Geteiltes Leid von galaxys-child (Seto und Mokuba) ================================================================================ Kapitel 6: Geteiltes Leid ------------------------- Wir setzten uns auf das Sofa im Wohnzimmer und hörten den Polizeibeamten aufmerksam zu. Vergessen waren der Hunger und die Eierkuchen. Jetzt war nur noch Papa wichtig. Während seiner Ausführungen unterbrach sich der Polizist mehrmals mit einem „Es tut mir leid.“. Allgemein schien er sehr betroffen und ich wartete nervös darauf, zu erfahren, was denn nun eigentlich passiert war. Ich befürchtete Schreckliches. Anscheinend war Papa etwas Schlimmes widerfahren. Ich konnte meine Unruhe nicht verbergen und zappelte auf der Couch hin und her. In einem Augenblick wollte ich aufspringen, um nicht hören zu müssen, was der Polizist zu sagen hatte, im nächsten entschied ich mich dazu, sitzen zu bleiben, um Mokuba Kraft zu spenden. Denn er schien noch verstörter als ich und hielt meinen Arm fest umklammert. Der Polizist erklärte, dass sich nicht weit von der Firma, in der Papa arbeitete, ein Autounfall ereignet hatte. Jemand wäre einem plötzlich auftauchenden Kind ausgewichen und dabei in die nächstgelegene Häuserwand gerast. Der Autofahrer war sofort tot. Anhand der Papiere, die er bei sich trug, ließ er sich jedoch identifizieren. Daraufhin wäre er, der Polizist, nachdem er an der Unfallstelle alles Notwendige zur Sicherung und Bergung des Toten geregelt hatte, hierher gefahren, um die Angehörigen über das Unglück zu informieren. Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. Papa, unser Papa, sollte durch einen Autounfall ums Leben gekommen sein? „NEEINN, DAS IST NICHT WAHR!“ schrie ich und wollte zur Eingangstür rennen. „Ich muss zu ihm! Wo war der Unfall! Er kann doch nicht…!“ Ich hatte bereits den Flur erreicht, wurde aber von einer Hand zurückgehalten. „Seto.“, sagte eine Stimme und es war unverkennbar die des Polizisten, der mir gefolgt war. Sanft legte er die Hand auf meine Schulter und sah mich an. „Es tut mir leid. Aber du kannst nichts mehr für ihn tun.“ Meine Augen brannten und ich spürte wie Sturzbäche von Tränen mein Gesicht hinunterliefen. In meiner Verzweiflung packte ich den Arm des Polizisten und drückte diesen unsanft von mir weg. Er sollte mich gefälligst loslassen! Dann rannte ich die Treppe hinauf zu meinem Zimmer. Mokuba, der mittlerweile ebenfalls von der Couch aufgestanden war und fragend im Flur stand, beachtete ich schon gar nicht mehr. Ich knallte die Tür zu und lehnte mich von innen dagegen. Ich wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen. Nur noch allein sein. Mein Blick fiel auf meinen Schreibtisch, auf dem die drei Eintrittskarten für das Spaßbad lagen, die ich von Papa zum Geburtstag bekommen hatte. In letzter Zeit war sehr viel los gewesen. Papa hatte diese neue Arbeitsstelle, dann hatten Vorbereitungen für Mokubas Geburtstag getroffen werden und ich selbst hatte mich auf die Klausuren am Schuljahresende vorbereiten müssen. Es war keine Möglichkeit gewesen, die Eintrittskarten einzulösen. Die Tränen flossen unentwegt meine Wangen hinunter und ich schluchzte laut. Nie wieder würde sich jetzt die Zeit dafür finden. Ich würde nie wieder mit Papa schwimmen gehen können. Er würde nie mehr bei uns sein. Ich schmiss mich aufs Bett und weinte die ganze Nacht. Kurze Zeit später wurden Mokuba und ich in ein Waisenhaus gebracht. Dass sich unsere Onkel und Tanten unserer annehmen würden, daran verschwendete ich keinen Gedanken. Sie waren allesamt habgierige, unfreundliche Leute und Papa einfach nicht wohlhabend genug gewesen, dass eine Adoption und Investierung in eine Ausbildung sich lohnen würde. So wurde der Besitz meines Vaters, seine Ersparnisse (es waren nicht viel), unter ihnen aufgeteilt und die Wohnung sowie die Möbel verkauft. Mokuba und ich wurden schon einen Tag später von einem Auto abgeholt und in einer Straße abgesetzt, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Wir stiegen aus und folgten, jeder mit einem Koffer in der Hand und einem Rucksack auf dem Rücken, einem älteren Herrn mit grauem Anzug. Keiner sprach ein Wort. Was gab es auch zu sagen? Neben mir hörte ich hin und wieder das leise Schluchzen meines Bruders. Oh, Mokuba. Mir war auch nach Weinen zumute, aber ich wusste, dass ich jetzt stark sein musste. Wut stieg in mir hoch, als ich an unsere Verwandten denken musste, die so rücksichtslos alles, was Papa gehörte, für sich beanspruchten und uns einfach vor die Tür setzten. Ich schlang einen Arm um meinen Bruder und presste die Lippen fest aufeinander. Den Kopf vielleicht etwas zu hoch gehalten, lief ich mit einem festen Schritt, der über meinen inneren Kummer hinwegtäuschen sollten, die Straße hinunter und versuchte mich auf das zu konzentrieren, was vor uns lag. Ein paar Minuten später blieben wir vor einem großen eisernen Tor stehen. Der ältere Herr im Anzug drehte sich zu uns um. „So, ihr beiden, nun sind wir da. Das ist das Waisenhaus Sonnenschein.“ Ich blickte durch die alten, verrosteten Stangen des Tores hindurch und sah dahinter ein nicht minder altes Gebäude, auf dem in vergilbten Buchstaben der Schriftzug Sonnenschein gemalt war. Davor fand sich ein kleiner Spielplatz, auf dem mehrere Dutzend Kinder spielten. Laute Gespräche und Gelächter drangen an meine Ohren. Das war also das Schicksal, was uns erwartete. Hier sollten wir von nun an Leben. Erneut schluchzte Mokuba neben mir. Ich sah, wie ihm kleine Tränen die Wangen hinunter liefen. Noch immer hatte ich fest meinen Arm um seine Schultern gelegt, um ihn zu trösten. Jetzt war ich der Ältere unserer kleinen Familie und Mokuba war der einzige, den ich noch hatte. In diesem Augenblick war ich froh, sehr froh, nicht alles alleine ertragen zu müssen, sondern jemanden zu haben, der genauso fühlte wie ich. Ich war froh, einen Bruder zu haben, mit dem ich all mein Leid teilen konnte. „Herzlichen Glückwunsch, Mokuba.“, sagte ich am nächsten Tag zu meinem Bruder und drückte ihm den kleinen hölzernen Soldaten in die Hand. „Entschuldige, aber ich hatte keine Zeit, es einzupacken.“ Wir waren beide im Schlafsaal, in dem sich mindestens ein Dutzend Betten befanden, die Kindern verschiedenen Alters gehörten. Am gestrigen Abend war es ziemlich laut und ungestüm zugegangen und es hatte lange dauert bis in den Betten endlich Ruhe eingekehrt war. Nun waren alle anderen im Hof und spielten und der gesamte Schlafsaal war von einer ungewöhnlichen Stille erfüllt. Mokuba und ich nutzten die Zeit, um endlich Mal für uns allein zu sein. „Das macht doch nichts.“, entgegnete Mokuba und betrachtete mit leuchtenden Augen die kleine handgeschnitzte Figur. „Hast du die selbst gemacht?“ Ich nickte. „Die ist super, Seto!“ und dann fiel er mir freudig um den Hals. Ich musste ihn fast mit Gewalt von mir lösen. „So warte doch, Mokuba. Ich habe doch noch etwas für dich.“, ich kramte in meiner Tasche und brachte ein in buntem Papier eingewickeltes Geschenk zum Vorschein. „Sieh mal. Das ist von Papa.“, meine Stimme wurde zunehmend trauriger als ich an ihn denken musste. „Er…er hatte es schon besorgt…schon bevor er…“, ich konnte den Satz nicht zu Ende führen und sank kraftlos zu Boden. „Seto.“, sagte Mokuba und drückte mich diesmal weniger ekstatisch, dafür aber umso inniger und fester an sich. „Danke.“, schluchzte er und vergrub seinen Kopf in meine Kleidung. Diesmal ließ auch ich es zu, dass ich weinte. „Wir werden das schon durchstehen, nicht wahr?“, sagte ich, während ich seine Umarmung erwiderte. „Jaa…“, schluchzte Mokuba. „Wir müssen, aber wir sind nicht allein. Du und ich, wir bleiben immer zusammen.“, sagte ich und gab ihm Papas Geschenk in die Hand, „Immer zusammen…“, wiederholte ich, „hörst du? Auch wenn Mama und Papa…“ „Jaa…“, schluchzte Mokuba abermals und wickelte mit zitternden Fingern das Geschenk aus. Zum Vorschein kam ein in einem hölzernen Bilderrahmen eingefasstes Foto. Es stammte von dem Tag, an dem Mokuba geboren wurde und zeigte Mama im Bett des Krankenhausees mit einem schlafenden Baby in den Armen und wie Papa und ich auf jeweils einer Seite des Bettes saßen und lächelten. Es war eine kostbare Erinnerung an Menschen, die nun nicht mehr bei uns waren, die aber für immer in unseren Herzen weiterleben würden. Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)