhigendes, das sie sehr genoss. Obwohl sie gedacht hatte, dass Hermes es nicht gehört hatte, legte er ihr im nächsten Moment schmunzelnd den Arm über die Schultern und zog sie im Gehen etwas zu sich heran. Zuerst war sie überrascht und auch leicht erschrocken über die plötzliche Nähe zu ihm, doch nach wenigen Sekunden entspannte sie sich und ließ die Berührung zu. Die Wärme auf ihren Wangen breitete sich zusehends auf ihrem ganzen Gesicht aus.

„Also“, begann Hermes dann auf einmal enthusiastisch. „Wo willst du als erstes hin? Schuhladen, Modelabel, Drogeriemarkt?“

Persephone sah ihn schief an und konnte sich nur schwer ein Lachen verkneifen.

„Du willst tatsächlich mit einer Frau shoppen gehen? Freiwillig?

Hermes zog nur unschuldig die Schultern hoch. „Wenn es dir hilft, auf andere Gedanken zu kommen? Sorgenfalten stehen dir nicht, weißt du?“, entgegnete er und zwinkerte ihr frech zu.

Musternd sah sie ihn an und unweigerlich wanderte ihre Augenbraue in Richtung dunkelbraunen Haaransatzes.

„Dir ist schon bewusst, dass ich dich gnadenlos zum Tüten schleppen benutzen werde?“, entgegnete sie genauso frech. In diesem Moment blitzte etwas in Hermes‘ Augen auf und mit einem nicht deutbarem Ausdruck auf den Lippen beugte er sich etwas zu ihr hinab.

„Nun, vielleicht steh ich ja drauf, von anderen benutzt zu werden“, raunte er mit tiefer Stimme, die Persephone augenblicklich beim ersten Ton einen Schauer über den Rücken jagte. Sie glaubte sich verhört zu haben und aus weiten Augen sah sie zu ihm hoch. War das gerade eine Anspielung? Ein Flirtversuch? In sein Gesicht war wieder sein vertrautes Jungenlächeln zurückgekehrt. Sie suchte noch nach einer passenden Erwiderung, als Hermes auf einmal vor einem Geschäft stehen blieb und in die Schaufenster sah.

„Also, fangen wir an!“, sagte er nach einem Augenblick vergnügt, drehte sie in Richtung Eingang und schob sie in den riesigen Laden einer der unzähligen Modeketten, die es in Tokyos Innenstadt zuhauf gab.
 

Es fiel ihr zu Beginn schwer, sich auf die erstaunliche Auswahl an Kleidern, Hosen und Oberteilen zu konzentrieren. Hermes‘ merkwürdige Aussage spukte ihr weiterhin im Kopf herum, sodass sie immer wieder verstohlene Blicke zu ihm herüber warf; dass er immerzu in ihrer Nähe blieb, machte es ihr nicht leichter, ihn und seine blöden Anspielungen auszublenden. Der Gedanke, dass Hermes an ihr Interesse zeigen könnte, ließ ihr Herz unangenehm schneller schlagen. Sie mochte ihn, ja, aber sie wollte keine Beziehung. Sie wollte niemanden lieben, sie wollte nicht einmal einen Mann in ihrer unmittelbaren Nähe haben. Sie konnte sich nicht vorstellen, irgendeinen Kerl an sich ranzulassen, zuzulassen, dass er sie in den Arm nahm - nicht jetzt! Dass Hermes ihr den Arm um die Schulter gelegt hatte, war viel mehr, als sie wirklich auf Dauer wollte und sie war sich sicher, dass sie diese Nähe nur deshalb zugelassen hatte, weil sie wusste, dass er es freundschaftlich gemeint hatte - zumindest hatte sie das gedacht. Aber vielleicht hatte er sie auch einfach nur ablenken wollen, vielleicht interpretierte sie einfach zu viel in diesen einen, dämlichen Satz hinein?

Sie blies die angehaltene Luft verärgert aus und verfluchte sich selbst für ihre Gedanken. Nicht jeder Mann war wie Hades, sie sollte also nicht gleich die Flucht antreten, wenn jemand versuchte, ihr näher zu kommen. Dennoch blieb ein beklemmendes Gefühl zurück. Sie schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, so ihren übervorsichtigen Selbstschutz zum Schweigen zu bringen, und konzentrierte sich auf die Shirts, die vor ihr auf der Kleiderstange hingen.

Sie schaffte es tatsächlich, sich für die aktuelle Mode soweit zu begeistern, dass sie gar nicht mitbekam, wie Hermes plötzlich neben ihr auftauchte. Erst, als er sie leise ansprach, zuckte sie zusammen und stolperte instinktiv ein paar Schritte rückwärts, geradewegs in eine junge Frau hinein, die hinter ihr dieselben Shirts begutachtet hatte, wie sie. Die Fremde zischte etwas, woraufhin sich Persephone schnell entschuldigte und dann wieder einen verunsicherten Blick zu Hermes warf. Dieser sah sie nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Alles in Ordnung?“, fragte er und trat einen Schritt auf sie zu, doch auch diesmal ging Persephone wieder auf Abstand, ehe sie wirklich über ihr Verhalten nachdenken konnte.

„J-ja! Alles super“, stotterte sie und ließ ihren Blick nervös umherschweifen, ohne ein festes Ziel zu haben. Der Ausdruck des Älteren schwenkte ins Verwirrte um.

„Bist du dir sicher? Du-“

Sie beeilte sich zu nicken und hob die Mundwinkel zu einem gezwungenen Lächeln. „Doch, ja, mir geht es gut, ich…“ Sie holte Luft und dachte verzweifelt über einen Ausweg nach. Ihr Herz pochte bis in ihren Hals hinauf, und in ihrem Kopf überschlugen und rempelten sich die Gedanken in einem einzigen Wirrwarr an. Ihre Augen huschten nervös hin und her. Hinter Hermes, in etwa 15 Meter Entfernung hing ein grün leuchtendes Notausgangschild und sie ertappte sich dabei auszurechnen, wie lange sie wohl bräuchte, um dorthin zugelangen und die Feuertreppe hinunter zu hechten. Doch bei ihrem Glück würde sie bei der Aktion bestimmt über die Stufen stolpern und sich langlegen. Aber ein Versuch war es doch zumindest wert, oder…?

„Persephone!“

Beim Klang ihres Namens ruckte ihr Kopf wieder etwas nach rechts und blieb an Hermes‘ verwirrten Augen hängen. Sie fühlte sich mit jeder Sekunde unwohler. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie mitten im Satz abgebrochen hatte und mit offenem Mund das Notausgangsschild angestarrt hatte. Sie gab sich innerlich eine Ohrfeige, um wenigstens für den Moment wieder klar denken zu können. In dem Augenblick, als Hermes wieder nachfragen wollte, spuckte ihr Hirn dann doch etwas Nützliches aus.

„Ich muss auf die Toilette!“, sprudelte es aus ihr heraus und lief dann auch gleich an Hermes vorbei; dass sie ihm die Worte beinahe ins Gesicht geschrien hatte, ignorierte sie geflissentlich und eilte mit imaginären Scheuklappen zum rettenden WC, das sich zu ihrer Erleichterung auf dieser Etage des Kaufhauses befand.

Als sie die Tür aufstieß, wehte ihr sofort der typisch schwere Geruch von süßem Lufterfrischer entgegen, der auf öffentlichen Toiletten stets zugegen war. Das Licht wurde von den pfirsichfarbenen Kacheln an Wänden und Boden reflektiert und tauchte den ganzen Vorraum in einen gelben Ton. Ihre Hände zitterten, als sie den Wasserhahn aufdrehte und eiskaltes Wasser über ihre Finger rinnen ließ. Kurz schaute sie in den Spiegel vor sich und erblickte eine noch blassere Ausgabe ihres Gesichtes, das auch sonst den Anschein machte, als wäre Sonne ein Fremdwort für seine Besitzerin. Vielleicht trugen auch nur die über dem Waschbecken angebrachten Neonröhren zu diesem Umstand bei. Ihr war es gleich, sie sah so oder so zum Fürchten aus. Sie senkte den Blick wieder, beugte sich hinunter und spritzte sich zwei, dreimal Wasser gegen die Wangen.

Herrje, was war nur los? Was sollte das gerade eben?

Sie richtete sich wieder auf und schaute sich selbst im Spiegel fragend an, doch auch ihre Reflektion fand keine Erklärung auf ihre absurde Reaktion Hermes gegenüber – ja, absurd traf es wohl ganz gut. Wie kam sie nur auf den Gedanken, dass er auf einmal aus heiterem Himmel etwas von ihr wollte? Sie hörte ihre paranoiden Flöhe husten, so sah das aus! Und was machte sie? Schreit ihn an und rennt vor ihm weg! Sie sah sich selbst mit tadelnd zusammengezogenen Brauen an, doch lange hielt dieser Blick nicht – schlussendlich schnaufte sie geschlagen und raufte sich die Haare. Das war alles so unsagbar peinlich! Sie hatte sich zur Idiotin gemacht.

„Dusselige Kuh“, sprach sie über sich selbst das Urteil und besah sich erneut im Spiegel, um ihre Haare wieder etwas zu glätten, als sie auf einmal an der Schulter angetippt wurde.

Mit leichter Verwunderung drehte sie sich um, die sich jedoch sofort zu Verwirrung und einem unwohlen Gefühl steigerte, als sie in zwei fremde Augen starrte, dessen Lider so weit aufgerissen waren, dass sie befürchtete, sie könnten ihrer Besitzerin im nächsten Moment aus dem Gesicht fallen. Beide Frauen sagten für Sekunden nichts, dann brach Persephones Gegenüber so plötzlich in Tränen aus, dass sie erschrocken zurückwich.

„Izzy?“, schluchzte die Fremde und schlug sich eine Hand vor den bebenden Mund. Persephone brachte kein Wort über die Lippen, sie konnte die junge Frau nur anstarren. „Du bist es, oder?“

Sie nahm die Hand wieder herunter und nun sah Persephone ein erleichtertes Lächeln, das sie noch mehr verstörte. Die Fremde streckte eine Hand in ihre Richtung aus, vor der sie noch weiter zurückwich. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf herrschte sie an, den Arm des Mädchens zu packen und ihn ihrer Besitzerin auf den Rücken zu drehen, sollte sie es wagen, sie anzupacken. Es verwunderte sie selbst etwas, dass sie bereits jetzt so einen paranoiden Selbsterhaltungstrieb entwickelt hatte – Herk wäre bestimmt stolz auf seine Peach…

„Izzy, sag etwas, bitte!“, flehte die Fremde, doch ehe sie einen Schritt näher auf sie zu machen oder Persephone etwas erwidern konnte, rückte eine zweite Frau in Persephones derzeit fokussiertes Blickfeld und zog die andere von ihr weg.

„Yuki, komm zu dir!“, zischte sie und zwang die Angesprochene, sie anzusehen. „Das ist sie nicht, Izumi ist tot!“

„Aber…“ Yuki ließ einen hilflosen Blick zwischen Persephone und ihrer Freundin schweifen. Die Tränen liefen ihr immer noch über die Wangen. Die andere packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie kurz und energisch. Sie hatte die Lippen ernst aufeinander gepresst, doch ihrem Gesicht sah man an, dass auch sie mit den aufkommenden Emotionen zu kämpfen hatte.

„Reiß dich zusammen, sie ist es nicht!

Zum ersten Mal richtete die Fremde ihren Blick auf Persephone, vorsichtig, zögernd, als habe sie Angst vor dem, was sie sehen könnte. Eine Sekunde hielt sie dem Augenkontakt mit Persephone stand, dann schaute sie wieder weg und zog ihre Freundin in Richtung Ausgang.

„Verzeihen Sie bitte, sie steht etwas neben sich“, sagte sie schnell und beeilte sich, an Persephone vorbei zu kommen. Yukis Blick haftete immer noch an ihr und sie fühlte sich wie ein Aussätziger unter Adligen, den man voller Verwunderung anstarren musste, weil er nicht ins Bild passen wollte.

Die Tür öffnete und schloss sich und dann war sie allein, starrte weiterhin die elfenbeinweiße Tür an und lauschte ihrem eigenen Herzschlag, den sie im Hals pulsieren spürte. Und immer wieder hörte sie die Stimmen der beiden Frauen.

Izzy.

Izumi.

Izumi ist tot.

Ihre Lunge begann zu brennen, dass sie dem Reflex nachgab und tief einatmete. Hatte sie vergessen Luft zu holen? Ihr Puls beschleunigte sich wieder.

Izumi ist tot. Yukis verweintes Gesicht tauchte wie ein Nachbild vor ihr auf. Etwas war in ihrem Blick zerbrochen, als die andere Frau diesen Satz geäußert hatte. Etwa ihre kurzzeitig aufgeblühte Erleichterung? Persephone hätte sagen sollen, dass sie nicht diese Izumi war. Dass sie keine Izumi kannte. Sie drehte den Kopf in Richtung Spiegel und sah nur sich, keine Izumi. Nur Persephone. Natürlich.

Aber … war sie wirklich nur…?

Wer bin ich?

Angst packte sie und zog alles in ihr zusammen. Sie stolperte vor ihrem eigenen Spiegelbild zurück, das ihr plötzlich wie eine Fremde vorkam, bis sie die Klinke der Tür in ihrem Rücken spürte und sie diese hastig aufzog. Sie hatte die Tür hinter sich noch nicht ins Schloss zurückfallen gehört, da war sie schon in Hermes hineingelaufen, der sie mit vorsichtigem Griff daran hinderte, hinzufallen.

„Was ist los mit dir?“, fragte er. „Du bist leichenblass.“

„Ich will nach Hause!“

Hermes zog verwirrt die Stirn kraus und musterte sie.

„Ist etwas passiert? Fühlst du dich unwohl?“

„Bitte!“ Sie sah ihn flehend an. Alle Hirngespinste von vorhin waren vergessen, jetzt war sie sogar froh, in seinen Armen etwas Zuflucht zu finden. Sie konnte zwar nicht vor ihren eigenen Gedanken davonlaufen, aber in seiner Nähe hatte sie das Gefühl nicht ganz so schnell den Verstand zu verlieren. Er war Teil ihrer aktuellen Welt, an ihm konnte sie nicht zweifeln, er war real, und das gab ihr Sicherheit.

„Bring mich bitte weg von hier, ich will einfach nur nach Hause!“

Vergessen und Erinnern

Obwohl Persephone ihre Zimmerdecke durch die vorherrschende Dunkelheit nicht sehen konnte und ihr durchaus bewusst war, dass sie dort eh nichts interessantes entdeckt hätte, starrte sie dennoch zu ihr hinauf, kaute auf ihrer Unterlippe und ließ ihre Gedanken mit stoischer Verbissenheit rotieren. Sie hatte nicht auf die Uhr geachtet, aber sie vermutete, dass sie seit mindestens zwei Stunden schon so auf ihrem Bett lag und nachdachte.

Hermes war ihrer Bitte ohne weiteres Fragenstellen nachgekommen und hatte sie auf dem schnellsten Weg nach Olymp zurückgebracht. Dort angekommen hatte sie ihn einfach vor ihrem Zimmer stehen gelassen und ihm die Tür ohne ein Wort der Erklärung vor der Nase zugeschlagen. Sie war sich sicher, nun hatte sie ihn endgültig vergrault. Oder zumindest so weit verunsichert, dass er es sich das nächste Mal dreimal überlegen würde, sie auch nur anzusprechen.

Seufzend tastete Persephone im Dunkeln nach ihrem Kissen und drückte es sich, über die Augen gelegt, gegen die pochenden Schläfen. Ihr Leben war seit zweieinhalb Stunden wieder ins Chaos zurückgeschubst worden. Sie hätte so gerne aufgehört, über diese dämlichen Worte dieser noch dämlicheren Frauen auf der Toilette dieses dämlichen Kaufhauses nachzudenken, doch ihr Verstand ließ sich nicht abschalten. Nein, ihr kam es so vor, als wäre er erst jetzt, nach Monaten, endlich wieder wachgerüttelt worden und ständig stellte er ihr dieselbe Frage:

Wer bin ich?

Eigentlich simpel, und eigentlich mochte sie auch intuitiv auf sie antworten, wäre da nicht etwas in ihr, das sie immer wieder innehalten ließ. Es war für sie nie die große Enthüllung gewesen, dass sie nicht als Persephone geboren sein konnte. Ihr war irgendwo schon immer bewusst gewesen, dass sie den Namen erst von Hades und Zeus bekommen hatte, aber ihr war nie der Gedanke gekommen, zu hinterfragen, wer sie vor Olymp gewesen war. Sie hatte keinen kompletten Filmriss, der alles verschluckte, was vor ihrer Zeit in der Organisation lag; da waren Erinnerungen an Schulzeit, an Urlaube, an Gewohnheiten und Hobbies, alles schien vollständig da zu sein. Die Tatsache, dass sie sich an keine Familienmitglieder oder ihre eigene Existenz erinnern konnte, war ihr dagegen nie aufgefallen.

Bis sie mit einer Toten verwechselt wurde.

Izumi. Einer real existierenden Person, die nicht nach einer Gottheit einer westlichen, längst ausgestorbenen Kultur benannt worden war, sondern einen normalen Namen besaß.

War das bloß Zufall gewesen? Hatte sie so ein Allerweltgesicht? Oder steckte mehr dahinter? Wieder stellte ihr Hirn die Frage nach ihrer Existenz. Stöhnend massierte sie sich durch das Kissen hindurch die Schläfen. Das ganze Nachdenken hatte ihr bislang nur Kopfschmerzen eingebracht, mehr nicht. War es überhaupt sinnvoll, so viel Zeit und Muße auf diese eine, dämliche, vielleicht nichtssagende Begegnung zu verschwenden und sich zu fragen, ob an der Verwechslung etwas Wahres sein könnte?

Energisch nahm sie das Kissen von ihrem Gesicht, stierte ein letztes Mal mit beginnender Wut zur Decke hinauf, und setzte sich dann mit Schwung auf – etwas, das ihr heruntergefahrener Kreislauf ihr gleich darauf übel nahm und sie schwindeln ließ. Grummelnd hielt sie sich den Kopf und versuchte, die Orientierung wiederzuerlangen, dann stand sie vom Bett auf und tastete nach dem Lichtschalter ihrer Nachttischlampe.

Nein, es brachte nichts, weiter vor sich hin zu grübeln. Sie wollte nun endlich wissen, wer diese verdammte Izumi gewesen war, um ihrem eigenen Verstand die Gewissheit zu geben, dass er nun endgültig als verrückt einzustufen ist und sie irgendwann dank ihm an Paranoia krepieren würde.

Nachdem sich ihre Augen an das Licht der Lampe gewöhnt hatten, griff sie nach ihrem Laptop und augenblicklich erhielt ihr Tatendrang eine klatschende Ohrfeige, als sie darauf hingewiesen wurde, dass sie derzeit keinen Internetzugang hatte, weil sie außerhalb der Reichweite des WLAN Empfanges war. Natürlich hatten sie hier unten in diesem Bunker kein Netz. Dank mehrerer Rooter in den Büroräumen, im Krankentrakt und im Aufenthaltsraum kamen sie dennoch in den Genuss diesen gewissen Luxus. Dass die meisten Zimmer allerdings wieder außerhalb dieser Radi waren, konnte natürlich purer Zufall sein; Hades‘ spitzer Kommentar neulich, dass sie ja „keine Jugendherberge mit Vollpansion“ seien, ließ Persephone da wieder in andere Richtungen denken. Vielen Dank auch!

Kurzerhand zog sie sich also eine Strickjacke über, klemmte ihren Laptop unter den Arm und verließ ihr kleines Zimmer. Es war bereits spät, sodass die Gänge größtenteils verlassen waren und im schummrigen Zwielicht entfernter Lichtquellen lagen. Ein paar Mitglieder kamen ihr aus Richtung der Trainingsräume oder Duschen entgegen, doch sie schenkten ihr wenig Aufmerksamkeit. Im Vergleich zu den ersten Wochen, die sie hier verbracht hatte, in denen sie wie eine neue Errungenschaft von allen Seiten gemustert und angesprochen worden war, war dieser Umstand des Ignorierens eine Verbesserung, die sie sehr befürwortete.

Im Aufenthaltsraum waren die großen Deckenlichter schon ausgeschaltet. Sie schaltete eines der hinteren wieder ein und setzte sich in eine, vom Eingang kaum einsehbare Ecke des Raumes, baute ihren Laptop vor sich auf und begann die Internetsuche.

Sie wusste, dass Izumi verstorben sein musste, also begann sie nach Todesanzeigen zu suchen. Aus der sehr emotionalen Reaktion dieser Yuki schloss Persephone, dass ihr Tod noch nicht allzu lange zurückliegen konnte, weshalb sie sich auf Anzeigen beschränkte, die im letzten halben Jahr ausgeschrieben worden waren.

Soweit verlief alles einfach und auf legalen Wegen. Jedoch war der Name Izumi kein seltener und so stieß sie auf viele Nachrufe. Die meisten konnte sie sogleich aussortieren, da es sich um ältere Frauen handelte, die definitiv nicht eine Freundin der beiden Fremden sein konnten. Bei dem Einkreisen auf einen Wohnort der Toten tat sie ein Schuss ins Blaue und beschränkte sich auf den Raum Tokios. So blieben aber immer noch genügend Izumis übrig, die sie zu überprüfen hatte.

Je mehr sie recherchierte, umso kleiner wurde der Kreis der Verstorbenen, die in Frage kamen. Problematisch war, dass selten ein Foto bei dem Nachruf beigelegt war, und aus den Texten konnte sie keine relevanten Informationen herausfiltern; manchmal wurden Arbeitskollegen oder Schulkameraden im Nachruf erwähnt, denen man auf diesem Weg seinen Dank für das zugekommende Beileid aussprechen wollte. Bei drei Izumis versuchte Persephone so weitere Nachforschungen anzustellen, doch sobald sie dann endlich auf ein Foto der Verstorbenen stieß, war die Suche auch schon wieder beendet. Yuki müsste sich schon eine Brille zulegen, wenn sie Persephone tatsächlich mit diesen Izumis verwechselt hatte.

Nach einer Stunde sah sie seufzend von der Tatstatur auf und rieb sich über die Augen. Bis jetzt gab es keine genaue Spur auf ihre vermeintliche Doppelgängerin. In Gedanken ging sie nochmal das Treffen mit den beiden Frauen durch. Yuki war sich sicher gewesen, ihrer alten Freundin gegenüber zu stehen. Sie hatte erleichtert ausgesehen, glücklich, und nicht so, als wäre jemand plötzlich von den Toten auferstanden. Persephone wäre wahrscheinlich blass geworden und hätte Abstand genommen; so, wie die zweite Unbekannte ihr gegenüber reagiert hatte. Sie hatte Yuki energisch darauf aufmerksam gemacht, dass Izumi tot sei. Persephone erinnerte sich, dass Yuki etwas erwidern wollte, ihre Freundin hatte ihr allerdings das Wort abgeschnitten. Sie wollte Izumis Tod nicht wahrhaben, dachte Persephone und legte die Stirn in Falten. Aber warum sollte man den Tod eines Menschen nicht akzeptieren?

Auf einmal weiteten sich ihre Augen in aufkommender Erkenntnis.

Wann zweifelte man den Tod an? Wenn es keinen Toten gab!

Izumi ist nicht tot. Sie wird vermisst.

Augenblicklich begannen ihre Finger wieder über die Tasten zu fliegen. Doch auch jetzt kam ihre Suche wieder nach ein paar Minuten ins Stocken. Es gab offizielle Seiten der Polizei, auf denen vermisste Personen steckbrieflich aufgelistet wurden, diesmal auch mit Fotos, doch auch hier fand sie niemanden, der auf die Beschreibung gepasst hätte.

Erneut fing sie an, ihre Unterlippe mit den Zähnen zu bearbeiten. Blieben nur noch die internen Seiten und Register der Polizei. Um dort hin zu gelangen, müsste sie allerdings den illegalen Weg einschlagen. Sie wusste im Grunde, wie sie es anstellen müsste, um sich unbemerkt in das gesicherte Netzwerk einzuschleichen, in den letzten Wochen hatte sie das schon mehrmals getan, doch immer unter der Aufsicht von Hades. Sie müsste nur eine Meldung außer Acht lassen oder ein Passwort falsch zu knacken versuchen und schon würde man auf ihr Tun aufmerksam werden.

Sie könnte bis morgen warten und Hades bitten, ihr dabei zu helfen, doch irgendetwas sagte ihr, dass er verstimmt reagieren könnte. Keine unnötigen, illegalen Ausflüge; so oder so was Ähnliches würde sie sich dann anhören dürfen. Nein, wenn sie das Wagnis eingehen wollte, dann jetzt!

Sie atmete nochmal tief durch, dann öffnete sie die nötigen Programme und konzentrierte sich. Nach einer halben Stunde hatte sie die Sicherheitsbarrieren hinter sich gelassen und durchsuchte angespannt die Register für Vermisstenanzeigen und gesuchte Personen. Auch hier stieß sie auf unzählige Izumis, viele davon kannte sie schon von anderen Seiten, die sie durchgeschaut hatte, und so ging sie dazu über, mithilfe von Filtern zu suchen. Sie wollte zwar so wenige Aktivitäten wie möglich durchführen; auf der anderen Seite wollte sie schnell wieder diese geschützten Seiten verlassen können. Auf ein Übel musste sie sich also einlassen.

Dann fiel ihr die Lösung innerhalb einer Sekunde in die Hände. Ihr Atem stockte sofort und sie konnte und wollte ihren Augen nicht trauen.

Sie hatte Izumi gefunden. Sie und ihren Bruder Toshihiko, beide seit genau zweieinhalb Monaten als vermisst gemeldet. Vor einer Woche wurde ihr Status in „eingestellt“ geändert; Begründung: schwerwiegender Verdacht auf Ableben der Gesuchten.

Persephones Herz begann sich in ihrer Brust zu überschlagen. Zwei Gesuchte, zwei Bilder.

Das eine Bild zeigte sie.

Auf dem anderen Bild, das von ihrem Bruder, erkannte sie Äneas.

Licht ins Dunkel

„Hades hat nicht untertrieben, du bist wirklich gut.“

Zeus‘ plötzliches Auftauchen riss sie aus ihrer Starre und ließ sie vor Schreck fast aufspringen. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie zu ihm hinauf. Sie war so sehr in ihrer Entdeckung vertieft gewesen, dass sie überhaupt nicht gemerkt hatte, dass er den Raum betreten und sich neben sie gestellt hatte.

Persephone schluckte ihren Schock hinunter und machte sich so Luft für eine Wut, die sich zunehmend in ihrem Bauch zusammenzog. Sie wollte Antworten!

„Bin … bin ich das?“, fragte sie beherrscht und deutete auf Izumis Steckbriefbild. Dieses Mädchen glich ihr wie ein Zwilling, die Frage hatte für Persephone somit schon rhetorischen Status erhalten. Dennoch wollte sie es aus seinem Mund hören; es war einfach zu absurd, beinahe Filmreif!

Zeus nahm sich Zeit und folgte ihrem Fingerzeig langsam mit den Augen.

„Du warst sie“, entgegnete er dann betont und suchte ihren Blick im blass gewordenen Gesicht. Entschuldigend hob er die Schultern. „Bitte verzeihe mir, aber ich muss auf das Präteritum bestehen, immerhin ist Izumi Kato offiziell tot.“

Ihre Atmung beschleunigte sich und sie spürte, wie ihre Wut ihre Kehle hinaufkroch und dabei einem Hustenreiz glich, dem man nur schwer unterdrücken konnte.

„Aber ich lebe!“, rief sie aufgebracht und sprang dann doch auf, um so Zeus‘ ausdruckslosem Gesicht etwas näher zu kommen. Er hatte es gewusst, die ganzen zweieinhalb Monate lang, und ihr alles verschwiegen, dafür wollte sie ihm nun das personifizierte schlechte Gewissen ins Gesicht meißeln!

„Wieso kann ich mich an nichts erinnern?“, fragte sie weiter, doch noch immer zeigte sich keine Regung in Zeus‘ Zügen. Sie presste die Lippen aufeinander und deutete auf Toshihikos Bild. „Ist das auch wahr? Ist Äneas mein Bruder? Warum weiß ich davon nichts?“ Sie würde sich nicht mehr weiter für dumm verkaufen lassen! Zeus‘ durchdringender Blick haftete bis zur Unerträglichkeit auf ihr, bevor er die Augen abwandte und abermals auf den Bildschirm heruntersah.

„Weil Toshihiko Izumis Bruder war. Persephone und Äneas haben kein solches Verhältnis.“ Seine Stimme passte perfekt zu seinem unbeeindruckten Gesichtsausdruck. Persephones Gesicht dagegen durchlief erneut in wenigen Sekunden duzende Emotionen. Zuletzt konnte sie ihr Gegenüber nur verständnislos anstarren.

„Was ist das für eine Logik?“, platzte es aus ihr heraus. „Erklären Sie mir das! Warum…?“ Sie spürte, wie ihre Stimme versagte. Sie holte tief Luft und fühlte im selben Moment die Tränen in den Augen aufsteigen. Diese ganze emotionale Achterbahnfahrt machte sie fertig und sie hasste sich selbst dafür, dass die Situation sie so durchschüttelte. Sie schluckte vergeblich gegen das beklemmende Gefühl in ihrem Hals an. Zeus sah sie neutral an, unbeeindruckt von ihren Wutausbrüchen, und ließ ihr die Zeit, sich zu sammeln. Schließlich fegte sie ihren Kopf frei von allen gegensätzlichen Stimmen, die ihr zusprachen, die Fassung nicht zu verlieren oder sie dazu anstachelten, ihre Wut ihm ungefragt ins Gesicht zu schmeißen und ließ sich stattdessen von ihren Gefühlen lenken.

„Ich kann mich an so viele banale Dinge erinnern! An die riesige Hüpfburg zu meinem zehnten Geburtstag, dass ich die Ferien früher oft auf dem Land verbracht habe, an meine Vorliebe für Orangeneis! Aber meinen Namen, meine Familie, dass ich einen Bruder habe, das alles habe ich vergessen?“ Ihre Stimme wurde immer hysterischer. Zeus antwortete ihr weiterhin nicht. Nur langsam beruhigte sich ihr Puls mit der Zeit etwas. Sie atmete tief durch, zog lautstark die Nase hoch und wischte sich die verdammten Tränen von der Wange. „Was ist mit mir passiert? Warum glauben alle, dass ich tot bin?“ Ihre Hände zitterten und waren eiskalt. Sie war sich sicher, dass sie in ein paar Minuten zusammenklappen würde, würde sie sich nicht bald ganz beruhigen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit brach Zeus‘ Augenkontakt endlich ab und er senkte seinen Blick um eine Nuance, nur kurz, dann sah er wieder auf, doch diesmal hatte sich etwas in den dunklen Augen etwas verändert.

„Dein Vater hat lediglich einen Tatort ohne Leichen gefunden, an dem das Blut deines … von Toshihiko und Gewebespuren von Izumis Kleidung gesichert wurden“, begann er. Er sprach weiterhin im sachlichen Tonfall, jedoch langsamer als zuvor, als erzähle er ihr das alles nur ungern. „Er hat nach euch suchen lassen, doch als weitere Kleidungsstücke und Blut in einem abgelegenen Waldstück gefunden wurden, ließ er die Suche nach euch einstellen. Das viele gefundene Blut konnte größtenteils seinem Sohn zugeordnet werden, weshalb die Pathologen seinen Tod als sehr wahrscheinlich hielten; das reichte ihm wohl aus, um weitere Nachforschungen als fruchtlos anzusehen. Er ist nie an die Öffentlichkeit gegangen, weil er nicht wollte, dass sein Name im selben Atemzug mit so einer pikanten Angelegenheit genannt wird. Er wollte kein negatives Aufsehen erregen. Deshalb gab es auch keinen offiziellen Nachruf. Die Polizei hat den Fall noch nicht ad acta gelegt, aber für eure Familie liegt der Fall klar auf der Hand.“

Persephone ließ die Worte widerwillig auf sich wirken. Ihr Herzschlag hatte sich von Satz zu Satz wieder beschleunigt und nun pochte er ihr bis zum Hals hinauf. Ihr Körper fühlte sich nun endgültig dumpf und taub an, ausgelaugt, wie nach einer unglaublichen Anstrengung. Blind tastete sie nach ihrem Stuhl und setzte sich, den Blick ins Leere gerichtet. Sie brauchte etwas Zeit, um die Informationen zu verarbeiten. Man hatte sie also tatsächlich für Tod erklärt. Das klang so falsch, so absurd, dass sie wahrscheinlich losgelacht hätte, wäre ein Anderer betroffen gewesen. Aber warum? Wie war es soweit gekommen? Sie glaubte nicht, nein, sie wusste, dass Zeus sie nicht anlog. Etwas an seiner Erzählung ließ sie dennoch verwirrt die Stirn runzeln.

„Was für ein Tatort?“

Drei Sekunden verstrichen schweigend, dann setzte er sich seufzend neben sie und suchte mit der gewohnten Ernsthaftigkeit ihren Blick.

„Es gibt Regeln hier bei Olymp, Persephone. Eine davon - wahrscheinlich die wichtigste - ist, dass niemand die Wahrheit über seine Vergangenheit erfährt. Ich habe bereits viel zu viel erzählt.“

Die Aussage war deutlich. Sie war an eine Grenze gekommen, die er nicht bereit war, für sie weiter zu überschreiten. Immer noch liefen ihr vereinzelt Tränen über die Wangen und ihre Augen brannten, dennoch presste sie die Lippen aufeinander und reckte ihr Kinn herausfordernd vor. Trotzig deutete sie wieder auf die Steckbriefe. Sie würde jetzt nicht einfach wieder aufgeben!

„Ich habe das herausgefunden; den Rest kriege ich auch noch heraus!“

Mit einem Mal trat ein verschmitztes Lächeln in Zeus‘ Mundwinkel und im nächsten Moment streckte er eine Hand nach ihr aus, legte vorsichtig einen Daumen an ihren Wangenknochen und wischte ihr sanft eine Träne von der Haut. Persephone hatte nur schwer dem Drang standgehalten, vor der plötzlichen Nähe zurückzuweichen; warum sie dem bitter antrainierten Reflex nicht einfach nachgegeben hatte, konnte sie sich selbst nicht erklären. Vielleicht weil es Zeus war; der mächtige, unnahbare Anführer, der stets seine Emotionen mit einer beneidenswerten Standhaftigkeit unter Verschluss hielt, dass er das Buch mit sieben Siegeln war, das Persephone immer sein wollte. Angst zeigen und vor Berührungen zurückweichen waren Zeichen von Schwäche, die, so hatte sie gelernt, sofort zu ihrem Schaden ausgenutzt wurde. Sie wollte ihre Gefühle nie wieder preisgeben – vor niemanden und schon gar nicht vor ihm!

Seine Hand verweilte noch ein, zwei Sekunden an ihrer Wange, in denen sie ihn weiterhin selbstsicher musterte und den aufkommenden Instinkt in straff nach hinten gezogenen Schultern versuchte zu entladen, dann zog er die Finger zurück und setzte lächelnd zur Antwort an. In seinen dunklen Augen blitzte es frech auf.

„Ich muss dich enttäuschen, du wirst nichts weiter finden. Dafür hat Hades schon vor Monaten gesorgt.“

Sie verengte die Augen und presste ernst die Lippen aufeinander. Das stumme Gefecht zwischen ihnen zog sich Sekunden hin, dann brach zu ihrer Verwunderung Zeus den Blickkontakt ab und fuhr sich seufzend durch die rabenschwarzen Haare.

„Andererseits kann sich dein Halbwissen als sehr gefährlich herausstellen – vor allem, wenn du dich gegenüber Hades versprichst“, sagte er leise und seine Stimme klang dabei so, als hätte er mit sich selbst gesprochen. Wieder herrschte eine kurze Stille zwischen ihnen, in der Persephone immer ungeduldiger wurde. Nachdem Zeus seine Sitzposition in aller Ruhe der Bequemlichkeit angepasst hatte, holte er Luft und fing an:

„Ich kann dich beruhigen, du bist lebendiger denn je. Und Äneas war dein Bruder. Früher ward ihr Blutsverwandte, ja, aber jetzt sieht das offiziell anders aus, verzeih, auf diese Unterscheidung muss ich Wert legen.“

Und so begann er zu erzählen.
 

Es kam Persephone wie Stunden vor, die Zeus vor ihr saß und diese ganzen unglaublichen, völlig abstrusen Geschichten erzählte. Er beschrieb zunächst ihr erstes Aufeinandertreffen, die Szene in der dunklen Gasse, wie sie, Hades und er selbst, beinahe im letzten Moment dazu gestoßen waren und alles beendet hatten; über die Tatsache, dass er und sein Partner an diesem Abend zwei Menschen getötet hatten, ließ er nur wenige, gelassen gesprochene Worte fallen, die ihr im Gegenzug einen mächtigen Schauer über den Rücken jagten.

Bis hierhin hatte sie nur stumm genickt und die Informationen versucht zu verarbeiten. Zeus erwähnte, dass Hades nachträglich Informationen zu ihrer Familie gesucht hatte; danach stand für sie auch fest, dass Olymp für die offensichtlich falsch gelegten Spuren verantwortlich war, auch, wenn Zeus darüber kein weiteres Wort verlor. Es konnte nur so gewesen sein, dass die Organisation dafür gesorgt hatte, dass sie und Äneas für den Rest der Welt als tot galten; es war der einfachste Weg, um Unannehmlichkeiten für die Anführer im Keim zu ersticken.

Dann erzählte er ihr von Memoria und von da an rutschten seine Erklärungen immer weiter für sie in die Kategorie Märchen ab. Ihr Blick wurde mit jedem Satz skeptischer, bis Zeus sich erhob und ihr bedeutete, ihm zu folgen. Nach nicht einmal fünf Minuten musste sie sich eingestehen, zukünftig doch an Aberglaube und Fabelgeschichten glauben zu müssen. Zeus verbrachte mit ihr nicht viel Zeit in dem kleinen, behandlungsähnlichen Raum, in dem dieser merkwürdige Stuhl stand, den er als seine und Hades‘ Erfindung vorstellte. Er erklärte ihr in groben Zügen, wie sie funktionierte und sie hörte schweigend zu, versuchte sich auf das Gesagte zu konzentrieren und nicht ihren Verstand zu verlieren. Hinnehmen war dabei die wohl beste und einfachste Strategie.

Zeus fragte sie zuletzt, ob sie noch Fragen hätte, doch sie schüttelte nur benommen den Kopf und drehte sich unaufgefordert zum Gehen um. Ohne einen Einwand, folgte der Ältere ihr aus dem Raum wieder raus auf die endlos scheinenden Gänge von Olymp. Erst hier wagte Persephone es, tief durchzuatmen. Ihre zitternden Hände versuchte sie in den Taschen ihrer Strickjacke zu verstecken.

„Überprüft Hades deinen Laptop?“

Die plötzliche Frage riss sie aus den Gedanken und fragend sah sie zu Zeus, der einen Schlüssel seines schweren Bundes ein paar Mal im Schloss umdrehte und die Tür so zusperrte. Als er sich dann zu ihr umdrehte, zuckte sie verspätet mit den Schultern.

„Ich soll ihn manchmal in seinem Büro lassen. Er hat es mir noch nie gesagt, aber ich bin mir sicher, dass er dann die Festplatte untersucht. Er traut mir nicht.“

In stummer Übereinkunft setzten sie sich in Bewegung und gingen langsam zurück in Richtung Aufenthaltsraum. Zeus neben ihr fuhr sich seufzend durch den dunklen Schopf und strich sich so die Haare aus der Stirn. Selbst in dem gedämpften Licht erkannte Persephone den deutlich grauen Ansatz, der so zum Vorschein kam. Sie hatte sich nie wirklich Gedanken über das Alter von Zeus oder Hades gemacht; paradoxerweise hatte der ältere der beiden Anführer ein wesentlich jünger aussehendes Gesicht, das sein wahres Alter wohl sehr gut kaschierte. Nach den Erzählungen über die Geschichte dieser Organisation, die sie hier und da bei Zeiten aufschnappte, mussten die beiden Götter auf die Fünfzig zugehen.

„Das tut er gewiss nicht“, unterbrach Zeus ihre Überlegungen und sie brauchte einen Moment, um den Faden ihres immer noch laufenden Gesprächs wieder aufzunehmen. „Ich glaube sogar, dass er selbst mir nicht mehr ganz traut. Naja, er war noch nie jemand gewesen, der irgendwem sein blindes Vertrauen schenkte, so ist er eben.“ Zeus verfiel erneut in sein bekanntes Schweigen, währenddessen Persephone über das Gesagte nachdachte und dabei kurz über das leise und unauffällig gesprochene „mehr“ stolperte, doch da hatte der Mann neben ihr schon wieder Luft geholt, um dem Dialog eine neue Wendung zu geben. „Zur Sicherheit solltest du dafür sorgen, dass er nicht zurückverfolgen kann, nach was du heute Abend gesucht hast.“

Sie wollte schon nicken, doch dann zögerte sie doch und runzelte leicht besorgt die Stirn.

„Werden Sie ihm nicht davon erzählen? Von … gerade eben, meine ich?“, fragte sie vorsichtig und suchte seinen Blick. Geheimnisse vor Hades zu haben, kam ihr wie ein Spiel mit dem Feuer gleich. Natürlich konnte man mit den Fingern über eine Kerzenflamme streichen, ohne sich sofort zu verbrennen; doch wurde man zu übermütig und verweilte zu lange in den Flammen, konnte das schmerzhafte, bleibende Folgen nach sich ziehen. Und für Hades schien der Göttervater pures Öl zu sein, mit dem man nicht einmal in die Nähe seines Feuers kommen sollte. So viel hatte selbst sie schon in der recht kurzen Zeit, die sie erst Olymps Mitglied war, mitbekommen.

Zeus erwiderte ihren Blick und sah zu ihr herab. „Ich berichte ihm, dass du nun über Memoria Bescheid weißt; über deine Nachforschungen verliere ich besser kein Wort.“ Mit einem Mal wurde sein Blick durchdringender und Persephone fühlte sich mental nackt und schutzlos ausgeliefert, dass sie am liebsten vor ihm zurückgewichen wäre. „Und du solltest ebenfalls darüber schweigen. Über alles, was ich dir gerade erzählt habe“, fügte er ernst hinzu.

Etwas schnürte ihre Kehle zu und sie verspürte den Drang, gegen dieses Gefühl an zu schlucken. Zögernd brachte sie ein Nicken zustande. Etwas an seinen Worten macht sie stutzig und so fragte sie vorsichtig nach:

„Wissen alle über … über diese Maschine Bescheid?“

„Nein, wir erzählen nur langjährigen Mitgliedern von ihr. Wir müssen denjenigen vertrauen können, verstehst du? Das bei jemandem einzuschätzen, ist manchmal gar nicht so leicht. Ein weiterer Grund, warum du mit niemandem über diesen Abend reden solltest. Jetzt, da du eingeweiht bist, verlangen wir von dir noch mehr Treue. Das ist der Preis für deinen Schutz, den wir dir hier bieten.“

Seine Augen ruhten weiterhin ernst und auch mit einer unheimlichen Kälte auf ihr, sodass sie sich beeilte zu Boden zu schauen, nachdem er verstummt war. Sie bogen in einen neuen Gang ein, auf dessen Hälfte sich der Aufenthaltsraum befand. Persephone hatte auch nach den Monaten, die sie nun schon bei Olymp war, das Gefühl, noch nicht alle Gänge und Ecken von dem unterirdischen Labyrinth gesehen zu haben und es passierte ihr regelmäßig, dass sie sich durch Unaufmerksamkeit hier unten verlief und mehr durch Zufall, wie es ihr immer vorkam, wieder in bekannte Gänge zurückfand. Sie fand es bemerkenswert, mit welch traumwandlerischer Sicherheit sich manche Mitglieder hier unten bewegten.

Bis sie ihr Ziel erreichten, herrschte eine gewohnte Stille zwischen ihnen. Dann ergriff Zeus von neuem das Wort.

„Ich habe das von Äneas gehört“, begann er und augenblicklich fuhr Persephones Kopf herum, um ihn aus aufmerksamen Augen anzusehen. „Herakles war vor ein paar Stunden bei mir und erzählte von dem Unfall.“

Die Erinnerung an das, was heute Mittag geschehen war, ließ ihr Herz wieder anfangen schneller zu schlagen. Seit ihrer Begegnung in dem Kaufhaus mit ihren … mit Izumis alten Freundinnen, hatte sie nicht mehr daran gedacht und das versetzte ihr einen tiefen Stich in der Magengegend. Sie fühlte sich, als hätte sie ihren Partner verraten und das versetzte ihr schmerzhafte Gewissensbisse.

„Konnten Sie vielleicht schon mit den Ärzten reden?“, fragte sie kleinlaut.

Zeus nickte. „Sie haben den Riss an der Luftröhre ohne größere Probleme wieder zunähen können. Morgen wirst du bestimmt zu ihm gehen können.“

Etwas fiel von ihr ab und erleichtert ließ sie die angespannten Schultern sinken.

„Auch ihm wirst du nichts erzählen.“

„Nein, werde ich nicht“, versprach sie, wenn auch mit einem unwohlen Gefühl in der Brust. In ihren Augen hatte Äneas ein Recht darauf, zu erfahren, was sie nun erfahren hatte; auch, wenn es etwas war, was nie für ihre Ohren und Augen bestimmt gewesen war. Zumindest der Teil mit ihrer Vergangenheit. Zeus hatte ihr erklärt, aus welchen Gründen Männer normalerweise Olymp beitraten. Weil sie etwas vergessen wollten. Das war es, womit Zeus und Hades ihre Mitglieder köderten. In ihrem Fall war es etwas anders gewesen, doch im Nachhinein hatte es dasselbe Ergebnis erzielt. Und jetzt, da sie wusste, was sie vergessen hatte, nun … vielleicht hätte sie sich tatsächlich dazu entschlossen, die Erinnerung an den Überfall aufzugeben. Es waren keine schönen Erinnerungen. Man hatte versucht, sie zu missbrauchen. Aber dass sie ihren Bruder in diese Sache mit hineingezogen hatte, konnte sie sich nicht verzeihen. Sie war – warum auch immer, das konnte selbst Zeus ihr nicht sagen – mit diesen beiden Typen aneinander geraten und sie war zu schwach gewesen, sich zu wehren. Äneas wollte ihr helfen und hatte es dadurch selbst am schlimmsten getroffen. Ihr gemeinsames Glück war es gewesen, dass Olymps Götter ihren Peinigern gefolgt und rechtzeitig dazwischen gegangen waren.

Die Vorstellung an das, was unter anderen Umständen hätte passieren können, jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken und fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Zeus schien ihre bedrückenden Gedanken zu erahnen und sprach sie den restlichen Weg bis zum Aufenthaltsraum nicht weiter an; lediglich eine fürsorgliche Hand streichte einmal sanft über ihren Oberarm, so flüchtig, dass Persephone kaum die Zeit blieb darauf zu reagieren.

Als sie wieder im Türrahmen des Raumes standen, nickte der Göttervater kurz in Richtung des Tisches, auf dem ihr Laptop noch stand.

„Erledige noch das, worum ich dich gebeten habe und gehe dann schlafen“, sagte Zeus und wandte sich schon zum Gehen um. „Ich wünsche dir eine gute Nacht, Persephone.“

Sie erwiderte die Abschiedsformel murmelnd und wollte schon den Raum betreten, als ihr dann doch noch etwas einfiel, das ihr auf der Seele lag. Schnell sah sie in den Gang zurück. Das dämmrige Licht hatte Zeus schon halb verschluckt.

„Warum?“ Ihre Stimme hallte hörbar von den Wänden wider.

Zeus blieb stehen und schaute fragend zurück. „Warum was?“

In diesem Moment beschlich sie leichte Unsicherheit, ob sie überhaupt das Recht dazu hatte, ihre Frage weiter zu präzisieren. Sie biss sich auf die Unterlippe und haderte drei Sekunden lang mit den Worten, doch dann atmete sie tief durch und hob den Blick.

Keine Schwäche zeigen!

„Warum tun Sie das? Mit Memoria.“

Ein kurzes Schweigen. Ein musternder Blick aus nachtschwarzen Augen, unter denen sich ihre zurückgekehrte Selbstsicherheit wieder demütig zusammenkauerte.

„Du meinst, unseren Mitgliedern das Gedächtnis zu manipulieren?“, fragte er nach und seine dunkle Stimme wirkte noch dominanter, noch präsenter in dem vorherrschenden Dämmerlicht. Dann glaubte sie ein trauriges Lächeln auf seinen Zügen zu erkennen.

„Macht“, setzte er an und dieses eine Wort donnerte durch ihre Gedanken wie ein mentaler Paukenschlag. „Sie ist wie eine Droge: hat man einmal von ihr probiert, ist man süchtig nach ihr.“

Vorwärts

Verschlafen öffnete sie die Augen und blinzelte in die Dunkelheit. Auf ihrem Körper lag eine bleierne Schwere und müde fuhr sie sich durchs Gesicht, in der Hoffnung, so etwas davon abstreifen zu können. Persephone hatte keine Ahnung, wie viele Stunden sie geschlafen hatte, dennoch verriet ihr ein kurzer Blick auf den Digitalwecker, dass es eigentlich ausreichend Stunden gewesen sein mussten, nach der fortgeschrittenen Tageszeit zu urteilen. Es war fast schon Mittag. Die Arme aufstützend, richtete sie sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und wollte aufstehen, als ihr Kreislauf auf einmal begann Achterbahn zu fahren, sodass sie sich sofort wieder hinsetzte. Tief durchatmend beugte sie sich vor, die Hände gegen die Stirn gedrückt und verharrte so für Minuten. Dann endlich schien sie soweit wach zu sein, um aufstehen zu können und unter die Dusche zu steigen.

Das warme Wasser spülte das letzte Gefühl von ausgelaugt sein im Abfluss runter und gab ihr den Freiraum, über die gestrigen Geschehnisse nachzudenken.

Über das – mal wieder – harte, gnadenlose Training mit Herakles, woran sie ihr geschundener und mit blauen Flecken übersäter Körper erinnerte.

Über Äneas‘ Unfall.

Über das Geheimnis ihrer Vergangenheit.

Über die Maschine, die einen vergessen lässt – Memoria.

Zu ihrer eigenen Verwunderung lösten diese Erinnerungen in ihr keine Gefühlsstürme mehr aus. Im Gegenteil; sie ließ ihre kürzlich erhaltenden Eindrücke und Erfahrungen wie an einem Fließband im Geiste vorbeilaufen und sie konnte mit einer Nüchternheit an und über sie denken, die sie sehr an die dumpfe Schwere ihres Körpers erinnern ließ. Kurz runzelte sie die Stirn über diesen Umstand, dann schob sie ihn beiseite und nahm es hin.

Ich nehme in letzter Zeit vieles viel zu schnell hin, dachte sie und streckte ihr Gesicht den harten Wasserstrahlen des Duschkopfes entgegen. Oder beginne ich einfach nur schneller zu akzeptieren?

Als Persephone eine viertel Stunde später ihr Badezimmer verließ und in ihrem überschaubaren Kleiderschrank nach frischen Kleidungsstücken suchte, fühlte sie sich wohler und wacher. Die Gedanken an Gestern verdrängte sie so gut es ging aus ihrem Kopf. Sie erinnerte sich, dass sie letzte Nacht noch lange wachgelegen und nachgedacht hatte. Über ihr Gespräch mit Zeus. Über alles Gesagte. Und sie war heute zu dem Entschluss gekommen, genug nachgedacht zu haben. Wozu sollte es auch gut sein? Sie konnte die Tatsachen nicht ändern, und Zeus hatte ihr das Versprechen abgenommen, niemandem von ihrem Wissen zu erzählen. Wozu also weitergrübeln, wenn alles im Soll-Zustand war?

Man vertraute ihr. Sie sollte das dann auch tun. Zumindest Zeus. Zumindest in diesem Fall.

Nachdem eine dunkle Jeans und ein weißes Top angezogen und ihre langen Haare in einem Pferdeschwanz gebändigt waren, schnappte sie sich ihren Zimmerschlüssel und verließ ihre privaten vier Wände, um gleich den Weg in Richtung Krankentrakt einzuschlagen.

Es war Zeit, nach vorne zu blicken. Und sich um denjenigen zu kümmern, der es wert war, so lange Zeit über ihn zu grübeln und sorgenvolle Gedanken kreisen zu lassen. An Äneas zu denken, erschien ihr zumindest am sinnvollsten. An meinen Bruder, erinnerte sie sich selbst und wieder versetzte ihr diese Tatsache leichte Stiche in der Magengegend. Ganz so leicht hinzunehmen, schien sie es wohl doch noch nicht…

Tatsächlich ließ man sie, auf ihre Nachfrage hin, Äneas‘ Krankenzimmer betreten. Der Arzt, der sie dorthin begleitet hatte, hatte zwar nur mit einem angedeuteten, misstrauischen Stirnrunzeln die Tür hinter ihr zugezogen, doch daran störte sie sich nicht weiter.

Äneas lag halb aufgerichtet im Krankenbett, umgeben von allerlei Geräten, die jedoch zu ihrer Erleichterung zum Großteil nur die Wände zierten und nicht angeschaltet waren. Ein steifer Verband war um seinen Hals gewickelt, ähnlich einer Krause, die es ihm schwierig machte, den Kopf zu drehen, wodurch er mehr aus den Augenwinkeln zu ihr herüber linste, als die Tür seines Zimmers aufgestoßen worden war. Um sie vollständig anzusehen, musste er sich im ganzen Oberkörper drehen, was ihm, nach seinem gequälten Gesichtsausdruck zu urteilen, ziemliche Schmerzen bereitete, sodass sie sich beeilte, auf ihn zuzugehen und ihm gegenüber auf der Kante seines Bettes Platz nahm. Sie versuchte sich an einem Lächeln, das er genauso verklemmt erwiderte. Sie schienen sich beide nicht wirklich in dieser Situation wohl zu fühlen; was sie für ihn völlig nachvollziehen konnte.

Um der angespannten Stille zu entgehen, fragte sie: „Wie geht es dir?“, woraufhin Äneas seine rechte Hand etwas anhob und sie in einer wagen Geste von links nach rechts kippen ließ.

Nicht besonders gut, interpretierte sie und wiederholte ihre Schlussfolgerung laut. Durch den Verband eingeschränkt, antwortete ihr Gegenüber ihr nur mit einem angedeuteten Nicken, wobei er erneut leicht das Gesicht unangenehm verzog. Besorgnis brannte sich in Persephones Züge ein.

„Hast du starke Schmerzen?“, fragte sie weiter und versuchte das flaue Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren.

Äneas wiederholte die wage Handbewegung, hob langsam eine Hand an seinen Verband am Hals und hob daraufhin auch seine andere Hand, um Gebärdenzeichen zu formen. Nicht viel. Er deutete an sich herunter, zeigte ihr das Wort Training und führte abschließend seine rechte Hand an seine Schläfe, als würde er salutieren. Sie wusste, was das bedeuten sollte: Herk. Namen hatten in der Gebärdensprache kein einheitliches Zeichen; man umschrieb Personen meist mit einem typischen Charakterzug, und Persephone und Äneas waren sich sehr schnell einig über das Handzeichen gewesen, das zukünftig für ihren Trainer stehen sollte. Die kleine, aber aussagekräftige Geste, ließ sie schmunzeln und brach endlich das meiste Eis zwischen ihnen.

„Ja, mir tut auch jeder Knochen weh“, bestätigte sie ihm und konnte ein kurzes, erleichtertes Lachen nicht länger unterdrücken. Nun breitete sich auch auf Äneas‘ Zügen ein Grinsen aus.

„Haben sie dir denn keine Schmerzmittel gegeben?“

Wieder hob er die Hände und begann, langsam und konzentriert Zeichen zu formen. Ich wollte nicht. Ich-

Er stoppte und Persephone konnte sehen, wie er nachdenklich die Stirn in Falten legte. Geduldig wartete sie ab, doch je länger Äneas zu überlegen schien, umso verärgerter wurde sein Gesichtsausdruck, bis er frustriert die Hände sinken ließ und schnaufend zur Decke hinauf schaute. Hätte sein Verband es zugelassen, hätte er wahrscheinlich wütend den Kopf in den Nacken geworfen.

Persephones Lächeln schlug augenblicklich in Verständnis und Mitleid um. Sie lernten gerade mal seit wenigen Unterrichtsstunden die Gebärdensprache; dass da ihr Wortschatz nicht besonders groß war, war für sie einleuchtend und nicht weiter tragisch, doch sie war ja auch nicht in dem Maße auf diese Art der Kommunikation angewiesen, wie ihr Partner. Äneas war in der Öffentlichkeit kein besonders emotionaler Mensch, doch wenn sie zu ihrem Dolmetscher aufbrachen, der sie unterrichtete, wirkte er gleich viel besser gelaunt als für gewöhnlich und er war mit einem Eifer dabei, um den Persephone ihn insgeheim beneidete. Sie strengte sich ebenfalls an und lernte auch nach den Stunden die neuen Vokabeln, doch Äneas konnte man seine Begeisterung regelrecht von den Augen ablesen. Verständlich, immerhin bekam er durch die Gebärdensprache die Möglichkeit, sich viel leichter auszudrücken, als ständig Block und Stift bereit zu halten und seinen Gegenüber auf seine Antwort warten zu lassen.

Auch jetzt lag wieder ein kleiner Stapel Notizblätter und ein Kugelschreiber neben ihm auf dem Nachttisch, auf den bereits ein paar Sätze niedergeschrieben waren. Auch, wenn sie wusste, dass es ihn innerlich anfressen würde, griff sie schweigend danach und drückte ihm mit einem wohlgemeinten Lächeln den Block in die Hand. Erwartungsgemäß säuerlich beäugte er sein Handicap.

„Geh nicht so hart mit dir ins Gericht“, bat sie ihn aufrichtig. „Gib dir noch etwas Zeit, bald wird dir das alles viel leichter von der Hand gehen. Da bin ich mir sicher.“

Nach dem Blick zu urteilen, den Äneas ihr zuwarf, schien er nicht sonderlich überzeugt zu sein. Er schnaufte noch einmal, dann schrieb er etwas auf den kleinen Block. Bruder hin oder her, Persephone hätte es ihm gerne leichter gemacht. Sie wusste, dass er sich über sich selbst ärgerte. Er verlangte stets viel von sich und gab sich selten mit weniger zufrieden; dieser ehrgeizige Charakterzug war ihr als erstes an ihm aufgefallen.

Ohne besonders viel Wert auf eine saubere Schrift zu legen, kratzte er schnell mit dem Kugelschreiber über das Papier und hielt ihr daraufhin den Block entgegen.

Ich wollte keine Schmerzmittel. Diese Verletzung habe ich mir durch meine eigene Dummheit und Unaufmerksamkeit zugezogen.

Nun war sie es, die genervt schnaufte. „Klar, und dass dich Herk Liegestütze bis zum Erbrechen machen lässt, wenn du einen Angriff nicht richtig abwehrst, findest du wahrscheinlich auch noch gut!“

Nur so wird man besser und lernt aus seinen Fehlern.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das waren doch alle Masochisten! Sein ernstes Gesicht dabei brachte sie noch zusätzlich innerlich zum kochen.

„Ich habe mir Sorgen gemacht“, brummte sie vorwurfsvoll und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr anfängliches Mitleid war vergessen. Sollte er doch ruhig leiden, ihr war es inzwischen ganz recht. Und so ein Idiot ist mein Bruder, schoss es ihr durch den Kopf und beinahe wäre es ihr über die Lippen gekommen, doch sie konnte die Worte noch rechtzeitig wieder runterschlucken.

Der Vorwurf schien seine Wirkung nicht zu verfehlen, denn sofort senkte Äneas den Kopf und schrieb eilig den nächsten Satz auf. Mit einem reuevollen Blick, reichte er ihr den Block.

Das war nicht meine Absicht gewesen, verzeih mir.

Sie sah das Zögern in seinen Augen, dann nahm er den Block wieder an sich und schrieb diesmal einen längeren Abschnitt:

Ich habe gesehen, wie du neben mir standest, als es passierte. Du hattest Angst um mich. Ich wollte nicht, dass du so fühlst, ich hatte in diesem Moment so ein schlechtes Gewissen. Schon allein deshalb habe ich mich für diesen dummen Fehler gehasst.

Ich passe in Zukunft besser auf dich und mich auf, ich verspreche es dir!

Persephone las die Sätze mehrmals und sie fühlte, wie sich ihr Magen immer weiter zusammenzog. Sie musste sich dazu zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen. Er fühlte sich schuldig? Weil sie Angst um ihn hatte? Und auch, wenn sie sich geschworen hatte, nicht mehr über die Vergangenheit nachzudenken, so kam ihr in diesem Augenblick doch wieder das Gespräch zwischen Zeus und ihr in den Sinn. Wie er ihr von dem Unfall berichtet hatte; dass ihr Bruder sie beschützen wollte. Ihre Eingeweide verkrampften sich immer mehr. Er konnte sich nicht mehr an diesen Vorfall erinnern, das hatte Zeus ihr versichert; und doch schien er immer noch dieses Beschützende und Umsorgende für sie zu empfinden, das anscheinend nicht nur aus seiner Aufgabe als ihr Partner zu resultieren schein.

Bebend presste sie die Lippen aufeinander, wich aber seinem weiterhin verzeihenden Blick nicht aus. Als sie die Tränen aufsteigen spürte, kniff sie die Augen kurz zusammen und versuchte, das verräterische Schimmern wegzublinzeln. Um eine Ablenkung bemüht, gab sie ihm den Block wieder zurück, den sie die ganze Zeit über in den Händen festgehalten hatte. Die oberen, beschriebenen Seiten, waren leicht zerknittert.

„Ich erinnere dich an das Versprechen, wenn du dich das nächste Mal wieder so verprügeln lässt“, ermahnte sie ihn und räusperte sich leise, als sie ihre belegte Stimme bemerkte. Äneas antwortete wieder mit einem kleinen Nicken und ein kleines Lächeln verirrte sich zurück in seine Mundwinkel. Noch einmal schüttelte Persephone in leichter Verständnislosigkeit den Kopf, dann musste auch sie grinsen.

„Wann bist du eigentlich hier wieder raus?“, nutzte sie den Stimmungsumschwung aus und wechselte eilig das Thema. Ein simples Schulterzucken war die Antwort. Das verstand Persephone auch ohne Nachfrage. Äneas verzog wieder das Gesicht und verdrehte gelangweilt die Augen.

„Ja, da gebe ich dir Recht, die große Party steigt hier drinnen wohl nicht…“, sagte sie und ließ ihren Blick in dem kleinen Zimmer umherschweifen. Decke und Wände waren weiß verputzt und auch der Boden war hell gefliest worden. Zusammen mit dem grellen Deckenlicht der angebrachten Neonröhren, wirkte der Raum steril und ungemütlich und bis auf die Geräte und das Krankenbett gab es auch keine weitere Einrichtung, die diese vier Wände etwas wohnlicher hätte wirken lassen können.

Sie erinnerte sich an ihre Zeit im Krankenzimmer zurück. Sie wäre wahrscheinlich nach einem Tag verrückt geworden, hätte sie nicht regelmäßig Besuch bekommen; auch, wenn es sich dabei fast ausschließlich um Hades gehandelt hatte. Damals hatte sie ja seine Anwesenheit noch als angenehm empfunden…

Obwohl diese Zeit nur wenige Monate zurück lag, kam es ihr so vor, als wäre sie längst vergangene Geschichte, von der lediglich noch verstaubte Bücher berichteten. Zu vieles war in der Zwischenzeit passiert.

Ihr visueller Rundgang endete an dem kleinen Nachtisch, der neben Äneas‘ Bett stand. Ein Klapptisch war an diesem angebracht worden, der, ganz Krankenhaus-typisch, als zusätzliche Abstellfläche für Teller und Gläser genutzt werden konnte. Dieser war auch jetzt aufgeklappt, doch war außer einem Becher Wasser nichts abgestellt.

„Hast du schon etwas zu essen bekommen?“, fragte Persephone und sah stirnrunzelnd zu ihrem Partner zurück. Dieser schüttelte vorsichtig mit dem Kopf.

Ich darf noch nichts essen. Die Ärzte meinten, dass ich heute Abend vielleicht eine Suppe bekomme. Bis dahin gibt’s nur Flüssignahrung.

Als sie wieder von den Zeilen aufsah, deutete Äneas vielsagend auf den Katheter an seinem rechten Handrücken, der mit einem Tropf mit klarer Flüssigkeit verbunden war. Persephone verzog mitfühlend und angewidert zugleich das Gesicht. Sie konnte Spritzen und Nadeln nicht ausstehen. Genauso wenig wie das fade Krankenhausessen. Entweder man war gezwungen, das Zeug in sich hineinstopfen, auch wenn man gar keinen Hunger hatte, oder man durfte tagelang nichts essen. Und wenn man ganz viel Pech hatte, hatte man beide Extreme in einem Zimmer vereint, was darauf hinauslief, dass der eine Patient sich noch schlechter fühlte und der andere seinen Nachbarn vor Hunger und Frust fast anfallen wollte.

Äneas schien ihre Gedanken zu erraten und zuckte hilflos mit den Schultern. Kann man nichts machen…

Persephone dachte kurz nach, dann kam ihr eine Idee. „Was ist mit Eis? Darfst du das essen?“

Wieder ein Schulterzucken, dann breitete sich ein freches Grinsen auf seinen Zügen aus. Sie verstand und erwiderte das Grinsen schelmisch.

„Ich schaue mal, ob ich irgendwo Wassereis für uns auftreiben kann“, sagte sie und stand auf. „Irgendein Kiosk wird das ja wohl haben.“

Äneas nickte ermutigend, hob lächelnd die Fingerspitzen seiner rechten Hand an sein Kinn und führte diese daraufhin wieder ein Stück weit von sich weg. Danke.

Ein warmer Schauer lief Persephone den Rücken runter und unweigerlich musste sie breiter grinsen. So breit, dass ihre Wangenmuskulatur zu schmerzen begann und am liebsten hätte sie freudig angefangen zu lachen. Mit diesem Ausdruck auf den Lippen, zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und eilte mit ausgreifenden Schritten durch die Gänge, die sie – hoffentlich - zum Ausgang brachten. Das Grinsen schien immer weiter zu wachsen und auch das wohle, flattrige Gefühl in ihrer Magengegend wollte nicht verschwinden. Sie fühlte sich unbeschreiblich gut in diesem Moment und innerlich musste sie über diese, im Grunde alberne Situation lachen; ein kleines Danke hatte sie seit Monaten zum ersten Mal wieder richtig glücklich gemacht.

Ein zurückhaltendes Kichern entwich ihr und belustigt schüttelte sie mit dem Kopf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich manche Männer, die ihr auf ihrem Weg entgegen kamen, verwundert nach ihr umschauten, wie sie praktisch schon durch die Gänge rannte und wahrscheinlich dabei wie ein kleines Mädchen aussah, dass hüpfend und jauchzend gerade in seine verdienten Sommerferien entlassen worden war. Sie selbst interessierte das herzlich wenig. Nichts würde ihr das Gefühl ihres in Freude schneller schlagenden Herzen nehmen! In diesem Moment war sie ein gutes Stück weit zufrieden mit ihrem Leben, freute sich, dass es Äneas besser ging, und war einfach glücklich, dass sie ihn hatte. Und ohne ihr Zutun begann sie ein Lied zu summen.

Die Welle an Endorphinen genießend, die gerade durch ihren Körper rollte, erreichte Persephone die Treppe, die ins Erdgeschoß des Parkhauses führte, und nahm beim Erklimmen gleich drei Stufen auf einmal. Mehr dabei auf ihre Füße achtend, überhörte sie den warnenden Ausruf, sodass sie die Person am oberen Absatz erst bemerkte, als sie schon in sie hineingerannt war. Erschrocken nach Luft schnappend, griff sie eilig nach dem Treppengeländer, ehe sie völlig den Halt verloren hätte und rücklings die Stufen runtergefallen wäre. Gleichzeitig explodierte ein drückender Schmerz in ihrem linken Oberarm, als ihr Kollisionsopfer blitzschnell die Hand nach ihr ausstreckte und zupackte.

Mit hämmerndem Herzschlag starrte sie für Sekunden auf ihre verkrampften Hände, dann glitt ihr Blick zu der Männerhand, die ihren Arm wie einen Schraubstock fest umschloss. Am Rande ihrer eingeschränkten Wahrnehmung spürte sie, wie ihr rechter Fuß in der Luft hing; sie musste die Treppenstufe in dem Versuch, Halt zu finden, verfehlt haben. Den schnellen Reflexen des Mannes war es damit wahrscheinlich zu verdanken, dass ihr außer einem Schock nichts weiter fehlte.

Erleichtert ausatmend hob sie den Kopf und wollte gleichzeitig sich bedanken und um Verzeihung bitten, als ihr die bereits zurechtgelegten Worte im Hals stecken blieben. Die Hintergrundmusik ihres Lebens verschluckte sich quietschend, als hätte Gott zu schnell die Nadel vom angeschalteten Grammophon weggezogen.

„Hast du dir wehgetan?“

Hermes‘ zittriger Ausruf harmonierte perfekt mit seinen in Schock aufgerissenen Augen. Seine Haut war so blass, dass sich die Sommersprossen wie braune Punkte in seinem Gesicht überdeutlich abzeichneten. Persephone war sich sicher, dass ihr Teint nicht viel gesünder aussehen musste.

Als sie nichts erwiderte, stellte Hermes sie sicher auf der Stufe ab und ging mit ihr auf Augenhöhe. Da war er wieder: ihr instinktiver Drang, vor jedem zurückzuweichen, der den Höflichkeitsabstand von anderthalb Metern unterschritt. Verbissen unterdrückte Persephone den aufkommenden Impuls und zwang sich, ihrem Gegenüber in die besorgten Augen zu sehen.

„Persephone?“, fragte er nach und als wäre sie aus einem Traum erwacht, blinzelte sie ihm entgegen. Sie schluckte kurz und setzte zur erwarteten Antwort an.

„Mir geht es gut, nichts passiert“, beruhigte sie ihn und strich sich nervös eine wirre Strähne hinters Ohr. „Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen.“ Ihr Blick wanderte zögernd die Treppe herunter und ein Schauer löste sich zwischen den Halswirbeln und rollte ihren Rücken hinab. „Und … danke fürs Auffangen.“

Hörbar atmete Hermes erleichtert aus und schenkte ihr ein schiefes Lächeln.

„Ich hätte dich ja schlecht fallen lassen können. Ein Verletzter reicht für diese Woche, findest du nicht?“

Sie nickte als Antwort, zwang ein zustimmendes Lächeln in ihre Mundwinkel und wollte schon wieder das Gespräch nett beenden, als Hermes auf einmal leicht die Augen senkte und nachdenklich auf seiner Unterlippe kaute. Persephone presste ihre stattdessen verbissen aufeinander. Sie wusste seine Signale zu deuten und der Wunsch, dieser unangenehmen Situation noch rechtzeitig entfliehen zu wollen, wurde immer stärker.

„Hättest du … einen Moment Zeit? Ich wollte gerne mit dir reden, Persephone“, sagte er schließlich und ein tonnenschwerer Stein umschloss ihr Herz. Sie traute sich nicht, etwas zu erwidern, und warf stattdessen einen schnellen Blick in Richtung des hellen Ausgangs, den sie von ihrer Position aus erahnen konnte, in der Hoffnung, dass Hermes den Wink verstehen würde. Doch der junge Mann schien ihr die Entscheidung schon längst abgenommen zu haben.

„Hör zu, ich…“, begann er, unterbrach sich jedoch sofort wieder, als sich in dem Moment ein anderes Mitglied die Treppe hinaufgestiegen und somit in Hörweite kam. Die Stufen waren nicht besonders breit, sodass sich der Fremde an ihnen vorbeidrängen und Hermes sich in diesem Zuge näher vor sie stellen musste, die Hand an der Wand abstützend. Seinem genervten Gesichtsausdruck zu urteilen, war er über diesen Umstand der Störung nicht sonderlich begeistert und sah dem Mann dementsprechend verärgert hinterher. Persephone dagegen behagte die Nähe überhaupt nicht, sodass sich instinktiv ihre Nackenhärchen aufrichteten und sie den Atem anhielt.

Ihre angespannte Körperhaltung endlich bemerkend, rückte Hermes schließlich mit einem gemurmelten „Sorry“ wieder ein Stück von ihr weg und Persephone konnte ein tiefes Aufatmen nicht unterdrücken. Für Sekunden schien keiner der beiden den Anfang machen wollen, bis Hermes endlich die Worte wiederfand und ihren ausweichenden Blick suchte.

„Diese Sache gestern … ich habe dich da wohl in eine unangenehme Situation gebracht, oder?“, fragte er mit viel Vorsicht in der Stimme. Verlegen drehte sie den Kopf noch weiter zur Seite und starrte auf den staubigen Betonboden vor ihr.

„Ich war … etwas überrumpelt“, gab sie leise zu und strich sich erneut eine rebellische Haarsträhne hinters Ohr. Die Erinnerung an seine raunende Stimme nah an ihrem Ohr, trieb ihr ungewollt die Röte zurück ins Gesicht und sie spürte, dass selbst drei Meter Höflichkeitsabstand im Moment nicht ausreichend gewesen wären. Hermes deutete ihre Reaktion und rückte weitere Zentimeter von ihr ab, selbst unruhig auf der Unterlippe kauend und nun ebenso darum bemüht, ihrem Blick auszuweichen. Auf seiner Stirn bildeten sich nachdenkliche Falten, die immer verzweifelter wurden, bis er seufzend den Kopf schüttelte und die Schultern hochzog.

„Tja, da kann man nichts machen.“

Dieses Urteil ließ Persephone dann doch auf sehen. Ein bitteres Lächeln zierte sein junges Gesicht und seine Augen ruhten traurig auf ihr, dass ihr Gewissen ihr augenblicklich einen heißen Stab vom Scheitel bis zur Sohle durch den Körper trieb. Sie presste die Lippen aufeinander und war sich nicht sicher, ob und was genau sie erwidern sollte, als sich Hermes auf einmal mit einer erneuten Entschuldigung wegdrehte und die Stufen hinabsteigen wollte. Verzweifelt griff sie mit beiden Händen nach seinem Oberarm und stoppte ihn mitten im Gang. Verwundert drehte er sich zu ihr um.

„Es tut mir leid“, brach es aus ihr heraus und sie stellte sich wieder mit ihm auf Augenhöhe. In Hermes‘ Blick las sie Bitterkeit, unter das sich ein beschwichtigender Ausdruck mischte, der gegen alle vorherrschenden Gefühle versuchte, für beide Parteien die Situation abzuschwächen.

„Schon gut, es war ein Versuch, mehr nicht“, sagte er, doch Persephone beeilte sich den Kopf zu schütteln, um ihn so zu unterbrechen.

„Nein, hör zu! Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich dich nicht mag, es ist nur-“ Sie stoppte kurz und dachte über ihre nächsten Worte nach. In ihrem Hirn herrschte ein dritter Weltkrieg. „Ich würde dich nicht … glücklich machen. Glaube ich. Ich muss erst einmal mit mir selbst klarkommen, bevor ich das mit einer anderen Person versuche. Ich bin einfach noch nicht bereit für … für sowas.“ Verzweifelt sah sie ihm ins Gesicht. „Es tut mir leid“, wiederholte sie. „Ich wollte dir nicht wehtun.“

Für gefühlte Stunden sahen sie sich schweigend an, dann fing Hermes an zu lächeln, was Persephone irritiert eine Braue heben ließ.

„Bitte mache dich deswegen nicht fertig“, bat er sie und befreite sanft seinen Arm aus ihrem Griff, den Persephone in der Zwischenzeit ganz vergessen hatte. „Ich verstehe das, sehr gut sogar. Es soll nicht sein, ich akzeptiere das und ich kann damit auch leben. Ich bin weder gekränkt, noch wütend.“ Seine vorangegangene Traurigkeit war aus seinen blauen Iriden weggewischt und stattdessen leuchteten diese vor Erleichterung. Kurz verschwand sein Lächeln und er sah sie etwas ernster an.

„Kannst du mir etwas versprechen, Persephone?“

Sofort nickte sie.

„Lass mich weiterhin dein Freund sein. Frei von Hintergedanken. Ich möchte für dich da sein, wenn du mir das gestattest.“

Etwas lockerte sich in ihr; eine eiserne Hand, die sich während des Gesprächs um ihr Herz geschlossen hatte, löste sich und ließ sie das erste Mal wieder erleichtert aufatmen. Sie glaubte ihm. Jedes einzelne Wort.

„Das verspreche ich dir gerne“, sagte sie und sah Hermes offen in die Augen. Auch von ihm schien die Anspannung in diesem Moment abzufallen und das fröhliche Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück, als wäre zuvor nichts zwischen ihnen vorgefallen.

Reifeprüfung

Es gab Tage, da hasste Herk seinen Job.

Diese kündigten sich meistens damit an, dass Zeus oder Hades – oder, wenn das Schicksal es ganz beschissen mit ihm meinte, beide – ihrem Top-Ausbilder die Informationen zu den neuen Missionen präsentierten und Herk allein vom Studieren dieser ein nervöses Augenzucken bekam; in ganz schlimmen Fällen schnürten ihm die Zeilen sogar den Hals zu, dass die schlechte Laune gleich vorprogrammiert war.

Dabei gab es verschiedene Auslöser; mal war es die Aufgabe selber, die in seinen Augen kaum umsetzbar schien, mal war es schier die Überzahl an Anfängern, die für diese viel zu schwierige Mission eingeteilt wurden, mit denen er sich dann spätestens auf dem Schlachtfeld rumärgern durfte. In solchen Situationen dachte Herk sich im Stillen, wie die beiden Anführer eigentlich auf die Idee kamen, so große Stücke auf ihn zu setzen. War er Gott? Hatte er Löcher in den Händen oder vier Arme und drei Augen? Er war gut in dem, was er tat, ja, aber Wunder vollbringen zählte seines Erachtens nicht zu seinen herausstechenden Eigenschaften. Ja, in solchen Momenten würde er am liebsten kündigen. Wenn er denn könnte…

Missionen à la „Wünsch-dir-was“ waren das eine, was ihm den Tag verhageln konnte; kindische und nörgelnde Mitglieder waren dagegen die perfekte Rezeptur dafür, dass Herk für eine ganze Woche nicht einmal mit einem höflichen „Guten Morgen“ in der Kantine begrüßt werden wollte. Und es kam für seinen Geschmack viel zu häufig vor, dass er an dem geistigen Alter seiner Schüler zweifelte.

Heute war wieder so ein Tag und er vereinte alles, was Herk liebend gern umschifft hätte. Aber es war nun mal sein Job; auch, wenn er sich sicher war, dass ihn Zeus damals nicht als Kindergärtner ins Boot geholt hatte.

Er konnte kleine Kinder nicht ausstehen, und das nicht ohne Grund. Dieses ständige Zanken wegen Kleinigkeiten wie Spielzeuge oder Haare ziehen waren anstrengend, besonders, wenn sie anfingen mit ihren schrillen Stimmen loszubrüllen. Hinzu kam die ewige Litanei, dass man das andere Geschlecht partout doof finden musste. Die verhöhnende Ironie dabei war in Herks Augen ja, dass in zehn Jahren diese Bälger mit ihren pickeligen Fratzen so hormongesteuert sein würden, dass sie pausenlos über einander herfallen wollten.

Zum Heulen waren da jedoch die ganz resistenten Fälle, die selbst nach knapp zwanzig Jahren diese unkooperative Einstellung noch nicht abgelegt hatten - mit dem einzigen Unterschied, dass aus den „doofen Mädchen“ und „blöden Jungs“ nun „Furie“ und „Bastard“ geworden waren.

Herk konnte nur mit dem Kopf schütteln, als er hier, auf dem Parkdeck von Olymp, zwischen den zwei bewaffneten Parteien stand, die sich ansahen, als hätte man weiß Gott für perverse Dinge vor laufender Kamera von ihnen verlangt. Kindische, nörgelnde Bälger in den Körpern von Mitte Zwanzigjährigen.

Und sowas darf Alkohol trinken und Auto fahren, dachte Herk und fuhr sich seufzend durchs Gesicht. Er spürte, wie die Kopfschmerzen anrollten, und wusste sofort, dass er die nächsten Tage wieder herrliche Laune haben würde. Vielleicht sollte er doch an einem Kündigungsschreiben für Zeus feilen…

„Du machst Witze, oder?“, fragte Ares ungläubig und verschränkte noch stärker die Arme vor der Brust.

„Sehe ich wie’n Clown aus?“

Herks knurrender Tonfall war leider nicht so einschüchternd, wie er es sich erhofft hatte, denn Persephone fiel ihm augenblicklich kopfschüttelnd ins Wort.

„Zeus kann das nicht ernsthaft veranlasst haben“, fing sie an und sah verunsichert zu Äneas, der neben ihr stand. „Ich meine, wir sind doch noch lange nicht soweit.“

Unbeeindruckt zuckte ihr Lehrer mit den Schultern. „Mit Trockenübungen werdet ihr das auch niemals sein.“

Er hatte keine Lust auf diese nervige Diskussion, doch selbst Orpheus mischte sich nun in das Gespräch mit ein und trat ein paar Schritte vor. „Ich muss Persephone recht geben, die Kräfteverteilung ist zu unausgeglichen. Das wäre nicht fair und würde rein gar keinen Sinn machen.“

„Ja, und es ist eine bodenlose Frechheit von Zeus ausgerechnet uns für dieses hirnverbrannte Experiment auszuwählen!“, mischte sich Ares brummend ein und warf einen vielsagenden Blick zu Äneas und Persephone. Letztere lächelte zuckersüß zurück.

„Vielleicht wollte er auch nur nett sein, und dir mal zur Abwechslung etwas deinem geistigen Niveau Angemessenes auftragen“, konterte sie spitz und sah mit Genugtuung dabei zu, wie der Angesprochene wütend die Fäuste ballte.

„Das nimmst du zurück, du-“

„Schluss jetzt!“, ging Herakles dazwischen und augenblicklich waren vier, teilweise erschrocken wirkende Augenpaare auf ihn gerichtet. Sein Blick wanderte über die Anwesenden, verweilte dabei länger mit mahnend hochgezogener Braue auf Ares, in dessen hellen Iriden es immer noch rebellisch funkelte. Zumindest seine geballten Hände öffneten sich mit der Zeit, was schon eine Art Unterwerfung bei diesem Dickkopf darstellte. Noch einmal massierte Herk sich den breiten Nasenrücken, ehe er wieder mit energischer Stimme ansetzte:

„Hört auf zu jammern wie Kleinkinder!“ Er richtete seine durchdringenden Augen auf die junge Frau, die mit Respekt den Kopf leicht nach unten geneigt hatte, um seinem Blick so zu entgehen.

„Ihr haltet euch für noch nicht so weit?“, begann er und zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Das wird eure Gegner zukünftig nen Scheiß interessieren! Die werden keinen Gang zurückschalten, nur um euch eine faire Chance zu geben.“

Er sah, wie sie bei seinen harschen Worten zusammenzuckte, und selbst Äneas, der hinter ihr stand, wie eine Statur, die von Zeit zu Zeit zum Leben erwachte, um einen Atemzug zu nehmen oder zu blinzeln, presste die blassen Lippen aufeinander.

Als keine Widerworte kamen, wandte er sich Orpheus zu.

„Und du glaubst, dass sie zu schwach seien?“, fragte er seinen ehemaligen Schüler und deutete dabei auf die junge Frau und ihren stummen Begleiter, eine Braue dabei ungläubig in Richtung Haaransatz gezogen. „Unterschätz nie deinen Gegner! Ich hatte gehofft, dass zumindest du das irgendwann während deiner Ausbildung verstanden hättest.“

Kurz wanderte sein Blick zu Ares, dann atmete er tief durch und ließ seine zurechtgelegte Maßregelung kurzerhand doch schnaubend fallen.

„Über dich will ich erst gar nicht nachdenken, ich steh jetzt schon kurz vor ner Migräne“, brummte er verstimmt und wischte die Thematik mit einer Handbewegung beiseite, ehe der Blonde zum Protest ausholen konnte.

Schließlich stellte er sich zwischen die Parteien und verschränkte in gewohnter Manier die Arme vor der Brust. „Hört zu!“ Seine tiefe Stimme hallte donnernd bis in die hintersten Ecken des Parkdecks. „Die Übung ist beschlossene Sache und ich will, dass ihr das hier ernst nehmt. Ihr werdet gegeneinander arbeiten, mit allen Mitteln, die man euch beigebracht hat. Eure Aufgabe wird sein, eine Zielperson sicherzustellen.“ Damit deutete er auf sich selbst. „Diese werde ich sein. Das Team, das mich als erstes geschnappt hat, kriegt kein Sondertraining aufgebrummt. Ist das angekommen?“

Er entfernte sich von seinen Schülern und ging in Richtung der alten Aufzüge, die neben dem Schacht des Treppenhauses verliefen. Die jungen Leute weiter im Blick behaltend, drückte er beiläufig auf den Knopf, sodass sich die Türen beider Aufzüge ratternd öffneten. Eine Antwort nicht abwartend, stieg er in den linken Aufzug und wählte einen Stock.

„Dann geht es los!“

„Was, jetzt sofort?“, rief Ares noch verwundert, doch da schlossen sich schon die Türen und der Aufzug setzte sich in Bewegung.

Für Sekunden starrten alle Vier auf die digitale Anzeige des Fahrstuhls, die signalisierte, dass Herk bereits das achte Stockwerk erreicht hatte. Im zehnten hielt er schließlich an. Er war also auf dem Dach. Mit fragenden Blicken sahen sich die beiden Teams an, dann, wie auf ein stummes Kommando hin, rannten Ares und Orpheus auf den zweiten Aufzug zu und drückten auf den Knopf.

Viel zu spät realisierte Persephone ihr Vorhaben und setzte sich ebenfalls fluchend in Bewegung. Sie und Äneas versuchten den Fahrstuhl noch rechtzeitig zu erreichen, doch da hatten sich schon die Türen soweit geschlossen, dass sie nur noch einen kurzen Blick auf Ares‘ breites, triumphierendes Grinsen erhaschen konnte.

„Scheiße!“, entfuhr es ihr laut und wütend schlug sie die flachen Hände gegen die geschlossenen Metalltüren.

Die Prüfung hatte begonnen.
 

Mit Mühe konnte Ares ein Lachen unterdrücken. „Hast du ihr Gesicht gesehen?“, fragte er Orpheus, der neben ihm die Stockwerkanzeige im Auge behielt. Bei der Erinnerung an Persephones in Verblüffung aufgerissene Augen, entwich ihm dann doch ein belustigtes Schnaufen. „Das hier ist die lächerlichste Aufgabe, die sich Zeus je hat einfallen lassen!“

„Abwarten.“

Orpheus‘ ernste Stimme ließ seinen jüngeren Partner innehalten und den Blick wenden. Wie gebannt fixierte der ehemalige Springer weiterhin die langsam aufsteigenden Zahlen. Inzwischen hatten sie die ersten drei Stockwerke hinter sich gelassen. Genervt verdrehte Ares die Augen.

„Du bist nen verschrobener Pessimist.“

Die Aufzüge waren alt und nicht die schnellsten, aber dennoch würden sie so immer noch schneller das Dach erreichen, als über das Treppenhaus, da war sich Ares sicher. Orpheus drehte leicht den Kopf und sah ihn für einen kurzen Moment an.

„Ich bin Realist“, verbesserte er ihn und sah dann erneut auf die Ziffern. Vierter Stock. „Ich würde mich sehr wundern, wenn die Sache hier so schnell zu Ende gehen würde“, fügte er murmelnd hinzu und Ares wollte mürrisch etwas erwidern, als auf einmal ein heftiger Ruck den Aufzug stoppen ließ und das schummrig grüne Notlicht das normale Deckenlicht ersetzte. Der Halt kam so unerwartet und schwankend, dass sich beide Männer erschrocken an den Wänden der Kabine festhielten, um nicht zu fallen. Mit geweiteten Augen suchten sie den Blick des anderen. Aus beiden Gesichtern sprach die Überraschung und Ares spürte seinen Herzschlag bis in den Hals hinauf. Sein Blick wurde immer verwunderter, bis Orpheus ihm die unausgesprochene Frage beantwortete:

„Sie ist auch Hades‘ Schülerin.“

Verwirrt zog der Angesprochene die Augenbrauen zusammen. „Du meinst…?“, begann er, doch dann verstand er und wütend verengte er die Augen. „Dieses Miststück!“

„Mit allen Mitteln, schon vergessen?“, erinnerte Orpheus ihn an die Worte ihres Mentors, trat im nächsten Augenblick an das Innentableau und fuhr mit den Fingern über den kleinen Spalt zwischen den Metallflügeln. „Wir müssen schnell hier raus kommen, sonst haben sie uns bald eingeholt!“

Mit verbissenem Gesicht versuchte er mit den Fingerspitzen zwischen den Spalt der Türflügel zu gelangen und ohne eine weitere Aufforderung ging ihm Ares schließlich zur Hand. Gemeinsam schafften sie es, die schwergängigen Metallplatten des Aufzuges auseinanderzuziehen, nur um dahinter den nackten Beton des Schachtes zu erblicken.

Ein leiser Fluch kam über Ares‘ Lippen, bevor Orpheus ihn leicht anstieß und über ihre Köpfe deutete. Sie hatten Glück gehabt; Persephone hatte den Fahrstuhl erst kurz vor der nächsten Etage zum stoppen gebracht, sodass am oberen Ende der untere Teil des nächsten Außentableaus zu erkennen war. Ares schätzte die Höhe ihres provisorischen Ausstiegs auf 50cm; gerade hoch genug, damit ein ausgewachsener Mann ins Freie kriechen konnte.

Er nickte Orpheus zu, der daraufhin die Hände zu einer Steighilfe zusammenlegte, auf die Ares im nächsten Moment stieg und so durch den entstandenen Schacht kroch. Kurz blickte er sich um, doch das Parkdeck, auf dem er sich nun befand, war ruhig und menschenleer; nur von den Straßen unter ihnen hallten leise Motorengeräusche von vorbeifahrenden Autos hinauf. Leichter Wind blies ihm die blonden Haare aus der Stirn. Von Persephone oder Äneas gab es keine Spur, also drehte er sich wieder dem Aufzugschacht zu, und half Orpheus aus der Kabine.

„Wie ist die Lage?“, fragte Orpheus und Ares antwortete mit einem Kopfschütteln.

„Zu ruhig.“ Sein Partner verzog nachdenklich die Stirn und sah zur angelehnten Tür des Treppenhauses.

„Wir müssen jetzt so oder so zu Fuß hoch, also los!“ Er stand der Tür am nächsten und zog sie, sich zu Ares umblickend, beiläufig auf, sodass er die Person dahinter viel zu spät registrierte; auch Ares‘ Warnung ließ ihn nicht mehr rechtzeitig herumfahren, sodass Äneas‘ Faustschlag Orpheus mit voller Wucht am Wangenknochen traf. Keuchend sackte der ehemalige Springer zusammen und sein Angreifer ließ keine Sekunde verstreichen, sondern setzte sofort nach und stürzte sich auf ihn. Noch bevor Ares reagieren konnte, hatte sich Orpheus doch schon wieder gefangen, wehrte Äneas‘ zweiten Schlag ab und verwickelte den Jüngeren in einen Zweikampf am Boden, in dem sich schnell herausstellte, wer den Schlagabtausch deutlich dominierte.

Trotz der Überlegenheit seines Partners, wollte Ares nicht unnütz daneben stehen und zusehen, als er aus den Augenwinkeln Persephone die Treppen hochlaufen sah. Die junge Frau geriet ins Stocken, als sie bemerkte, dass der wahrscheinlich geplante Kampf bereits im vollen Gange war, und gefror dann ganz in ihrer Bewegung ein, als sie Ares‘ Blick auf sich ruhen spürte. Der Augenkontakt währte nur Bruchteile einer Sekunde, dann erkannte er, dass sein Gegenüber die Lippen aufeinander presste und plötzlich losrannte – direkt auf die Tür zu, die Treppenhaus und Parkdeck voneinander trennte. Ares handelte instinktiv und lief ihr entgegen, die kleine Lücke, die sie anvisiert hatte, die zwischen ihm und der Tür gewesen war, dadurch schließend und ließ sie in die Falle laufen.

Sie versuchte noch, an ihm vorbeizukommen, doch da hatte Ares sie schon mit beiden Armen von hinten gepackt und hob sie von den Füßen. Vergebens wandte und zappelte sie in seinem Griff und zerrte an seinen Armen, die ihre Taille wie einen Schraubstock umschlossen.

„Bleib ruhig, du Furie“, zischte Ares verbissen und versuchte den pochenden Schmerz in seinen Schienbeinen zu ignorieren, gegen die dieses Biest ständig mit den Fersen donnerte. Wütend drückte er noch fester zu, worauf ihr ein gequältes Japsen entwich und sie endlich die Beine stillhielt. Na bitte - geht doch.

„Ganz ruhig“, wiederholte er beschwörend und musste triumphierend grinsen, als er merkte, dass ihr Widerstand immer weiter abebbte. „So ist’s brav. Hör auf Daddy und lass den -“

Der Rest des Satzes ging in einem wütenden Aufschrei unter, als sich Persephone auf einmal zu Ares‘ Oberarm beugte und zubiss. Sofort lockerte sich sein Griff und keuchend fiel die Jüngere zu Boden, rappelte sich jedoch augenblicklich wieder auf und rannte los.

Die Hand auf die schmerzende Stelle gelegt, sah er ihr hinterher und erkannte erst Persephones Anliegen, als sie schon den Fahrstuhl erreicht hatte. Im Lauf ließ sie sich fallen und rutschte mit den Beinen voran durch den Schacht und verschwand in der Kabine. Fluchend schlug er dieselbe Richtung ein. Er sah noch, wie Persephone die Schaltleiste aufzog und darunter etwas eintippte. Die Aufzugkabine erwachte wieder summend zum Leben und mit einem breiten Grinsen sah sie zu ihm hinauf.

„Ich bin schon immer ein Mama-Kind gewesen!“

„Miststück!“

Ares versuchte noch die sich schließenden Tableaus aufzuhalten, doch er kam zu spät. Eine herausgestreckte Zunge, gepaart mit einem provokant erhobenen Mittelfinger, war das letzte, was er sah, ehe sich die Türen geschlossen hatten und Ares fluchend zurückließ.

„Ares!“ Orpheus‘ befehlende Stimme ließ ihn zähneknirschend herumfahren. Er war immer noch mit Äneas beschäftigt, der sich unter seinem festpinnenden Griff am Boden weiterhin mit allem, was ihm geblieben war, gebärdete. Sein Partner machte einen verbissenen Eindruck, der Kampf schien sich als nicht ganz so leicht zu gestalten, wie er und Ares am Anfang gedacht hatten.

„Nimm die Treppen und halte sie auf!“, rief ihm Orpheus wütend entgegen. Ares kochte ebenso vor Wut, sodass er diese Aufforderung als überflüssig empfand.

„Mit Vergnügen!“, knurrte er und rannte los.
 

Ihr Herzschlag pochte in ihrem Hals und hastig atmend lehnte sich Persephone gegen die Kabinenwand. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Sache so brenzlig werden würde. Ihr anfänglicher Plan war es gewesen, Orpheus und seinen Spinner von Partner in dem Fahrstuhl feststecken zu lassen, sodass sie keine Möglichkeit gehabt hätten, aus diesem heraus zu kommen. Doch leider hatte sie sich mit dem Zeitpunkt verschätzt, und es war schließlich Äneas zu verdanken gewesen, der vor ihr die Treppen hochgerannt war und das gegnerische Team einholen konnte, dass sie dennoch im Rennen geblieben sind und nun eine reelle Chance hatten, die Aufgabe zu meistern. Ihr Partner hatte blitzschnell die Taktik geändert und sie hatte Gott sei dank intuitiv richtig gehandelt.

Auch wenn sie beide jetzt wohl nicht mehr so glimpflich davon kommen werden…

Ihr Rücken und Steißbein, auf die sie sich bei ihrer Flucht hatte fallen lassen, pulsierten vor Schmerz und auch, als sie prüfend das Shirt hochzog und die geröteten Stellen an ihren Hüftknochen betastete, sog sie zischend die Luft ein. Ares hatte so feste zugedrückt, dass sie kurz Panik in sich aufsteigen gefühlt hatte, und beinahe vor Schmerz aufgeschrien hätte. Verärgert biss sie die Zähne aufeinander und zog ihr Shirt wieder herunter. Das würde er ihr noch büßen! Und mit einem zufriedenen Grinsen dachte sie an den Biss zurück. An Ares‘ erschrockenen Aufschrei und sein wütendes Gesicht. Das war definitiv nur der Anfang gewesen.

Sie atmete tief und langsam durch und versuchte sich so etwas zu beruhigen. Mit etwas Glück dürften sie es jetzt geschafft haben. Ihre Gedanken schweiften zu Äneas ab, der sich so mutig Orpheus entgegen gestellt hatte, um ihr eine Möglichkeit zu geben, die Prüfung für ihr Team zu entscheiden. Sie wussten beide von Orpheus‘ früherem Status hier bei Olymp und Persephone konnte auch voll und ganz nachvollziehen, warum dieser Mann als Talent gehandelt wurde; sie hatte ja schließlich oft genug die Chance erhalten, ihm bei seinem Training zu beobachten. Das, was Äneas da gerade getan hatte, war also die reinste Selbstopferung gewesen. Dafür musste sie jetzt gewinnen!

Entschlossen sah sie zur Anzeige hinauf. Neunter Stock. Gleich hätte sie ihr Ziel erreicht. Ein letztes Mal durchatmend, straffte sie die Schultern, trat angespannt vor das Tableau und wartete. Mit einem sanften Ruck hielt der Aufzug an und die Metalltüren schoben sich auf. Dahinter tauchte der letzte Abschnitt des Treppenhauses auf. Persephone stieg vorsichtig aus und spürte, wie ihr Herz einen kräftigen Satz machte, als sie auf einmal polternde Schritte hinter sich hörte, die mit jeder Sekunde lauter wurden.

Erschrocken fuhr sie herum und im selben Moment sah sie Ares die letzten Stufen des Treppenhauses nehmen, der, oben angekommen, ebenfalls abbremste und sie mit einer Mischung aus Erschöpfung und zerknirschter Wut anstarrte, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Dieser Blick stellte jeden Stier, dem man ein rotes Tuch vor die Nase hielt, in einen nachtschwarzen Schatten. Sein tiefes Schnaufen hallte an den Wänden wider und angespannt sahen sie sich an, ließen sich keinen Moment aus den Augen. Persephone unterdrückte den Drang, kopflos loszurennen. Sie fühlte sich wie eine Maus, die sich direkt in die Reichweite einer Schlange verirrt hatte. Die kleinste Bewegung würde den Räuber dazu veranlassen, hervorzuschnellen und zuzuschnappen. Ihre Stirn war nass und ein Schweißtropfen löste sich und zog die Konturen ihres Kiefers nach. Verdammt. Sie war so knapp dran gewesen! Aus den Augenwinkeln erkannte sie die Metalltür, die hinaus aufs Dach führte.

Das Ziel. Knappe zehn Meter von ihr entfernt. Sie hatte einen kleinen Vorsprung von ungefähr drei Metern; wenn sie schnell genug war, könnte dieser ausreichen… Ihr Blick wanderte wieder zu Ares, beobachtete die Muskeln seines breiten Brustkorbs, der sich weiterhin kräftig hob und senkte. Sie versetzte vorsichtig ihren linken Fuß um wenige Handbreiten und sofort fixierten seine hellen Augen diese Bewegung, die Muskeln seines ganzen Körpers zum Zerreißen angespannt.

Einen Lidschlag später rannte er los. Obwohl sie damit gerechnet hatte, durchfuhr sie im ersten Moment Panik, sodass sie einen wichtigen Meter einbüßte, ehe sie selbst auf dem Absatz umdrehte und alles gab, was sie noch besaß, um diese verdammte Tür vor ihr als erste zu erreichen. Einem Tunnelblick gleich, blendete sie alles andere um sich herum aus, konzentrierte sich nur noch auf das Ausgangsschild und ihre weit ausgreifenden Schritte. Sie spürte, wie Ares‘ Hand sie am Rücken streifte und zu packen versuchte, hörte seine zornerfüllte Stimme hinter sich, doch da war die Klinke endlich in Griffweite. Sie streckte die Hand in Richtung Tür, da verspürte sie einen Ruck an ihrem Shirt, der sie nach hinten zog und wahrscheinlich zu Boden gerissen hätte, hätte sie in diesem Moment nicht die Hand um die Klinke gelegt. Gleichzeitig tauchte Ares‘ Oberkörper neben ihr auf und blitzschnell packte ebenfalls er den Türgriff und umschloss somit auch ihre Hand. Sie fühlte, wie ihre Finger in seiner Pranke zerdrückt wurden, dass sie beinahe wieder aufgeschrien hätte, doch zu ihrem Glück währte der Moment nur kurz, bis Ares und sie die Tür zum Dach gemeinsam aufstießen und ins Freie stolperten.

Durch den Schwung, mit dem Ares sie mehr oder weniger mitgerissen hatte, kämpfte sie mit dem Gleichgewicht, hielt sich für drei, vier stolpernde Schritte noch auf den Beinen, ehe sie erschöpft auf Knie und Handflächen fiel. Sofort breitete sich ein stechender Schmerz in diesen aus, der sich nahezu ihre ganzen Gliedmaßen hochzog. Ihre Arme zitterten unter dem Gewicht ihres Oberkörpers und am liebsten hätte sie sich ganz fallen gelassen.

Ein dunkles, keuchendes Husten ließ sie ihren Kopf heben und zur Seite sehen. Ares stand wenige Meter neben ihr, die Hände auf die Knie gestützt und heftig atmend. Erst jetzt bemerkte sie ihren eigenen, pfeifenden Atem, mit dem sie unermüdlich die eiskalte Luft in ihre rebellierende Lunge zwang.

Als hätte er ihren Blick gespürt, sah Ares in diesem Moment zu ihr. Von seiner Wut, die vor ein paar Minuten noch seine kalten Augen dominiert hatte, waren lediglich Funken übrig geblieben; die Erschöpfung stand auch ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben.

Sie spielte kurz mit dem Gedanken, einen Waffenstillstand mit ihm auszuhandeln, als auf einmal ein langsames, lautes Händeklatschen die Aufmerksamkeit von ihr und ihm vollständig auf sich zog. Fast synchron fuhren ihre Köpfe herum und sahen zu Herk hinauf, der über ihnen auf dem kleinen Dach des Treppenhauses saß und in bekannter Manier die Arme verschränkte.

„Welch eine Überraschung! Prinzessin Peach und unser mentaler Peter Pan.“ Der Leutnant legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue hoch. „Ich hätte ja darauf gewettet, dass ihr bereits im ersten Stock hängen geblieben seid. Wo habt ihr die Erwachsenen gelassen?“

Ares war der erste, der die Luft zum Sprechen wiederfand. Er richtete sich auf und schnaufte verstimmt. „Sind beschäftigt“, brummte er und sofort war seine schlechte Laune wieder präsent.

Herks Braue wanderte noch ein Stückchen höher und sein Ausdruck bekam etwas Ungläubiges. „Ah, und da hat man euch vorgeschickt?“, fragte er nach und hob in einer theatralischen Geste die Hände in die Höhe. „Olymps Zukunft ist gesichert, ich kann friedlich sterben!“, rief er gespielt enthusiastisch aus. Persephone brauchte nicht in Ares‘ Richtung schauen, um seine Reaktion darauf zu erkennen; sie hatte das Gefühl, als wäre es auf einmal um 10 Grad kälter neben ihr geworden…

„Blas den Scheiß hier endlich ab, Herk!“, knurrte Ares wütend. „Ich habe als Erster das Dach erreicht, also haben wir gewonnen.“

Jetzt lag es an Persephone, ihm einen zornigen Blick zuzuwerfen.

„Spinnst du? Ich war vor dir hier oben!“, fauchte sie aufgebracht und Ares holte ebenfalls schon Luft für einen Konter, als Herk die Diskussion im Keim erstickte.

„Ihr steht beide vor mir, also ist dieser ‚Scheiß‘ noch nicht vorbei!“, entgegnete er und unterstrich seine Wortwahl mit der betonenden Handbewegung. Auch seine Laune schien eine stetige Talabfahrt zu durchlaufen, was den Blonden jedoch wenig zu interessieren schien. Dieser schnaufte genervt und vergrub die Hände in den Taschen seiner Sporthose.

„Na schön, und was willst du jetzt machen? Sollen wir bis zehn zählen und du versteckst dich?“

„Ihr werdet kämpfen!“

Wäre es bei diesem Wettbewerb um Synchronität gegangen, hätte Herk in diesem Moment, in dem seine beiden Schüler ihn exakt gleich mit tellergroßen Augen entsetzt anstarrten, vollends zufrieden sein müssen. Erneut fand Ares seine Sprache als erster wieder, während Persephone noch deutlich mit der eingefrorenen Atmung zu kämpfen hatte, und versuchte die ganze Situation mit einem perplexen Lachen als Scherz abzustempeln.

„Keine Chance, ich schlage keine Frauen!“, sagte er erstaunlich nüchtern, was Herk allerdings nur ein kleines Lächeln entlockte, welches, in Persephones Augen, überhaupt nicht erfreut wirkte.

„Sagst du das auch, wenn dir `ne Polizistin ihre Waffe auf die Brust setzt?“, konterte er und seinem dunklen Tonfall konnte man die Ungeduld anhören. „Ich dulde kein Unentschieden, ihr werdet kämpfen, bis ich zufrieden bin!

Der Blick des Jüngeren schwang etwas ins verzweifelte um, als habe er sichtlich damit zu kämpfen, ein vernichtendes Gegenargument aufzutreiben. „Aber … das kann nicht dein ernst sein!“

„Mein vollster, und jetzt fangt an, oder ich mische mit!“ Herk stand auf und wirkte somit noch größer und erhabener, als er schon vorher auf der Erhöhung gewirkt hatte. Zornig sah er auf sie und Ares herab. „Das hier soll kein Versteckspiel werden, sondern eine Simulation! Oder fangt ihr auch mit euren Gegnern an zu diskutieren oder entdeckt eure ritterliche Ader, wenn ihr und die Bullen die Zielperson gleichzeitig erreichen?“ Seine Augen verengten sich bedrohlich und in einer Kopfbewegung deutete er auf die Schwerter, die beide umgeschnallt hatten. „Ihr habt die Dinger an euren Gürteln nicht zur Dekoration, also los!“

Zögernd legte Persephone eine Hand auf den kalten Schwertgriff und senkte den Blick auf die Waffe. Während diesem Wettlauf gegen Ares und Orpheus hatte sie ganz vergessen, dass sie das Kurzschwert überhaupt trug. Die Klinge war ungefähr 40cm lang, der Griff schmucklos und abgegriffen, was zur Folge hatte, dass sie regelmäßig nach langen Trainingstagen Blasen an den Fingern bekam. Man konnte der Waffe ansehen, dass sie bereits durch viele Hände gegangen war; es war ein Übungsschwert, mehr nicht, und dennoch war die Klinge in einem verhältnismäßig guten Zustand und durchaus in der Lage, jemanden ernsthaft zu verletzen. Nein, das Schwert war keineswegs Dekoration. Sie fühlte sich dennoch nicht wohl bei dem Gedanken, von ihr Gebrauch zu machen. Persephone zuckte zusammen, als eine weitere barsche Aufforderung von Herk über das Dach hallte.

Reiß dich zusammen, fuhr sie sich selbst in Gedanken an und presste die Lippen aufeinander. Trau dich! Du musst ihn ja nicht töten! Zögernd legte sich ihr Blick auf Ares. Er spielte definitiv in einer anderen Liga als sie, sie würde ihn mit Sicherheit nicht ernsthaft verletzen können. Was habe ich also zu verlieren? Etwas selbstsicherer legten sich ihre Finger um den Schwertgriff. Sie würde in Zukunft „echten“ Gegnern gegenüberstehen und sie konnte und wollte sich nicht allein auf Äneas verlassen, dass er sie vor allem schützte. Nein, sie wollte nicht, dass er sich noch einmal für sie opferte! Ich muss lernen, mich selbst zu verteidigen!

Gerade wollte sie die Klinge aus der Scheide ziehen, als Ares ihr mit einer schnellen Handbewegung Einhalt gebot. Fragend zog sie die Brauen zusammen, doch der Blonde achtete schon gar nicht mehr auf sie. Er hatte sich zu seinem ehemaligen Trainer gedreht und hob beschwichtigend die Arme.

„Warte! Sie trainiert wie lange schon?“, fragte er ihn und lachte kurz zynisch. „Bei allem Respekt, Herk, aber sie hat doch keine Chance!“

Herks Reaktion war eine Augenbraue, die sich in vielsagender Manier in Richtung kurzen Haaransatz hob. „Sagt derjenige, der sich nach seinen ersten drei Wochen hier mit einem Springer angelegt hat.“

Persephone blinzelte und sah Ares skeptisch ins perplexe Gesicht.

„Ernsthaft?“

Als hätte er vergessen, dass sie ebenfalls anwesend war, sah er sie für einen kurzen Augenblick verwirrt an, ehe sich sein Ausdruck wandelte und er bissig zurück starrte; eine Reaktion, die sehr im Gegensatz zu seinen rot anlaufenden Ohren stand, stellte Persephone fest und innerlich musste sie schmunzeln.

„Das ist was ganz anderes gewesen, man hatte meinen Stolz verletzt!“, zischte der Ältere gereizt, drehte sich dann wieder eilig Herk zu und versuchte es mit einem versöhnlichen Lächeln. „Herakles, sind wir doch mal ehrlich, die Kleine hat doch gerade erst gelernt, das Schwert am richtigen Ende anzufassen!“

Nun war es Persephone, die die Brauen hob. Sie war vielleicht nicht besonders gut, aber so schlecht, wie dieser Idiot sie hinstellte, war sie nun auch nicht mehr. Sie wollte widersprechen, doch bei seinen nächsten Worten bröckelte ihre zurückhaltende Fassade sichtbar. Mit weiterhin ausgebreiteten Armen stand Ares da und schwang große Reden. Sein überhebliches Lachen war die reinste Provokation.

„Wir können von Glück reden, wenn sie sich nicht selbst mit dem Ding den Kopf abtrennt, warum also auf dieses Affentheater hier weiter beste-“

Seinen geschulten Reflexen war es zu verdanken, dass Ares noch rechtzeitig das Schwert ziehen und ihren Angriff abblocken konnte. Aus geweiteten Augen starrte er die Kleinere vor sich an, die mit einem verbissenen Gesichtsausdruck und vollem Körpereinsatz ihre Klinge gegen seine viel größere drückte.

„Was … bist du jetzt völlig wahnsinnig geworden?“, fragte er überrascht, doch Persephone antwortete zunächst nur mit einem verbissenen Grinsen, das alles andere als heiter aussah. Sie erhöhte den Druck gegen Ares, bis dieser sich gezwungen sah, die verkeilten Klingen voneinander zu trennen und zwei, drei Schritte Abstand zu nehmen. Sie strich sich eine lose Strähne hinters Ohr, ehe sie wieder beide Hände an den Schwertgriff legte. Ares musste zugeben, dass er sie selten so wütend gesehen hatte.

„Nein, mein Stolz wurde gerade nur mit Füßen getreten!“, konterte sie zynisch und griff im nächsten Moment wieder an.

Wie erwartet, waren ihre Schläge ungelenk und wenig präzise; man konnte ihr ansehen, dass diese Bewegungen für sie immer noch ungewohnt waren, und sie über sie bewusst nachdenken musste. Somit war es ein leichtes für ihn, sie abzuwehren oder ihr schlichtweg auszuweichen. Das hier war doch die reinste Lachnummer ohne jeglichen nachvollziehbaren Hintergrund!

Er spielte noch für drei, vier weitere Angriffe ihrerseits mit, dann war ihm die Lust endgültig vergangen, und es gelang ihm, Persephones Handgelenke zu packen. Fluchend wehrte sich die kleine Furie und versuchte sich zu befreien. Ares nutzte die Gelegenheit und suchte mit einem leicht verzweifelten Ausdruck Herks Blick. Dieser hatte sich wieder auf das Dach gesetzt und verfolgte das Spektakel mit einem amüsierten Grinsen auf den Lippen. Ares musste sich gedanklich sehr gut zureden, um nicht sofort auszuflippen. Hierfür würde der Leutnant noch eine Abreibung bekommen!

„Herk, zum letzten Mal, ich schlage kein Frauen!“

„Dann lass dir was einfallen“, antwortete sein Mentor nur und Ares hätte wahrscheinlich resigniert geseufzt, wäre in diesem Moment nicht ein stechender Schmerz in seiner Schwerthand explodiert, die er daraufhin, von einem Aufschrei begleitet, reflexartig öffnete und zurückzog und somit Persephones Handgelenk freigab. Keine Sekunde später fiel auch sein Schwert scheppernd zu Boden, was ihn allerdings in diesem Augenblick wenig interessierte. Viel mehr betrachtete Ares ungläubig den perfekten Abdruck zweier geraden Zahnreihen, der sich unterhalb seines Daumens rot auf der Haut abzeichnete, und starrte dann zu der Verursacherin. In seiner Unachtsamkeit hatte Persephone auch ihren anderen Arm befreien können und richtete die Klinge nun schnaufend auf ihn. Sein Blick schwankte ins Fassungslose um. Sie hatte ihn gebissen – zum zweiten Mal!

„Was bist du, nen Rehpinscher?“, fragte er aufgebracht und hielt sich die pochende Stelle. In seinem Rücken hörte er das schadenfrohe Lachen seines Lehrers, was seine beginnende Wut nur noch mehr zum kochen brachte.

Seine Frage übergehend, rannte Persephone erneut auf ihn zu und griff mit weit ausgreifenden Schwüngen an. Die Streiche waren diesmal schneller geführt, wenn dafür auch unpräziser, und dennoch hatte Ares zunehmend Probleme damit, ihnen auszuweichen. Sie schien das Schwert nun ohne Überlegung oder Plan zu führen und fuchtelte nur noch mit diesem herum, doch das machte es nicht einfacher. Ares blieb nichts anderes übrig, als stetig nach hinten auszuweichen, was ihm nach kurzer Zeit zu viel wurde. Langsam spürte er die stetig wachsende Müdigkeit in seinen Muskeln.

Als Persephone zum nächsten Schlag ausholen wollte, ließ Ares seine Hand vorschnellen und nach dem breiten Schwertgriff packen. Seine Gegnerin war so erschrocken über seine plötzliche Handlung, dass sie, einem Instinkt folgend, ihren Griff lockerte und er ihr das Schwert einfach entreißen konnte.

Sie starrte ihn geschockt an und schnappte atemlos nach Luft. Sie nicht aus den Augen lassend, warf er die Klinge zur Seite, weit aus ihrer Reichweite. Persephone verfolgte kurz die Flugbahn, doch dann fixierte sie ihn wieder mit aufeinander gepressten Lippen. Ihre blaugrünen Iriden leuchteten vor Entschlossenheit und Trotz. Seine Worte schienen etwas in ihr wachgerüttelt zu haben. Die entfesselte Kombination aus Wut und Ehrgeiz trieb sie nun blind und rücksichtslos an, mit dem Ziel, über ihn zu siegen; von dem kleinen, eingeschüchterten Mäuschen, das überfordert und in Abwehrhaltung durch die Gänge Olymps geisterte, war nichts mehr geblieben. Ares seufzte genervt und fuhr sich durch die verschwitzten Haare.

Das hier hast du dir selbst eingebrockt, musste er in Gedanken zähneknirschend zugeben. Und er hatte verdammt nochmal keinen Bock darauf!

„Würdest du Ruhe geben, wenn ich dir ein gewisses kämpferisches Talent einräumen würde?“ Er massierte wieder seine schmerzende Hand und hielt diese vielsagend hoch. „Du müsstest jetzt nur aufgeben und ich sehe über das hier hinweg. Einverstanden?“

Statt einer verbalen Antwort ballte seine Gegnerin lediglich die schmalen Hände zu Fäusten und verengte zornig die Augen, dass Ares ein weiteres frustriertes Seufzen entglitt. Womit hatte er das nur verdient?

Im nächsten Augenblick war Persephone wieder auf ihn zugestürmt und versuchte seinen Kopf mit Schlägen zu treffen, die Ares mit einer Hand abzuwehren wusste. Er gab sich keine besondere Mühe, sodass der ein oder andere tiefere Angriff ihn an Brust oder Schulter tatsächlich traf, doch auch diese Treffer waren nahezu beleidigend lächerlich. Vielleicht würde er ein paar blaue Flecke davontragen, doch ernsthaft verletzen konnte diese Furie ihn, so sehr sie sich auch ins Zeug legte, beim besten Willen nicht. Die ganze Sache nervte einfach nur noch.

Als sie dann anfing, Tritte auszuteilen, musste er dann doch zugeben, dass er damit nicht gerechnet hatte; man konnte sogar in Ansätzen Techniken erkennen, die Herk ihm damals auch beigebracht hatte. Also doch kein blindes Draufhauen. Sein Interesse an den Kampf konnte es dennoch nicht wecken.

Nachdem er zum gefühlt hundertsten Mal demselben versuchten Kinnhacken ausgewichen war, beschloss er, der Kleinen endgültig deutlich zu machen, dass sie keine Chance hatte. Er wartete ab, bis sie zum nächsten – in seinen Augen viel zu weit ausgeholten – Schlag ansetzte, ehe er sie gegen die ungeschützte Schulter stieß, sodass sie mehrere Schritte zurückstolperte. Für eine Sekunde starrte sie ihn aus verwirrt geweiteten Augen an, dann presste sie die Lippen erneut aufeinander und startete einen neuen Angriff, den Ares auch jetzt wieder im Keim erstickte. Ein weiterer Schlag, diesmal gegen die andere Schulter, der sie fast zu Fall brachte, mit dem Ergebnis, dass Persephones Blick schlagartig in blanke Wut umschlug.

„Nimm das hier verdammt nochmal ernst, Scheißkerl!“, schrie sie ihm entgegen, was Ares dazu veranlasste, verwundert die Brauen zu heben.

Etwas, das er im Nachhinein sehr bereute.

Einen Moment zu lange dachte er über die Absurdität ihrer Worte nach, sodass er viel zu spät bemerkte, dass sie wieder vor ihm aufgetaucht war und auf seinen Kopf zielte. Er sah ihre Faust von nahem und als er noch in der Bewegung war, die Arme zur Abwehr zu heben, hatte sie ihn bereits am Kinn getroffen. Der Schlag war nicht zu vergleichen mit einem Treffer von Herk oder Orpheus, dennoch reichte die Kraft dahinter aus, seinen Kopf zur Seite fliegen und ihn einen Schritt nach hinten taumeln zu lassen.

Die Hand ungläubig auf die leicht pochende Stelle im Gesicht haltend, starrte er Persephone aus geweiteten Augen an, die im ersten Moment, nach ihrem Blick zu urteilen, anscheinend genauso verwundert über ihren Treffer war, wie er, doch dann besann sie sich, streckte selbstbewusst das Kinn vor und verzog die Lippen zu einem kleinen, zufriedenen Lächeln.

In Ares begann es zu brodeln und er spürte, wie mit jeder verstreichenden Sekunde der vernünftig denkende Teil seines Verstandes immer weiter abgeklemmt wurde. Langsam richtete er sich auf und nahm die Hand von seinem Kinn, die junge Frau vor ihm mit Blicken durchbohrend.

„Du willst also ernsthaft spielen?“

Er ließ ihr keine Zeit zum antworten; er sah sie noch erschrocken tief Luft holen, doch selbst dafür war es zu spät. Ein ausgreifender Schritt genügte, um an ihre linke Seite heranzutreten und sein Bein hinter ihres zu stellen. Wie erwartet drehte sie sich ihm mit geweiteten Augen zu und verlor augenblicklich das Gleichgewicht. Ares half kurzerhand nach, indem er ihren Fuß wegzog, sodass sie nun endgültig zu fallen drohte, und beinahe automatisiert holte er mit dem rechten Arm aus und ließ seine Handkante mit voller Wucht auf Persephones Schläfe niederkrachen. Er konnte sehen, wie etwas in ihren Augen in diesem Moment zerbrach, und ungebremst fiel seine Gegnerin zu Boden.

Als erwache er aus einer Trance, starrte er auf die benommene Frau und wurde sich dessen bewusst, was er gerade getan hatte. Ein zischender Fluch verließ seine Lippen.

„P-Persephone? Alles in Ordnung?“, fragte er vorsichtig und traute sich nicht an sie heranzutreten. Verdammt, so weit wollte er doch gar nicht gehen! Sie lag für ewig lange Sekunden regungslos da, dass er schon innerlich sein Testament unterschreiben wollte, da garantiert die Todesstrafe für das hier bei Hades verhängt werden würde, als sie sich endlich rührte. Fahrig tastete sie nach ihrem Kopf und versuchte sich aufzurichten. Sie schwankte bedrohlich, doch sie schaffte es, sich hinzusetzen. Ares legte kurz den Kopf in den Nacken und sah in den kalten Nachthimmel, um demjenigen, der sich im Augenblick angesprochen fühlte, seinen tiefen Dank zu zusenden, ehe er erleichtert von hinten an Persephone herantrat und zur Vorsicht die Hände bereithielt, um sie schnell auffangen zu können, falls sie doch wieder das Bewusstsein verlieren würde. Was hatte dieses Mädchen auch für eine grausige Deckung, dass er so einen Volltreffer landen konnte? Hatte man ihr die Instinkte abgeklemmt?

„Scheiße, so hart wollte ich nicht zuschlagen“, murmelte er aufrichtig schuldbewusst. „Komm, wir brechen das hier ab, okay? Von mir aus hast du auch gewonnen. Kannst du aufstehen?“

Sie schwieg, hielt sich nur den Kopf und hockte zusammengesunken da. Nervös biss sich Ares auf die Unterlippe, trat noch einen Schritt näher und beugte sich etwas zu ihr herab, um ihr besser ins gesenkte Gesicht zu sehen. Blut schimmerte unter ihrem Haaransatz an der Schläfe. Sein Herzschlag beschleunigte sich in beginnender Panik.

„Hallo? Hörst du mich?“, fragte er zögernd und diesmal sollte er seine Antwort bekommen – sofort und äußerst schmerzvoll.

Schneller als er reagieren konnte, schlug sie mit dem Ellenbogen hinter sich und traf ihn zwischen den Beinen. Es hätte nicht viel gefehlt und Ares hätte aufgeschrien, doch die Schmerzen, die keinen Lidschlag später von seiner Mitte in den ganzen Körper ausstrahlten, schnürten ihm die Kehle so zu, dass er nur stöhnend auf die Knie fiel und sich den Ursprung der bestialischen Qual mit beiden Händen hielt. Augenblicklich waren alle reumütigen Gedanken vergessen.

„Miststück…“, presste er zwischen aufeinander gepressten Zähne hervor und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg.

„Arschloch“, kam es genauso verbissen zurück, doch bevor er sich einen passenden Konter zurechtlegen konnte, wurde sein Verstand durch etwas Kaltes abgelenkt, dass sich auf einmal in seinen Nacken legte. Er kannte diese Art von Kälte nur zu gut und jede Faser seines Körpers war, so gut es seine Schmerzen zuließen, augenblicklich zum Reißen angespannt.

„Falsch, ihr seid beide Vollidioten!“ Herks knurrende Stimme klang in seinem Rücken sehr nah und bedrohlich, dass sich seine Nackenhaare aufstellten.

Vorsichtig, um nicht zu weit den Kopf zu drehen, sah er nach rechts zu Persephone, die ebenso versteinert dasaß und starr nach vorne zu Boden schaute. Sie hatte die Lippen aufeinander gepresst und wagte es nicht sich zu bewegen, ob ihres eigenen Schwertes, das Herk ihr an den Hals hielt. Ares wusste, dass der Leutnant ihnen nicht den Kopf von den Schultern trennen würde, schon gar nicht mit ihren eigenen Waffen, doch die Botschaft war deutlich genug, um seine Geduld nicht durch unnötige Gebärden weiter zu strapazieren. Nach Herks Tonfall zu urteilen, war er sowieso schon längst in dem Stadium, in dem er sich sehr, sehr beruhigend zureden musste, um seine Schüler nicht einfach umzulegen. Schnaufend presste Ares die Lippen aufeinander und verkniff sich eine eh aussichtslose Verteidigung.

„Was glaubt ihr, habt ihr vergessen?“, fragte der Leutnant in einer erstaunlich sachlichen und gesammelten Tonlage.

„Richtig: das Wesentliche“, knurrte er und drückte die stumpfen Seiten der Klingen tiefer in die weiche Haut seiner Schüler. Ares erkannte aus den Augenwinkeln, wie sich die junge Frau neben ihm weiter anspannte und um Beherrschung kämpfend die Lider zusammen kniff. „Mich!“, vollendete Herk seinen Satz und seine tiefe Stimme grollte, als wäre ihr Besitzer geradewegs der Hölle entsprungen. „Es gibt nichts Gefährlicheres als eine verzweifelte Zielperson, die dabei zusehen muss, wie sich die zwei Armleuchter, die sie eigentlich verfolgen sollten, gegenseitig ausknocken. Ich an ihrer Stelle würde ja die Gunst der Stunde nutzen und die Flucht ergreifen; und auf diesem Weg würde ich euch Zwei noch von euren jämmerlichen und blamablen Dasein erlösen, indem ich euch mit euren eigenen Waffen die Köpfe abhacke – die habt ihr ja eh nie eingesetzt.“

Der Leutnant hatte den Satz noch nicht ganz beendet, da wurde auf einmal die schwere Metalltür des Daches laut aufgestoßen, sodass die Aufmerksamkeit der Anwesenden kurzzeitig auf die Neuankömmlinge gelenkt war.

Äneas und Orpheus stand der Schweiß in den roten Gesichtern und verwundert starrten sie auf das merkwürdige Szenario, das sich ihnen bot. Getrocknetes Blut klebte unter Äneas‘ Nase und Orpheus hielt sich auf Höhe der Rippen die linke Seite.

„Und? Wer hat nun gewonnen?“, fragte er erschöpft und sah verwirrt zwischen seinem Partner und Persephone hin und her. Herk stieß ein verächtliches Schnauben aus und senkte die Schwerter, was Ares innerlich für einen kurzen Moment aufatmen ließ, bis Herk wieder das Wort ergriff.

„Niemand. Das, was die beiden hier abgeliefert haben, geht nicht einmal mehr als Satire durch.“ Der Leutnant ging geradewegs auf Orpheus und Äneas zu und drückte ihnen die Schwerter in die Hände. „Glückwunsch, Jungs, ihr könnt euch neue Partner suchen“, verkündete er im sarkastisch feierlichen Tonfall und sah ein letztes Mal zu Ares und Persephone zurück. Der eisige Blick, so oft Ares ihn bis jetzt schon auf sich gespürt hatte, jagte ihm immer noch einen Schauer über den Rücken. „Die zwei da sind nämlich tot.“
 

Behutsam drehte Chiron Persephones Kopf nach links und rechts und ließ seinen Finger vor ihren Augen hin und her wandern, den sie dabei im Blick behalten sollte.

„Ist dir schwindelig oder übel?“

Sie verneinte leise, woraufhin er zufrieden nickte.

„Also schon mal keine Gehirnerschütterung“, erklärte er und besah sich wieder die Platzwunde an ihrer linken Schläfe. Als er die Stelle berührte, verzog seine Patientin etwas das Gesicht, doch schien der Schmerz für sie nach der leichten Dosis Schmerzmittel ertragbar geworden zu sein. „Die Wunde dürfte mit Kleben behandelt sein. Nähen ist unnötig, da hast du Glück gehabt.“

Chiron sah ihr aufmunternd ins Gesicht und tatsächlich konnte er seiner kleinen Schönheit ein Lächeln entlocken. Er mochte sie gern, das war kein Geheimnis, und wenn er ihr irgendwie helfen konnte, und sei es nur ihre Befürchtungen zu lindern, tat er dies mit vollem Eifer. Als Persephone, gestützt von ihrem Partner Äneas und dem anderen Team, in sein kleines Behandlungszimmer gekommen war, war er kurzfristig geschockt über ihren Zustand gewesen. Das Blut, welches ihr über die eine Gesichtshälfte geflossen und auf ihr Oberteil getropft war, hatte im ersten Moment schlimm ausgesehen und beinahe hätte er seinem Wunsch, Ares ebenfalls in den Schritt zu treten, nachgegeben, als er erfuhr, dass dieses Chaos auf zwei Beinen für ihre Verletzung verantwortlich war. Aber das wäre höchst unprofessionell gewesen. Somit hatte er lediglich Orpheus und Äneas Taschentücher und Schmerzgel in die Hand gedrückt und hinaus gescheucht, ehe er die zwei verbliebenden Streithähne auf Krankenliegen verwiesen und das nötige Material für die Behandlung organisiert hatte.

Chiron schenkte Persephone einen letzten freundlichen Blick, ehe er sich zu Ares umdrehte, der sich immer noch einen Eisbeutel auf den Schoß drückte und ihn mürrisch anstarrte. Der alte Mann war vielleicht nicht gewalttätig geworden, aber verbal hatte er sich weniger im Griff gehabt, was ihm dieser Jungspund nun sichtbar übel nahm. Sein Blick wanderte vielsagend von Ares‘ verengten Augen hinab zu dem Eisbeutel.

„Soll ich mir das auch mal ansehen?“, brummte er in versöhnlicher Absicht; immerhin war der Bengel trotz alledem noch sein Patient. Zu seiner leichten Verwunderung veränderte sich Ares‘ Ausdruck auf seine Frage hin ziemlich schnell, wurde zusehends nervöser und er konnte sehen, wie der Junge die Beine etwas zusammendrückte.

„Nicht nötig, ist noch alles dran“, erwiderte dieser schnell, was Chiron dazu bewegte, eine ergraute Augenbraue skeptisch zu heben, doch dann zuckte er gleichgültig mit den Schultern. Er wollte niemanden zu seinem Glück zwingen – und ihn schon mal gar nicht.

„Wie du willst. Komm dann aber nicht heulend angerannt, wenn die Schwellung nicht nachlässt oder du Probleme beim Or-“

„Ist gut, ich hab verstanden!“, unterbricht ihn Ares zischend und erdolchte im nächsten Moment Persephone mit seinem Blick, die schmunzelnd und ein Kichern unterdrückend auf ihrer Liege saß und unschuldig zur Seite sah. Auch Chiron konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen, was ihm Ares sogleich wieder übel nahm. Die Augen des Blonden fixierten ihn eisern und straften ihn als Urheber seiner Bloßstellung.

„Hast du nicht noch andere Patienten, die du betüddeln musst, Pillendealer?“, giftete er, was Chiron tatsächlich dazu veranlasste, beleidigt die Lippen zu kräuseln. Er bereute es nun doch etwas, nicht nachgetreten zu haben … Professionalität hin oder her, der Bengel hätt’s verdient. Der alte Mann beschloss, den weisen Weg zu wählen und das Feld konterlos zu räumen; er hatte wirklich noch andere und vor allem wichtigere Sachen zu erledigen, als sich mit Halbstarken zu streiten. Seine Rache würde noch kommen; spätestens beim nächsten Besuch dieses Bengels bei ihm.

Er sammelte seine Werkzeuge zusammen und warf die restlichen, benutzten Tücher in den Mülleimer, ehe er sich ein letztes Mal mit einem Lächeln zu Persephone umdrehte.

„Ich schicke dir gleich einen Arzt, der deine Wunde versorgt. Und falls dir der Typ da zu sehr auf die Nerven geht, weißt du ja jetzt, wo du hinschlagen musst“, fügte er brummend, jedoch deutlich hörbar hinzu, und warf Ares einen mahnenden Blick zu, bevor er zur Tür hinausging.

Ares verzog hinter seinem Rücken das Gesicht und äffte ihn stumm nach, bis Chiron verschwunden war. Dann sah er lachend zu Persephone und zog skeptisch eine Braue hoch.

„Als wenn du mich nochmal treffen könntest. Das eine Mal war purer Zufall.“

Sie erwiderte seinen Blick mit einem zynischen Lippenkräuseln. „Wenn du mich fragst, war das keine große Kunst, bei dir dort unten irgendetwas zu treffen…“, sagte sie spitz und wollte sich innerlich schon für ihre Schlagfertigkeit loben, als sie bemerkte, wie sich wieder sein typisches Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte, auf seinen Zügen ausbreitete und er sich leger nach hinten gegen die Wand lehnte, dabei die Arme hinter den Kopf verschränkend.

„Ich nehme das als Kompliment ins Protokoll auf“, entgegnete er zufrieden. Persephone brauchte eine Sekunde, um die ungewollte Zweideutigkeit hinter ihren Worten zu entdecken und lief rot an.

„Ich meinte damit deine grottenschlechte Deckung!“, versuchte sie sich überrumpelt zu verteidigen, doch das lockte bei Ares nur ein weiteres, freudiges Lachen hervor.

„Schon klar, Kore…“

Beim Klang dieses Namens wechselte ihr Blick sofort ins verärgerte und die Scham wich in ihren Wangen der Zornesröte.

„Hör auf mich so zu nennen!“

Wieder dieses ätzende Hochziehen einer dunkleren Augenbraue, als sei er über allem erhaben… Eingebildeter Idiot!

„Warum? Bestehst du etwa so sehr darauf, als Frau des Hades angesprochen zu werden?“

Kurz versetzten ihr seine Worte einen unangenehmen Stich in der Brust, als hätten diese ihr Herz für einen Schlag aus dem Takt gebracht, doch sie konnte sich noch rechtzeitig fangen, bevor auch ihr Gesicht auf die Behauptung reagiert hätte; ihre Stimme konnte sie dagegen weniger gut retten.

„Nein, ich … ich gebe dir schließlich auch keine dämlichen Spitznamen!“, entgegnete sie, einer Notlösung gleich, für die sie sich augenblicklich selbst innerlich ohrfeigte. Ares schien der Gesprächslauf dagegen äußerst zuzusagen. Weiterhin grinsend, zuckte er mit den Schultern.

„An Ares ist ja auch nichts auszusetzen.“

„Bist du etwa stolz darauf, als Gott des Krieges bezeichnet zu werden?“

„Wieso nicht?“

Nun war es Persephone, die skeptisch eine Augenbraue in Richtung Haaransatz hob.

„Die Griechen haben dich gehasst. Immer, wenn es zu Streitigkeiten kam, wurdest du dafür verantwortlich gemacht.“

„Und bei den Römern war ich der VIP schlechthin. Ares war stark und dazu noch nen cooler Typ, der sich nichts sagen ließ. Und er hat Aphrodite flachgelegt - was will man mehr von einem Namensvetter?“, fragte er sie mit einem frechen Augenzwinkern, was sie dazu bewegte, schnaubend den Kopf zu schütteln und die Arme vor der Brust zu verschränken. Dieser Typ war unmöglich…

Ares wartete eine Sekunde, ehe er fortfuhr und vielsagend auf sein Gegenüber deutete. „Persephone dagegen hat sich in die Unterwelt entführen lassen und darf seitdem dem Alten nen halbes Jahr lang die Stiefel küssen. Die einzig selbstständige Aktion, die sie gebracht hat, war das mit Orpheus und seiner Nymphen Freundin.“ Er musterte sie kurz und bemerkte, wie sie verstimmt die Lippen aufeinander presste und die Augen verengte. Als keine Erwiderung folgte, zuckte er wieder nur gelangweilt mit den Schultern. „Aber wenn du unbedingt als Hades‘ Eigentum bezeichnet werden willst…“

Persephone kräuselte die Stirn in beginnender Verbitterung und wich seinem Blick aus, als hätte sie die Rebellion gegen ihn in diesem Moment aufgegeben.

„Im Grunde bin ich das doch“, grollte sie leise, als wolle sie sich selbst damit strafen.

Überrascht über ihr schnelles Einknicken, blinzelte Ares und musterte sie schweigend. Er war sich nicht sicher, ob ihre letzten Worte überhaupt an ihn gerichtet gewesen waren, so leise, wie Persephone gesprochen hatte, doch gerade dieser Satz blieb ihm im Gedächtnis. Er hatte das Gefühl, als habe die junge Frau nun, für einen kurzen Moment, ihren eisernen Vorhang fallen gelassen und er war ungewollt Zuschauer ihres ganz persönlichen Stückes geworden. Ihm saß jetzt nicht mehr die übliche, abweisende Furie gegenüber, die sie sonst war; da war etwas trauriges, schwaches in ihrem gesenkten Blick, das ihn schwer schlucken ließ. Das war nicht die Kore, die er kannte, und er wollte und konnte diesen Anblick nicht länger mit ansehen. Es war, in seinen Augen, einfach falsch.

Ares atmete einmal tief ein und lehnte sich wieder nach vorne, die Unterarme auf seine Knie gestützt. Inzwischen war der Eisbeutel in seinem Schritt halb geschmolzen und hatte wahrscheinlich einen großen, nassen Flecken hinterlassen, was Orpheus garantiert zu irgendeinen Scherz über Inkontinenz verleiten würde; doch für den Moment war dieses gebrochene Häufchen Traurigkeit vor ihm wichtiger.

„Hey, sieh mich an!“

Tatsächlich drehte Persephone den Kopf und der gewohnte Trotz war sofort in ihre Augen zurückgekehrt, als wäre die Person, die noch vor einer Sekunde auf ihrem Platz gesessen hatte, ein Trugbild gewesen. Ihre blaugrünen Iriden funkelten im ewigen Zorn gegen ihn, ihre Lippen waren weiterhin aufeinander gepresst, bereit, jeden seiner Worte bissig zu kontern. Er musste zugeben, dass sie ihm so hundertmal lieber war; auch, wenn sie so wesentlich anstrengender war.

„Jemand hat mir mal gesagt, dass wir unsere Namen nicht ohne Grund tragen und vielleicht mag das in manchen Fällen auch zutreffen, dass Charakter und Gottheit zueinander passen“, begann er und sah ihr fest in die Augen. „Aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir hier eine Rolle zu spielen haben!“

Er bemerkte das kleine Zucken ihrer Lider, als wolle sie die Augen weiter aufschlagen, doch im letzten Augenblick unterdrückte sie diesen Drang und sah ihn mit einem Blick an, den er nicht zu deuten vermochte. Dennoch hielt er diesen Moment als einen Punkt für sich fest und schenkte ihr ein versöhnliches, warmes Lächeln. Für heute hatten sie sich genug gestritten, befand er, und beschloss im Stillen eine vorläufige Waffenruhe.

„Ich persönlich bleibe bei Kore. Gefällt mir einfach besser; immerhin war sie dafür verantwortlich, dass der Frühling anbrach.“

Ein leichter Rotschimmer trat zurück in ihr Gesicht, was sich Ares aber auch genauso gut hätte einbilden können. Ihr Versuch einer Erwiderung wurde durch den in diesem Augenblick eintretenden Arzt vereitelt, der gleich darauf die ungeteilte Aufmerksamkeit beider Anwesenden hatte und sich um Persephones Wunde kümmerte.

Ares nutzte den Moment und suchte leise das Weite, ehe der Kitteltyp noch auf die Idee kam, ihn auch zu untersuchen. Er mochte sich von Kerlen ungern in den Schritt fassen. Auch nicht von Ärzten. Da war er etwas eigen.

Er hatte den Krankentrakt noch nicht verlassen, da lief er Orpheus in die Arme; das breite Grinsen des Älteren war schon aus mehreren Metern Entfernung zu sehen, was Ares prompt die Augen verdrehen ließ.

„Muss ich in Zukunft Windeln für dich besorgen oder hat der alte Chiron dir zu viel Angst gemacht?“

Brummend ließ Ares die Hände in den Hosentaschen verschwinden und verzog das Gesicht. Er hatte schon öfter in der letzten viertel Stunde den Umstand verflucht, dass er ausgerechnet heute eine blaue Trainingshose angezogen hatte, die sich im nassen Zustand so wunderbar verfärbte…

„Du warst auch schon mal witziger“, antwortete er verstimmt und ließ Orpheus‘ Hohn so gut es ging an sich abperlen.

„Was war eigentlich bei dir los, hm?“, fragte er stattdessen und musterte seinen Partner spöttisch von der Seite. „Hab ich mir das nur eingebildet, oder hast du dir tatsächlich nach dem Kampf die Rippen gehalten? Sag bloß, der stumme Riese hat dich erwischt!“

Grinsend versuchte Ares mit seinem Zeigefinger Orpheus‘ Rippenbogen zu treffen, was dieser mit einem sehr bedacht ausgeführten Handschlag abwehrte und auf Abstand ging.

„Wage es bloß nicht!“

„Alter, der ist nicht einmal drei Monate dabei!“, lachte Ares.

„Und du hast dir von einer Frau in die Eier schlagen lassen“, entgegnete Orpheus bissig und fing sich einen ebenso giftigen Blick des Blonden ein.

„Das war nur Zufall!“

„Ach was, du warst wahrscheinlich nur zu unaufmerksam – wie jedes Mal!“

„Das kannst du doch gar nicht beurteilen! Du warst ja damit beschäftigt, dich mit einem Grünschnabel auf dem Boden zu kugeln!“

„Muss ich dich daran erinnern, dass dein Gegner ebenfalls eine Anfängerin war? Und sie hat dich mit einem Schlag in-“

„Wenn du noch einmal meine Eier erwähnst, malträtier ich dir deine restlichen Rippen!“, knurrte Ares bedrohlich und ballte schon die Hände zu Fäusten, als ein lautes Lachen beide Männer dazu veranlasste, ihre Köpfe in Richtung der Geräuschquelle zu drehen.

Ohne, dass sie es bemerkt hatten, waren ihnen Theseus und Jason auf dem Gang entgegen gekommen. Der ältere der beiden und neuer Springer von Olymp grinste Orpheus und Ares vergnügt an und schüttelte lachend den Kopf.

„Leute, ihr streitet wie ein altes Ehepaar“, sagte Jason und musterte besonders Orpheus, der in diesem Moment genervt das Gesicht verzog. Theseus, ein junger Mann mit braunem Lockenkopf, nickte zustimmend und schmunzelte schadenfroh.

„Ich würde euch ja Versöhnungssex vorschlagen“, Sein Blick wanderte deutlich an Ares herab und sein Grinsen wurde noch breiter, „aber ich fürchte, dafür ist es bereits zu spät.“

Die zwei brachen in lautes Gelächter aus und gaben sich gegenseitig ein Highfive, ehe sie prustend an den Betroffenen vorbei gingen. Es hätte nicht viel gefehlt und Ares hätte sie in diesem Moment von hinten angefallen; lediglich Orpheus‘ zurückhaltende Hand an seiner Schulter bremste ihn aus.

„Nicht meine alten Teammitglieder, verstanden? Die sind tabu“, sagte er mahnend und Ares gehorchte zähneknirschend. So nur warf er dem aktuellen Springer und seinem Partner mit hochrotem Kopf einen erhobenen Mittelfinger hinterher, was Orpheus seufzend tolerierte. Beruhigend klopfte er seinem Partner auf die Schulter und zog ihn mit sich in die entgegengesetzte Richtung, weit weg von Theseus und auf den schnellsten Weg zu ihren Zimmern.

„Einigen wir uns darauf, dass wir beide scheiße waren, okay?“, versuchte Orpheus schließlich die Diskussion zum Abschluss zu bringen, worin Ares brummend einwilligte.

„Bevor ich es vergesse“, begann der Ältere von Neuem, jedoch mit wenig Enthusiasmus in der Stimme, was Ares böses ahnen ließ. „Herk will uns morgen in der Trainingshalle sehen. Uns alle Vier, falls Persephone bis dahin wieder fit ist.“

Müde seufzend fuhr sich Ares durch die Haare. Er hatte nicht einmal mehr die Laune dafür, sich über die unmenschlichen Anweisungen des Leutnants aufzuregen. In seinem Schritt pochte es immer noch unangenehm.

„Natürlich, was auch sonst?“, brummte er und vergrub wieder die Hände in den Hosentaschen. Auch Orpheus konnte nur resigniert mit den Schultern zucken.

„Ob mit oder ohne sie, wir dürfen uns auf eine gehörige Abreibung gefasst machen. Und sind wir mal ehrlich, im Grunde haben wir sie ja auch verdient…“

Ares warf Orpheus einen vielsagenden Seitenblick zu.

„Du vielleicht…“

„Willst du wieder von Vorne anfangen?“, entgegnete Orpheus gereizt und Ares kam dieser Einladung liebend gern nach.

Epilog: Neujahrswünsche

Immer und immer wieder schlug Persephone auf Äneas‘ in dicke Polster verpackte Unterarme ein, die er zur undurchdringbar scheinenden Deckung erhoben hatte. Ihre Hände und Handgelenke schmerzten furchtbar und waren verschrammt, trotz der Bandagen, die sie zum Schutz trug. Sie spürte die Taubheit in ihren Armen, dennoch holte sie weiterhin unermüdlich zu Schlägen aus, duckte sich unter Äneas‘ gelegentlichen Kontern weg und versuchte immer wieder einen seitlichen Tritt in ihre Angriffskombinationen einzubauen. Ihr Atem rasselte und der Schweiß auf ihrer Stirn floss ihr in die Augenwinkel, dass sie ständig blinzeln musste.

Äneas‘ energischer und aufmerksamer Blick stachelte immer wieder von Neuem an, weiter zu machen und nicht erschöpft aufzugeben. Erneut versuchte sie ihm in die Flanke zu treten, doch auch diesmal war ihr hochgewachsener Partner zur Stelle und wehrte den Angriff ab. Obwohl er die Schoner zur Abwehr nutze, fuhr der betäubende Schmerz bis zum Oberschenkel hinauf, sodass sie fast eingeknickt wäre, als sie das Bein nach dem Schlag wieder absetzte und belastete. Verbissen presste sie die Lippen aufeinander, sammelte ihre verbliebenden Reserven und startete sofort einen neuen Angriff.

Sie begann mit einer schnellen Kombination aus Schlägen, die auf Äneas‘ ganzen Oberkörper abzielten. Wie vorherzusehen war, wehrte ihr Gegner auch diese gekonnt ab, dann entdeckte Persephone eine Lücke in seiner Abwehr. Schnell trat sie an Äneas‘ Seite und versuchte ihm den Fuß wegzuziehen. Zu ihrer Verärgerung bewegte sich dieser keinen Zentimeter, sodass sie dieses Detail einfach überging und sofort mit der flachen Hand zum Schlag ausholte.

Jedoch kam ihr Äneas wieder zuvor. Blitzschnell zog er seinen geschützten Unterarm vor sein Gesicht, gegen den Persephones Handkante keinen Atemzug später schmerzhaft krachte, und stieß sie kurzerhand von sich, sodass sie keuchend auf die Matte fiel und kraftlos liegen blieb.

Als sei sie durch den Aufschlag aus einem Traum gerissen worden, erwachte ihr durch das Adrenalin zeitweise taub gewordener Körper plötzlich wieder zum Leben und ließ einen lähmenden Schmerz in allen Muskeln explodieren, der sie aufstöhnen und auf die Seite drehen ließ. Ihr Atmen ging pfeifend und ihre Lunge fühlte sich an, als stünden die Alveolen in Flammen.

Äneas entfernte die Schoner, ging zum Rand der Matte und kam mit zwei kleinen Wasserflaschen wieder, von der er eine an seine Partnerin weiterreichte, die sich langsam zum Sitzen aufrichtete. Dankend nahm sie die Flasche entgegen und setzte sie zittrig an die Lippen. Äneas gönnte sich selbst einen Schluck und setzte sich neben sie. Zu ihrer Zufriedenheit stellte sie fest, dass auch er ins Schwitzen gekommen war. Für fünf Minuten herrschte absolutes Schweigen zwischen ihnen, das nur durch ihre tiefen und hörbaren Atemzüge gestört wurde, dann tippte Äneas sie von der Seite her an und bekam so ihre Aufmerksamkeit.

Deine Angriffe werden besser, aber du musst noch schneller werden.

Persephone unterdrückte ein genervtes Schnauben, als sie die wischende Handbewegung sah, die er ihr in den letzten Wochen so oft gedeutet hatte. Schneller. Auf nichts anderes schienen alle Wert zu legen.

„Was bringt mir Schnelligkeit, wenn ich keine Durchschlagkraft habe?“, entgegnete sie murrend und stellte die leere Flasche zur Seite. Äneas schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

Persephone, dein Vorteil liegt nun mal nicht in der Stärke. Du wirst nie allein mit Kraft einen Kampf gewinnen können. Aber du bist wendig! Mit Schnelligkeit kannst du jeden Gegner ausweichen und dich wehren.

Und schon wieder diese Handbewegung…

Um Beherrschung bemüht, pustete sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Äneas‘ Blick wurde forschender.

Diese Kombination, die du zuletzt versuchst hast, begann er langsam und Persephone runzelte fragend die Stirn, die hast du dir von Ares abgeschaut, oder?

Ohne ihr Zutun stieg ihr die Wärme ins Gesicht. Ertappt wich sie seinem Blick aus und schob die Unterlippe leicht vor.

„Na und? Ich dachte, es wäre ein guter Einfall, schließlich muss man dafür auch ziemlich schnell vorgehen“, sagte sie und betonte dabei das Adjektiv übertrieben stark. Äneas ließ sich nicht auf den Seitenhieb ein, sondern fuhr stoisch wie ein Lehrer fort.

Nicht nur. Du brauchst auch Kraft, zum Beispiel um deinen Gegner das Bein wegzuziehen. Und dann musst du alle Kraft in den Schlag legen, damit der Gegner bewusstlos wird. Wenn du es nicht einmal schaffst, ihm das Gleichgewicht zu nehmen, rennst du sofort ins offene Messer. Sie schenkte ihm einen beleidigten Blick, auf den er nur mit einem entschuldigen Lächeln antworten konnte.

Ich verurteile es ja nicht, dass du dir Techniken von anderen abschaust, doch solltest du dir vorher überlegen, ob sie für dich auch anwendbar sind.

Er sah ihr erwartungsvoll ins Gesicht und nach kurzem Zögern zuckte Persephone schließlich schnaufend mit den Schultern; ihre Art eines Zugeständnisses. Seit ihrem Kampf gegen Ares und Orpheus war inzwischen fast ein Monat ins Land gegangen und der letzte Tag des Jahres neigte sich in ein paar Stunden dem Ende zu. Hatte sie nach der Niederlage gegen Ares schon eingesehen, dass sie dringend etwas ändern sollte, hatte spätestens Herks Abreibung danach sie endgültig wachgerüttelt. Er war enttäuscht von seinen Schülern gewesen; von allen Vier. Von da an hatte sie ihr gemeinsames Training ernsthafter genommen und mit einem gewissen Stolz sogar Fortschritte für sich verbuchen können. Sie und Äneas schworen sich, nie wieder so bloßgestellt zu werden; denselben Schwur, so hatte Hermes ihr zugeflüstert, habe auch das andere Team geleistet. Sie hatte in dem Moment zufrieden geschmunzelt; so wäre zumindest gewährleistet, dass Ares sie in Zukunft ernster nehmen würde. Hatte die Platzwunde im Nachhinein doch noch etwas Gutes gehabt.

Äneas‘ feixender Blick riss sie aus ihren Erinnerungen und ließ sie wieder fragend die Stirn runzeln.

Ares hat es dir ziemlich angetan, oder?

Ungewollt schoss ihr das Blut zurück in den Kopf und perplex schnappte sie nach Luft.

„Quatsch, wie kommst du auf so einen Blödsinn?“, erwiderte sie und versuchte sich in einem abfälligen Lachen zu retten; ihrer Gesichtsfarbe half dies jedoch wenig, wie sie verärgert bemerkte. Äneas zuckte nur unschuldig mit den Schultern und setzte ein spitzbübisches Lächeln auf, was so gar nicht zu seiner grobschlächtig gewordenen Statur passen wollte.

Du beobachtest ihn in letzter Zeit sehr häufig.

Persephone war sich sicher, dass sie inzwischen jedem Feuerlöscher in Sachen Farbintensität ernstzunehmende Konkurrenz machen könnte und ihr Blick wurde sekündlich wütender, bis sie, einem Kleinkind gleich, eingeschnappt im Schneidersitz die Arme vor der Brust verschränkte und ihren Gegenüber versuchte, in Grund und Boden zu starren.

„Ich kann den Kerl nicht ausstehen“, korrigierte sie Äneas bissig. „Irgendwann werde ich nochmal gegen ihn kämpfen und dann haushoch gewinnen!“ Sie hob die Schultern an und hoffte, dass es lässig wirkte. „Und wenn man jemanden schlagen will, sollte man seinen Gegner kennen, oder? Dient alles der Analyse.“

Sie fand es faszinierend, wie viel manchmal kleine Gesten ausmachen konnten; Äneas‘ hochgezogene Augenbraue, gepaart mit dem langsamen Nicken, drückte mehr als tausend skeptisch, belustigte Worte aus, und das brachte sie innerlich wieder zum Brodeln. Doch statt ihren aufgewühlten Emotionen Luft zu machen, atmete sie tief durch und zwang sich selbst zur Ruhe. Dann ging diese Runde eben an Äneas, damit konnte sie leben; nach Punkten lag die Führung schließlich immer noch bei ihr.

Aus Gewohnheit angelte sie nach ihrer Armbanduhr, die sie neben die Matte gelegt hatte und war verwundert, wie viel Zeit inzwischen vergangen war.

„Wir sollten uns wohl langsam mal umziehen“, teilte sie ihrem Partner mit, der daraufhin leicht genervt die Augen verdrehte, sich dennoch erhob und sie mit auf die Füße zog. Persephone schenkte ihm einen teils mahnenden, teils mitfühlenden Blick.

„Jetzt komm, Herk macht uns sonst die Hölle heiß, wenn wir da nicht erscheinen.“ Sie konnte den Leutnant noch bildlich vor sich sehen, wie er ihnen quasi den Befehl gegeben hatte, um kurz vor Mitternacht auf das Parkhausdach zu kommen. Persephone hätte am liebsten abgelehnt, Silvester hin oder her. Sie war nicht gerade in Feierlaune und mit diesem Haufen Mördern wollte sie als letztes das neue Jahr begrüßen. Herakles hatte dies wenig interessiert und ihr stattdessen mit Sondertraining gedroht, würde sie – Zitat – „ihren kleinen Hintern nicht rechtzeitig herauf bequemen“. Nach Äneas‘ Meinung hatte er nicht einmal gefragt, was wahrscheinlich der Grund für die miese Laune ihres Partners war. Dieser schnaufte nun als Antwort auf ihre Aussage und schlenderte zum Ausgang der Trainingshalle. Seufzend folgte sie ihm und streckte ihre schmerzenden Arme im Gehen.
 

Sie hatte vieles erwartet, sodass sich am Ende ihrer Fahrt im Aufzug ein klares Bild in ihrem Kopf manifestiert hatte; eine soldatenhafte Aufstellung in mehreren Reihen, salutierend vor einem Rednerpult, an dem Zeus und Hades die knallharten und in ihren Augen schmeichelhaften Fakten und Daten von Olymps Jahresumsatzes verkündeten, war ein fester Bestandteil dieser Vorstellung. Stattdessen donnerten ihr bereits im letzten Treppenhausabschnitt die harten Bässe von riesigen Boxen entgegen. Sie tauschte mit Äneas einen zweifelnden Blick aus, ehe sie die schwere Metalltür aufstieß und sich mitten in einer Party wiederfand.

Persephone zählte nicht durch; auch so konnte sie erahnen, dass alle sechsundvierzig Mitglieder, samt dem Ärzteteam und den Technikern hier oben auf dem Dach versammelt waren, in kleinen oder auch größeren Grüppchen bunt gemischt zusammenstanden und sich in ausgelassener Stimmung mit Bierdosen oder härterem Alkohol zuprosteten. Am Rand des heute mit einem hohen Absperrzaun umsäumten Decks tummelten sich ein paar Männer, die mit breitem Grinsen Silvesterböller anzündeten, diese über die Absperrung in den Häuserschlund des Rotlichtviertels warfen und laut jubelten, wenn der Sprengstoff noch im Flug ohrenbetäubend explodierte.

Bei dem Anblick der nicht gerade unauffällig feierwütigen Mitglieder stellte sich Persephone zum wiederholten Mal die Frage, wie Zeus und Hades es schafften, Olymp vor dem Rest der Welt geheim zu halten; als Antwort konnte sie jedoch nur mit dem Kopf schütteln und an ihrem und dem Verstand der zuständigen Behörden zweifeln.

Ihr Erscheinen blieb trotz des vorherrschenden Gewusels nicht lange unbemerkt und mit einem freudigen Aufschrei kam Hermes, die Arme weit ausgebreitet, auf sie zugelaufen und schloss sie ohne zu Zögern in eine Umarmung, die sie von den Füßen hob. Der Überfall kam so überraschend, dass ihr keinerlei Zeit zum Reagieren blieb, sodass sie die überschwängliche Freude des Schützen und den damit einhergehenden Körperkontakt und die Luftknappheit stoisch ertrug und hoffte, dass er bei dem wilden hin und her Schaukeln sein Bier, was er dabei in der Hand hielt, nicht gänzlich über sie verteilte.

„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr rechtzeitig!“, rief Hermes freudestrahlend aus, nachdem er sie wieder abgestellt hatte. Sie versuchte sich an einem Lächeln und wollte etwas erwidern, da zog er sie schon wieder an sich und drückte ihr diesmal einen langen Kuss auf die Wange, der sie nun endgültig aus der Bahn warf und Hermes noch breiter grinsen ließ.

„Du siehst wahnsinnig gut heute aus!“, sagte er und fing plötzlich an zu kichern. Dann, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass sie nicht allein gekommen war, drehte er den Kopf in Äneas‘ Richtung und hob seine Bierflasche, als wolle er ihm zuprosten.

„Hey, Großer!“, begrüßte er ihn lachend, was der Angesprochene mit einem zögerndem Heben der Hand erwiderte, dabei etwas verwirrt auf Persephone schauend, die immer noch wie vom Blitz getroffen dastand und versuchte, ihre Gesichtsfarbe unter Kontrolle zu kriegen. Da Hermes‘ Kuss wie ein nach Alkohol riechendes Phantom immer noch auf ihrer Wange prickelte, gestaltete sich dies jedoch als ernstzunehmende Herausforderung. Irgendein Teil in ihrem Kopf, der noch bei klarem Verstand war und sich nicht hilflos verwirrt und überrumpelt auf dem Boden zusammengekauert hatte, fragte sich, wie viel ihr Gegenüber schon intus haben musste, um so locker zu sein. Sie hatte Hermes keineswegs als verklemmt oder zurückhaltend kennen gelernt, doch dass es so eine ungesunde Steigerung zu seinem gewöhnlichen Verhalten gab, hatte sie nicht für möglich halten wollen.

Weiterhin zufrieden und Glückseelig grinsend, musterte Hermes seine schweigsamen Gesprächspartner, bis ihm ein Geistesblitz zu erhellen schien und er, mit geweiteten Augen, die Hände in einer Aufmerksamkeit erhaschenden Bewegung hob. Dabei schaffte er es tatsächlich, noch breiter zu grinsen, dass sich Persephone stark an einen anderen Spinner erinnert fühlte – und ihr in diesem Moment klar wurde, dass dieser Eine auch hier oben anwesend sein musste und sich garantiert mit Alkohol zulaufen ließ, auf dass er noch unausstehlicher wurde, als sonst. Doch bevor sie darüber seufzend die Augen verdrehen und tatsächlich mit dem Gedanken spielen konnte, den geordneten Rückzug nach unten anzutreten, um nicht Ares über dem Weg zu laufen, schnitt ihr Hermes mit seiner enthusiastischen Idee den zurechtgelegten Fluchtweg sofort wieder ab.

„Ihr braucht was zu trinken!“, stellte er mit voller Inbrunst fest und bedeutete den beiden, bevor Persephone verneinen konnte, kurz zu warten. „Ich hol euch was, rührt euch nicht von der Stelle!“

Ihr Versuch, ihn noch zurückzurufen, ehe er in der Menge verschwand, war dank der lauten Musik und den knallenden Böllern von Anfang an zum Scheitern verurteilt, sodass sie nur noch resigniert die Schultern hängen lassen konnte und mit einem verzweifelten Blick zu Äneas schaute. Dieser erwiderte den Ausdruck nur mit einem kleinen Grinsen.

Sei kein Spielverderber.

Ungewollt verzog sie das Gesicht und etwas in ihr begann bei den Worten zu rebellieren, wollte widersprechen und Äneas an den Kopf werfen, dass das ausgerechnet er sagen musste. Doch statt genau das zu sagen, brachte sie diese innere Stimme ins Stocken und ließ sie über sich selbst die Stirn runzeln. Solche merkwürdigen Gedanken hatte sie nicht zum ersten Mal. Sie erinnerte sich kurz an das erste Treffen mit Äneas zurück und an die Gefühle, die sie bei seinem Anblick gehabt hatte. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass er ihr Bruder war und doch war er ihr vertraut vorgekommen. War das jetzt wieder so? War dieses Gefühl ein Überbleibsel aus ihrem alten Leben? Aber eigentlich sollte sie sich doch überhaupt nicht erinnern, oder? Vielleicht hat diese Maschine nicht richtig bei mir funktioniert, dachte sie und am liebsten hätte sie Äneas gefragt, ob es ihm ähnlich ging, ob er ein ähnliches Gefühl ihr gegenüber hatte. Nachdenklich suchte sie wieder seinen Blick und fragend schaute er zurück.

Trotz ihres Versprechens Zeus gegenüber, wäre ihr die Frage vielleicht doch herausgerutscht. Doch erneut wurden sie gestört, indem sich diesmal jeweils eine Pranke auf eine Schulter von Äneas und ihr legte und Herk somit ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gewann – und Persephone sich fühlte, als erleide sie in diesem Augenblick einen weiteren Herzinfarkt.

„Ihr seid spät“, brummte er Leutnant, jedoch mit einer weitaus besseren Laune in der Stimme, als die, die sie sonst bei dieser Wortwahl gewohnt war.

Du hast uns gesagt, wir sollen vor Mitternacht kommen, warf Äneas stirnrunzelnd ein und Herk bedeutete Persephone mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue, dass sie dolmetschen sollte. Inzwischen war sie das gewohnt, sodass sie routiniert Äneas‘ Wortlaut wiedergab, woraufhin Herk den Einwand ihres Partners mit einer wegwischenden Handbewegung quittierte; was Äneas wiederum sichtlich säuerlich aufstoßen ließ. Sie beschloss, eiligst das Thema zu wechseln.

„Ehrlich gesagt, habe ich mit etwas anderem gerechnet, als“, sie unterbrach sich und deutete auf die feiernden Männer, „nun ja, das hier.“

Herk grinste zufrieden – etwas, das der Häufigkeit des Auftretens einer totalen Sonnenfinsternis gleichkam. „Wir erleben nicht vieles, was wert wäre, zu feiern, aber an Silvester machen wir da mal eine Ausnahme.“ Herks Grinsen nahm jetzt sogar zu, was Persephone ungläubig starren ließ. „Außerdem ist es der einzige Tag im Jahr, an dem die Chefs nicht missionsbedingt abwesend sind – da muss man die Chance ausnutzen.“

Verwundert runzelte sie die Stirn. „Wie – Zeus und Hades sind nicht da?“

Der Leutnant hob die breiten Schultern. „Keine Ahnung, wo die sich immer rumtreiben, aber an Silvester hat Olymp sturmfrei. Ich habe Zeus mal danach gefragt, doch außer einem warnenden Blick habe ich keine Antwort erhalten. Fakt ist, dass wohl beide nicht gut auf den Jahreswechsel zu sprechen sind, weshalb sie sich an dem Tag so weit wie möglich aus dem Weg gehen.“

Persephone nickte nur nachdenklich, ehe sie Herakles wieder aus ihren Überlegungen riss.

„Wollt ihr gar nichts trinken?“

Persephone wurde bei diesen Worten wieder hellhörig. „Doch, eigentlich schon, Hermes wollte etwas für uns besorgen.“ Verwundert suchte sie in der Menge nach ihm.

Und fand ihn in Ares‘ Schwitzkasten, währenddessen Orpheus zwei volle Bierflaschen über seinem Kopf auskippte und er dabei von drei anderen Mitgliedern, darunter sowohl Schützen, als auch Schwertkämpfer, enthusiastisch angefeuert wurde.

Sie verfolgte das Schauspiel blinzelnd, dann wandte sie sich räuspernd an Herk. „Ich glaube, das hat sich mit unseren Getränken gerade erledigt.“

Herk zog eine Augenbraue in Richtung Haaransatz und seufzte resignierend. „Und da gibt man sich so viel Mühe, aus diesen Affen taugliche Kämpfer zu machen…“, brummte er und fuhr sich in einer müden Geste über den nahezu rasierten Kopf. Persephone konnte nichts anderes tun, als mitfühlend die Schultern zu heben.

Dann kippte die Stimmung. Alle wurden auf einmal ruhiger und erhoben wie auf ein stummes Zeichen hin ihre Getränke. In der Zwischenzeit hatte Herk es geschafft, auch für sich und seine beiden Schüler etwas Bier zu organisieren und verwundert imitierte Persephone die Bewegung der anderen.

Keine Sekunde später fingen alle Anwesenden an, von Zehn an rückwärts zu zählen. Der Singsang hallte auch von den Straßen zu ihnen herauf und vermischte sich mit den tiefen Stimmen von Olymps Mitgliedern. Je näher sie der ersehnten ersten Sekunde des neuen Jahres kamen, desto lauter riefen die Männer um sie herum und auch sie ließ sich davon anstecken. Selbst der strenge Leutnant neben ihr zählte mit breitem Grinsen mit.

Dann war der Jahreswechsel da und der Moment zog so schnell vorbei, wie er gekommen war, alle jubelten und überall wurden Feuerwerkskörper gezündet. Manche der auf den Straßen abgefeuerten Raketen explodierten bereits auf Höhe des Parkhausdaches, auf dem sie standen, sodass sich Persephone in einem ohrenbetäubend lauten Lichtermeer wiederfand, das sie mit offenem Mund staunen ließ.

Sie spürte, wie jemand ihr einen Arm um die Schulter legte und bereits ahnend, um wen es sich handelte, sah sie in Äneas‘ lächelndes Gesicht. Er wünschte ihr mit der freien Hand ein Frohes neues Jahr und grinsend erwiderte sie den Gruß auf demselben Weg. Jeder um sie herum lag sich mit irgendwem freundschaftlich in den Armen und ein paar Meter von ihr entfernt sah sie, wie Ares Hermes, der wortwörtlich wie ein begossener Pudel in seinen klebenden Klamotten dastand, lachend durch die nassen Haare wuschelte. Hermes fing daraufhin ebenfalls zu grinsen an und mit sichtlicher Genugtuung zog er den Blonden in eine Umarmung. Bei Ares‘ Versuch, aus dieser mit teils angewidertem Gesichtsausdruck zu entkommen, konnte Persephone ein schadenfrohes Schmunzeln nicht unterdrücken. Als sich dann auch noch Orpheus Ares an den Hals schmiss, schien der sonst so coole Krieger nun völlig genug zu haben und unter sein Lachen mischten sich zunehmend mehr Proteste, die allerdings für Persephone ungehört blieben.

„Weißt du, warum wir ausgerechnet Silvester feiern?“

Beim Klang von Herks Stimme neben ihr, drehte sie sich von Ares‘ verärgerten Versuchen, seine Freunde los zu werden, weg und wandte den Kopf in die Richtung ihres Lehrers. Der hochgewachsene Mann erwiderte ihren Blick.

„Ihr seid noch nicht lang genug hier, um es zu verstehen, aber vielleicht nächstes Jahr.“ Er beugte sich zu ihr hinunter und deutete in die feiernde Menge vor ihnen. „Präge dir jedes Gesicht gut ein, Persephone“, sagte er und seine Stimme war ungewöhnlich ruhig und bedacht. Stirnrunzelnd folgte sie seiner Blickrichtung. Herks Stimme wurde leiser, als er nach einigen Sekunden Schweigen weitersprach: „Nächstes Jahr um diese Zeit werden manche von ihnen fehlen und neue Gesichter werden wohlmöglich an ihre Stelle getreten sein.“ Die Worte ließen Persephone schaudern und bitter presste sie die Lippen aufeinander. Er richtete sich wieder auf und klopfte ihr kumpelhaft auf die freie Schulter.

„Auf ein weiteres Jahr“, brummte er in seiner alten Manier und verwand daraufhin in der Menge, ehe sie etwas erwidern konnte. Gedankenverloren sah sie ihm nach.

Chiron gesellte sich kurz darauf zu ihnen, bis er von ein paar Ärzten wieder weggezogen wurde und auch andere Mitglieder kamen auf sie zu und begrüßten sie mit demselben Wortlaut wie Herk im neuen Jahr. Etwas zögernd erwiderte sie den Spruch und zum ersten Mal an diesem Abend widmete sie sich ihrem Bier.

Um genau einundzwanzig Minuten und drei Sekunden nach Mitternacht begann es, von kaum einer Seele bemerkt, zu schneien. Persephone spürte zuerst etwas Kaltes auf ihrer Wange, ehe sie in den Himmel blinzelte und unzählige, herabfallende Schneeflocken entdeckte. Es würden wahrscheinlich dennoch zu wenige sein, damit sich flächendeckend ein kalter Mantel über die Stadt legte, aber dennoch freute Persephone sich. Die meisten Anwesenden ließen sich von den Flocken nicht ablenken, plauderten unbeeindruckt weiter und feuerten Raketen in den winterlich grauen Nachthimmel.

Den Rest der Feier, bis irgendjemand lautstark dazu aufrief, die Nacht noch dazu zu nutzen, gemeinsam in eine Bar zu gehen, saß Persephone auf dem Dach des Treppenhauses. Äneas hatte sie in die Menge gescheucht, mit der Aufforderung, sich ein wenig unters Volk zu mischen. Sie wusste, wie schwer er sich damit tat, mit anderen Mitgliedern in Kontakt zu treten, weil er, außer bei ihr, auf das verhasste Hilfsmittel von Schreibblock und Stift zurückgreifen musste, um sich auszudrücken. Die meiste Zeit verbrachte Äneas daher in ihrer Nähe oder trainierte allein mit Herk, bei dem man eh besser Stillschweigen bewahrte, um den Leutnant nicht auf dumme Ideen für irgendwelche Strafübungen zu bringen. In Zukunft würden sie allerdings mehr mit den anderen Männern zu tun haben müssen, wenn man sie dafür bereit hielt, Aufträge auszuführen. Bis dahin sollten sie zumindest ein paar Worte mit den anderen gewechselt haben; schaden würde es ihnen auf keinen Fall.

Auch sie hatte sich eigentlich vorgenommen, ein paar Mitglieder heute Abend besser kennen zu lernen, doch Herks ernste Worte wollten sie einfach nicht loslassen. Gedankenversunken beobachtete sie die Menschen unter ihr, widmete sich jedem einzelnen für ein paar Minuten und versuchte sich ihre Namen ins Gedächtnis zu rufen. Sie war verwundert, wie vielen Gesichtern sie tatsächlich eine Gottheit zuordnen konnte und noch mehr musste sie über diese bekannten Personen den Kopf schütteln, wie teilweise anders sie sich benahmen, wenn man sie ihren Pflichten entband und feiern ließ. Wenn man sie so sah, konnte man glatt vergessen, dass dieser Haufen durchweg aus Mördern und deren Unterstützern bestand.

Und ich gehöre dazu.

Es erstaunte sie, wie wenig sie diese Erkenntnis nur noch erschütterte. Ein bitteres Schmunzeln zierte ihre Lippen und tief ausatmend legte sie den Kopf in den Nacken.

„Auf ein weiteres Jahr“, wiederholte sie leise und begann, mit den Händen Schneeflocken zu fangen.
 

Der Junge drückte sich die Nase an der Scheibe platt, versuchte, so flach wie möglich zu atmen, damit das Fenster nicht beschlug, und verfolgte das bunte Treiben auf den Straßen mit weit geöffneten Augen.

Er liebte Silvester.

Die Nacht wurde zum Tag, alle Menschen freuten sich und beglückwünschten einander zum neuen Jahr und wurden nicht müde, sich zu umarmen. Seit letztem Jahr durfte er sogar ein Glas Sekt an Silvester trinken – mit ganz viel Orangensaft, aber dieser prickelte dann wie Sprudel auf der Zunge und schmeckte nicht wirklich mehr nach Orangensaft, was am Anfang sein sehr komisches Gefühl gewesen war. Doch mit der Zeit mochte er es dann doch und dieses Jahr hatte er sich somit noch mehr auf Silvester gefreut. Er hielt das schmale Sektglas mit beiden Händen umklammert, nippte ab und zu, ohne den Blick von dem Lichterspiel zu lösen, und fühlte sich dabei ein Stück weit erwachsener.

Ein paar Jugendliche zogen unter seinem Fenster vorbei und ließen im Gehen einen Böller fallen, der keine Sekunde später lautstark explodierte, dass er zusammenzuckte. Mit klopfendem Herzen sah er den jubelnden Jungen hinterher. Seine Erzieherin hätte jetzt bestimmt empört mit dem Kopf geschüttelt. Sie hat es immer unverantwortlich gefunden, wenn Jugendliche Böller auf die Straße oder sogar unter Autos warfen.

Oder in Kanalschächte. Das konnte sie überhaupt nicht leiden, weil – und das erzählte sie jedes Jahr schon mehrere Tage vor Neujahr – vor vielen Jahren einmal eine Gruppe von Jugendlichen einen dieser Knallkörper in den Abwasserkanal vor dem Waisenhaus geworfen hatte und so der Schacht beschädigt worden war.

Und obwohl er um die Geschichte wusste, konnte er eine gewisse Neugierde und kindliche Bewunderung für die Jungs mit dem gefährlichen Spielzeug nicht unterdrücken. Sie waren zwar schon längst aus seinem Sichtfeld verschwunden, doch konnte er noch zweimal das leiser werdende Knallen ihrer Böller am Ende der Straße hören, ehe das Pfeifen und Zischen der Raketen die Explosionen endgültig übertönten. Mutig nahm er einen ganz großen Schluck des prickelnden Orangensaftes.

In seinem Rücken hörte er, wie seine Kinderzimmertür leise geschlossen wurde, als wollte der Eintretende ihn in seiner Faszination für das Feuerwerk nicht stören, doch der Junge hatte es trotzdem wahrgenommen. Erwartungsvoll drehte er sich um und sprang freudestrahlend auf, als er das große Paket erblickte, das der Mann in seiner rechten Hand hielt. Der Eingetretene erwiderte sein Lächeln.

„Meinst du, das reicht für ein ordentliches Feuerwerk?“, fragte er und der Junge beeilte sich in das Packet zu schauen. Unzählige kleinere Päckchen waren darin, mit bunten Bildern und lustigen Namen beschriftet, wie „Flotte Biene“ oder „Knallteufel“. Sogar Wunderkerzen waren dabei. Mit leuchtenden Augen grinste er seinen Vormund an.

„Ganz bestimmt!“

„Na, dann zieh dich schnell an.“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen und in Windeseile waren die dicken Winterstiefel und sein neuer Parker angezogen. Er zog den Mann regelrecht auf die Straße und konnte es kaum erwarten, selbst etwas zu dieser lauten, bunten Nacht beizutragen. Kaum hatte der Mann das Packet auf dem Bürgersteig abgestellt, schnappte sich der Junge die erste Wunderkerze und flehte den Mann an, sie für ihn anzuzünden.

Lachend gewährte er ihm den Wunsch und brav hielt der Junge den funkensprühenden Stab weit von sich weg und schaute gebannt in das helle Licht. Dann widmete sich der Mann dem Kinderfeuerwerk und der Junge dirigierte die Reihenfolge, in welcher die verschiedenen Kreisel und Summer gezündet werden sollten.

Viel zu schnell brannten die Wunderkerzen eine nach der anderen herunter und bald war auch das riesige Packet leer. Zuletzt blieben ihnen nur noch Knallerbsen, die der Junge allerdings mit Freude und ganz viel Kraft auf den Bürgersteig schmetterte, dass es krachte und kleine Funken aufstoben. Er stellte sich dabei vor, dass die Erbsen laute Böller seien, wie die der Jugendlichen, und kichernd musterte er den Kanaldeckel vor dem Hochhaus, in dem er wohnte, und fragte sich, ob von Knallerbsen wohl auch der Kanal kaputt ging. Als er es nach kurzem Zögern ausprobierte, passierte gar nichts, außer dem gewöhnlichem Platzen der Erbse und darüber war er trotzallem ein wenig erleichtert. Seine Erzieherin hätte ihm die Hölle auf Erden beschert, hätte er etwas beschädigt…

Er hörte seinen Namen und sogleich drehte er sich um und sah zu seinem Vormund, der sich auf die oberste Treppenstufe gesetzt hatte und nun auf den Platz neben sich klopfte. Mit den restlichen Knallerbsen kehrte der Junge zu ihm zurück und hielt ihm grinsend die Tüte entgegen. Der Mann griff rein und warf selbst ein paar Erbsen. Sie saßen nebeneinander auf der kalten Treppe und sahen hinauf in den immer noch erleuchteten Nachthimmel, als es auf einmal zu schneien begann.

Jauchzend sprang der Junge wieder auf die Füße, streckte die Zunge raus und versuchte die Flocken so einzufangen. Der Mann verfolgte das Spektakel schmunzelnd und griff beiläufig nach einer Zigarette. Der kleine Junge sprang weiterhin auf dem Gehsteig umher, den Kopf in den Nacken geworfen, bis er schnaufend stehen blieb und grinsend zu ihm zurücksah.

„Hey, Zeus!“

Der Mann hob erwartungsvoll den Kopf, als der Junge wieder auf ihn zugelaufen kam und ihn so stürmisch in die Arme schloss, dass der Mann sich beeilen musste, die glimmende Zigarette noch rechtzeitig wegzuhalten.

„Frohes neues Jahr!“

Zeus lächelte und strich dem Jungen über das schwarze Haar, in dem sich ein paar Schneeflocken verirrt hatten.

„Frohes Neues, Nero.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
... und "Game of Thrones" ist an mir nicht spurlos vorbeigegangen "o_ò (unbedingte Leseempfehlung!)

und damit melde ich mich endlich wieder zurück!
vielen lieben dank an die, die hier an dieser stelle auch nach einer so langen durststrecke weitergelesen haben ^^
leider kann ich auch weiterhin nicht mit schnellen uploads dienen, aber 2 monate funkstille werdens hoffentlich nicht nochmal.

so, und nu was für die ganz aufmerksamen: wer mir sagen kann, wie ich die "springer" urspünglich nennen wollte, bekommt nen keks ;)

lg! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein kleines, eingeschobenes Kapitel. Rose sollte zu Anfang gar nicht hier auftauchen, aber irgendwann musste Zeus ja mal auf sie treffen ;)
Anmerkung zu der 10000 Yen- Diskussion der beiden: Ich habe keine Ahnung, ob die Angabe hier realistisch ist; ich gehe mal nur davon aus, dass sich die Damen nicht so billig verkaufen (möchte es ehrlich gesagt auch gar nicht wissen...) und Zeus wirklich recht dreist mit seinem Angebot war.

Und: Nächsten Monat kommt leider kein neues Kapitel *sich schnell duck*
Aber dafür garantiere ich, dass es am 6.12. wieder eines geben wird!
Bis dahin! :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wünsch euch allen einen schönen Nikolaus und eine tolle Adventszeit ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Man siehe mir die Kürze dieses Kapitels nach ... aber ich wollte euch mal zappeln lassen ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach langer Zeit auf der Ersatzbank und dabei mit kurzen Statistenrollen bei Laune gehalten, mal endlich wieder Ares satt ;)
Und ganz ehrlich: ich liebe Herk! Also nicht als Trainer - ich würde den ganzen Tag nur heulen...
Ich hoffe, es hat gefallen :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie, Epilog?
Ja, man liest richtig.
Doch bevor zum faulen Gemüse gegriffen wird, möchte ich mich kurz erklären:
Nein, die Geschichte ist noch nicht zu Ende! Im Gegenteil *hust* Wenn ich es ganz genau nehme, waren die letzten dreißig Kapitel quasi Einleitung. Jetzt sind (fast) alle Protagonisten da, wo sie hingehören, alle haben ihr Bündel gepackt und nun kann es losgehen. Warum ich ausgerechnet jetzt einen Cut mache?
Zum einen denk ich mir, dass es optisch nicht sooo ansprechend aussieht, wenn eine OS hier 60+ Kapitel hat (ich bin ehrlich, in sowas schau ich auch nur selten rein), zum anderen wollte ich mir selbst die Möglichkeit geben, mich an etwas anderem zu versuchen (ob ich das Ergebnis hier hochlade ... mal sehen).
Ich werde diese Geschichte auf jeden Fall zu Ende schreiben - es würde mein Herz bluten lassen, Memori3s jetzt aufzugeben - aber im Moment möchte ich mir eine Pause gönnen; nach fast sieben Jahren denke ich ist das gerechtfertigt ^^"

Ich hoffe, dir, lieber Leser, hat die Geschichte bis jetzt gefallen und vielleicht magst du ja auch in Zukunft in meine Geschichten reinschauen - ich würde mich sehr darüber freuen.
Kommentare und Kritik werden auch immer gern gesehen :)

So, was bleibt noch zu sagen? Dieser Epilog quillt vor Schachtelsätzen ja nur so über ... reine Labyrinthe, herrje oÔ
Herr Hohlbein wäre stolz auf mich :P

Noch einmal vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren! *blackheart zuzwinker*
_Myori_ Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (31)
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Von:  Thuja
2015-02-08T15:07:02+00:00 08.02.2015 16:07
Ich will es gar nicht glauben
Das letzte Kapitel *snief*
Das ist sehr, sehr traurig.
Mir wird ganz im Ernst etwas fehlen
Ich weiß, ich hab es schon tausend Mal gesagt, aber ich würde es auch noch tausend Mal sagen. Ich liebe deine Charaktere, ich liebe deinen Stil und ich liebe die ganze Story. Du hast hier echt ein Meisterwerk geschaffen.
Nur eine Frage stelle ich mir jetzt noch: Was ist jetzt eigentlich mit Taro?

Dieses Kapitel ist wieder ein Diamant und zwar ein sehr hochkarätiger
Aww. Ich fand es ja schon irgendwie süß, dass Persephone sich eine Kombi von Ares abgeguckt hat ^_^
Aber am genialsten war diese Silvesterfeier auf den Dach. Schon als Herk grinste, musste ich selber breit schmunzeln. Und dann noch dieser Satz dazu „etwas, das der Häufigkeit des Auftretens einer totalen Sonnenfinsternis gleichkam“ hahaha. So genial.
Du schafft es wirklich, dass man als Leser in jeder Szene perfekt mitfühlen kann. Nie fühlt man sich distanziert oder weit weg von der Geschichte.
Sehr bewegend fand ich die ernsten Worte von Herk, über die Tatsache, dass im nächsten Jahr ein paar der Gesichter nicht mehr da sein werden. Perfekte Wortwahl
Die ganze Silvesterszene war hervorragend geschrieben. Ich habe es genossen, sie zu lesen.

Und genauso sehr mochte ich auch das Ende. Sehr süß, wie der kleine Nero sich über das Orangensaft mit Sekt freut :) :)
Und Zeus ist so lieb zu Nero. Zu schade, dass Nero später an diese schönen Szenen keine Erinnerung mehr haben wird

Von:  Thuja
2015-01-04T16:12:43+00:00 04.01.2015 17:12
Lob, Lob, Lob! Unendlich viel Lob für das ganze Kapitel, für jede Szene darin, für die Charaktere, für die Sätze, für einfach alles.
Ich kann und will gar nicht glauben, dass nur noch ein Kapitel da ist.
Ich werde sie alle sooo vermissen.

Allein dieses Kapitel war wieder absolut Weltklasse. Ich kann gar nicht anders, als den Hut vor dir und deinem Talent zu ziehen.
Herk ist auch einfach nur toll <3. Allerdings nicht als Trainer. Okay, ja, er macht seine Aufgabe gut, aber ich würde bei ihm wahrscheinlich pausenlos heulen. Mit Samthandschuhen packt er einen ja nicht gerade an, und da spielt es keine Rolle, ob man Mann oder Frau ist. *lach* Am Anfang musste ich über Herk schmunzeln. Diese Gedanken über Kinder :-). hahaha. Zu herrlich. Als ich dann den Grund für seine Gedanken erfahren habe, wurde mein Grinsen noch breiter. Die Idee ist bei den Teams wirklich nicht auf viel Begeisterung gestoßen. Und was sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen haben…wirklich wie Kinder.

Und ja. Ich liebe Ares noch immer so sehr. Ich will noch so viel mehr von ihm lesen. Bei jedem Satz, wo er etwas tut oder sagt, könnte ich wie ein Fangirl kreischen ^///^

Wer hätte gedacht, dass dieser kleine Wettkampf so spannend wird. Persephone hat am Anfang wirklich Köpfchen bewiesen. Und obwohl die Teams so unterschiedlich stark sind, hast du es geschafft den Wettkampf auf realistische und nicht aufgezwungene Weise Spannung zu verleihen. Das fand ich toll.

Auch das Gespräch danach zwischen Kore (ich finde es ja süß, dass er sie Kore nennt) und Ares war super! *Fanfähnchen schwenk*
Nun bin ich gespannt, was das letzte Kapitel bereithält
Antwort von:  _Myori_
04.01.2015 19:52
Zur Abwechslung antworte ich mal hierrüber ;)
Mal wieder vielen Dank für deine lieben Worte und dein Lob - ich freu mich jedes mal aufs Neue wie eine Schneekönigin, dass dir Memori3s so sehr gefällt!
Die Anfangsszene hat mir auch besonders Spaß gemacht ^^ Herk ist halt ein großer Zyniker und der Muffel schlechthin, aber im Grunde liebt er seinen Job und die "Kinder" ja doch ;)
Ich muss ja zugeben, nach so vielen Kapiteln endlich wieder Ares sich austoben zu lassen, war wirklich eine Wohltat (die Kapitel davor waren ja schon etwas schwerere Kost...) Und ich hoffe, dass ich mit der letzten Szene nicht über die Stränge geschlagen habe ^^" Sie kam halt so über mich und ich dachte mir, komm, schreib einfach und mit wem solltest du sowas sonst anstellen, wenn nicht mit Ares :P
*grins* Wenn du dich so über Ares gefreut hast, hab ich ja alles richtig gemacht ^^

Und zu deiner Befürchtung, das Ende Memori3s betreffend... lies den Epilog, vielleicht kann ich dich damit ja überraschen ^^
Von:  Thuja
2014-11-16T15:08:37+00:00 16.11.2014 16:08
Nein! ich habe Memori3s nicht vergessen (ich glaube auch nicht, dass ich so eine geniale Geschichte vergessen könnte. Selbst dann nicht, wenn man mich an Memoria anschließen würden :P )
Allerdings habe ich mir in letzter Zeit Cod3s noch einmal reingezogen. Ich weiß nicht. ich hatte voll Lust drauf :). Und man, war das toll, selbst beim zweiten Mal lesen. Ich glaube, dass ist eine der wenigen Geschichten, die ich mehrmals gelesen habe.

Und jetzt mach ich auch hier weiter. Wird höchste Zeit
Du hast so viele wunderbare Charaktere. Ich habe das Gefühl, dass ich praktisch ständig und über ziemlich viele sagen könnte: Der ist toll!!!!
Besonders die männliche Fraktion ist einfach so klasse ♥_♥. Ich würde zu gerne mal einen Tag dort verbringen … obwohl, vielleicht lieber nicht. Nicht dass ich am Ende eine Trainingsstunde mit Herk leisten muss. Darauf kann ich dankend verzichten ^_^“.

Wow, das muss komisch sein, wenn ich weiß, dass mein Gegenüber mein Bruder ist und ich darf es ihm nicht einmal sagen
Aber es ist toll, wie authentisch jeder Satz, jede Geste von Persephone wirkt. Das Gespräch mit ihrem Bruder war echt schön und toll geschrieben. Und als sie ihm dann ein Eis holen will und sich so über das Danke freut: Da hat mein Herz auch vor Freude schneller geschlagen. Es ist schon einzigartig, was für eine Geschichte du hier geschaffen hast.

Von:  Thuja
2014-07-14T16:40:05+00:00 14.07.2014 18:40
Wie soll man so eine grenzenlose Genialität nur würdigen????
Ich weiß es nicht.
Ich weiß es einfach nicht.
Ich weiß nur eins: Ich bewundere dich und jedes Kapitel, was du schreibst
Jeder Satz von dir ist meisterlich ... weltmeisterlich :)

Das war wirklich eine Überraschung, als auf einmal Zeus hinter ihr stand. Aber eine positive Überraschung. Wäre es Hades gewesen...O_o…. nicht auszumalen.
Zeus hat ihr mit seiner souveränen Art (für die man ihn einfach lieben muss) ein wichtiges Geheimnis anvertraut. Jetzt weiß sie auch über Memoria Bescheid. Muss schon irgendwie komisch sein, wenn man weiß, dass das Gedächtnis bewusst gelöscht wurde und ich kann mir lebhaft vorstellen, dass man das erstmal für ein Märchen hält, wenn man so etwas erzählt bekommt :).

Von:  Thuja
2014-06-15T06:28:43+00:00 15.06.2014 08:28
*tief durchatme*
*nochmal tief durchatme*
*noch länger durchatme*
Ich dachte mir, wenn ich mehrmals tief durchatme, hilft das mich zu beruhigen, damit ich nicht wieder Rumkreische wie ein Fangirl
ABER
Fehlanzeige
Wow, wow, wow, mega wow, supermegawow
So endlos genial
Ganz zufrieden bin ich zwar nicht mit dem Kapitel. Es war viel zu kurz. Aber dein Stil…..hach….ich gerate ins Schwärmen, wenn ich daran denke. Meine Bewunderung mal wieder. Du schreibst so packend und lebendig, so stimmungsvoll. Ich fiebere jedes Mal so mit. Je näher sie der Lösung des Rätsels kam, umso schneller schlug mein Herz und am Ende hatte ich eine Gänsehaut. Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, warum sie in Teil 2 dann wusste, das es ihr Bruder war. Nun weiß ich es.

Von:  Thuja
2014-05-15T18:17:07+00:00 15.05.2014 20:17
Was ist schöner?
Eine Tafel Schokolade oder ein Kapitel deiner Geschichte?
Ein Kaffee oder ein Kapitel deiner Geschichte?
Ein warmer Sommertag am Meer oder ein Kapitel deiner Geschichte?
Und ich muss sagen: Ein Kapitel deiner Geschichte gewinnt immer!!

Ich bin ja ehrlich. Unter Herk lernt man bestimmt schnell und viel, aber ich hätte Schiss, seine Schülerin zu sein, so sehr ich ihn auch liebe. Er ist genial, grandios, aber auf jeden Fall eine Respektperson und streng.
Bei dem Spitznamen Peach musste ich schon grinsen. Wie böse :)

Aber als Ares sich das T-Shirt ausgezogen hat ... hach ...ich hab gejubelt. Ich hab mir die Stimme kaputt gejubelt. Und als Persephone ihn auch noch anstarrt. Da habe ich dann mit den Händen gewedelt vor Freude (meine Stimme war vom Jubeln vorher nicht mehr zu gebrauchen)
Und etwa eine Stunde später, nach tausend Freudentänzen, habe ich weiter gelesen und war wie total gefesselt von deinen Worten und der Story

Du schreibst wie ein Profi. Profihafer als ein Profi. Mit Abstand bist du einer der begnadetsten Autoren, die ich kenne

Von:  Thuja
2014-04-24T18:37:27+00:00 24.04.2014 20:37
Mir ist gerade ein großes Problem eingefallen. Ein sehr großes. Was mache ich, wenn die Geschichte irgendwann endet???
O_O
Ich werde alle so vermissen.
*seufz*
Aber gut. Am besten ich denk noch nicht daran.
Es würde nur die tausende von Glückshormonen zerstören, die ich bekomme, wenn ich ein Kapitel bei dir lese.
Zeus – mein Held!
Zumindest in dieser Situation.
Ich war wirklich überrascht (und erfreut), dass er und nicht Hades sie diesmal erwartet hat.
Da hat er sich ja etwas Feines ausgedacht. ^___^
Es war mal wieder alles sehr hautnah beschrieben. Vor allem auch diese fühlbare Bindung der beiden Geschwister, die sie sich natürlich nicht erklären können, weil sie nicht mehr wissen, dass sie Geschwister sind, die aber dennoch besteht.
Besonders als ihr die Tränen kamen, als die Narbe sieht, das war soooo emotional geschrieben. Ich hatte das Gefühl, ich sitze da und habe ihre Gefühle. Bei mir flossen auch fast Tränen

Von:  Thuja
2014-04-13T05:52:44+00:00 13.04.2014 07:52
Ich liebe diese Geschichte so!!!!!!!!!!
Ich brenne vor Begeisterung für deinen Stil, für den Inhalt und vor allem auch für die Personen
Ich glaube auch, dass du die coolsten Charaktere in die Story eingebaut hast, die es gibt. Und obwohl sie alle so unterschiedlich sind, sind gleich mehrere auf ihre Weise so cool
Ich könnte gar nicht dort arbeiten. Ich wäre total abgelenkt von einigen Kerlen und würde wahrscheinlich ständig mit Herzchen in den Augen entweder Herk oder Ares oder Orpheus nachrennen :D
Eine großartige Szene, als sich Orpheus D. in den Weg stellt. Mir tat sie auch sehr leid, wie Persephone so erbarmungslos durch die Gänge geschleift wird. Was immer Zeus sich überlegt hat, ich hoffe es dauert nicht zu lange und ich hoffe es hilft.
Hahaha. Aber der geilste Satz von Orpheus war der: „Aber wenn du sie nicht sofort loslässt, könnte es passieren, dass ich einen Moment lang nicht auf meinen Partner hier aufpasse und der ist nicht so friedliebend wie ich. Vor allem Springern gegenüber nicht“
^_____________________________________^
Grenzenlos genial
Das Herk es schon wusste, dass er es praktisch selbst herausgefunden hat, fand ich mal wieder klasse.

Von:  Thuja
2014-01-13T18:16:43+00:00 13.01.2014 19:16
Das Jahr fängt gut an. Sehr gut sogar und zwar dank diesem wunderbaren Kapitel
Ja…okay…es ging nicht bei Ares weiter. Das ist ein kleiner Kritikpunkt von einem großen Ares-Süchtigen. Aber ansonsten war es perfekt. Schlichtweg perfekt. Perfekter als Perfekt. Nahe zu oberperfekt ^________^
Dass Taro dort Herzinfarkte am laufenden Band erlebt, kann ich mir lebhaft vorstellen. Dort ist es aber auch extrem unheimlich und dann sieht er im Spiegel auch noch eine Person O_O
Scary
Auch wenn die Stelle wirklich mal wieder filmreif war
Bleibt nur eine Frage: Wer ist das wohl? Wer hält sich dort unten auf?

Von:  Thuja
2013-12-23T13:05:26+00:00 23.12.2013 14:05
*grins*
Ich würde Ares nicht aus meinem Kopf schicken. Im Gegenteil. Er dürfte es sich ruhig dort drin bequem machen und mir viele schöne Gedanken bescheren ^________^
Schätze mal, der Weihnachtsmann wird morgen wirklich viele Geschenke für dich haben. Du hast dieses Jahr so viele gigantisch tolle Kapitel geschrieben, du hättest es verdient!!!
Hab gerade die letzten Kapitel noch mal quer gelesen und die Geschichte ist so genial.
Ich beneide dich um deine Charakter und dein Stil.
Und die Szene auf dem Dach war auch mal wieder einmalig und fabelhaft.
Wirklich großartig, wie toll du dich in Persephone hineinversetzt und wie klar, realistisch und lebendig du ihre Gedanken und Gefühle werden lässt. Du schaffst es wirklich, den berühmten Funken springen zu lassen, so dass der Leser einfach mit ihr fühlen muss.
Und auch Ares war mal wieder klasse (♥♥) und genau das, was sie jetzt gebraucht hat :-)


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