Hinter den Masken von Flordelis ================================================================================ Prolog: Aufbruch ---------------- Was ist denn das menschliche Leben schon anderes als ein Schauspiel, in dem die einen vor den anderen in Masken auftreten und ihre Rolle spielen, bis der Regisseur sie von den Brettern abruft? Erasmus von Rotterdam Ein jeder Mensch trägt eine Maske. Man gibt vor, etwas zu sein, was man nicht ist, selbst wenn das bedeutet, dass man sein wahres Ich so lange verbergen muss, bis man dieses selbst vergessen hat. Egal wie sehr wir wünschen, dass man uns um unser Selbst willen liebt, wir verhindern, dass andere dieses sehen oder gar begreifen können, aus Furcht, zurückgewiesen oder abgestoßen zu werden. Nur selten ist der Mut eines Menschen groß genug, seine Maske abzunehmen und sich damit jemandem schutzlos preiszugeben. Doch manchmal wünscht man sich auch, dass eine geliebte Person einem gewaltsam die Maske herabreißt, weil man es selbst nicht zustande bringt. Wenn man in einer Welt voller Magie lebt und der Wunsch, sich der Maske zu entledigen, nur stark genug ist, können unvorhergesehene Dinge geschehen. Diese Geschichte handelt von zwei Menschen, die es Leid waren, Masken zu tragen und sich dennoch nicht getrauten, sie abzunehmen. Und sie beginnt mit einem Ende. ~*~ Der Krieg war vorbei. Damit endete ein Kapitel, das viele Menschen miteinander verbunden hatte und öffnete viele einzelne neue, als sich ihre Wege trennten. In der Burg, die einst North Window gewesen war, herrschte auch an diesem Tag Leben, so wie oft in den letzten Monaten, die sie dort verbracht hatten. Aber die emsige Geschäftigkeit an diesem Tag war eine andere als sonst, sie verhieß einen Aufbruch in ein neues Leben – oder eine Rückkehr in das alte, das für den Zeitraum des Krieges zurückgelassen worden war. Die Personen, die nicht an dem Treiben teilnahmen, sondern beschlossen hatten, in dieser Burg zu bleiben, wofür es vielfältige Gründe gab, beobachteten diejenigen, die gehen wollten und sich dafür verabschiedeten, mit Vorräten eindeckten oder sich mit ihren künftigen Weggefährten trafen, um gemeinsam mit ihnen aufzubrechen. So gern Tengaar ein Teil von jenen gewesen wäre, die innehielten und alles beobachteten, so gehörte sie doch zu denen, die Vorräte für ihre kommende Reise einpackten. Hix hatte zwar, zu ihrer großen Freude, beschlossen, wieder nach Hause zurückzukehren, da er sicher war, dass seine Reise beendet war, aber sie war mal wieder dafür verantwortlich, dafür zu sorgen, dass sie alles Nötige mit sich führten. Während sie alles in ihrer Tasche verstaute, lauschte sie den Gesprächen der Umstehenden. Einige von ihnen schien wahrlich zu bedauern, sich von neugewonnen Freunden trennen zu müssen, während andere sich bereits auf die vor ihnen liegende Reise freute. Tengaar war sich nicht sicher, ob sie sich auf die Rückkehr nach Hause freuen sollte. Einerseits war sie erleichtert, dass die Strapazen ein Ende finden würden und sie ihren Vater wiedersehen könnte, aber andererseits hatte sie nicht den Eindruck, dass Hix bereits soweit war. Immerhin bedeutete ihre Rückkehr auch, dass er seine Männlichkeit erreicht hatte und endlich die Erlaubnis bekommen würde, sie zu heiraten. Dann müsste er sie nur noch fragen – und sie glaubte nicht, dass er dazu bereit war, noch nicht. Aber vielleicht würde er niemals soweit sein, möglicherweise würde sie ewig darauf warten. „Danke für den Einkauf, Tengaar.“ Alex' Stimme riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie den Blick von ihrer Tasche heben. „Alles, was ihr mir hier noch wegkauft, muss ich nicht mit nach Hause schleppen.“ „Bleiben du und deine Familie denn nicht hier?“ Als Tengaar in die Armee gekommen war, waren Alex, Hilda und ihr Sohn Pete bereits ein Teil davon gewesen, so dass sie wie selbstverständlich davon ausgegangen war, dass sie auch ein fester Bestandteil der Burg wären und bleiben würden. Er deutete ein Kopfschütteln an. „Uns gehört der Gasthof Weißer Hirsch in der Nähe von Muse. Riou hat dort einmal Halt gemacht und jetzt, da sein Name in aller Munde ist, wird der Hof dadurch die reinste Goldgrube sein.“ Tengaar lächelte schwach, um zu zeigen, dass sie sich für ihn freute, dann verabschiedete sie sich von ihm und den anderen gerade Anwesenden und verließ das Gasthaus. Den Weg durch den Burggang, am Lager vorbei und dann die Treppen zu ihrem Zimmer hinauf, kannte sie bereits im Schlaf, genau wie jeden anderen Weg. Egal, wo sie hinwollte, sie wusste, wie sie am besten hinkam, für so lange Zeit war diese Burg ihr Zuhause gewesen. Ein wenig würde sie diesen Ort mit Sicherheit vermissen, aber nicht so sehr wie ihr Heimatdorf. Hix schien es offenbar ähnlich zu gehen, denn als sie die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer öffnete, fand sie den Kriegerlehrling bereits voll angezogen und mit umgeschnallten Schwertgürtel vor. Er lächelte ein wenig schüchtern, als ob sie ihn gerade bei etwas Verbotenem erwischt hätte. Um ihn zu beruhigen, erwiderte sie sein Lächeln. „Es sieht so aus als wärst du fertig.“ „D-das bin ich.“ Noch immer schien es als wäre er in ihrer Gegenwart ein wenig nervös, als ob er ständig befürchten würde, ihren imaginären Erwartungen nicht gerecht zu werden. Oder waren sie vielleicht gar nicht imaginär? Für einen flüchtigen Moment glaubte sie, dass sie wirklich existierten und sie sich diesen nur nicht gewahr wurde. Dann aber dachte sie sich, dass sie nur von ihm erwartete, ein guter Mann zu sein und das konnte unmöglich zuviel sein, selbst für ihn. „Dann gehen wir, es ist ein weiter Weg nach Hause.“ Die Aussicht, nach Hause zu kommen, schien ihn durchaus zu freuen, sein Gesicht strahlte regelrecht vor Aufregung. Nach einem knappen Nicken, nahm er ihr eine der gepackten Taschen ab und ging dann an ihr vorbei, um vorauszulaufen, so als könnte er es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Verwundert blickte sie ihm hinterher, entschied dann aber, dass das doch eine gute Sache sei und folgte ihm. Damit endete für die beiden Einwohner des Dorf der Krieger das Kapitel Dunan und das Kapitel Der lange Weg nach Hause begann. Kapitel 1: Freie Drachen ------------------------ Manchmal, nein, sehr oft sogar, kam er sich wirklich unfähig vor. In diesem Moment war es wieder einmal so, während er vor ihr stand und unentschlossen den Blick schweifen ließ. Immer wieder blickte er zwischen Tengaar und dem leeren Bootssteg hin und her. Er hatte gehofft, dass sie in Radat eine Fahrt nach Banner bekommen könnten, nein, eigentlich sogar bis nach Teien, aber stattdessen war da nur die Nachricht gewesen, dass an diesem Tag niemand die Zeit hatte, Passagiere zu transportieren. Er vermutete allerdings, dass das nur bedeuten sollte, dass die Fischer noch immer so sehr mit Feiern beschäftigt waren, dass sie schlichtweg nicht die Muse hatten, auszulaufen. Hix' Aufgabe war es nun, zu entscheiden, wie es weitergehen sollte, ausgehend von den Möglichkeiten, die Tengaar ihm gegeben hatte. Allerdings war er sich fast sicher, dass es sich nur um eine Fangaufgabe handelte und sie genau die Antwort erwartete, die ihm absolut zuwider war. Der Gedanke, sich durch das Ödland schlagen zu müssen, um nach Hause zu kommen, behagte ihm nicht. Allein diese Bezeichnung... Ödland. Das verriet doch schon, was einen dort zu erwarten hatte und er dachte dabei nicht an die fehlende Unterhaltung. Die andere Möglichkeit war, eine Nacht im ansässigen Gasthaus zu verbringen, in der Hoffnung, dass die Fischer am nächsten Tag eher geneigt wären, sie zu fahren. Diese Option gefiel Hix äußerst gut, aber je mehr er darüber nachdachte desto klarer wurde ihm, dass sie das nicht akzeptieren und das nur wieder als Gelegenheit nutzen würde, um ihn zurechtzuweisen. Also gab es eigentlich keine richtige Entscheidung, denn das, was er wollte, würde zu Tadel führen und das, was sie wollte, war ihm vollkommen zuwider. Für einen kurzen Moment war da sogar der Gedanke gewesen, einfach ins Wasser zu springen und den Fluss hinunter zu schwimmen, aber davon war er schnell wieder abgekommen. Er spürte, wie ihre Ungeduld wuchs, während er die Antwort hinauszögerte, wenn nicht bald etwas geschah, müsste er sich doch für das Ödland entscheiden – oder ihr erklären, dass er das nicht wollte und hoffen, dass sie das verstand. Aber dieser Gedanke jagte ihm fast mehr Furcht ein als das Ödland, deswegen verwarf er das wieder. Der Haufen, auf den er diese Gedanken warf, wuchs langsam an, er würde aufpassen müssen, nicht aus Versehen darüber zu stolpern, so dachte er sich, nur um sich direkt danach bewusst zu werden, dass das Unsinn war und ihm eine verlegene Röte darüber den Nacken hinaufkroch. Noch einmal blickte er zu Tengaar, die in wachsender Ungeduld die Brauen zusammengezogen hatte – und da bemerkte er etwas in seinen Augenwinkeln. Es kam ihm wie eine Rettung vor, eine willkommene Ablenkung, eine gute Ausrede, um seine Entscheidung weiter hinauszuzögern. Auch Tengaars Aufmerksamkeit wurde davon beansprucht, sie wandte sich der Straße zu, die aus der Stadt hinausführte. Dort standen drei von Pferden gezogene Wägen, deren Holz mit bunten Farben bemalt war, darauf lackierte Buchstaben verkündeten, dass es sich bei dieser Gemeinschaft um eine Truppe von Schaustellern handelte. Die braunen Pferde wirkten im Vergleich zu den bunten Wägen ein wenig zu normal, sie scharrten mit den Hufen auf dem Boden, während sie darauf warteten, dass die Reise weiterging. Da allerdings drei Personen aus den Wägen herauskamen und sich zu einer Unterredung zusammenfanden, schien dieser Moment wohl in weite Ferne zu rücken. Hix versuchte, sie alle zu mustern, aber sein überfordertes Gehirn registrierte nur, dass es zwei Frauen und ein Mann waren. Jeder von ihnen hatte schwarzes Haar, das des Mannes war akkurat auf Kinnlänge gestutzt, das einer Frau reichte bis zu ihren Ellbögen und das der anderen war zu einem Dutt hochgesteckt. Nur die Augenfarben waren bei jedem anders, die des Mannes waren braun, die der Frau mit den offen Haaren blau und der anderen grün. Diese Farben spiegelten sich auch in ihrer Kleidung wieder, so dass der Mann eine braune Weste über seinem weißen Hemd und der schwarzen Hose trug; die Frauen wiederum trugen je eine blaue oder eine grüne Weste über ihren weißen Kleidern, die bis zu ihren Knien reichten. Jede der drei Westen wies goldene Stickereien auf, die einen feuerspeienden Drachen darstellten. Man sah auf den ersten Blick, dass sie zusammengehörten. Während Hix noch darüber nachdachte, ob er es wagen könnte, diese Leute anzusprechen, nahm Tengaar ihm diese Entscheidung bereits ab und ging auf sie zu. „Gibt es ein Problem?“ Das Gespräch der drei endete sofort, als sie sich ihr und dem nachgeeilten Hix zuwandten. Aus der Nähe betrachtet, ähnelten sich die Gesichtszüge der drei, was einem verriet, dass sie miteinander verwandt, höchstwahrscheinlich sogar Geschwister, waren. Stumm einigten sie sich darauf, dass der Mann das Reden übernahm: „Wir haben gerade nur überlegt, wie wir am besten nach Toran kommen könnten.“ Die beiden Frauen nickten zustimmend. Tengaar warf einen Blick auf die Wägen. Es war selbst für Hix eindeutig, dass sie damit nicht auf dem Fluss reisen könnten, denn es gab kein Boot, das groß genug war, um diese Wägen zu transportieren. Den Banner-Pass könnten sie ebenfalls nicht benutzen, denn das bezog eine Kletterpartie mit ein, aber durch das Ödland könnte es funktionieren. Zwar müssten sie da auch über einen Bergpass, aber es gab einen Weg, der dort hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinabführte. Tengaar schlug das auch direkt vor, worauf der Mann nickte. „Das dachten wir auch gerade. Aber ganz allein empfinden wir das als ein wenig schwierig, wir sind Schausteller, keine Kämpfer.“ Ihnen beiden kam der Gedanke gleichzeitig, aber sie war es, die ihn aussprach: „Wir wollen ebenfalls nach Toran und könnten euch begleiten. Ich bin Tengaar und das hier ist Hix, wir kommen aus dem Dorf der Krieger.“ Die Gesichter ihrer Gegenüber erhellten sich augenblicklich in freudiger Erleichterung. Offenbar waren sie der festen Überzeugung, dass jemand, der aus diesem Dorf kam, wirklich fähig war, zu kämpfen und zu überleben – und im Prinzip stimmte das ja sogar. „Das wäre sehr nett von euch beiden. Mein Name Etzel.“ Die blauäugige Frau mit dem offenen Haar legte eine Hand auf ihr Herz, sie lächelte sanft. „Ich bin Nerthus.“ Die grünäugige Frau mit dem Dutt stemmte die Arme in die Hüften. „Und ich bin Siglind.“ Etzel übernahm wieder das Wort für sie alle: „Wie man an unserem Wagen sehen kann, sind wir eine Schausteller-Gruppe namens Freie Drachen.“ Nerthus nickte zustimmend. „Das bedeutet, dass wir keinem Land angehören und immer neutral bleiben.“ „Allerdings“, fuhr Siglind fort, „bedeutet das auch, dass wir während Kriegszeiten nicht wirklich reisen können. Ich meine, wer will schon gerne als neutrale Person in eine Schlacht zwischen zwei Länder geraten, von denen sich keines für dich verantwortlich fühlt?“ Dem musste Hix ebenfalls zustimmen, er würde das nicht wollen und wie er an Tengaars gerunzelter Stirn erkannte, sie ebensowenig. „Seid ihr nur zu dritt?“, fragte sie. Sie schüttelten einvernehmlich ihre Köpfe. „Wir haben noch einen Begleiter“, erklärte Etzel. „Er ist aber in die Stadt hineingegangen, um unseren Proviant aufzustocken.“ Hix neigte verwundert den Kopf. Außer diesen drei Personen war ihm sonst niemand mehr aufgefallen. War er so sehr von seinen eigenen Gedanken abgelenkt gewesen? Plötzlich schien es ihm als würden sich Wolken vor die Sonne schieben, ein Frösteln überkam ihn, während er versuchte, sich eine weitere Person, die hierzu gehören könnte, ins Gedächtnis zu rufen. „Falls ihr auch noch Vorbereitungen treffen müsst, solltet ihr diese nun tun“, schlug Nerthus vor, aber Tengaar schüttelte abwehrend den Kopf. „Das ist nicht nötig, wir sind vollauf versorgt und können sofort aufbrechen.“ Das schien die drei wieder zu freuen und zu erleichtern und sie baten die beiden, sich ihnen sofort anzuschließen, als sie die Pferde zum Weiterlaufen anhielten, um die Stadt zu durchqueren. Während sie liefen, dachte Hix daran, dass sie noch nie im Ödland gewesen waren, er konnte nur hoffen, dass Tengaar nicht zu viel versprochen hatte. Und auch wenn das Reisen mit einer solchen Gruppe unterhaltsam zu werden versprach, wünschte er sich plötzlich doch, sich früher entschieden zu haben, denn dann befänden sie sich nun bereits im Gasthaus und wären dieser Gruppe nie begegnet – und dann wäre es auch nicht zu Tengaars Vorschlag gekommen. Aber nun war es bereits zu spät. Im Stadtkern von Radat herrschte noch immer ausgelassene Feierstimmung. Der Krieg hatte so lange angedauert, dass die Menschen nun nie müde wurden, ihrer Freude über dessen Ende Ausdruck zu verleihen. Immer noch spielten die Musikanten für jene, die tanzen wollten und vor dem Restaurant waren Tische aufgebaut, an denen Stadtbewohner saßen und sich lachend während des Essens oder Trinkens unterhielten. Kaum tauchten sie wieder in diese Atmosphäre ein, wäre Hix am Liebsten ein Teil davon geworden. Es schien so leicht, sich einfach dazuzusetzen und zu vergessen, was er eigentlich tun sollte. Nur Tengaar hielt ihn davon ab. Nein, der Gedanke kam ihm nicht ganz richtig vor, er klang so negativ. Besser war es, wenn er dachte, dass sie ihn ablenkte. Er liebte sie immerhin, sie war kein Störfaktor. Aber sehr oft empfand er sich selbst als solcher. Zwar empfand er sich nun als Krieger und er wollte sie auch unbedingt heiraten, aber wie sollte er nur den Mut aufbringen, sie zu fragen, wenn ihre bloße Anwesenheit sie schon nervös machte? Plötzlich blieb Tengaar stehen und er hielt automatisch ebenfalls inne. Er folgte ihrem Blick, der direkt an einer Person hängenblieb, von der er einfach wusste, dass sie zu den Schaustellern gehörte. Allein seine Anwesenheit an diesem Ort war einfach falsch, fast so als ob jemand ihn nur mal eben abgestellt und dann vergessen hätte, ihn wieder abzuholen, um ihn an seinen richtigen Platz zu bringen. Diese Person trug ein nachtfarbenes Jackett, eine weiße Hose und ab den Knien abwärts war derselbe Stoff an die Beine gebunden wie jener aus dem das Jackett gefertigt war. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Kapitänshut. Aber das wirklich Außergewöhnliche an dieser Person und das, was auch seinen Blick anzog, war die Maske, hinter der er die obere Hälfte seines Gesichts verbarg. Sie war aus rotem Holz gefertigt, mit riesigen roten Augen, die in gelben Höhlen saßen. An den Seiten waren angedeutete weiße Hörner zu sehen, während am unteren Rand eine Reihe weißer Zähne gebleckt war. Aber da war noch etwas anderes an dieser Person, etwas, was einerseits Furcht und gleichzeitig auch Sehnsucht in Hix auslöste. Diese Person war ihm fremd und gleichzeitig vertraut wie ein alter Freund, den er nach Jahren zum ersten Mal wiederbegegnete. Dabei gab es nicht viele Personen, die Hix gut kannte und jene waren auch mit Sicherheit nicht an diesem Ort und trugen auch keine Masken. Warum wurde er dann von diesen Gefühlen überfallen? Tengaar schluckte hörbar, worauf ihm bewusst wurde, dass es ihr genauso erging. Er spürte, wie sie nach seiner Hand griff und diese drückte als suchte sie bei ihm für den Moment Halt und Zuversicht. Aber er war nicht in der Lage, den Händedruck zu erwidern, zu sehr war er von der Furcht gelähmt, so dass sie ihn wieder losließ, ein enttäuschtes Aufblitzen in den Augen. Wie durch Watte hindurch vernahm er plötzlich hinter sich die Stimme von Etzel: „Ah, da ist er ja. Darf ich euch vorstellen? Das ist der vierte Mann im Bunde, Grimare.“ Kapitel 2: Grimare ------------------ Hix empfand es regelrecht als unheimlich, sich in der Nähe dieses Mannes aufzuhalten. Die Vertrautheit war rasch in eine reine Furcht umgeschlagen. Nein, Furcht empfand er nach einiger Überlegung als falsches Wort, es war eher einschüchternder Respekt, den er bei genauerer Betrachtung der Maske empfand. Aber dennoch blieb sein Blick auf dieser Maske fixiert, er war nicht fähig, die Augen davon zu lösen. Wenn man sich nur darauf konzentrierte und ausblendete, dass darunter noch ein Mensch war, sah es so aus als ob man während eines Kampfes gegen ein Untier diesem den unteren Teil des Kiefers abgerissen hätte. Aber wenn Grimare sprach, konnte man den Eindruck bekommen, dass ein Mensch lediglich die Haut des Untiers als Versteck nutzte. Hix war so sehr in diese Gedanken vertieft, dass er nicht einmal hörte oder verarbeiten konnte, was dieser Mann sprach, nur seine ruhige, beherrschte Stimme erreichte sein Bewusstsein. Etzel hatte es für eine gute Idee befunden, in Radat erst einmal eine Pause zu machen und ein Mittagessen einzunehmen, da sie nach eigener Aussage schon eine Weile nichts Vernünftiges mehr zu sich genommen hatten. Statt draußen Platz zu nehmen, saßen sie im Restaurant, das viel dunkler war als sonst und nur von wenigen flackernden Lichtern erhellt war. Hix, Tengaar und Siglind saßen nebeneinander, ihnen gegenüber Nerthus, Etzel und – in der Mitte der beiden – Grimare. Er thronte regelrecht mit durchgedrückten Rücken, fast als wäre da ein unsichtbarer Stock, an den er gebunden wäre und der verhinderte, dass er in sich zusammensank. Diese stolze Haltung trug zusätzlich zu Hix' Einschüchterung bei, denn sie erinnerte ihn schmerzlich daran, dass ihm diese fehlte, obwohl er sie sich sehnlichst für sich selbst wünschte. Er warf aus den Augenwinkeln einen Blick zu Tengaar, die nicht Grimare ansah, sondern im Gegenteil, äußerst bemüht wirkte, das Gesicht gesenkt zu halten. Wann immer sie doch aufsah, weil Grimare zu sprechen begann, zuckte sie zusammen und senkte den Blick sofort wieder. Hix hatte sie noch niemals so gesehen, selbst im Angesicht Neclords war sie unerschrocken gewesen. Aber der Vampir war ihr offener Feind gewesen, dieser Mann jedoch tarnte sich möglicherweise nur als ihr Freund. Hinter der Maske könnte sich ein Verbündeter, ein Feind oder eine absolut neutrale Person verbergen und sie würden es nie erfahren, weil keiner von ihnen den Mut fand, diese Maske herunterzureißen, um ihm in die Augen zu sehen. Das Essen erschien Hix wie eine Erlösung, denn es erlaubte ihm, seinen Blick von Grimare zu wenden und sich auf etwas anderes zu konzentrieren, ohne dabei unhöflich zu wirken – auch wenn er dennoch nicht anders konnte als nach jedem Bissen wieder hochzusehen und Grimare beim Essen zu beobachten. Jedes Mal kam ihm dann wieder die Metapher mit dem Menschen in der Haut eines Ungetümes in den Sinn, er erschauerte und wandte den Blick wieder ab, ohne darauf zu achten, ob Grimare auch wirklich etwas zu sich genommen hatte. Er bemerkte, dass Tengaar ähnlich wie er, mit wenig Appetit in ihrem Essen stocherte und nur hin und wieder etwas davon den Weg in ihren Mund fand. Nachdem sie beide wegen der Vorfreude auf die Heimkehr kein Frühstück eingenommen hatten, war es für ihn doch reichlich verwunderlich, dass sie selbst zum Mittagessen noch nicht viel Hunger verspürten. Aber er war davon überzeugt, dass das nur an diesem Grimare lag. Wie sollte dann erst die Reise mit ihm werden? Die Schausteller warteten überraschend geduldig, bis auch sie ihre Schüsseln geleert hatten, dann schienen sie die Gespräche wieder aufleben lassen zu wollen und bestellten dafür extra noch etwas zu trinken. Etzel hob den Becher an seine Lippen. „Ihr kommt also aus dem Dorf der Krieger?“ Die beiden Angesprochenen nickten wortlos. Siglind beugte sich ein wenig mit dem Oberkörper über den Tisch, den Kopf ihnen zugewandt, um ihre Gesichter von vorne zu betrachten. „Wo ist das denn eigentlich?“ „In Toran“, antwortete Tengaar, sichtlich erleichtert, dass sie nun über etwas sprechen konnte, womit sie sich auskannte, „die Lorimar-Region. Wir können voller Stolz auf eine Geschichte von mehreren hundert Jahren zurücksehen.“ „Ich habe davon gelesen“, sagte Nerthus mit sanfter Stimme. „Der Paladin Klift hat das Dorf einst gegründet, nachdem er die harmonianischen Streitkräfte zurückschlug, nicht wahr?“ Sowohl für Hix als auch Tengaar, war das Wort Paladin neu, aber der Rest der Geschichte entsprach der Wahrheit, sie hatten unzählige Geschichten darüber gehört, daher nickten sie beide. Grimare öffnete wieder den Mund und diesmal konnte Hix mehr als nur deutlich verstehen, was er sagte, oder eher fragte: „Wie lebt es sich als Tochter des Häuptlings, Tengaar?“ Statt einer Antwort, blickte sie ihn starr an, wie ein überraschtes Tier, vor dem man urplötzlich auftauchte. Hix verstand ihre Überraschung durchaus, immerhin hatte keiner von ihnen bislang erwähnt, dass sie die Tochter von Zorak war und er wusste es dennoch. Die drei Schausteller lächelten nur sanft, als wären sie bereits gewohnt, dass er solche Sachen einfach vollkommen grundlos wusste. Das Leben kehrte in Tengaar zurück, hastig nahm sie einen Schluck aus ihrem Becher, dann fand sie ihre Stimme wieder: „Es ist durchaus angenehm. Aber manchmal fühle ich mich nicht ernstgenommen, weil ich eine Frau bin.“ Für einen kurzen Moment glaubte Hix, etwas in ihrem Blick zu sehen, das verriet, dass sie eigentlich etwas anderes sagen wollte, aber es war so schnell verschwunden, dass er sich nicht sicher war. Stattdessen runzelte sie nun missbilligend die Stirn. „Aber du hast einen guten Mann an deiner Seite?“ Grimare richtete das Wort nicht an Hix, als wüsste er, dass dieser ihm gar nicht antworten würde. Tengaar warf einen verstohlenen Blick zu Hix, wieder huschte dieser Schimmer des Schweigens durch ihre Augen. „Ja, das habe ich.“ Grimare neigte wohlwollend den Kopf und richtete die Augen seiner Maske dann auf Hix, der darunter zusammenfuhr. „Es ist immer gut, einen guten Mann an seiner Seite zu haben.“ Hix zweifelte daran, dass er ein solche war und an Tengaars Blick von eben, hatte er gesehen, dass es ihr genauso erging. Zumindest war er davon überzeugt, dass es diese Bedeutung innehatte. Um von diesem Gedanken abzukommen, überlegte Hix, ob Grimare jemals die Maske abnahm oder ob er sie beständig trug. Wenn er sie nicht einmal zum Essen abnahm, musste wohl Letzteres der Fall sein. Ob seine Begleiter wussten, wie er ohne Maske aussah? „Ich nehme an, meine Erscheinung beschäftigt dich.“ Es war eine Feststellung, keine Frage und das ließ Hix wieder wie erstarrt innehalten. Die Luft wirkte plötzlich geladen, wie vor einem Blitzschlag während eines Gewitters. Es brauchte nur noch einen Funken und anschließend ein Donnerschlag. „Wäre es dir lieber, wenn ich die Maske abnehme?“ Hix' Augen weiteten sich bei der Vorstellung, dass es so einfach sein könnte, er müsste nur noch den Kopf neigen, um ein Nicken anzudeuten, das wäre alles. Aber dann dachte er auch wieder daran, dass es bedeuten würde, das Gesicht hinter der Maske zu sehen, jenen Menschen, der sich in der Haut eines Ungetümes verbarg. Dieser Gedanke lähmte ihn augenblicklich und verhinderte jede noch so kleine Bewegung, die es gekostet hätte. Er fürchtete sich davor, das zu sehen, was unter der Maske verborgen lag. Sein anhaltendes Schweigen, wertete Grimare vollkommen richtig als Ablehnung dieses Vorschlags. „Dann werde ich sie aufbehalten.“ Mit diesen Worten entfernte sich das Zentrum des Gewitters von dieser Taverne, ohne dass ihm die Möglichkeit gegeben worden wäre, die Atmosphäre zu entspannen. Stattdessen war es nun als könnte man in der Ferne den niederfallenden Regen riechen und nur noch süßes Bedauern über das Vorbeiziehen empfinden, während man weiterhin der elektrisch geladenen Luft ausgesetzt war. Aber Tengaar fand zumindest endlich den Mut, etwas diesbezüglich zu fragen: „Warum trägst du diese Maske denn? Also... dauernd, meine ich.“ Im Nachhinein hätte Hix schwören können, dass die gelben Augen der Maske bei dieser Frage aufleuchteten, aber in jenem Moment war er mit der Furcht beschäftigt, dass sich auch unter der Haut des Ungetümes kein Mensch, sondern nur ein weiteres Monster verbarg. Seine Haut begann zu prickeln, während er auf Grimares Antwort wartete, die Zeit schien sich wie eine Ewigkeit hinzuziehen. Die Lippen unter der Maske kräuselten sich zu einem Lächeln. „Ich wurde als Kind schwer entstellt und will keinem in meiner Umgebung Furcht einflößen.“ Sowohl Hix als auch Tengaar nickten verstehend, ganz so als wären sie eine Einheit und nicht zwei einzelne Wesen. Das Gewitter endete ohne Blitz und Donner, aber die statische Aufladung in der Luft blieb. Die Schausteller schoben die leeren Becher von sich. „Wir sollten langsam gehen“, bemerkte Etzel. „Die Pferde dürften ausgeruht genug sein, dass wir es bis auf den Pass hinauf schaffen.“ „Können wir da oben denn rasten?“, fragte Nerthus. Tengaar, die sich auch während ihrer Reise mit Hix stets um die geografischen Details gekümmert hatte, nickte sofort. „Ja, es gibt eine Art Plattform auf der Spitze, auf der wir ausreichend Platz haben sollten.“ Siglind sprang enthusiastisch auf. „Worauf warten wir dann noch? Gehen wir.“ Ihre beiden Geschwister – Hix war sich sicher, dass sie während der Unterhaltung am Tisch etwas in der Art erwähnt und somit seinen Verdacht bestätigt hatten – nickten ebenfalls und erhoben sich, Hix und Tengaar blieben sitzen. Keiner von beiden fühlte sich in diesem Moment wie ein Teil dieser Gruppe, eher wie ein Fremdkörper, der eigentlich kein Recht hätte, auch nur an diesem Tisch zu sitzen. Grimare blieb ebenfalls sitzen, auch wenn Hix nicht so recht verstand, weswegen, er gehörte immerhin zu den anderen. Tengaar warf Hix einen Blick zu, dann erhob sie sich ebenfalls. Er dagegen blieb nach wie vor sitzen und sah Grimare an, versuchte, durch die Maske hindurch und in die Augen dahinter zu sehen. Der Versuch war aussichtslos, Schauer fuhren seinen Rücken hinab, die stärker waren als er, so dass er schließlich den Blick abwandte und ebenfalls aufstand. Er sah auf den Tisch hinunter und bemerkte, dass der Becher von Tengaar noch gefüllt war, genau wie sein eigener – und auch der von Grimare. Doch der Gedanke wurde sofort weggewischt, als sein Gegenüber sich ebenfalls erhob und noch einmal den Mund öffnete: „Ja, lasst uns gehen.“ Kapitel 3: Aufstieg ------------------- Die Reise mit der Gruppe war gar nicht so schlimm, wie Hix zuvor gedacht hatte. Auch wenn das nur daran lag, dass Grimare sich in einem der Wägen aufhielt, während die drei Schausteller und auch er und Tengaar neben den Pferden herliefen. Inzwischen hatten sie den Bergpass bereits erreicht, der mit einer sanften Steigung in die Höhe führte. Da dieser Pfad lediglich in das Ödland führte, das schließlich in die Karakas Wüste mündete, gab es dort keinen Grenzposten, der sie aufhalten könnte. Niemand, der noch ganz klar im Kopf war, wagte es, diesen Weg zu gehen. Als Hix dieser Gedanke kam, fragte er sich unwillkürlich, ob er ebenfalls verrückt geworden war, da er Tengaar und den anderen diesen Plan nicht ausgeredet hatte, aber er kam zu dem Ergebnis, dass er einfach nur feige war und sich nicht getraute, ernsthaft zu widersprechen. Zumindest gab es auf diesem Weg keine Monster oder Banditen. Die Frauen blieben neben dem ersten Wagen unter sich, während Hix und Etzel neben dem dritten herliefen. Der rot-braune Wallach, der das Gefährt zog, schien ein wenig zu lahmen, weswegen der Abstand zwischen ihm und den anderen Wägen immer größer wurde, aber keiner der beiden Begleiter störte sich daran. Hix kümmerte sich vor allem nicht darum, da er sich in Ruhe mit Etzel unterhalten wollte. „Wie ist es denn so mit Grimare zu reisen?“ Er bemühte sich, seine Stimme nicht zittern zu lassen, damit der andere nicht bemerkte, wie sehr er sich vor diesem Maskierten fürchtete, immerhin war dieses Gefühl eigentlich absolut unbegründet. Etzel hob die Schultern. „Ich muss ehrlich sagen, dass er sich uns erst kurz vor Radat angeschlossen hat. Eigentlich gehört er also gar nicht zu uns – wir dachten nur, wir sollten ihn mitnehmen, weil er so allein mitten in der Gegend herumstand.“ Das erstaunte Hix. Sicher, er hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass Grimare einfach nicht dazugehörte, aber das darauf geschoben, dass der Mann einfach anders war und nirgends richtig hineinpasste, ähnlich wie er selbst. „Ist das nicht gefährlich?“, fragte er. Man wusste nie, was in Fremden vorging, wie konnten sie da so vertrauensselig sein? „Das hat Nerthus auch gesagt.“ Etzel lachte amüsiert. „Aber Siglind hat sich durchgesetzt. Sie wirkt burschikos, doch eigentlich ist sie von uns dreien die Umsichtige, die sich für alles verantwortlich fühlt. Deswegen sollte eigentlich sie neben diesem Klepper laufen.“ Er warf einen Blick zu dem lahmenden Pferd und runzelte dabei die Stirn. „Andererseits könnten wir uns auch kein neues Tier leisten und wir brauchen den Wagen.“ „Schon einmal überlegt, euch niederzulassen? Nur so lange, bis ihr das Geld für ein neues Pferd habt.“ Etzel lächelte ihm sanft zu, wie einem Kind, das etwas Dummes gesagt hatte. „Wir haben tatsächlich darüber nachgedacht, aber in unseren Adern fließt Nomadenblut, wir können nicht lange am selben Ort bleiben. Manchmal glaube ich, wir sind Nachfahren der Sindar.“ Er lachte wieder, was Hix verriet, dass er es nicht ernst meinte. Von den Sindar verstand Hix nicht viel, das war nicht sein Aufgabengebiet, aber er wusste, dass Lorelei nach Ruinen dieses Volks suchte. Und in Rious Armee waren neben ihr noch zwei andere gewesen, die sich dafür interessierten. Aber das war wieder eine andere Geschichte, dachte er sich und konzentrierte sich lieber wieder auf sein Gespräch mit Etzel. „Ihr werdet das bestimmt noch anders schaffen.“ Der andere nickte zustimmend. „Also, was hältst du von Grimare?“, wollte Hix wissen. „Er verbirgt etwas und ich meine damit nicht sein Gesicht. Aber ich weiß intuitiv, dass es nichts Schlimmes ist. Deswegen frage ich ihn nicht weiter, er wird uns nicht gefährlich werden.“ Auch wenn es vorrangig nicht sein Gesicht war, das Grimare zu verbergen gedachte, bereute Hix dennoch, sich nicht getraut zu haben, ihn um das Abnehmen der Maske zu bitten. Wenn er ehrlich war, interessierte er sich nämlich doch für das Gesicht dahinter. Aber die Furcht in jenem Moment war einfach zu stark gewesen. Tengaar schien dasselbe gefühlt zu haben, normalerweise genügte das, damit er den Mut fand, etwas zu unternehmen. Aber bei Grimare schien nichts normal zu sein. Ein wenig war Hix auch neidisch auf die Ausstrahlung dieses Mannes, die so erhaben war, dass sie einem Respekt einflößte, wenn man sich nur in seiner Nähe befand. Wenn er nur ein bisschen so sein könnte wie er, nur ein winziges bisschen, dann könnte er, ohne weitere Bedenken, Tengaar endlich die ersehnte Frage stellen. Dann wäre er ihrer endlich würdig, auch seinem eigenen Gefühl nach, noch dazu, da er im Anschluss das neue Oberhaupt des Dorfs werden würde. In Gedanken versunken, bemerkte er gar nicht, wie Etzel ihm einen fragenden Blick zuwarf, ehe er sich wieder auf das Laufen konzentrierte. Tengaar genoss derweil die Gesellschaft der Frauen und bemerkte auch gar nicht, dass der dritte Wagen sich immer weiter von ihnen entfernte. In der Armee hatte sie sich hin und wieder mit anderen Frauen unterhalten, aber dafür war doch eher selten eine Gelegenheit gewesen. Meist war sie beschäftigt gewesen, Hix zum Trainieren anzuhalten, während er immer wieder Ausreden erfunden hatte, um dem zu entgehen. Manchmal war es ihr so vorgekommen als ob er eigentlich gar nicht daran interessiert wäre, sie zu heiraten. Dass er sie bislang immer noch nicht gefragt hatte, bestätigte sie nur darin. Am Liebsten hätte sie ihn gefragt, was ihn davon abhielt, was er befürchtete, aber sie wusste, dass er nur mit einem verlegenen Stottern antworten würde, deswegen beließ sie es dabei. Im Moment war es auch etwas anderes, das Tengaar beschäftigte: „Warum fährt Grimare eigentlich mit einem Wagen, statt zu laufen?“ Siglind, die um einiges kommunikativer war als Nerthus, antwortete sofort: „Er sagt, er ist nicht sonderlich gut zu Fuß. Außerdem war er so lange zu Fuß unterwegs, da dachten wir, es wäre besser, wenn er fährt.“ „Außerdem haben wir im zweiten Wagen einige zerbrechliche Gegenstände“, erklärte Nerthus weiter. „Da war es uns lieber, jemanden zu haben, der auf sie aufpasst. Früher haben wir uns darin immer abgewechselt.“ Das klang recht sinnvoll, fand Tengaar. „Darf ich dich etwas fragen?“ Siglind wirkte plötzlich überaus neugierig, Nerthus schien bereits das Schlimmste zu befürchten und hielt sich eine Hand vor den Mund als sei sie schon im Vorfeld schockiert. Tengaar dagegen nickte zustimmend, so dass Siglind die Frage stellte: „Fühlst du dich bei diesem Hix wirklich sicher? Er wirkt nicht unbedingt wie jemand, der einen beschützen kann.“ Sie wollte sofort und ohne Nachzudenken mit einem 'Natürlich' antworten, hielt dann aber doch noch inne und starrte auf den Horizont. Die Sonne war nur noch als blutrote Scheibe zu erkennen, die sich langsam senkte und damit den Himmel verfärbte. Sie dachte nicht nach, ob sie guten Gewissens bejahen könnte, sie wusste die Antwort schon, sie war nur zu der Erkenntnis gekommen, dass eine zu rasche Antwort ein falsches Licht darauf werfen könnte. Schließlich wandte sie ihren Blick vom Horizont ab und wieder der neugierigen Siglind zu. „Ich bin mir absolut sicher. Er wirkt nicht so, aber Hix ist wirklich stark.“ Wenn nur sein Selbstvertrauen auch so stark wäre... „Du liebst ihn wirklich, hm?“ Nerthus lächelte sanft. Tengaar nickte zustimmend, während sie das Lächeln erwiderte. „Ja, das tue ich.“ „Ist es nicht eine große Verantwortung, die Tochter eines Dorfoberhaupts zu sein?“, wollte Siglind wissen. „Also, im Bezug auf die Wahl deines Mannes.“ Ein ähnlicher Gedanke war ihr auch einmal gekommen. Möglicherweise fühlte Hix sich nicht dazu fähig, das nächste Oberhaupt des Dorfes zu werden und deswegen fragte er sie nicht. Aber wie könnte sie ihn davon überzeugen, dass sie an ihn glaubte? „Ja, das ist es. Aber Hix ist durchaus fähig, das nächste Oberhaupt zu werden. Er braucht nur noch ein wenig mehr Selbstbewusstsein.“ Normalerweise genügte die Reise der Männlichkeit, um die Männer aus dem Dorf der Krieger zu einem Ausbund an Selbstbewusstsein werden zu lassen, aber bei Hix genügte das anscheinend nicht. Vielleicht war das sogar ihre Schuld, vielleicht putzte sie ihn zu oft herunter, vielleicht... Sie wusste nichts mehr zu sagen oder zu denken, das alles blieben nur Mutmaßungen, sie konnte ihn nicht einmal fragen, da er nicht darauf antworten würde. Aber früher oder später würden sie darüber sprechen müssen. Immerhin schienen ihre Antworten aber Siglinds Neugierde befriedigt zu haben, auch wenn sie wohl nicht dieselbe Meinung über Hix teilten. Das ist der Grund, weswegen ich ihm immer sage, er soll endlich selbstbewusster werden, damit die anderen ihm das glauben. Die Sonne versank rasch immer tiefer und nahm das Licht mit sich, sie ließ nur einen schwarzen Himmel voller Sterne zurück, ein Mond war bislang noch nicht zu sehen. Glücklicherweise kamen sie nur kurz nachdem die Sonne gänzlich verschwunden war, auf der zuvor erwähnten Plattform an, die tatsächlich groß genug für alle drei Wägen war. Als die ersten zwei Wägen standen, begannen Nerthus und Siglind, aus einem der beiden Gefährte Feuerholz herauszuholen und es auf der Mitte der Plattform aufzuschichten, während Nerthus dann versuchte, ein Feuer zu entzünden, breitete Siglind rund herum Decken aus. Sie taten das so eingespielt als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan. „Und jetzt?“, fragte Tengaar, als das Feuer schließlich brannte. „Wir warten auf die anderen“, antwortete Nerthus lächelnd. „Das kann bei diesem Pferd eine Weile dauern. Solange werde ich kochen, wir sind nach dieser Anstrengung alle hungrig, nehme ich an.“ Siglind lächelte entschuldigend als wäre das Lahmen des Tiers oder der Hunger der Gruppe ihre Schuld. Doch Tengaar dachte nicht weiter darüber nach, sondern ließ sich auf einer der Decken nieder – und wartete. Kapitel 4: Im Schein des Feuers ------------------------------- Als Hix und Etzel das Lagerfeuer erreichten, war die Sonne bereits vollkommen untergegangen und abgesehen von den Flammen war es dunkel auf der Plattform. Die Frauen saßen bereits um das Feuer herum und unterhielten sich lächelnd, Grimare saß ihnen gegenüber im Schatten des Berges. Die zuckenden Flammen, die tanzende Schatten auf der Maske des Mannes erzeugten, ließen ihn noch unheimlicher erscheinen als sonst. Etzel setzte sich ohne Umschweife zu den Frauen und klinkte sich direkt in ihr Gespräch mit ein, so als wäre er ein Fragment gewesen, das zu Beginn gefehlt hatte und nun die Lücke füllte. Hix dagegen lenkte seine Schritte, ohne darüber nachzudenken, zu Grimare, neben dem er sich niederließ. Erst als er saß und über das Feuer hinweg die anderen betrachtete, die so unendlich weit weg erschienen, wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Aber die plötzlich einsetzende Angst hinderte ihn daran, wieder aufzustehen, etwas zu murmeln, das nach einer Entschuldigung klang und sich ebenfalls zu den anderen zu begeben. Nein, wenn er so darüber nachdachte war es keine Angst, es war- „Du denkst, dass du nicht zu ihnen gehörst.“ Hix fuhr zusammen, als Grimares Stimme erklang. Einen kurzen Augenblick war ihm als müsste er diese Stimme von irgendwoher kennen, aber ihm fiel einfach nicht mehr ein, wo er sie bereits gehört haben könnte. Der Gedanke schwand auch direkt im nächsten Moment, als er bestätigend den Kopf neigte. „I-ich bin nicht so geeignet dafür, mit Menschen umzugehen und gute Laune zu verbreiten...“ Andere Menschen machen mir eher Angst. Er sprach es nicht laut aus, aber dennoch glaubte er, dass Grimare ihn verstehen könnte. In diesem Moment, in dem nur sie beide auf dieser Seite des Feuers, im Schatten, existierten, war es als ob sie beide miteinander verbunden wären, auf eine Art und Weise, wie man sonst nicht mit Menschen verbunden war. „Bei Tengaar scheint es dich nicht zu stören.“ Die Augen der Maske waren nach wie vor auf das Feuer gerichtet, aber unter dieser war es gut möglich, dass Grimares Augen auf die Frauen und Etzel blickten. Hix dagegen blickte aus den Augenwinkeln zu seinem Nachbarn, versuchte erfolglos, einen Blick unter die Maske zu erhaschen. „Bei Tengaar ist es etwas anderes.“ Warum war ihm nicht bewusst, aber schon seit er denken konnte, war ihm immer nur Tengaar wichtig gewesen. Was sie über ihn dachte, was sie von ihm hielt, immer nur Tengaar... er verehrte sie geradezu, nicht nur weil sie an ihn glaubte, egal was alle anderen dachten. Er war gerne bei ihr, aber nach der Prüfung des Einhorns hatte sich etwas verändert: Ihre Erwartungshaltung an ihn. Sie erwartete von ihm, dass er ein Mann wurde und sie um ihre Hand bat und er würde ihr letzteren Wunsch erfüllen, auch wenn er sich selbst nach wie vor nicht als gut genug befand, um das nächste Oberhaupt des Dorfes zu werden. „Denkst du, dass du der richtige Mann für sie bist?“ Grimares Frage kam nicht überraschend für ihn, er wäre im nächsten Augenblick auch von selbst wieder darauf gekommen, aber normalerweise, wenn er sich das gedanklich fragte, brachte er Dutzende von Versicherungen, dass er es war. Dieses Mal aber war seine Antwort ein Kopfschütteln. Es sich einzugestehen und es zuzugeben, brach ihm geradezu das Herz, aber es war nun einmal so, er glaubte nicht daran, ein guter Mann für Tengaar zu sein. Dennoch war er so egoistisch, sie nicht hergeben zu wollen, er wollte sie nicht freigeben, damit sie einen Mann fand, der besser für sie war. Er lebte nur für sie, er gehörte ihr und im gleichen Maße sollte sie auch ihm gehören. „Aber dennoch traust du dich nicht, ihr dein wahres Ich zu zeigen.“ Hix wandte ihm abrupt den Kopf zu, die Augen vor Überraschung geweitet. „... Was?“ Grimare blickte unbewegt ins Feuer, er atmete so flach, dass es kaum zu erkennen war und man den Eindruck gewinnen könnte, dass er überhaupt nicht Luft holen musste, um weiterzuleben. „Du denkst, dass Tengaar dich braucht, um sich überlegen zu fühlen, oder?“ Hix wollte empört widersprechen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Ganz so verkehrt war es nicht. Er glaubte, dass Tengaar es brauchte, besser als jemand anderes zu sein, dass sie nur deswegen damals die Freundschaft mit ihm gesucht hatte, weil er schon immer ein Schwächling und Feigling gewesen war. Wenn er ihr nun also offen zeigte, dass diese Zeiten vorbei waren, dass er sie nicht mehr brauchte, weil er inzwischen besser war als sie, würde das dann nicht dazu führen, dass ihr Interesse an ihm verlieren und sich jemand anderem zuwendete? „Du willst also dein Leben lang jemand sein, der du nicht bist, um sie an dich zu binden?“ Ganz langsam wandte Hix seinen Blick wieder von dem Mann ab und sah erneut zu Tengaar hinüber. Durch den Schein der Flammen hindurch, betrachtete er sie so genau wie möglich. Das Lächeln, das sie im Moment zur Schau trug, war nur aufgesetzt, er sah an ihren Augen, dass sie traurig war und er fragte sich, was es war, das sie so bedrückte. War es er? Fürchtete sie, dass er ihr entglitt? Oder im Gegenteil, war sie betrübt, dass er sich so an sie band? Warum hatten sie nie gelernt, wirklich miteinander über solche Dinge zu sprechen? Warum schwiegen sie all diese Dinge tot und hofften, dass sie sich von allein regeln würden? Trotz des Feuers wurde ihm kalt, ein Schauer lief seinen Rücken hinab und ließ ihn erzittern. „Was soll ich denn tun?“, murmelte mit gesenktem Blick. Ein Funken stob aus dem Feuer in die Luft empor, wurde vom Wind zu ihnen herübergetragen und verharrte für einen Moment scheinbar schwerelos in der Luft. Grimare hob die Hand, um den Funken aufzufangen und auf seiner Handfläche wandelte er sich zu einer kleinen Flamme, die ohne jede Nahrung brannte. Hix beobachtete das ein wenig verwundert, aber die Aura, die diesen Mann umgab, ließ ihn das Geschehen einfach hinnehmen, statt zu hinterfragen, wie er das anstellte. „Du weißt, dass Feuer normalerweise etwas braucht, das verbrennen kann, sonst ist es nicht fähig, zu existieren, nicht wahr?“ Er nickte. „Ja, ich weiß.“ „Aber was soll Tengaar tun, wenn du vollkommen verbrannt bist?“ Also sollte er den Platz des Holzes in dieser Metapher einnehmen? Und Tengaar das Feuer? „Ohne das Holz wird sie erlöschen.“ „Sie findet dann schon jemand anderen“, wehrte Hix kurzerhand ab. „Sie findet dann mit Sicherheit jemanden, der besser ist für sie als ich.“ „Ich kann dir versichern, dass sie das nicht will.“ Schlagartig fühlte Hix Wut und Ärger in seinem Inneren aufwallen. Er wollte hier nicht mit diesem unheimlichen Mann sitzen und mit ihm über eine Beziehung sprechen, die nicht optimal verlief. „Was geht dich das überhaupt an? Wer bist du denn überhaupt? Du versteckst dich hinter deiner Maske und nutzt irgendwelche Tricks, um mich auszufragen!“ Das musste es sein! Grimare wusste diese Sachen gar nicht, er war nur ein aufmerksamer Beobachter und fähig, jemanden auszufragen, ohne dass dieser es bemerkte. Aber Hix ließ sich nicht so einfach hinters Licht führen! Die Personen auf der anderen Seite des Feuers hielten in ihrer Unterhaltung inne und wandten sich ihnen beiden zu, wieder schien es als würde ein Gewitter aufziehen, mit Hix und Grimare als Zentrum. Der Mann wandte ihm nun ebenfalls das Gesicht zu, die Maske verhöhnte ihn, es hätte nur noch eine keck hervorstehende Zunge gefehlt, um seine Demütigung komplett zu machen. „Wenn du wissen willst, was sich unter meiner Maske befindet, musst du sie mir nur abnehmen.“ Hix streckte bereits die Hand aus, um sie zu ergreifen, hielt allerdings inne, noch bevor seine Fingerspitzen das lackierte Holz berührten. Es schien wie eine einfache Handlung, aber immer noch war da die Furcht unter der Maske nur eine weitere Bestie vorzufinden. Die Wut verrauchte augenblicklich, er ließ die Hand wieder sinken. Aber dieses Mal verzogen sich die Gewitterwolken nicht, stattdessen stand Grimare plötzlich ruckartig auf. „Wenn du dir noch immer unsicher bist, werde ich dir deine größte Last abnehmen, damit du endlich dein eigenes Leben lebst.“ Den Kopf in den Nacken gelegt, fragte Hix sich, wovon er sprach. Er beobachtete Grimare dabei, wie dieser direkt durch das Feuer hindurchlief. Die Flammen leckten nicht einmal an ihm oder seiner Kleidung, es sah aus als würden sie einfach nur ausweichen und hinter ihm wieder an ihren Platz zurückkehren, für einen kurzen Moment, in der Mitte des Feuers, sah er aus wie ein Flammenteufel, der inmitten seines neuesten Brandes stand, um sich daran zu erfreuen. Ohne innezuhalten griff Grimare auf der anderen Seite des Feuers nach Tengaars Arm und zog die Frau nach oben. „He!“, protestierte sie sofort. „Was soll das!?“ Kaum hörte er ihre Stimme, erwachte Hix aus seiner Starre und sprang auf. „Tengaar!“ Grimare zog sie mit sich und in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass sie ihn brauchte, anders als sonst. Sie benötigte nicht den unsicheren Hix, den sie herumkommandieren konnte, sondern den, der wild entschlossen war, ihr zu helfen. Grimare lief nach wie vor weiter, direkt auf den Abgrund zu, die anderen wiederum bewegten sich nicht, sondern beobachteten das ganze Schauspiel nur verwirrt. Tengaar stolperte dem Mann hinterher, während Hix durch die Flammen hindurch sprang, um schneller zu ihnen zu kommen. Die intensive Hitze des Feuers schmerzte seiner Haut und versengte Haar und Kleidung, doch das alles wurde von ignoriert, während er das Ziel weiterhin vor Augen behielt. Grimares Fuß verließ den steinernen Boden und trat ins Leere. Doch statt abzustürzen, als sein zweiter Fuß nachfolgte, schien er in der Luft zu schweben, so dass er seinen Weg fortsetzen konnte. Hix zögerte nicht lange, er zauderte keinen Moment, sondern trat ebenfalls ins Leere. Kaum kam sein Fuß auf dem Weg von Grimare auf, erkannte er, dass es sich um eine Brücke handelte, die aus durchsichtigem, kaum erkennbaren, Gestein zu bestehen schien. Wie das sein konnte, war ihm unbegreiflich, aber er kümmerte sich auch nicht weiter darum, sondern lief weiter, Grimare hinterher, der einen beträchtlichen Vorsprung erreicht hatte. Am Ende der Brücke hielt Grimare wieder inne. Tengaar hatte den Widerstand inzwischen aufgegeben und klammerte sich an den Mann, da sie offenbar fürchtete, in den Abgrund zu stürzen, zumindest wenn Hix ihren Blick nach unten richtig deutete. Auf eine Handbewegung Grimares öffnete sich ein rundes Portal, das er mit Tengaar durchschritt. Hix war noch wenige Schritte entfernt, als er feststellte, dass sich das Portal wieder zu schließen begann. Er zögerte nicht mehr länger, sondern nutzte den Schwung seines Laufs, um mit einem Sprung durch das Portal zu hechten. In diesem Moment war ihm die Gefahr, in die er sich damit begab, einerlei. Er musste Tengaar retten, das war alles, was zählte. Das Portal schloss sich hinter ihm wieder und ließ eine durchaus verwirrte Schausteller-Gruppe zurück, die alle nicht wussten, was gerade geschehen war. Kapitel 5: Hinter den Masken ---------------------------- Hix stürzte kopfüber in die andere Welt hinein. Selbst als er sich aufrichtete, schien es ihm als würde er auf dem Kopf stehen. Er befand sich auf einem festen Weg, seine Kleidung und sein Schwert lagen an wie eh und je, aber das Blut schoss in seinen Kopf und wenn er nach oben sah, wurde ihm schwindelig. Spiralen, in schwarz und weiß, zogen sich über (oder unter? Er war sich nicht sicher) ihm hinweg und ließen den Eindruck einer Unendlichkeit entstehen, in die er fallen könnte, wenn er nicht vorsichtig genug war. Aber das rückte in den Hintergrund, als ihm wieder Tengaar ins Bewusstsein kam, zu deren Rettung er gerade unterwegs war. Er hob den Fuß, was ihm einiges an Anstrengung abverlangte, als er sich gegen die Schwerkraft beugte. Einen kurzen, ganz kurzen, Augenblick lang befürchtete er, jeden Halt zu verlieren und in die Spiralen hinabzufallen, aber das geschah nicht. Auch nicht, als er den anderen Fuß zu einem zweiten Schritt nachzog. Nun wesentlich selbstsicherer, begann er zu rennen, anfangs nur schwerlich, so dass es aussah als würde jemand seine Zeit verlangsamen, aber er kümmerte sich nicht darum, sondern lief einfach weiter. Der Weg schlug einen Bogen, kurzzeitig lief er damit wieder richtig herum, nur um wenige Meter weiter erneut kopfüber zu verlaufen. Er führte vorbei an schier endlos verlaufende Spiralen, Fenstern, hinter denen lediglich ein Schachbrett-Muster zu erkennen war und einsam vor sich im Nichts hinwippenden Schaukelstühlen, auf denen undeutlich ein Schatten zu erkennen war, wenn man genauer hinsah. Doch Hix sah nicht hin. Sein Blick galt einzig und allein dem Boden unter seinen Füßen, damit er diesen nicht möglicherweise verlor, sobald er einen falschen Schritt tat. Aber noch während er sich so auf seinen Weg konzentrierte, hörte er plötzlich eine Stimme, die aus weiter Ferne an seine Ohren zu dringen schien. „Warum strengst du dich so sehr an? Hast du nicht selbst gedacht, dass sie jemand Besseren als dich finden sollte?“ „Nicht solange ich lebe!“, erwiderte er wütend, wenngleich durch das Rennen ein wenig atemlos. Er war sich nicht sicher, ob seine Stimme den anderen erreichte, aber offenbar tat sie es, denn Grimare – er glaubte jedenfalls, dass es sich um diesen handelte – sprach weiter: „All deine Anstrengungen sind vergebens! Du wirst niemals gut genug für sie sein, wenn du ihr dein wahres Ich aus Furcht vorenthältst!“ Diesmal erwiderte er nichts darauf und konzentrierte sich einzig darauf, zu laufen. „Nur wer den Mut hat, sich zu offenbaren, ist fähig, zu lieben! Du dagegen liebst sie nicht, du willst sie nur besitzen!“ Hix knurrte leise. Er liebte sie, er war sich sicher, dass er es tat. Was war so falsch daran, sie besitzen zu wollen? Der einzige zu sein, der ihrer Aufmerksamkeit ausgesetzt war? „Du tust hier doch gerade dasselbe!“, erwiderte er wütend. „Du versteckst sie vor der Welt!“ Grimare lachte amüsiert, es hallte von so vielen verschiedenen Seiten wieder, dass es Hix' Ohren klingen ließ und er sich diese am Liebsten zugehalten hätte. Stattdessen knirschte er mit den Zähnen, so stark, dass sein Kiefer schmerzte, aber es half ihm, den Lärm zu ertragen. „Du hast es erfasst“, sagte Grimare schließlich. „Aber im Prinzip ist es doch egal, ob du oder ich sie verstecken.“ Hix rannte weiter, versuchte, sich die Anstrengung nicht einmal anmerken zu lassen, aber seine Lungen brannten bereits heftig, während die Übelkeit in ihm anstieg. Zu allem Überfluss begann sich die Wand zu wölben, etwas fiel in Tropfen auf den Weg und formte sich rasch zu einem Schleimmonster. Es waren insgesamt vier Stück, aber dennoch hielt Hix nicht inne. In einer fließenden Bewegung zog er sein Schwert und ließ die Klinge auf jedes einzelne dieser Wesen niedersausen. Mit nur einem einzigen Hieb zerteilte er sie, die Entschlossenheit trieb ihn voran, verlieh ihm zusätzliche Kraft, die er dringend benötigte. „Nicht schlecht.“ Grimares Stimme klang tatsächlich anerkennend. „Ich sehe, du kommst deinem wahren Ich, dem Kämpfer in dir, näher.“ Dann aber geschah etwas, was Hix tatsächlich für einen Moment innehalten ließ – Tengaars Stimme erklang: „Hix, es ist in Ordnung. Du musst nicht kommen, um mich zu holen, du brauchst mich nicht mehr. Ich werde hier bleiben.“ Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er das, was er da hörte und ihm war als würde sein Herz aussetzen. Seine Beine schmerzten vom Rennen, das Stechen in seiner Seite war fast unerträglich, doch er wusste und diese Worte wollten ihn dazu verleiten, sich hinzulegen, um sich auszuruhen, ehe er den Rückweg antrat. Aber dann rief er sich selbst wieder zur Ordnung. Er konnte nicht aufgeben, besonders nicht hier. „Lass die schmutzigen Tricks, Grimare!“ Wieder hörte er dieses schaurige Lachen, dann erklang erneut Grimares Stimme: „Du bist nicht darauf hereingefallen, Respekt. Dein Egoismus ist also so stark, dass du sogar ihre Worte und Bitten ignorierst?“ „Das hat nichts damit zu tun!“, erwiderte Hix hitzig. „Ich weiß einfach, dass sie niemals freiwillig hier bleiben würde! Ihr geht das Dorf über alles!“ „So gut kennst du sie also?“ Grimare klang amüsiert, fast schon zufrieden, auch wenn Hix sich nicht erklären konnte, weswegen er so fühlen sollte. Weitere Tropfen fielen auf den Weg, was den Kriegerlehrling dazu veranlasste, weiterzurennen und die neuen Schleimmonster ebenfalls mit jeweils einem Schwertstreich zu töten. So weit er blicken konnte war kein Ende des Weges zu sehen, dafür erklang wieder Grimares Stimme: „Weißt du denn, was Tengaar fühlt?“ „Nein, verdammt!“, knurrte Hix. „Woher denn!?“ „Dadurch, dass du dich ihr nicht geöffnet hast, nahmst du ihr gleichzeitig die Möglichkeit, sich dir zu öffnen“, sagte Grimare darauf. „Wie könnt ihr beide da von Liebe sprechen?“ Hix sagte nichts darauf, aber innerlich schwort er sich, bei der erstbesten Gelegenheit mit Tengaar zu sprechen, über alles, was ihm auf dem Herzen lag und im Gegenzug von ihr zu erfahren, was in ihrem Innersten vor sich ging. Er wollte alles wissen und er wollte, dass sie alles wusste, selbst auf die Gefahr hin, dass sie ihn danach fallenließ und er nicht mehr bei ihr sein könnte. Kaum war diese Entschlossenheit in ihm herangereift, veränderte sich alles um ihn herum und im nächsten Moment befand er sich an einem anderen Ort. Er stand wieder genau so, wie es sich gehörte, unter sich war kein Weg mehr, dafür einen fingerbreit Wasser unter seinen Füßen. Die Spiralen waren fort, aber noch immer war das schachbrettartige Muster durch Fenster hindurch zu sehen. Die Muster bewegten sich sacht, wellenförmig geradezu als würden sie sich im Wasser befinden. Doch Hix besaß keinen Blick dafür, er sah stets auf Tengaar, die an einen abstrakten Baum gebunden war, dessen schwarze Äste sich auf unnatürlich verschlungene Art und Weise gen Himmel reckten. Sie schien nicht bei Bewusstsein zu sein, Grimare neben ihr allerdings schon. „Du bist so weit gekommen“, sagte der Maskierte mit einer Spur Anerkennung in der Stimme. „Deine Entschlossenheit ist bewundernswert.“ „Lass Tengaar gehen!“, verlangte Hix und deutete mit der Klinge auf seinen Gegenüber. Allerdings betrachtete er dies selbst als unnütz, es diente nur der Dramatik des Moments. Tief in seinem Inneren wusste er auch, dass dieser Kampf nicht mit Waffengewalt zu bestreiten war. Wer immer Grimare war, er kämpfte auf andere Arten. „Aber dein Egoismus steht der Entschlossenheit in nichts nach.“ „Wie oft denn noch!? Ich bin nicht egoistisch!“ Grimares Lippen kräuselten sich zu einem amüsierten Lächeln ob dieser Worte. „Ach wirklich?“ Flammen schossen plötzlich unter Tengaar und dem Baum empor und hüllten beides ein. Die bewusstlose Tengaar erwachte schlagartig, sie wand sich, während sie aus Leibeskräften zu schreien begann. „Lass das!“, verlangte Hix sofort. „Hör auf damit!“ „Wärst du denn bereit, ihren Schmerz zu tragen?“, fragte Grimare. Er wartete auf keine Antwort, nahm diese bereits als gegeben und ließ die Flammen um den Baum herum erlöschen, um sie dann unter Hix wieder zu entfachen. Schmerzen, die schlimmer waren als alles, was er jemals zuvor erlebt hatte, fuhren in Wellen durch seinen ganzen Körper, ließen ihn in die Knie gehen und in ihm den Wunsch entstehen, einfach ohnmächtig werden zu können. Aber statt sich dem hinzugeben, kämpfte er mit aller Macht dagegen an, zwang sich sogar, den Blick zu heben, um dabei in die gelben Augen der Maske sehen zu können. Tatsächlich glaubte er, dass der Ausdruck der Maske sich änderte, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Der Ausdruck wurde zu einem mitleidigen, mitfühlenden, der denselben Schmerz wie Hix durchzumachen schien, er sah aus wie jemand, der bereute, ihm das antun zu müssen. Und in diesem Moment, in dem ihm das bewusst wurde, reifte eine Ahnung in ihm heran, ein Verdacht, was das alles hier betraf, er müsste ihn nur noch bestätigen. Er fühlte sich als würden Stunden vergehen, bis die Flammen erlöschten und der Schmerz rasch versiegte. Er atmete schwer, immer wieder sanken schwarze Schleier vor seine Augen, doch er war nicht gewillt, aufzugeben. Nicht hier, nicht jetzt! „Deine Entschlossenheit beeindruckt mich“, sagte Grimare. „Du bist für sie hierher gekommen und wärst sogar bereit, die Schmerzen zu ertragen. Vielleicht bist du ja wirklich zur Einsicht gekommen...“ Hix schwieg, noch immer rang er angestrengt nach Atem. „Dann hast du nur noch einen Test vor dir. Nimm mir die Maske ab.“ Der Kriegerlehrling stutzte einen Moment. „Was?“ „Nach dieser kleinen Qual möchtest du doch sicher das Gesicht des Mannes sehen, der euch beiden dem ausgesetzt hat, oder?“ Das war die Gelegenheit, um seinen Verdacht entweder zu bestätigen oder endgültig zu verwerfen. Hix richtete sich auf und ging mit schweren Schritten auf Grimare zu. Er zog das Schwert hinter sich her, die Spitze schleifte dabei auf dem Boden, im Moment kam er gar nicht auf die Idee, es einfach wieder einzustecken. Vor Grimare blieb er wieder stehen. Noch immer sah er dem Maskierten in die Augen, die ihn so leblos anstarrten als wäre er bereits gestorben ohne dass einer von ihnen es gemerkt hätte. Ganz langsam hob er die Hand und dieses Mal schaffte er es, die Maske zu berühren, doch an diesem Punkt hielt er noch einmal inne. Grimare machte keine Anstalten, sich zu rühren, er würde ihn weder abwehren, noch ausweichen, das wusste Hix genau. In nur einer Bewegung würde er dem Monster unter der Maske eines Monsters gegenüberstehen und dann würde er wissen, ob er recht hatte oder nicht. Seine Neugier ließ ihn schließlich diese eine Bewegung vollführen, gleichzeitig trat er einen Schritt zurück und betrachtete Grimares wahres Gesicht. Er konnte nicht anders als zu lächeln, als er feststellte, dass sein Verdacht richtig gewesen war. Ihm gegenüber stand plötzlich nicht mehr ein furchteinflößender Mann, der sich hinter dem Gesicht eines Monsters verbarg, sondern sein Ebenbild in Fleisch und Blut, das wie ein Spiegelbild ebenfalls zu lächeln begann. „Ich denke, du hast verstanden.“ Grimares Stimme klang nun genau wie seine, was erklärte, warum sie ihm zuvor so vertraut gewesen war. Hix sah zu Tengaar hinüber, doch sie war nicht mehr da. Dort, wo sie zuvor gewesen war, befand sich eine nackte, haarlose, aber dafür lebensgroße Marionette. Er blickte wieder Grimare an und nickte. „Ich denke schon. Du bist das Ich, das ich unterdrückt habe, aus Furcht, von Tengaar verlassen zu werden.“ „Das ist richtig. Ich bin erstaunt, dass du es selbst herausgefunden hast.“ Hix' Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Ab sofort werde ich dich nicht mehr unterdrücken, du bist ein Teil von mir und verdienst es auch, dass ich dich dementsprechend in meinem Leben einbinde. Und ich denke auch nicht mehr, dass Tengaar mich deswegen verlassen würde. Sie wäre mit Sicherheit stolz auf mich, oder?“ Grimare nickte. „Das glaube ich auch.“ Wenn er sich vorstellte, wie glücklich Tengaar sein würde – er zweifelte nicht daran, dass sie es sein würde – dann konnte er es sogar kaum erwarten, ihr den wahren Hix zu zeigen. Er müsste ihr erklären, warum er so lange damit gewartet hatte, aber das könnte er schaffen und dann die Belohnung dafür ernten – und diese bestand aus seiner Hochzeit mit ihr. Beide lächelten sich noch einmal zu, dann schien aber zumindest Grimare bewusst zu werden, dass es Zeit wurde, zu gehen. „Ich muss dich jetzt zurückschicken. Vergiss nicht, was dir bewusst geworden ist.“ Hix blieb keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen, denn seine Augen wurden plötzlich von einem gleißend hellen Licht überschattet, seine Schmerzen schwanden völlig, das Gewicht des Schwertes verließ seine Hand. Er schloss die Augen und wartete auf das, was kommen würde. Epilog: Wieder am Anfang ------------------------ „Hix?“ Er blinzelte verwirrt, damit vor seinen Augen wieder alles klarer wurde. Tengaar blickte ihn besorgt an, er musste eine Weile weggetreten sein. Er erinnerte sich an die Geschehnisse mit Grimare, aber je klarer er wurde, desto mehr kam ihm ins Bewusstsein, dass er sich in Radat befand. Tengaar und er standen am Bootssteg und sie wartete offenbar immer noch auf seine Entscheidung, was sie nun tun sollten. War das alles nur ein Tagtraum? Nein, die Schmerzen, die er gespürt hatte, waren zu real gewesen, es musste eine andere Erklärung dafür geben – aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sein Blick wurde von etwas anderem angezogen, er erkannte die Wägen und die drei davorstehenden Personen, die sich gerade berieten. Doch noch bevor Tengaars Aufmerksamkeit sich ebenfalls ihnen zuwenden konnte, ergriff er kurzentschlossen ihre Arme. Sie blinzelte verwirrt über sein Verhalten. „Was ist denn jetzt los, Hix?“ „Lass uns ins Gasthaus gehen, Tengaar.“ Ihre Verwirrung wurde immer größer, sie neigte den Kopf. Um sich zu erklären, fuhr er fort: „Wir können morgen ein Boot nehmen. Heute sollten wir über viele Dinge sprechen, über die wir bislang nicht gesprochen haben.“ Er konnte Furcht in ihren Augen aufflackern sehen, weswegen er hastig lächelte. „Keine Sorge, es ist nichts Schlimmes. Ich will nur, dass wir beide das wahre Ich des anderen kennen, bevor wir heiraten.“ Ihr Gesicht hellte sich sofort auf, als sie das hörte. Sie nickte zustimmend und begleitete ihn ohne weitere Worte in Richtung des Gasthauses. Er bemerkte, dass die drei Schausteller ihnen nachblickten, in ihren Augen sah er keinen Schimmer von Wiedererkennen, sie kannten die beiden Bewohner aus dem Dorf der Krieger nicht und wandten sich dann nach kurzer Zeit wieder ihrem eigenen Problem zu. Wieder im Stadtkern angekommen, blickte Hix in die Richtung, wo Grimare gestanden hatte. Dieses Mal war dort niemand zu sehen, die Lücke blieb leer, ohne dass dort jemand stand, der nicht so recht hineinzupassen schien. Im Gasthaus angekommen, setzte er sich mit Tengaar auf das Bett. Sie blickte ihn erwartungsvoll an, während er noch darüber nachdachte, wie er anfangen sollte. Doch schließlich fand er einen Anfang, der ihm gut genug erschien und er öffnete den Mund. „Ich möchte, dass du weißt...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)