Sternenhimmel von Flordelis ================================================================================ ~Verglühen~ ----------- Die kühle Nachtluft war geradezu angenehm. Er atmete tief durch, als er aus dem stickigen Gasthof trat. Mirapulse, das sonst mit geschäftigen Arbeitern gefüllt war, wo man ständig von irgendwoher Stimmen hören konnte, lag nun geradezu geisterhaft still da. Neben den unzähligen Sternen und dem Vollmond, beleuchteten auch zahlreiche Glühwürmchen die Umgebung, der Anblick lud zum Träumen ein. Das war genau das, was er brauchte. Er setzte sich auf die Kante des Felssims, auf dem sich Geschäfte und das Gasthaus befanden und legte den Kopf in den Nacken, um in den Himmel hinaufzusehen. Unweigerlich kam ihm dabei der Gedanke, dass er sich sein Leben so nie vorgestellt hatte. Rastlos von einer Stadt zur anderen zu reisen, dabei ein Heilmittel zu suchen, das möglicherweise gar nicht existierte, um eine Person zu retten, die bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte. Dennoch bereute er keine einzige Sekunde, er würde für diese Person immerhin alles tun. Und als ob sie das geahnt hätte, setzte sie sich plötzlich neben ihn. Er wandte ihr den Kopf zu. „Kannst du nicht schlafen?“ „Ich bin wach geworden und habe gesehen, dass du nicht da bist, deswegen wollte ich nach dir sehen.“ Manchmal fragte er sich, ob sie fürchtete, dass er verschwinden könnte, weil er ihre Krankheit nicht mehr ertragen würde. Ähnlich wie er fürchtete, dass sie einfach verschwinden könnte, weil sie glaubte, dass es besser wäre für ihn. Aber er fragte sie nie danach, er wollte die Antwort nicht wissen, weil sie unter Umständen ein fehlendes Vertrauen bedeutet hätte. „Konntest du denn nicht schlafen?“, stellte sie die Gegenfrage. Er zuckte kurz mit den Schultern. „Ich habe wohl zu viel gegessen, da fällt mir das Schlafen immer schwer, wie du weißt.“ Um seine Worte zu unterstreichen, legte er eine Hand auf seinen Bauch, was sie sanft und verstehend lächeln ließ. „Ist es nicht zu kalt hier für dich?“, fragte er besorgt. Abwehrend blickte sie nach oben in den Himmel, um ihn nicht ansehen zu müssen. „Du weißt genauso gut wie ich, dass es im Grunde egal ist.“ Schon oft hatten sie darüber diskutiert, sich mit ihren Argumenten immer wieder im Kreis gedreht, bis der drohende Streit durch einen ihrer starken Hustenanfälle unterbrochen worden war. In dieser Nacht war er nicht gewillt, denselben Kreislauf noch einmal durchzunehmen, deswegen blickte er ebenfalls wieder in den Himmel. „Weißt du, dass die Sterne, die wir sehen, in Wahrheit alle schon lange tot sind?“ „Stammt das wieder aus einem deiner Bücher?“ Früher war sie nicht sonderlich angetan gewesen von seiner Besserwisserei, wie sie es nannte, aber mit der Zeit hatte sie, zu seiner Freude, daran Gefallen gefunden. Er schmunzelte, verzichtete aber auf die Antwort, da sie beiden bereits bekannt war und fuhr stattdessen mit der Erklärung fort: „Das, was wir noch sehen, ist das letzte Aufflackern, bevor sie endgültig verglühen. Das Licht braucht nur so lange, um uns zu erreichen.“ „Warum erzählst du mir das?“ Endlich nahm er den Blick von den Sternen, um sie anzusehen. Es war schon lange her, seit er sie zuletzt bewusst betrachtet hatte, ihre Wangen waren eingefallen und aschfahl, es war kein Vergleich mehr zu dem blühenden Leben, das sie noch während ihrer ersten Begegnung gewesen war. Dennoch empfand er, wenn er sie ansah, ein angenehm warmes Gefühl in seiner Brust, verbunden mit dem Wunsch, sie einfach in den Arm zu nehmen und sie nie wieder gehen zu lassen, sie vor allem zu beschützen, das es auch nur in Gedanken wagte, ihr etwas anzutun. „Ich weiß es nicht“, antwortete er schließlich aufrichtig. „Ich wollte das nur immer einmal erzählen, hatte aber noch keine Gelegenheit.“ Sie lachte amüsiert, dann begann sie zu husten, so heftig, dass ihr ganzer Körper durchgeschüttelt wurde. Zu Beginn hatten ihn ihre Anfälle jedes Mal aufs Neue erschrocken, aber inzwischen war er schon regelrecht abgestumpft und derartig daran gewöhnt, dass er nur noch eine Steigerung erwartete – und wann immer ihm dieser Gedanke bewusst wurde, erschrak er über sich selbst. Schweigend legte er einen Arm um ihre Schulter und wartete darauf, dass der Anfall wieder nachließ. Dabei musste er an den Jungen denken, der am Nachmittag bei ihnen gewesen war und den sie mit der Suche nach einem Heilmittel betraut hatten. Es war schwer zu erlangen, möglicherweise zu schwer für ihn selbst, aber dieser Junge und seine Freunde, vermutlich allesamt Drifter, sahen trotz ihres jungen Alters aus als wären sie stark genug, es zu schaffen. Aber würden sie dann auch wiederkommen, um ihnen das Mittel zu geben? „Wir wissen nicht einmal seinen Namen“, murmelte er gedankenverloren, als der eben gesäte Zweifel zu keimen begann. „Du musst dir keine Sorgen machen.“ Obwohl sie mit ihm sprach, blickte sie in die Entfernung, direkt in die Prärie hinein. „Ich weiß, dass sie wiederkommen werden. Ich habe es in den Augen des Jungen gesehen, er ist ehrlich und will helfen.“ „Ich hoffe, dass du recht hast.“ „Vertrau mir.“ Das fiel ihm nicht schwer. Während er der Kopfmensch war, der alles gern durchdachte und taktisch zu handeln liebte, war sie der Bauchmensch, sie hörte stets auf ihr Gefühl und er konnte sich an keine Gelegenheit erinnern, bei der dieses sie je betrogen hätte. „Was werden wir tun, wenn das Heilmittel anschlägt?“ Er blickte sie verwundert an. Noch nie hatte sie so optimistisch gesprochen, normalerweise war sie diejenige, die bereits abgeschlossen zu haben schien, aber nun stellte sie so eine Frage. Doch er überwand seine Überraschung schnell wieder und holte den Traum hervor, den er hegte, seit er sie zum wiederholten Male getroffen hatte. „Nun, ich würde sagen, wir suchen uns eine Stadt aus, die uns gefällt und dort lassen wir uns dann nieder.“ „Ganz klassisch mit einem Haus und einem Kind?“, hakte sie amüsiert nach. „Sicher. Oder zwei, drei.“ Lachend versetzte sie ihm einen kraftlosen Schlag gegen den Oberarm, worauf er sie nur ein wenig fester an sich drückte. „Aber auch ohne Kinder werden wir ein ganz wundervolles Leben miteinander führen, bis wir alt und grau sind – und dann wie Sterne verglühen.“ „Weißt du, dass diese Metapher gar nicht passt?“, fragte sie plötzlich. Er blinzelte verwirrt. „Was?“ „Wenn wir Sterne sehen, nachdem sie bereits verglüht sind, würde das bei einem menschlichen Leben bedeuten, dass wir eine Person erst nach deren Tod als großartigen Helden erkennen.“ Das stimmte ihn tatsächlich nachdenklich und nach kurzem Überlegen erkannte er, dass sie recht hatte. „He, stimmt.“ Dennoch ließ er sich nicht beeindrucken. „Dann müssen wir vor unserem Tod noch etwas Großartiges leisten, damit man auch später noch von uns sprechen wird – und meine Metapher auch wirklich stimmt.“ „Das würde an dir nagen, wenn deine Metapher nicht aufgehen würde, hm?“ Er nickte lachend. „Du kennst mich doch. Ich hasse es, unrecht zu haben.“ Sie lachte ebenfalls, dann verstummten sie beide und blickten in die Prärie, wo in der Ferne das laute Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges zu hören war. Offenbar war es noch nicht so spät, dass sie bis zum Morgen nicht mehr fuhren. Sie genossen die Zweisamkeit, die sie schon lange nicht mehr so bewusst erlebt hatten. Genau genommen seit die Krankheit in ihr Leben getreten war und eine Mauer zwischen ihnen errichtet hatte. Aber er war bereits daran, diese Mauer wieder einzureißen, damit er sie wieder ganz für sich haben und in seine Arme schließen könnte. Selbst wenn das Heilmittel nicht wirken sollte, wollte er an ihrer Seite sein und sie bis zum Ende begleiten. Er fröstelte leicht, als ein sanfter Wind aufkam. „Ich denke, wir sollten lieber wieder rein.“ Wenn es ihm schon so ging, müsste es ihr eiskalt sein, selbst wenn sie es nicht zugeben würde, da sie offenbar immer noch das Bedürfnis verspürte, sich vor ihm stark geben zu müssen. Statt zu widersprechen, ließ sie sich von ihm aufhelfen, nachdem er es geschafft hatte, sich aufzurichten, ohne vom steinernen Sims zu stürzen. Sie bedankte sich lächelnd und ließ seine Hand nicht los, während sie wieder ins Gasthaus zurückkehrten, um ihr Zimmer aufzusuchen und erst einmal zu schlafen – und von einer schönen Zukunft zu träumen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)