Memori3s von _Myori_ ================================================================================ Déjà-vu ------- Leise stöhnend lehnte sich Persephone mit dem Rücken gegen die Wand und massierte ihre brennenden Oberarme. Sie würde morgen sicherlich mit einem herrlichen Muskelkater aufwachen. Trotz der kleinen Entlastung zitterten ihre Beine immer noch, sodass sie sich geschlagen an der Wand herunterrutschen ließ und mit letzter Kraft nach ihrer Wasserflasche griff, die neben ihr auf dem Hallenboden stand. In solchen Momenten fing etwas in Persephone an, die Entscheidung zu bereuen, die sie bereits nun vor über einer Woche getroffen hatte. Herakles war ein Sklaventreiber. Ein Unmensch, anders konnte man es wirklich nicht beschreiben. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und leerte die angebrochene Flasche in wenigen Zügen. Manchmal fiel ihr die Wahl des schlimmeren Übels – die frühen Stunden mit Hades oder die Nachmittage mit Herk und Äneas – gar nicht so leicht. Die Arbeit am Computer forderte von ihr höchste Konzentration, Hades legte ein Lerntempo vor, das mit den Recherchearbeiten zuvor nicht zu vergleichen war. Kam sie allerdings bei ihm erst nach einiger Zeit geistig ins Schwitzen, so schaffte der Leutnant das in wenigen Minuten. Er nahm keine Rücksicht auf ihre erbärmliche körperliche Verfassung oder darauf, dass sie bis vor ein paar Tagen noch ein nervliches Wrack gewesen war. Sie war sich sicher, dass Herakles zumindest eine leise Ahnung davon hatte, was vorgefallen war. Ihre erfolglose Initiative eines Versuchs zur Selbsthilfe war dem Hünen mit Sicherheit im Gedächtnis geblieben, so, wie sie regelrecht vor ihm geflohen war. Zeigte er damals noch Ansätze von Geduld und Einfühlungsvermögen, so hatte er jetzt nur noch blaffende Befehle und verbale Arschtritte für sie übrig. Ihre einzige Beruhigung war, dass es Äneas nicht besser erging. Einige verschwitzte Strähnen aus dem Gesicht wischend, schaute sie zu ihrem Partner, der von Herk weiterhin gequält wurde. Der Leutnant hatte einen anderen Trainierenden dazu geholt, der nun gegen Äneas im Faustkampf antrat. Ihr Trainer stand am Rand der Matte und brüllte Anweisungen und Verwünschungen im gleichen Umfang. Persephone musste schlucken. Äneas und sie hatten schon fast zwei Stunden an diesem Tag mit Herakles trainiert und das sah man ihnen an – bei ihr war das kein großes Kunststück, aber ihr hochgewachsener Partner war in einer wesentlich besseren, körperlichen Verfassung als sie. Inzwischen waren jedoch auch ihm die letzten Stunden anzusehen und dennoch hielt er tapfer die Deckung oben und versuchte den Tritten und Schlägen des erfahrenen Kämpfers standzuhalten. Seine freien Oberarme und sein Nacken glänzten vom Schweiß und überall erkannte sie gerötete Stellen auf seiner nackten Haut, an denen die Angriffe seines Gegners doch durchgekommen waren. Wahrscheinlich würden sich morgen dort neue blaue Flecke abzeichnen, die sich so zu den ganzen alten gesellen. Kurz schaute sie an sich herunter. Auch ihre Schienbeine waren blau und grün; an ihren Oberkörper wollte sie gar nicht denken. Den Blick in den Spiegel abends vermied sie seit anderthalb Wochen so gut es ging. Auf der einen Seite befürwortete sie es, dass Herakles ihr keine Sonderbehandlung zukommen ließ … aber zumindest könnte er ein weniger gnadenloses Trainingstempo anschlagen. Und sie vielleicht weniger beleidigen. Bereits am zweiten Tag fing er an, sie „Peach“ zu rufen, weil ihm „Persephone“ zu lang war; die Verbindung zu einer bekannten Spielreihe war ihr erst nach und nach aufgefallen. Sie fand es demütigend, zumal sie seitdem ständig die grinsenden Blicke der anderen Mitglieder im Nacken spürte, wenn Herk sie mit ihrem neuen Spitznamen zu sich rief. Peach kam definitiv direkt nach Kore auf ihrer Liste der Dinge, die sie an diesem verdammten Ort am meisten hasste. Innerlich grummelnd lehnte sie den Kopf gegen die Wand und verfolgte Äneas‘ Kampf, Herks wütende Kommentare ausblendend, bis der Blick des Leutnants sich auf einmal auf sie heftete. Er deutete auf seine Schülerin und zeigte ihr dann mit der Hand fünf Minuten an, die er ihr noch zum Verschnaufen einräumen würde. Im nächsten Moment beschwerte er sich schon wieder lautstark über Äneas‘ mangelhafte Deckung. Persephone hätte sich am liebsten bockig und jammernd auf dem Boden gewälzt. Was für ein Unmensch! Nein, menschlich war das schon nicht mehr – das hier waren doch alles Roboter, jawohl! Seufzend wandte sie den Blick ab, doch statt etwas Erfreulicheres zu erblicken, entdeckte sie Ares. Tolle Alternative, schoss es ihr ernüchternd durch den Kopf. Auch er war am trainieren, mit diesem Orpheus, der wohl als etwas besonderes hier bei Olymp galt – zumindest nach Hermes‘ Lobesgesängen zu urteilen, die er Persephone regelmäßig auf diesen Typen sang. Bis auf das eine Mal, als er ihretwegen die Auseinandersetzung mit D hatte, hatte Orpheus mit ihr bisher kein Wort gewechselt. Er schien, was den Kampf anging, talentiert zu sein; aber jeder, der ein Schwert schneller als in Zeitlupe führen konnte, besaß in ihren Augen ein Geschick, das für sie in unerreichbaren Sphären lag. Ansonsten war er ihr relativ egal. Sie zog den Pfad des Einzelgängers weiterhin vor, auch, wenn Äneas quasi pausenlos an ihrer Seite verweilte. Er war da, wofür sie ihm auch sehr dankbar war, doch seine Anwesenheit brachte keine Geselligkeit mit sich; sie kommunizierten nur das nötigste, was wahrscheinlich zum größten Teil dem Umstand zuzuschreiben war, dass ihre Kenntnisse der Gebärdensprache noch nicht allzu sehr ausgereift waren und es Äneas meist zu mühselig war, alles aufzuschreiben, ganz abgesehen davon, dass sie dazu meistens auch nicht die Geduld besaß, zu warten, bis er seinen Satz zu Papier gebracht hatte. So genossen sie die Anwesenheit des anderen im Stillen. Im Gemeinschaftsraum saß sie stets an einem kleinen Tisch in der Ecke und aß für sich in aller Ruhe, nur einen abschätzenden Blick für die ausgelassenen Grüppchen übrig, die sich bei Fastfood und Aufgewärmten lautstark unterhielten und lachten. Sie war froh, Äneas an ihrer Seite zu haben; der Rest dieser verrückten Organisation konnte ihr allerdings größtenteils gestohlen bleiben. Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie den Kampf zwischen Orpheus und Ares. Sie hielt nicht viel davon, sich mit Schwertern gegenseitig anzugreifen oder gar einen völlig Fremden töten zu wollen, egal, ob nun mit einer Klinge oder einer Pistole. Es war schwer für sie gewesen, diesen Umstand zu akzeptieren; dass sie alle nur für diesen einen Zweck ausgebildet wurden. Sie hasste es, wenn Herk ihr ein Übungsschwert in die Hand drückte und sie aufforderte, ihn damit anzugreifen. Meistens tat sie das dann mit einem unwohlen Gefühl im Magen und so zaghaft, dass es für ihren Trainer ein leichtes war, ihr das schwere Ding aus dem lockeren Griff zu schlagen. In solchen Momenten fragte Herk sie dann aufgebracht, was sie denn tun würde, wenn ihr ein echter Gegner gegenüber stehen würde. „Du wärst tot, ehe du um Gnade flehen könntest!“ Sie zuckte immer noch zusammen, wenn dieser Satz fiel, egal wie oft sie ihn bisher nun schon gehört hatte. In ihren Gedanken kam in solchen Momenten ein Bild auf, eine Szenerie, wie irgendjemand auf sie zugerannt kam, in der Absicht sie zu töten. Selbst in Gedanken konnte sie nicht das Schwert in ihren Händen heben, um dem Typen zuvorzukommen und ihn schneller zu erledigen als umgekehrt. Ares holte in diesem Moment mit seiner Klinge weit aus und lies sie von oben hinab auf Orpheus schnellen. Im Reflex wollte sie schon die Augen schließen, doch da wich der Angegriffene bereits elegant aus, drehte sich um die eigene Achse und griff selbst an. Ares lenkte die Bahn seines Schwertes ab und blockte Orpheus‘ Angriff in einer fließenden Bewegung keine Sekunde später und das Klirren des Metalls war deutlich in der Halle zu hören. Persephone sog die Luft tief ein und weitete erstaunt die Augen. Die Zwei kämpften definitiv auf einem viel höheren Niveau als die meisten hier. Sie musste zugeben, dass dieser Kampf eine gewisse Faszination auf sie ausübte. Bei aller Kraft und Schnelligkeit war da etwas in den Bewegungen der beiden Männer, das sie in ihren Bann zog. Etwas Weiches, was in so einem deutlichen Kontrast zu dem Tödlichen stand, das sie normalerweise mit dem Schwertkampf verband. Sie blendete ihre Umgebung aus und konzentrierte sich nur noch auf die Bewegungen der Kämpfenden. Sie sah, wie sich Ares‘ Muskeln am Oberarm spannten, wenn er sein Schwert gegen das von Orpheus drückte, sah, wie der ehemalige Springer seine Füße mit einer Leichtigkeit setzte, wenn er seinem Gegner auswich, die sie ans Tanzen erinnerte. Das war kein Kampf in ihren Augen. Es war etwas viel ästhetischeres und mit einem Mal überkam sie der Neid. Neid und etwas, das sie nicht zuordnen konnte. Sie zitterte innerlich und gleichzeitig war ihr heiß und kalt. Sie hätte den beiden noch stundenlang zusehen können; umso enttäuschter war sie, als Orpheus und Ares im nächsten Moment in gemeinsamer Übereinstimmung die Schwerter sinken ließen und von der Matte traten. Orpheus lächelte zufrieden und sagte etwas, das sie von ihrer Position aus nicht verstand. Auch Ares fing an zu grinsen und in einer beiläufigen Bewegung griff er den Saum seines Shirts und zog sich im nächsten Moment das verschwitzte Kleidungsstück über den Kopf aus. Auch wenn Persephone es gewollt hätte, sie hätte den Blick nicht abwenden können. Ihre Augen schienen mit Ares‘ Bauchmuskeln verwachsen zu sein und sie betete, dass der Blonde ihr unverhohlenes Starren nicht bemerkte. Bei dem Gedanken, dass er sie nun mit seinen hellblauen Augen ansehen würde, schoss ihr das Blut in den Kopf. Etwas in ihrem Verstand registrierte fassungslos diese absolut dämliche Reaktion ihres Körpers auf diesen unmöglichen Typen, doch dieser Teil hatte gerade überhaupt keine Kontrolle über sie. Vergiss das Schlucken nicht, sonst fängst du noch an zu sabbern, zischte er ihr schnippisch zu und gab sich gezwungenermaßen geschlagen. Ihr Glück war es, dass der Moment des freien Einblicks auf Ares‘ Oberkörper nur wenige Sekunden andauerte, bis der Blonde sich ein neues Shirt angezogen und sich abgewandt hatte. Sie blinzelte schnell, schluckte und fuhr sich fahrig über ihre glühenden Wangen. Am liebsten hätte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht gekippt, doch ihre Flasche war nun endgültig leer. Wie peinlich… Aus den Augenwinkeln sah sie jemanden die Halle betreten und sogleich wandte sie ihren Kopf dem Neuankömmling zu, dankbar um die Ablenkung. Hermes‘ blauer Haarschopf war unverkennbar. Er schaute sich kurz um und lief dann zielstrebig auf Ares und Orpheus zu. Er schien sie nicht weiter bemerkt zu haben. Ares begrüßte den Kleineren mit gewohnt breiten Grinsen und einem freundschaftlichen Handschlag, dass Persephones Augenbraue ungewollt nach oben wanderte. Sie wusste, dass Hermes ein guter Freund von Ares war, was sie jedoch absolut nicht nachvollziehen konnte. Sie mochte den quirligen Schützen, wenn sie es genau nahm, war er das einzige Mitglied neben Äneas, dem sie hier etwas Sympathie abgewinnen konnte; was Hermes allerdings an diesem aufgeblasenen Idioten als positiv auffasste, war ihr schleierhaft – abgesehen von einem verdammt gut gebauten Körper, fügte eine leise Stimme in ihr träumerisch hinzu und diese Erinnerung jagte kurz wieder einen heißen Schauer über ihre Wangen. Verärgert verdrängte sie ihre verräterischen Vorstellungen. In diesem Moment entdeckte Hermes sie doch in ihrer Hallenecke sitzend und winkte ihr freudestrahlend zu. Um ein fröhliches Lächeln bemüht, erwiderte sie den Gruß; den Blick, den Ares ihr dabei zuwarf, versuchte sie zu ignorieren. Als sein musternder Blick allerdings auch nach Sekunden noch an ihr haftete, sah sie giftig zurück. Was für ein Problem hatte dieser Kerl denn nun schon wieder? Sein Ausdruck wandelte sich, je länger ihr stummes Gefecht anhielt, bis er sich mit ungläubigem Blick an Hermes wandte, zu ihm etwas sagte und dabei auf sie deutete. Hermes antwortete nur mit einem verwirrten Schulterzucken. Ares‘ Reaktion war ein fassungsloses Kopfschütteln und nun riss Persephones Geduldsfaden endgültig. Was erlaubte er sich? Nun war er wirklich zu weit gegangen! Mit einem energischen Satz war sie auf den Beinen und wollte schon wutschnaubend die Halle durchqueren, als Herks bellende Stimme jeden Anwesenden zusammenzucken ließ. Zuerst dachte sie, dass der Einhalt gebietende Befehl ihr gegolten hatte, doch als sie sich in diesem Moment umdrehte und zu ihrem Trainer zurücksah, erkannte sie den Grund für seinen donnernden Ausruf. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Faustschlag in die Magengegend abbekommen. Äneas‘ Trainingspartner stand wie versteinert da, die Linke noch leicht erhoben, und starrte aus geweiteten Augen auf den am Boden kauernden jungen Mann. Für einen Wimpernschlag schien die Welt still zu stehen; Zeit genug, damit sich die Szene in ihre Netzhaut einbrennen konnte, ehe Bewegung in alle Anwesenden kam und Herk auf Äneas zustürzte, den Anderen dabei unachtsam zur Seite stoßend. Auch Persephone erwachte augenblicklich aus ihrer Trance und rannte zurück. Als sie näher kam, erkannte sie, dass Äneas nach vorne gebeugt auf der Matte hockte und röchelnd mit beiden Händen seinen Hals umfasste. Sein Gesicht war kreidebleich und er hatte Augen und Mund weit aufgerissen. Er hustete und würgte immer wieder blutigen Speichel hervor, der sich auf dem groben Stoff der blauen Matte unter ihm sammelte. Persephone glaubte ihr Herz aussetzen zu spüren und atemlos hockte sie sich neben Äneas, eine Hand auf seinen bebenden Rücken legend. Herk saß vor ihm und hielt ihn an den Schultern, ihm beruhigende Worte zuflüsternd. Bei dem Geräusch seines pfeifenden Atems zog sich alles in ihr zusammen, am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. „Ganz ruhig“, sprach Herakles auf den Verletzten ein. „Versuche, langsam ein und aus zu atmen.“ Doch Äneas schüttelte nur heftig mit dem Kopf und spuckte wieder keuchend Blut. Persephone sah, wie Herk ernst die Lippen aufeinander presste und wieder fühlte sie einen brennenden Schlag, der ihren ganzen Körper lähmte. Sie wühlte in ihren aufgebrachten Gedanken nach etwas, das sie tun könnte, womit Äneas geholfen wäre, doch ihr fiel nichts ein. Hilflosigkeit fesselte sie und trieb ihr die Tränen in die Augen. „Es … es tut mir leid, das wollte ich nicht!“, stammelte jemand in ihrem Rücken. Sie drehte den Kopf zu der Geräuschquelle. Der andere junge Mann, dessen Name Persephone in diesem Moment nicht einfallen wollte, war ein paar Schritte herangetreten und beinahe genauso bleich wie Äneas. Angst und Schuldgefühle zeichneten sein Gesicht. „I-ich habe aus Reflex gehandelt-“ „Ich handle auch gleich aus Reflex!“, knurrte Herk düster und sah wütend zu dem Mann hinauf. „Keine Schläge in Halsbereich und Lendengegend – sind deine Anatomiekenntnisse so schlecht oder rede ich undeutlich?“ Sein Gegenüber zuckte zusammen und sah eingeschüchtert zur Seite. Er murmelte etwas, das Persephone nicht verstand, worauf sich Herk ruckartig erhob und sich vor ihm aufbaute. „Du solltest zusehen, dass du schnell aus meinem Blickfeld verschwindest! Mach dich nützlich und gib den Ärzten Bescheid, los!“ Der junge Mann wurde noch blasser, beeilte sich dann aber zu nicken und Herks Aufforderung nachzukommen. Der Leutnant kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern drehte sich sofort wieder zu Äneas um, dessen Atmung immer flacher wurde. Seine Schultern, die Persephone in ihrer Ratlosigkeit weiterhin umschloss und hoffte, ihm so einen gewissen Halt zu bieten, bebten vor Anspannung. Mit jedem seiner Versuche eines Atemzugs, zog sich auch ihr Herz schmerzhaft zusammen. Wieder donnerte Herks Stimme durch die Halle und rief diesmal nach Orpheus, der auch gleich darauf bei ihm stand. „Hilf mir! Die verdammten Quacksalber brauchen mir zu lange; bis die ihre Ärsche hierhin bemüht haben, ist es zu spät“, knurrte der Ältere, hockte sich an Äneas‘ Seite und legte sich den einen Arm seines Schülers über die Schulter. Schweigend tat es der Angesprochene ihm gleich, wobei er Persephone vorsichtig zur Seite schob und an Äneas‘ andere Seite trat. Zusammen zogen sie ihren Partner auf die Beine und liefen sogleich mit ihm aus der Halle. Persephone starrte ihnen hilflos hinterher und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Ohne wirklich bewusst drüber nachzudenken kam sie wieder auf die Beine und eilte hinter Herk und Orpheus hinterher, den Blick wie besessen auf Äneas‘ Rücken fixiert. Ihn einen Moment aus den Augen zu verlieren, war für sie ein unvorstellbar schreckliches Szenario. Sie spürte, dass sie nicht alleine war; neben ihr liefen noch zwei weitere Personen, die sie nach einem kurzen Seitenblick als Ares und Hermes identifizierte. Letzterer lief dicht neben ihr und warf ihr immer wieder einen prüfenden Blick zu, im Nachhinein war sie sich auch sicher, dass er mit ihr gesprochen hatte, doch sie konnte sich an kein einziges Wort erinnern. Ihre Beine trugen sie die Gänge entlang, immer hinter Äneas hinterher. Sie empfand ihren eigenen Atem als unerträglich laut. Vor ihnen im Gang tauchte eine große Doppeltür auf, dessen Flügel sich öffneten und von zwei Männern in weißen Kitteln aufgehalten wurden. Dahinter konnte sie einen ausgeleuchteten Tisch und weitere Ärzte ausmachen. Herk und Orpheus trugen ihren Partner hindurch, direkt auf den Tisch zu. Dann schnappten die Türen zu und gleichzeitig verschloss sich auch etwas in Persephone. Wieder fühlte sich die Zeit wie eingefroren an, das Deckenlicht schien gedämmter als wenige Sekunden zuvor und jedes Geräusch um sie erstarb. Sie starrte auf die Türen wie in einem Tunnelblick und atmete bewusst ein und aus, als fürchte sie, sie könne es im nächsten Moment vergessen. Sie wusste, dass sie nicht den Raum hinter den Türen betreten durfte, nicht jetzt, und doch war da etwas rebellisches in ihr, das auf die Regeln scheißen wollte, nur um die Gewissheit zu erhalten, was nun mit Äneas passieren würde. Sie fing an zu zittern, erst innerlich, dann an den Händen und zuletzt an den Knien und Schultern und sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen und ein Schrei in ihr anwuchs, mit dem sie all ihre Hilflosigkeit und Wut über sich selbst herauslassen wollte. Ein letztes Mal wollte sie tief Luft holen, als sich auf einmal eine Hand sanft auf ihre Schulter legte. Obwohl die Berührung unerwartet kam, fuhr sie nicht erschrocken herum, sondern sah nur kurz zurück in Hermes‘ mitfühlendes Gesicht und in seinen Mundwinkeln hing ein kleines Lächeln, so, als wolle er der ganzen Situation dadurch einen Hauch Leichtmut verleihen. Persephone ließ sich nicht anstecken, ihr Gesicht blieb weiterhin emotionslos. Sie steckte immer noch halb in ihrem Schock und nur langsam trieb ihr kräftig pochender Herzschlag wieder die Zeit um sie herum an. Die Türen hinter ihr öffneten sich nach einer Minute wieder und ruckartig sah Persephone sich zu ihnen um. Orpheus und Herakles machten auf sie keinen glücklichen Eindruck; der ehemalige Springer ging schweigend an ihr vorbei, musterte sie kurz im Gehen von der Seite und wechselte dann ein knappes Wort mit Ares, der ihm gleich darauf den Gang hinab folgte. Herakles wirkte blass und erschöpft und auch er machte den Anschein, als wolle er nur schleunigst weg von dieser Station. Ihr Hals zog sich von neuem langsam vor Angst zu. „Was ist mit ihm?“, fragte sie leise und Herk bedachte sie mit einem Blick, der ihre Kehle noch weiter zuschnüren ließ. Müde hob ihr Lehrer die Schultern. „Die Ärzte machen ihn nochmal auf, sie vermuten, dass die Naht an der Luftröhre durch den Schlag wieder aufgegangen ist, oder so ähnlich. Mehr weiß ich auch nicht“, fügte er entschuldigend hinzu, als er ihre geweiteten Augen sah. Persephone schluckte und presste die zitternden Lippen aufeinander. Sie hörte Herk tief seufzen, dann fuhr sich der Hüne über die kurzen Haare und setzte sich in Bewegung. „Tja, ich denke, für heute ist das Training gelaufen.“ Er war fast an ihr vorbeigetreten, da griff sie hastig nach Herks Unterarm, um ihn aufzuhalten. „Wann kann ich denn zu ihm?“, fragte sie und hoffte auf eine erlösende Antwort, doch Herakles enttäuschte sie mit einem entmutigenden Schulterzucken. „Ich bin kein Arzt“, entgegnete er müde und befreite sich sanft aus ihrem halbherzigen Griff. „Lenk dich ab, geh vor die Tür.“ Er sah kurz zu Hermes, der weiterhin neben ihr stand. „Lass dich von dem Schlumpf hier eskortieren und kauf dir was Schönes. Du hilfst Äneas nicht, wenn du vor dieser Tür dein Lager aufschlägst.“ Persephone wollte protestieren, doch da hatte sich Herk schon mehrere Schritte von ihr entfernt, dass sie ihm nur noch hinterher schauen konnte. Etwas in ihr gab diesmal ungewöhnlich schnell auf, doch ihr fehlte die Kraft, sich darüber zu wundern oder aufzuregen. Sie fühlte sich müde und seufzend strich sie sich die Haare hinter die Ohren. „Komm“, sagte Hermes dann auf einmal und verwundert musterte sie ihn. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was er mit seiner Aufforderung gemeint hatte. „Du musst das nicht tun“, fing sie an und schlang sich die Arme um den Bauch. Herks Anweisung Hermes gegenüber war ihr äußert unangenehm. In der Befürchtung, dass man ihr ihre Gefühle wieder an der Nasenspitze ablesen konnte, versteckte sie sich hinter einem entschuldigenden Lächeln. „Herk hat das nicht ernst gemeint. Ich bin auch viel zu müde, ich möchte nur noch schlafen.“ Sie schaute prüfend in Hermes‘ Gesicht, doch er sah nur skeptisch zurück. Sekunden verstrichen in bedrückender Stille. „Mir geht es gut. Wirklich!“, fügte sie nachdrücklich hinzu und sie zog ihre Arme noch enger um sich, doch der Ältere ließ nicht locker. Kurzerhand trat er auf sie zu und zog sie sanft am Oberarm den Gang hinab. Beinahe reflexartig schaute sie noch einmal über die Schulter zurück zur Tür der Krankenstation, doch da merkte sie, wie Hermes‘ Griff an Festigkeit zunahm. „Einsamkeit ist das letzte, was du jetzt brauchst“, sagte er und bedachte sie mit einem mahnenden Blick, der so gar nicht in sein sonst so freundliches Gesicht passen wollte. „Du wirst dich jetzt umziehen gehen und ich hole dich in zehn Minuten wieder ab. Dann gehen wir zusammen ein wenig raus, und bringen dich auf andere Gedanken. Keine Widerrede!“ Sofort klappte Persephone ihren Mund wieder hinzu und ließ sich schlussendlich seufzend mitziehen. Sie gab in letzter Zeit viel zu schnell auf… Es war ein merkwürdiges Gefühl, die Treppenstufen hinauf zu gehen, die zum Parkdeck und dann unweigerlich an „die Oberfläche“ führten und erst jetzt wurde Persephone bewusst, wie lange sie tatsächlich nicht mehr „dort oben“ gewesen war. Es lag Wochen zurück, welche sich wie Monate anfühlten, dass sie regelmäßig mit Hermes zu dem kleinen Schießstand ein Viertel weiter gegangen war; und nun trat sie wieder mit ihm an ihrer Seite ins Sonnenlicht. Irgendwie war er immer da, wenn sie Olymp für kurze Zeit verlassen durfte und das gab ihr eine gewisse Festigkeit. Vielleicht hätte sie sich allein gar nicht auf die Straße getraut; die Vorstellung ließ sie schaudern. Der Tag war für den November hell und freundlich. Überall türmte sich in den Straßenrinnen der weggeschaufelte Schnee und auf den Gehwegen war in den letzten Tagen so viel Salz gestreut worden, dass es bei jedem Schritt knirschte. Von oben fielen unzählige Schneeflocken auf die Straßen herab, sodass viele der ihnen entgegenkommenden Leute mit Regenschirmen unterwegs waren oder sich unter ihren tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen vor der Kälte versteckten. Auch Hermes zog neben ihr fröstelnd die Schultern hoch und rückte seine schwarze Wollmütze zurecht, unter der seine auffälligen blauen Haare kaum noch zu sehen waren. Persephones Wangen waren nach kurzer Zeit taub und gerötet von dem leichten Wind, der durch die Häuserschluchten wehte. In stummer Übereinkunft hing jeder seinen eigenen Gedanken nach, Hermes warf ihr nur ab und zu einen prüfenden Blick zu, ansonsten gewährte er ihr, sich von ihrer Umwelt für einen Moment abzukapseln. Immer noch spukten ihr die Bilder von Äneas im Kopf herum, sein schmerzverzerrtes Gesicht, die Angst in seinen Augen und immer wieder hörte sie das würgende, röchelnde Geräusch, der verbitterte Versuch, Luft zu holen. Die Kombination all dieser Eindrücke ließ sie schwindeln. Am meisten jedoch verwirrte sie, dass ihr dieses Gefühl der Angst, speziell diese Situation so vertraut vorkam, eine Art Déjà-vu, und wieder stand es in Verbindung mit Äneas. Es war schlicht die Angst, ihn zu verlieren, ihn Sterben zu sehen, und eine innere Stimme, die darum flehte, sie dieses Gefühl nicht schon wieder durchleben lassen zu müssen. Sowas fühlte man doch nicht für einen Menschen, den man erst wenige Tage kannte. Oder? Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Persephone?“ Hermes‘ Stimme zerrte sie aus ihrem Kokon hinaus in die Realität. Blinzelnd schaute sie auf und sah ihn fragend an. Der Ältere sah besorgt zurück. „Du denkst viel über ihn nach“, stellte er ruhig fest, woraufhin sie etwas verlegen den Blick senkte. Warum war sie für jeden nur so ein offenes Buch? Hermes bemerkte ihren bedrückenden Ausdruck und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. Ohne weitere Vorwarnung setzte er ihr ihre Kapuze auf den Kopf und tätschelte ihr diesen liebevoll. „Mach dir keine Sorgen, der wird schon wieder. Ehe du dich versiehst, wird er wieder auf den Beinen sein, da bin ich mir sicher“, sagte er und grinste zuversichtlich. Bei dem Anblick seines strahlenden Gesichtes wurde Persephone schlagartig heiß und sie hoffte, dass er ihre feuerroten Wangen der Kälte zuschreiben würde. Zaghaft lächelte sie zurück und beeilte sich dann, den Blick abzuwenden. „Danke“, brachte sie kleinlaut hervor und ihre Lippen verzogen sich weiter zu einem Grinsen. Sie war froh, dass Hermes sie begleitete. Er strahlte etwas Positives aus, etwas Beruhigendes, das sie sehr genoss. Obwohl sie gedacht hatte, dass Hermes es nicht gehört hatte, legte er ihr im nächsten Moment schmunzelnd den Arm über die Schultern und zog sie im Gehen etwas zu sich heran. Zuerst war sie überrascht und auch leicht erschrocken über die plötzliche Nähe zu ihm, doch nach wenigen Sekunden entspannte sie sich und ließ die Berührung zu. Die Wärme auf ihren Wangen breitete sich zusehends auf ihrem ganzen Gesicht aus. „Also“, begann Hermes dann auf einmal enthusiastisch. „Wo willst du als erstes hin? Schuhladen, Modelabel, Drogeriemarkt?“ Persephone sah ihn schief an und konnte sich nur schwer ein Lachen verkneifen. „Du willst tatsächlich mit einer Frau shoppen gehen? Freiwillig?“ Hermes zog nur unschuldig die Schultern hoch. „Wenn es dir hilft, auf andere Gedanken zu kommen? Sorgenfalten stehen dir nicht, weißt du?“, entgegnete er und zwinkerte ihr frech zu. Musternd sah sie ihn an und unweigerlich wanderte ihre Augenbraue in Richtung dunkelbraunen Haaransatzes. „Dir ist schon bewusst, dass ich dich gnadenlos zum Tüten schleppen benutzen werde?“, entgegnete sie genauso frech. In diesem Moment blitzte etwas in Hermes‘ Augen auf und mit einem nicht deutbarem Ausdruck auf den Lippen beugte er sich etwas zu ihr hinab. „Nun, vielleicht steh ich ja drauf, von anderen benutzt zu werden“, raunte er mit tiefer Stimme, die Persephone augenblicklich beim ersten Ton einen Schauer über den Rücken jagte. Sie glaubte sich verhört zu haben und aus weiten Augen sah sie zu ihm hoch. War das gerade eine Anspielung? Ein Flirtversuch? In sein Gesicht war wieder sein vertrautes Jungenlächeln zurückgekehrt. Sie suchte noch nach einer passenden Erwiderung, als Hermes auf einmal vor einem Geschäft stehen blieb und in die Schaufenster sah. „Also, fangen wir an!“, sagte er nach einem Augenblick vergnügt, drehte sie in Richtung Eingang und schob sie in den riesigen Laden einer der unzähligen Modeketten, die es in Tokyos Innenstadt zuhauf gab. Es fiel ihr zu Beginn schwer, sich auf die erstaunliche Auswahl an Kleidern, Hosen und Oberteilen zu konzentrieren. Hermes‘ merkwürdige Aussage spukte ihr weiterhin im Kopf herum, sodass sie immer wieder verstohlene Blicke zu ihm herüber warf; dass er immerzu in ihrer Nähe blieb, machte es ihr nicht leichter, ihn und seine blöden Anspielungen auszublenden. Der Gedanke, dass Hermes an ihr Interesse zeigen könnte, ließ ihr Herz unangenehm schneller schlagen. Sie mochte ihn, ja, aber sie wollte keine Beziehung. Sie wollte niemanden lieben, sie wollte nicht einmal einen Mann in ihrer unmittelbaren Nähe haben. Sie konnte sich nicht vorstellen, irgendeinen Kerl an sich ranzulassen, zuzulassen, dass er sie in den Arm nahm - nicht jetzt! Dass Hermes ihr den Arm um die Schulter gelegt hatte, war viel mehr, als sie wirklich auf Dauer wollte und sie war sich sicher, dass sie diese Nähe nur deshalb zugelassen hatte, weil sie wusste, dass er es freundschaftlich gemeint hatte - zumindest hatte sie das gedacht. Aber vielleicht hatte er sie auch einfach nur ablenken wollen, vielleicht interpretierte sie einfach zu viel in diesen einen, dämlichen Satz hinein? Sie blies die angehaltene Luft verärgert aus und verfluchte sich selbst für ihre Gedanken. Nicht jeder Mann war wie Hades, sie sollte also nicht gleich die Flucht antreten, wenn jemand versuchte, ihr näher zu kommen. Dennoch blieb ein beklemmendes Gefühl zurück. Sie schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, so ihren übervorsichtigen Selbstschutz zum Schweigen zu bringen, und konzentrierte sich auf die Shirts, die vor ihr auf der Kleiderstange hingen. Sie schaffte es tatsächlich, sich für die aktuelle Mode soweit zu begeistern, dass sie gar nicht mitbekam, wie Hermes plötzlich neben ihr auftauchte. Erst, als er sie leise ansprach, zuckte sie zusammen und stolperte instinktiv ein paar Schritte rückwärts, geradewegs in eine junge Frau hinein, die hinter ihr dieselben Shirts begutachtet hatte, wie sie. Die Fremde zischte etwas, woraufhin sich Persephone schnell entschuldigte und dann wieder einen verunsicherten Blick zu Hermes warf. Dieser sah sie nur mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Alles in Ordnung?“, fragte er und trat einen Schritt auf sie zu, doch auch diesmal ging Persephone wieder auf Abstand, ehe sie wirklich über ihr Verhalten nachdenken konnte. „J-ja! Alles super“, stotterte sie und ließ ihren Blick nervös umherschweifen, ohne ein festes Ziel zu haben. Der Ausdruck des Älteren schwenkte ins Verwirrte um. „Bist du dir sicher? Du-“ Sie beeilte sich zu nicken und hob die Mundwinkel zu einem gezwungenen Lächeln. „Doch, ja, mir geht es gut, ich…“ Sie holte Luft und dachte verzweifelt über einen Ausweg nach. Ihr Herz pochte bis in ihren Hals hinauf, und in ihrem Kopf überschlugen und rempelten sich die Gedanken in einem einzigen Wirrwarr an. Ihre Augen huschten nervös hin und her. Hinter Hermes, in etwa 15 Meter Entfernung hing ein grün leuchtendes Notausgangschild und sie ertappte sich dabei auszurechnen, wie lange sie wohl bräuchte, um dorthin zugelangen und die Feuertreppe hinunter zu hechten. Doch bei ihrem Glück würde sie bei der Aktion bestimmt über die Stufen stolpern und sich langlegen. Aber ein Versuch war es doch zumindest wert, oder…? „Persephone!“ Beim Klang ihres Namens ruckte ihr Kopf wieder etwas nach rechts und blieb an Hermes‘ verwirrten Augen hängen. Sie fühlte sich mit jeder Sekunde unwohler. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie mitten im Satz abgebrochen hatte und mit offenem Mund das Notausgangsschild angestarrt hatte. Sie gab sich innerlich eine Ohrfeige, um wenigstens für den Moment wieder klar denken zu können. In dem Augenblick, als Hermes wieder nachfragen wollte, spuckte ihr Hirn dann doch etwas Nützliches aus. „Ich muss auf die Toilette!“, sprudelte es aus ihr heraus und lief dann auch gleich an Hermes vorbei; dass sie ihm die Worte beinahe ins Gesicht geschrien hatte, ignorierte sie geflissentlich und eilte mit imaginären Scheuklappen zum rettenden WC, das sich zu ihrer Erleichterung auf dieser Etage des Kaufhauses befand. Als sie die Tür aufstieß, wehte ihr sofort der typisch schwere Geruch von süßem Lufterfrischer entgegen, der auf öffentlichen Toiletten stets zugegen war. Das Licht wurde von den pfirsichfarbenen Kacheln an Wänden und Boden reflektiert und tauchte den ganzen Vorraum in einen gelben Ton. Ihre Hände zitterten, als sie den Wasserhahn aufdrehte und eiskaltes Wasser über ihre Finger rinnen ließ. Kurz schaute sie in den Spiegel vor sich und erblickte eine noch blassere Ausgabe ihres Gesichtes, das auch sonst den Anschein machte, als wäre Sonne ein Fremdwort für seine Besitzerin. Vielleicht trugen auch nur die über dem Waschbecken angebrachten Neonröhren zu diesem Umstand bei. Ihr war es gleich, sie sah so oder so zum Fürchten aus. Sie senkte den Blick wieder, beugte sich hinunter und spritzte sich zwei, dreimal Wasser gegen die Wangen. Herrje, was war nur los? Was sollte das gerade eben? Sie richtete sich wieder auf und schaute sich selbst im Spiegel fragend an, doch auch ihre Reflektion fand keine Erklärung auf ihre absurde Reaktion Hermes gegenüber – ja, absurd traf es wohl ganz gut. Wie kam sie nur auf den Gedanken, dass er auf einmal aus heiterem Himmel etwas von ihr wollte? Sie hörte ihre paranoiden Flöhe husten, so sah das aus! Und was machte sie? Schreit ihn an und rennt vor ihm weg! Sie sah sich selbst mit tadelnd zusammengezogenen Brauen an, doch lange hielt dieser Blick nicht – schlussendlich schnaufte sie geschlagen und raufte sich die Haare. Das war alles so unsagbar peinlich! Sie hatte sich zur Idiotin gemacht. „Dusselige Kuh“, sprach sie über sich selbst das Urteil und besah sich erneut im Spiegel, um ihre Haare wieder etwas zu glätten, als sie auf einmal an der Schulter angetippt wurde. Mit leichter Verwunderung drehte sie sich um, die sich jedoch sofort zu Verwirrung und einem unwohlen Gefühl steigerte, als sie in zwei fremde Augen starrte, dessen Lider so weit aufgerissen waren, dass sie befürchtete, sie könnten ihrer Besitzerin im nächsten Moment aus dem Gesicht fallen. Beide Frauen sagten für Sekunden nichts, dann brach Persephones Gegenüber so plötzlich in Tränen aus, dass sie erschrocken zurückwich. „Izzy?“, schluchzte die Fremde und schlug sich eine Hand vor den bebenden Mund. Persephone brachte kein Wort über die Lippen, sie konnte die junge Frau nur anstarren. „Du bist es, oder?“ Sie nahm die Hand wieder herunter und nun sah Persephone ein erleichtertes Lächeln, das sie noch mehr verstörte. Die Fremde streckte eine Hand in ihre Richtung aus, vor der sie noch weiter zurückwich. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf herrschte sie an, den Arm des Mädchens zu packen und ihn ihrer Besitzerin auf den Rücken zu drehen, sollte sie es wagen, sie anzupacken. Es verwunderte sie selbst etwas, dass sie bereits jetzt so einen paranoiden Selbsterhaltungstrieb entwickelt hatte – Herk wäre bestimmt stolz auf seine Peach… „Izzy, sag etwas, bitte!“, flehte die Fremde, doch ehe sie einen Schritt näher auf sie zu machen oder Persephone etwas erwidern konnte, rückte eine zweite Frau in Persephones derzeit fokussiertes Blickfeld und zog die andere von ihr weg. „Yuki, komm zu dir!“, zischte sie und zwang die Angesprochene, sie anzusehen. „Das ist sie nicht, Izumi ist tot!“ „Aber…“ Yuki ließ einen hilflosen Blick zwischen Persephone und ihrer Freundin schweifen. Die Tränen liefen ihr immer noch über die Wangen. Die andere packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie kurz und energisch. Sie hatte die Lippen ernst aufeinander gepresst, doch ihrem Gesicht sah man an, dass auch sie mit den aufkommenden Emotionen zu kämpfen hatte. „Reiß dich zusammen, sie ist es nicht!“ Zum ersten Mal richtete die Fremde ihren Blick auf Persephone, vorsichtig, zögernd, als habe sie Angst vor dem, was sie sehen könnte. Eine Sekunde hielt sie dem Augenkontakt mit Persephone stand, dann schaute sie wieder weg und zog ihre Freundin in Richtung Ausgang. „Verzeihen Sie bitte, sie steht etwas neben sich“, sagte sie schnell und beeilte sich, an Persephone vorbei zu kommen. Yukis Blick haftete immer noch an ihr und sie fühlte sich wie ein Aussätziger unter Adligen, den man voller Verwunderung anstarren musste, weil er nicht ins Bild passen wollte. Die Tür öffnete und schloss sich und dann war sie allein, starrte weiterhin die elfenbeinweiße Tür an und lauschte ihrem eigenen Herzschlag, den sie im Hals pulsieren spürte. Und immer wieder hörte sie die Stimmen der beiden Frauen. Izzy. Izumi. Izumi ist tot. Ihre Lunge begann zu brennen, dass sie dem Reflex nachgab und tief einatmete. Hatte sie vergessen Luft zu holen? Ihr Puls beschleunigte sich wieder. Izumi ist tot. Yukis verweintes Gesicht tauchte wie ein Nachbild vor ihr auf. Etwas war in ihrem Blick zerbrochen, als die andere Frau diesen Satz geäußert hatte. Etwa ihre kurzzeitig aufgeblühte Erleichterung? Persephone hätte sagen sollen, dass sie nicht diese Izumi war. Dass sie keine Izumi kannte. Sie drehte den Kopf in Richtung Spiegel und sah nur sich, keine Izumi. Nur Persephone. Natürlich. Aber … war sie wirklich nur…? Wer bin ich? Angst packte sie und zog alles in ihr zusammen. Sie stolperte vor ihrem eigenen Spiegelbild zurück, das ihr plötzlich wie eine Fremde vorkam, bis sie die Klinke der Tür in ihrem Rücken spürte und sie diese hastig aufzog. Sie hatte die Tür hinter sich noch nicht ins Schloss zurückfallen gehört, da war sie schon in Hermes hineingelaufen, der sie mit vorsichtigem Griff daran hinderte, hinzufallen. „Was ist los mit dir?“, fragte er. „Du bist leichenblass.“ „Ich will nach Hause!“ Hermes zog verwirrt die Stirn kraus und musterte sie. „Ist etwas passiert? Fühlst du dich unwohl?“ „Bitte!“ Sie sah ihn flehend an. Alle Hirngespinste von vorhin waren vergessen, jetzt war sie sogar froh, in seinen Armen etwas Zuflucht zu finden. Sie konnte zwar nicht vor ihren eigenen Gedanken davonlaufen, aber in seiner Nähe hatte sie das Gefühl nicht ganz so schnell den Verstand zu verlieren. Er war Teil ihrer aktuellen Welt, an ihm konnte sie nicht zweifeln, er war real, und das gab ihr Sicherheit. „Bring mich bitte weg von hier, ich will einfach nur nach Hause!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)