Retinnio von Hyoura (Klingend) ================================================================================ Kapitel 1: Begleitung --------------------- „Nein, verdammt noch mal, ich brauche KEINE Eskorte!“ Ruhig zog Largo Lloyd an seiner Zigarre und wickelte sich den Mantel enger um den frierenden Körper. Draußen fiel Schnee in sanften Flocken gegen die leicht beschlagenen Fensterscheiben. Auf den Straßen stolzierte allerlei Leute in warmen Pelzmäntel umher. Nicht gerade ein Spiegelbild der seinigen Erscheinung. Mit einem Seufzer blickte Largo an seiner eigenen Kleidung herunter. Gerade auf seinem letzten Auftrag hatte ein Gaicchu ihn in einem Moment der Unvorsichtigkeit erwischt und in einen Schutthaufen geschmissen. Der Schotter hatte dem Stoff und Leder alles andere als gut getan und nun fuhr der kalte Wind durch alle möglichen Risse und Schnitte – kurz gesagt, er fror in dem nicht geheizten Wartezimmer erbärmlich. Er war doch gerade erst von einem Auftrag zurückgekommen, und hatte gerade seine Siebensachen nach Hause geschleppt, da war er schon wieder einberufen worden. Zurzeit war im Bienenstock absolute Hochsaison, da eine Grippeepidimie circa die Hälfte aller Bees schniefend und niesend in den Krankenflügel oder das eigene, warme Zuhause getrieben hatte. Unglücklicherweise hatte die Epidemie nicht annähernd so stark bei den Briefeschreibern eingeschlagen und somit wuchs der Berg der Arbeit, den die gesunden Bees abarbeiten durften, mit jedem neuen Krankheitsfall in die Höhe. Normalerweise macht Largo eine derartige Belastung nichts aus, er war ja schließlich nicht zum Faulenzen Bee geworden. Aber wenn er vor dem Einberufen zum nächsten Auftrag nicht einmal genug Zeit hatte, sich einen neuen Wintermantel zu zulegen, trug das nicht unbedingt zur Steigerung seiner Laune bei. „Trotzdem ist das Gebiet viel zu gefährlich-“ „Wollen Sie jetzt sagen, dass ich zu blöd bin, auf mich selbst aufzupassen?“ „Nun, so meinte ich das natürlich nicht...“ Ein ungläubiges Schnauben ertönte hinter der Tür. Lloys grinste still in sich hinein. Er kannte den Verursacher des Schnaubers nur zu gut. Dr. Thunderland Jr., das junge Genie in der Forschungsabteilung mit einer merkwürdigen Vorliebe für das Sezieren von Tieren.. Ein Hobby, wegen dem fast die gesamte Belegschaft einen sehr weiten Bogen um ihn machte. Der zuständige Auftragsvergeber schien auch nicht so angetan von dem jungen Doktor zu sein, wenn man nach seinem tiefen Seufzer ging. „Dr. Thunderland, es wäre trotzdem besser, wenn Sie mit einer Begleitperson reisen würden.“ „Da die Hälfte der einen 'Belegschaft' krank ist, und die andere lieber freiwillig das gesamte Archiv der Lost Letters abbaut, als mit mir zu reisen, ist die Auswahl vermutlich wahnsinnig groß.“ „Wir glauben, es gebe da schon jemanden, mit dem eine Zusammenarbeit möglich wäre.“ „Natürlich.“ Der Sarkasmus troff nur so aus dem einen Wort und Largo hatte auf einmal einen ganz ganz bösen Verdacht, wer dieser jemand sein sollte. „Mister Lloyd, wenn Sie bitte hereinkommen würden?“, rief die Stimme des Verwalters von innen. Wider besseren Wissens, nämlich dass er vermutlich genau in die andere Richtung gehen sollte und sich endlich ein Stück warme Kleidung zulegte, stand Largo auf, schritt zur Tür und drehte den abgewetzten Messingknauf um. Die Tür schwand nach innen auf und offenbarte einen kleinen Raum mit einem passenden kleinen Fenster, durch das die letzten paar Wintersonnenstrahlen versuchten, wenigstens etwas Licht hinein zu tragen. Zu seinem Enttäuschen stellte Largo fest, dass es in diesem Raum genauso kalt war wie im Wartezimmer. Das Zimmer selber wurde von einem sperrigen, großen Schreibtisch beherrscht, hinter dem ein kleiner, sehr nervös aussehender Mann mit einer blankpolierten Halbglatze aus grauen Stoppelhaaren saß. Vor dem Schreibtisch hatte der berühmt-berüchtigte Dr. Thunderland einen der beiden verfügbaren Stühle belegt. Die Hände in den Schoß gelegt und das linke Bein überschlagen begrüßte er Largo nur mit einem leichten Nicken und wandte sich dann wieder dem Verwalter zu, den Largo nun als einen gewissen Herrn Moritz erkannte. Dieser räusperte sich. „Herr Lloyd, wenn Sie sich setzen möchten...?“ Er deutete etwas unsicher auf den freien Stuhl. „Danke, ich stehe lieber.“ „Ja, ja, natürlich.“ Herr Moritz förderte ein leicht angegrautes Stück Tuch aus seiner ebenfalls angegrauten Jacke zutage und tupfte sich damit die Stirn, auf welcher trotz der Temperaturen unter Null einige Schweißtropfen standen. „Nun, Herr Lloyd, zusätzlich zu ihrem Auftrag gibt es hier ein kleines Problem, bei dem wir ihre Hilfe als Bee gebrauchen könnten. Es geht um Doktor Thunderland, welcher für eine seiner Forschungsreisen eine Eskorte braucht-“ „-da der werte Doktor Thunderland nicht auf sich selbst aufpassen kann“, äffte die Person in Frage den Verwalter nach. „Wie dem auch sei, da wir zurzeit knapp an Bees sind, haben wir Ihnen einen Auftrag zugeteilt, der genau zum Zielgebiet von Herrn Thunderland führt. Alle weiteren Informationen befinden sich hier in dieser Akte.“ Er drückte Lloyd eine Kartonmappe in die Hand, aus der bereits einige Zettel herausquollen. „Wenn Sie mich dann entschuldigen würden, ich muss mich leider verabschieden, schönen Tag noch, die Herren. Dr. Thunderland kann ihnen alles weitere erklären, Mr. Lloyd.“ Schneller, als er es von dem kleinen Mann erwartet hätte, hatte sich dieser seine Tasche geschnappt und war aus der Tür entflohen. Vor allem schnell genug um jedweden Widersprüchen Thunderlands oder Lloyds zu entkommen. „Da hatte es jemand aber eilig“, bemerkte Dr. Thunderland amüsiert. Largo blätterte derweil die Akte durch. „Heban?“, murmelte er mehr zu sich als zu jemandem anderen, als er den Namen des Zielortes las. Thunderland antwortete ihm trotzdem. „Ganz schön seltener Ort für Brieflieferungen. Und verdammt kalt dort zu dieser Jahreszeit – schon mal über eine neue Jacke nachgedacht?“ „Bin ich noch nicht zu gekommen.“ Stirnrunzelnd betrachtete er die Karte. Heban lag inmitten eines Gebirgsmassiv und galt als einer der wenigen Orte, die trotz der durch die Höhenlage bedingten unwirtlichen Bedingungen trotzdem existierten. Für einen Bee waren solche Dörfer nicht unbedingt das beliebteste Ausflugsziel, denn sie bedeuteten Fußmärsche durch die Wildnis, da es dort so gut wie gar keine Infrastruktur gab. Die Briefe lagen direkt in der Akte bei. Insgesamt drei Stück, alle ordentlich frankiert und mit mehr oder weniger krakeligen Adressen versehen. Müde rieb er sich die Schläfen. Der Weg über das Gebirge würde anstrengend werden, dank der Schneestürme die dort um diese Jahreszeit tobten. „Habt ihr schon eine Kutsche gemietet?“ „Alles schon erledigt. Bringt uns aber nur bis zu einer Raststelle ungefähr 15 Kilometer vor Heban. Der Rest wird ein Gewaltmarsch.“ Der Bee nickte abwesend und fischte in seinem zerschlissenen Mantel nach der Zigarettenschachtel plus dazugehörigem Feuerzeug, während er die Mappe weiter durchblätterte. Als er endlich gefunden hatte, was er gesucht hatte, legte er den Papierkram beiseite und steckte sich die Zigarette in den einen Mundwinkel. „Stört's dich?“, fragte er Thunderland, mehr aus Höflichkeit als aus wirklichem Interesse. Er würde sich den Glimmstängel sowieso anzünden. Das hatte er jetzt dringend nötig. Der grinste ihn an. „Kommt drauf an... wenn du mir auch eine gibst, dann nicht.“ Largo überlegte kurz, schmiss ihm dann aber trotzdem eine mit einem gemurmelten 'Schnorrer' zu. Mit einem Knipsen sprang das Feuerzeug an und Largo zündete sich und Thunderland die Zigarette an. „Denkst du nicht, dass ein rauchender Arzt nicht unbedingt das beste Vorbild abgibt?“, fragte er leicht amüsiert. Besagter Arzt schnaubte nur kurz. „Nach dem Gespräch mit dem lieben Herren Verwalter war das schwer überfällig. Auch wenn ich ansonsten eher wenig rauche. Es ist ein unpraktisches Laster.“ „Wie du meinst. Und was ist jetzt mit dieser Forschungsreise von der Herr Moritz geredet hat?“ Dr. Thunderland zuckte nonchalant mit den Schultern. „Einige Todesfälle durch Erkrankungen. Nach den Informationen, die mir bisher zugekommen sind, scheint es sich um eine mutierte Form von Parainfluenzaviren zu handeln.“ Largo blickte ihn stumm an. Thunderland seufzte. „Viren, die unter anderem für Erkältungen verantwortlich sind. Sie führen normalerweise zu geringen Schwellungen im Halsbereich durch Reizung, was wiederum zu Heiserkeit und Schleimbildung führt. Eigentlich sehr harmlos und nichts, woran man sterben würde.“ Er nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette. „Die lieben mutierten Verwandten sind dagegen nicht so nett. Anstatt im Hals, lagern sie sich in der Lunge an und sorgen dafür, dass die Lungenbläschen nicht mehr richtig funktionieren, indem sie sie nach und nach durch Ablagerungen zu stopfen. Die Erkrankten sterben also an Ersticken.“ „Handelst du dann im Auftrag der Hauptstadt, oder über wen geht das?“ „Hauptstadt, wer denn sonst?“ „Es ist unüblich für die Leute dort, Sorge in dem zu nehmen, was in den Ringen passiert.“ Thunderland lachte bitter. „Da hast du wohl recht. Aber der letzte Todesfall war keinen Kilometer von der nördlichen Brücke entfernt.“ „Angst vor einer Epidemie also?“ Thunderland nickte. „Das dortige Gebiet ist zum Glück nicht so stark besiedelt und Erkrankte werden unter Quarantäne gehalten. Die Viren selber sind durch die Luft übertragbar, wenn wir dort ankommen, heißt es also Mundschutz anlegen. Und wo wir gerade bei Accessoires sind: Wolltest du dir nicht eine Jacke kaufen?“ Largo gab ein zustimmendes Geräusch von sich und blickte beiläufig auf die Uhr. Schon drei durch. Da sie vermutlich am nächsten Tag bereits früh aufbrechen mussten, würde nicht unbedingt viel Zeit zum Kraft holen bleiben. „Dann solltest du dich aber beeilen, die Kutsche fährt in zwei Stunden.“ „WAS?!“ Kapitel 2: Kutschenfahrt ------------------------ Er hatte von dem Moment des Betretens des Büros das Gefühl gehabt, dass diese Angelegenheit nicht allzu erfreulich sein würde. Knapp vier Stunden später fand er heraus, dass sein Gefühl Unrecht hatte. Diese Mission war nicht unerfreulich – sie war geradezu beschissen, wenn man ihm die Wortwahl vergeben konnte. Keine Minute Schlaf, keinerlei Erholung, nicht mal ein Nickerchen auf der Couch war ihm gegönnt gewesen. Davon, dass er vielleicht etwas von seinem durch den vorigen Auftrag angenagten Herzens regenerien konnte, wollte er mal gar nicht reden. Durch die wenige ihm verbliebene Zeit war er nur mit Mühe und Not dazu gekommen, seine Sachen zusammen zu kramen, die er für die Mission brauchen würde. Die Zeit für den Kauf eines Mantels hatte fünf Minuten betragen, weshalb er nun zwar nicht unbedingt den hässlichsten Kartoffelsack erwischt hatte, dafür aber einen, der definitiv NICHT für Temperaturen der Höhenlagen, in denen er sich jetzt befand, gemacht war. Die Kutsche gehörte ebenfalls nicht zu den Luxusmodellen, war dementsprechend zugig und behielt kein Quäntchen Wärme innerhalb den dünnen Holzwänden, die regelmäßig erbebten und klapperten, wenn die Räder durch eines der vielen – sehr vielen – Löcher in der Straße fuhr. Das ständige Gelärme war zudem unerträglich. Largo hatte sich schon immer gerühmt, einiges zu ertragen, aber eine Fahrt mit diesem Vehikel war der reinste Horrortrip. Und er hatte noch gehofft, auf dem Weg zu ihrem ersten Stop etwas Schlaf nachzuholen. Das konnte er nun gründlich vergessen. Selbst wenn es nicht so laut gewesen wäre, dass schlimmste war immer noch die Kälte. Dünne Jacke, dünne Wände und dünne Schneedecken draußen auf dem zugefrorenen Boden passten nicht gut zusammen. Ihm war furchtbar kalt. Langsam bekam er das Gefühl, das, sollte die Kutsche weiterhin derartig stark wackeln, seine erfroren Gliedmaßen zerbrechen würden wie ungekochte Spaghetti. Im Stillen verfluchte er Thunderland, der ihm gegenüber saß und dem die Kälte anscheinend überhaupt nichts ausmachte. Dabei konnte er eigentlich nichts dafür, dass Largo so fror, aber es war immer gut in solchen Situationen, irgendjemanden zu haben, an dem man derartige Gedanken auslassen konnte – solange man sie nicht laut äußerte. Was Thunderland anging, stand Largo vor einem ziemlichen Rätsel. Der Mann und sein Ruf waren berühmt und überaus gefürchtet, obwohl er gerade mal 22 Jahre alt war, also nicht viel jünger als Largo selbst. Der Leichendoktor, so nannten ihn fast alle in und außerhalb des Bienenstocks, ein Mann, der Tierleichen in einem seiner vielen Säcke nur so in sein Labor schleppte und wenn man dem Gemunkel glauben schenken wollte, hatten einige von ihnen menschliche Formen. Largo schenkte derartigem Gerede in den allerseltensten Fällen Glauben, doch dass der Doktor nicht unbedingt der angenehmste Zeitgenosse war, dass hatte selbst er bis zu dem heutigen Tage angenommen, schon allein von den finsteren Blicken, die er die wenigen Male, die Largo ihn gesehen hatte, in die Menschenmassen warf und unschuldige Opfer mit ihnen aufspießte. Trotzdem, dass Gespräch das sie ihm Büro von Herrn Moritz geführt hatten, war angenehm erfrischend gewesen – auch wenn er sich nicht sicher war, ob er es Thunderland doch übel nehmen sollte, dass er ihm nicht früher von der zeitigen Abfahrt der Kutsche erzählt hatte. In einem vergeblichen Versuch sich etwas zu wärmen schlang er sich den Mantel enger um den Körper, während er Thunderland dabei zu sah, wie er sich durch Blätterberge an Notizen wühlte. Die bereits leicht abgewetztenn Blätter waren vollgeschmiert mit irgendwelchen willkürlich aussehenden Zeichnungen und für Largo unentzifferbaren Hieroglyphenn, die vermutlich Wörter darstellen sollten. Jedes Mal, wenn der Wagen einen besonders starken Ruck machte und die nicht direkt erkennbare Anordnung der Blätter durcheinander brachte, grummelte Largo ärgerlich. Nach einer Weile sah er genervt auf. „Deine Zähne klappern“, sagte er in einem Ton, als hätte der Bee das größte Verbrechen seit Menschengedenken begangen. „Ich hab Gerüchte gehört, nach denen so etwas passiert, wenn einem kalt ist“, schnappte Largo zurück. „Du hast doch diesen Stofffetzen von Mantel an. Weshalb ist dir dann kalt?“ „Das ist kein 'Stofffetzen'! Und mir wird nun einmal schnell kalt, klar?“ „Hättest du dir halt eben eine dickere Jacke kaufen müssen!“ „Das war nun mal die dickste, die ich in der Kürze auftreiben konnte!“ „Dann hättest du dir halt eben zwei kaufen müssen! Schon mal was vom Zwiebelschalenprinzip gehört?“ „Denkst du vielleicht, ich könnte mit Geld um mich schmeißen, oder was?“ Thunderland seufzte genervt und fing an, in seinem Reisebeutel rumzukramen. „Da.“ Er warf Largo einen zusammengeballten Batzen Stoff zu. „Ein Mantel?“, stellte Largo erstaunt fest, als er das biege Stück entheddert hatte. „Stell dir vor.“ Als Largo ihn weiterhin mit hochgezogener Augenbraue ansah, verschränkte der Doktor verteidigend die Arme vor der Brust. „Falls du es noch nicht begriffen hast, du sollst ihn anziehen.“ Largo beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen. Ihm war nämlich kalt. Entgegen seiner anfänglichen Skepsis war der Mantel ein ganz normaler Mantel und wärmte ausgesprochen gut. „Danke“, sagte er immer noch etwas verblüfft. „Tch.“ Thunderland drehte den Kopf zur Seite. „Das ist bloß wegen dem Zähneklappern“, erwiderte er, doch selbst für Largo erschien es doch eine eher schwache Ausrede. Es herrschte dichtes Schneegestöber, als die Kutsche zum Stehen kam. Largo stieg aus und hatte sofort die ganze Brille voller Schneeflocken. Ärgerlich nahm er sie ab, doch auch so blieb sein Sichtfeld dunkel bis auf einen verschwommen Lichtfleck irgendwo links von ihm. „Lloyd?“, hörte er jemanden über das Heulen des Windes rufen. Thunderland. „Hier!“, brüllte er zurück. Plötzlich wurde er brutal in die Seite gerammt und stolperte rücklings nach hinten. Für einen Moment kämpfte er um sein Gleichgewicht, verlor dann aber und fiel nach hinten in eine Schneewehe. Er bekam den Mund voller Schnee und hustete. Seine linke Seite fühlte sich an, als wäre er mit vollem Karacho gegen eine Backsteinmauer gelaufen. „Bist du das da in dem ganzen Schnee?“, kam es von oben. Eine Hand wurde ihm hingehalten und schlug ihm fast die Brille von der Nase, bevor er sie ergreifen konnte. Als Thunderland ihm mehr schlecht als recht aufgeholfen hatte, wandten sich beide in die Richtung des wärmeverheissenden Lichtes, welches aller Wahrscheinlichkeit die Zielherberge darstellte. Die kurze Strecke dorthin war beschwerlicher, als sie aussah und als sie endlich ankamen, waren beide vom durch den kniehohen Schnee stapfen außer Atem. Largos Brille beschlug in dem beheizten Haus sofort. Halb blind folgte er dem dunklen verschwommenen Fleck vor ihm, welcher hoffentlich Thunderland war, in Richtung Tresen. Langsam klarte seine Sicht auf und die Farbschlieren nahmen Konturen an. Der vor ihnen liegende Raum war mittelgroß und vollgestellt mit hölzernen Tischen und Stühlen. Die Wände bestanden aus grob behauenem Holz und die wenigen Fenster waren beschlagen und wirkten mehr wie schwarz angemalte Rechtecke ob der lichtlosen Dunkelheit des Schneegestürmes hinter ihnen. Außer ihnen befand sich niemand im Raum. „Nicht gerade viel Betrieb“, stellte Largo fest und die Treppe hoch, welche vom Erdgeschoss nach oben verlief. Auch dort oben brannte Licht, genau wie unten, unterstützt durch einen zudem Wärme spendenden Kamin. „Irgendwer wird schon hier sein“, sagte Thunderland. „Wir müssen sie nur finden.“ „Oben ist niemand.“ Largo sah von dem Gästebuch auf, dass er durchgeblättert hatte. Mit schweren Schritten stieg Thunderland die Holztreppe hinab. „Keine Sachen, keine Leute, kein Nichts.“ „Selbes hier.“ Mit einem Seufzer schlug Largo das Gästebuch zu. „Nicht mal darin steht irgendetwas. Nur weiße Seiten.“ Thunderland schnappte sich eine ihrer Taschen von einer Holzbank und setzte sich zu Largo an einen der Tische in Kaminnähe. „Nicht mal Kampfspuren. Oder irgendwelche Besitztümer. Oder Essen.“ Geschafft fuhr sich Largo durch die Haare. „Ich halte es für das Beste, wenn wir heute nacht abwechselnd Wache halten. Ich habe keine Lust, im Schlaf umgebracht zu werden.“ „Sofern dich das hier nicht vorher umbringt, stimme ich dir in allen Punkten zu.“ Thunderland stellte zwei metallene Konservendosen auf den Tisch, inklusive passender Metalllöffel. „Hühnersuppe“, las Largo von dem quietschgrünen Etikett. „Ich glaube nicht, dass ich ausgerechnet an Hühnersuppe sterben sollte.“ Thunderland ließ ein amüsiertes Glucksen vernehmen. „Als Mediziner sollte ich mich eigentlich weigern, so etwas an Lebewesen zu verteilen, aber die Leute beim Bienentsock teilen meine Meinung bedauerlicherweise nicht.“ Largo zog eine Augenbraue hoch. „Es ist doch nur Suppe. So schlimm kann es nicht sein.“ Thunderland antwortete nicht, sondern zog nur den metallenen Dosendeckel ab und tauchte den Löffel hinein. Largo tat es ihm nach und beäugte leicht misstrauisch den Inhalt der Konservendose. In einer dunklen, angedickten Brühe schwammen Gemüsebrocken und einige Streifen heller Masse, die wohl gerade Hühnerstückchen spielten. Probeweise nahm er etwas Suppe auf der Löffel und kostete. Er konnte förmlich spüren, wie seine Zunge sich kräuselte. Nur mit Mühe hielt er sich davon ab, die vollkommen ranzig schmeckende Suppe nicht wieder auszuspucken. „Ich hab's dir ja gesagt“, meinte Thunderland leicht selbstgefällig, während er mit dem Löffel in der Dose rührte. Er strich das Besteck am Rand ab und legte es beiseite. „Auf dein Wohl“, sagte er ironisch – und leerte die Konserve auf Ex. Fassungslos sah Largo zu, wie der Arzt den Becher auf einen Schluck leerte. Mit einem Krachen rammte Thunderland die nun leere Dose auf den Tisch mit genug Kraft, um einige neue Abdrücke in das Holz zu stanzen. „Urgh...“ Mit einem Stöhnen hielt er sich die Hand vor den Mund, schluckte sichtlich mühsam und lehnte sich dann wesentlich entspannter zurück. Largo sah ihn immer noch perplex an. „Das ist der Trick, weißt du. Alles auf einmal reinschütten und dann aufpassen, dass es auch drinnen bleibt.“ „Ahja...“ Largo lugte in seine Dose hinein. Die Möchtegern-Hühnchenteile schienen ihn bei ihren Schwimmrunden auszulachen. Bevor er es sich womöglich doch noch anders überlegte, nahm er die Dose in beide Hände und setzte sie an die Lippen. Der erste Schluck war grauenvoll, der zweite ebenfalls und nach dem dritten gab er auf zu hoffen, dass seine Geschmacksknospen irgendwann ihr leidvolles Dasein aufgeben würden, damit er dieses Aroma nicht mehr ertragen musste. Genau wie Thunderland ließ er seine Dose auf den Tisch krachen, sodass nun zwei identische Abdrücke das Holz zierten. Sein Magen rebellierte gegen die Brühe, die er ihm da eingeflößt hatte, beruhigte sich dann aber glücklicherweise nach wenigen Sekunden. „Brrr...“ Er schüttelte sich vor Ekel. „Keine Sorge“, meinte Thunderland. „Wir haben nur noch den ganzen Proviantbeutel voll davon.“ Geschlagen ließ sich Largo auf den Holzsitz zurückfallen. Sofort bereute er seine Entscheidung. Seine linke Seite protestierte ob des abrupten Zusammentreffens mit dem harten Holz aufs heftigste. „Was ist?“, fragte Thunderland, als Largo scharf die Luft einzog und sich an die Seite griff. „Unsere kleine Begegnung im Schnee hat wohl ihre Spuren hinterlassen.“ Largo krempelte sein Hemd hoch, um sich die Bescherung anzusehen. Auf der hellen Haut gaben die blau-grünlichen Flecken einen netten Farbkontrast ab. „Das sieht schmerzhaft aus“, sagte Thunderland. „Aber von welcher Begegnung im Schnee sprichst du?“ „Als du mit mir zusammengeprallt bist? Vor der Kutsche? Kurz nachdem wir ausgestiegen sind?“ Thunderland runzelte die Stirn. „Ich glaube, wenn ich mit irgendetwas oder -jemandem zusammengeprallt wäre, würde ich das durchaus bemerkt haben. Aber als ich dich gesehen hatte, da lagst du gerade in der Schneewehe.“ „In die ich erst gefallen bin, nachdem du mit mir zusammengeprallt bist!“ „Ich bin nicht mit dir zusammengeprallt!“ Kurz funkelten sich beide an. Largo ließ sich – diesmal jedoch vorsichtiger – auf den Stuhl zurück sinken. „Okay, wenn du mich nicht gerammt hast, wer dann?“ Kapitel 3: Nächtlicher Besuch ----------------------------- Auch wenn er beileibe kein Angsthase war, fand er das leerstehende Gasthaus in Addition zu einem merkwürdigen, unbekannten, eventuell gewalttätigem Etwas außerhalb besagten Gasthauses doch sehr beunruhigend. Der Fakt, dass seine Begleitperson – nicht zu verwechseln mit der Bezeichnung 'Begleitschutz', was ja die eigentliche Intention gewesen war – ein erfahrener und durchaus fähiger Bee war, trug nicht unbedingt zur Linderung des Beunruhigungsgefühles bei. Zumal besagter Bee gerade schlief. Was jeder noch so unfähige Quacksalber ihm verschrieben hätte. Er hatte ja schon furchtbar ausgesehen, als er in Herrn Moritz' Büro getreten war und die Reise hatte ihm alles andere als gut getan. Thunderland ertappte sich selber dabei, wie er den schlafenden Lloyd mit leichter Besorgnis musterte. Der Leiter des Bienenstocks ließ seine Leute mal wieder im Akkord schuften. Und anschließend wurde sich gewundert, weshalb plötzlich die halbe Belegschaft den Krankenflügel, der unglücklicherweise unter anderem Thunderland unterstand, belagerte. Jedes kleine Kind hätte den werten Herren Vorsitzenden attestieren können, dass Stress und hohe Belastung das Immunsystem immens schwächten und anfällig für jegliche Art von Infektionen machte. Typisch für solche hohen Leute, die weniger die Leute dafür mehr die Zahlen der gelieferten Briefe sahen. Sie mussten ja auch nicht dafür sorgen, dass die ganzen Kranken gepflegt wurden und irgendwelche Medikamente in Massenproduktionen hergestellt wurden. In dem Moment hörte er, wie unten Holz auf Holz krachte. Sofort war er hellwach. Das unmissverständliche, dumpfe Geräusch von Füßen, die die Treppe hinaufstiegen, übertönte sogar das schiefe Heulen des Windes. „Lloyd!“, zischte er und rüttelte an seinem schlafenden Kollegen. „Nngh... lass mich...“ Unwirsch drehte der Bee sich auf die Seite. Die Schritte erreichten den oberen Absatz der Treppe. „Lloyd! Verdammt noch mal!“ Thunderland packte den Halbschlafenden am Schlafittchen und zog ihn hoch. „Da. Ist. Jemand. Im. Flur.“ Lloyd blinzelte kurz, dann schien das, was Thunderland ihm da so leise wie möglich zu wisperte, zu ihm durchzusickern. Thunderland ließ ihn los und der Bee schnappte sich sein Shindan-juu und die Brille vom Nachttisch. Der Arzt zog seine eigene Pistole von dem Hüftgurt und beide lauschten angestrengt, bemüht kein Geräusch zu machen, in die erdrückende Stille. Und nur Stille antwortete ihnen. Thunderland wurde langsam ungeduldig. Hatte er sich die Schritte nur eingebildet? Da ertönte ein Knarzen, dieses Mal direkt vor ihrer Tür. Er tauschte kurz Blicke mit Lloyd. Dieser bewegte stumm die Lippen. Tür. Thunderland nickte und schlich sich zum einzigen Ausgang aus dem Zimmer, vorsichtig, um nicht wohlmöglich auf knarzende Bretter zu treten. Er drückte sich an die Wand links von der Tür. Beide warteten. Die Tür flog auf und schlug mit einem Krachen gegen die rechte Wand. Blitzschnell folgte der aufspringenden Tür ein dunkler, menschenförmiger Schatten, doch darauf war Thunderland vorbereitet gewesen. Mit einem flinken Griff bekam er den Eindringling an der Schulter zu fassen und schmiss ihn zu Boden. Largo schnellte nach vorne und packte die beiden wild um sich schlagenden Arme während Thunderland die entsicherte Pistole auf seinen Kopf richtete. „Nicht schießen!“, rief eine erheblich gedämpfte Stimme. Was vermutlich daran lag, dass Thunderland den Sprecher gerade mit dem Gesicht zuerst in die Dielen drückte. „Solange du keine Faxen machst, passiert dir schon nichts“, knurrte Thunderland. Daraufhin wurde es still und der Arzt nahm sich Zeit, ihren 'Fang' zu begutachten. Von der Rückseite und der Stimme her sah der Eindringling auf alle Fälle schon einmal sehr menschlich aus, was aber nicht unbedingt Anlass zur Beruhigung war. Gekleidet war der hoffentlich-Mensch in einen den Witterungen entsprechenden Mantel und eine einfache Hose in Kombination mit einem Paar Schneestiefeln. Largo hatte ihm derweil die Waffe aus der linken Hand gewendet und betrachtete sie nun mit mildem Interesse. Es war eine kunstvoll verzierte Pistole mit einem Griff aus Mahagoniholz. Auch wenn Thunderland sich nicht sehr mit Waffen auskannte, man sah dem Gegenstand auf den ersten Blick an, dass der Käufer dafür einige Beutel Münzen auf dem Tresen hinterlassen hatte. Trotz allem hatte der Zahn der Zeit wohl doch schon etwas an ihr genagt und Schrammen und Flecken auf Holz und Metall hinterlassen. „Hallo?“, fragte die Stimme von unten. „Wenn ihr nichts mit mir macht, könntet ihr mich dann bitte loslassen? Der Fußboden ist sehr unbequem...“ „Wer bist du?“, fragte Largo frei heraus. Ein gedämpftes Stöhnen. „Mein Name ist Musica Canor, falls ihr es unbedingt wissen wollt.“ „Und weshalb schleichst du hier um das Haus herum und greifst uns an?“ „Ich habe niemanden angegriffen!“, kam es empört von unten. „Ihr seid es doch, die meinen, unschuldige Leute auf den Boden zu pressen! Ich habe nur nach einem warmen Bett in dieser Herberge gesucht.“ Largo und Thunderland tauschten ratlose Blicke. „Und wegen deinem Job als Bee und seinem als Arzt müsst ihr also zum Briefe liefern und Leute heilen nach Heban?“ Sie saßen an einem der Tische in der Wirtschaft, Largo und Thunderland an der einen und Musica mit seinem Gepäckhaufen an der anderen Seite. Die beiden Männer aus dem Beehive nickten. Geräuschvoll schlürfte Musica seinen Löffel Ekelsuppe leer. „Das Zeug ist echt lecker, wisst ihr das?“ „Äh, ja...“ Largo behagte dieser Typ überhaupt nicht. Das lag nicht an seinem recht umgänglichen Wesen oder dem leichten Lächeln, das irgendwie ständig an seinen Lippen klebte. Nicht an dem jugendlichen Gesicht mit den unschuldig dreinblickenden, rehbraunen Augen, umrahmt von schmutzigem blonden Haar, das lang genug war, dass der daraus geflochtene Zopf mehr als schulterlang war. Oder dass er ihnen im Auszug gegen etwas zu essen den 'Überfall' im Schlafzimmer bereitwillig verziehen hatte. Es lag viel mehr daran, dass er es schaffte, drei Konserven zu leeren, ohne sich dabei zu übergeben. Und zu allem Überfluss schien ihm die Brühe auch noch zu schmecken. Der konnte ja nur böse sein. „Also, genug von uns“, sagte Thunderland, der bisher weitestgehend das Gespräch geführt hatte. „Was ist mit dir?“ Musica wischte sich gesättigt mit der linken Hand die Suppenreste von dem Mundwinkel. „Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen... Ich bin ein Musiker aus einer kleinen Stadt im Westen von Yuusari...“ „Musiker? Was spielst du?“, fragte Largo. Musicas Augen leuchteten auf. „Violine. Hier, ich zeige sie euch.“ Mit einer Handbewegung wurden die leeren Dosen beiseite geschoben und er hievte einen länglichen Kasten auf den Tisch. Mit einer Hand fummelte er an seinem Hals herum, dann zog er eine unscheinbare Kette hervor, die Schnur ein Lederband und als Anhänger ein kleiner, goldener Schlüssel. Er klippte den Anhänger ab und steckte den Schlüssel in ein Schloss, das man an dem Kasten angebracht hatte. Ein Klicken, und das Schloss war offen. Vorsichtig hob Musica den Kofferdeckel an und drehte den Koffer so herum, dass Thunderland und Lloyd den Inhalt sehen konnten. „Darf ich vorstellen, das ist Phienna!“ Eingebetet in dunklem Tuch, lag eine aus dunklem Holz gefertigte Violine. Largo kannte sich nicht sonderlich mit Instrumenten aus, insofern erschien das Instrument ihm wie jede andere Geige, die er gesehen hatte. Deren Zahl er an einer Hand abzählen konnte. Er zog eine Augenbraue hoch. „Du hast der Geige einen Namen gegeben?“ Leicht zärtlich strich Musica über das blank polierte Holz. „Nicht direkt. Die Geige gehörte früher meiner Mutter, aber nachdem sie sich bei der Arbeit zwei Finger der linken Hand gebrochen hat, konnte sie nicht mehr spielen und hat Phienna an mich weitervererbt. Sie war es auch, die mich das Spielen gelehrt hat.“ „Und was treibt dich dann hier in diese Gegend?“ Musica grinste vergnügt. „Ich bin auch auf dem Weg nach Heban, genau wie ihr.“ „Ist das nicht etwas gefährlich, allein zu reisen?“ Der Violonist zuckt mit den Schultern. „Bisher wurde ich noch nicht umgebracht.“ Kapitel 4: Reise ---------------- Laut Thunderlands amateur-meteorolistischen Aussagen würde der Sturm bald abflauen, zumindest weit genug, als dass sie Chancen hatten, lebend Heban zu erreichen. Nach Largos Zeitgefühl musste es mittlerweile bereits früher Nachmittag sein, obwohl es draußen noch genauso dunkel war wie zu ihrer Ankunftszeit. Im angrenzenden Zimmer bewies Musica die Dünne der Hauswände – von seinem Geschnarche schien die ganze Wirtschaft zu wackeln. Auch der Doktor schlief und somit blieb es an Lloyd hängen, auf das Haus aufzupassen. Beziehungsweise darauf, dass sie nicht von suspekten Mitbewohnern im Schlaf ermordet wurden. In dem Moment, in dem Musica einigermaßen außerhalb des Lauschbereiches war, waren beide Beehive-Angestellten zu der einvernehmlichen Entscheidung gekommen, dass sie dem ungebetenen Gast vermutlich nicht mehr trauen konnten, als sie für eine dieser Konserven an Münzen auf den Tisch blättern würden – also gar nicht. Musicas Geschichte wies mehr Löcher auf als ein Abtropfsieb. Schön und gut, der arme Kerl hatte jedes Recht, ihnen nicht gleich seine gesamte Lebensgeschichte vorzutragen, aber niemand der noch ganz bei Trost war und nur annähernd an seinem Leben hing, marschierte allein durch Yuusari, solange er kein Bee war. So etwas ließ sich einfach nur als reiner Selbstmord abstempeln. Und dann war dort noch ihr mysteriöser Attackierer. Auch wenn Musica nach wie vor in Frage kam, glaubte Largo doch nicht wirklich daran. Was immer ihn da getroffen hatte, war um einiges massiver als der eher zierlich gebaute Musiker gewesen und bei weitem kräftiger und schneller gewesen. Ansonsten sah es mit potentiellen Verdächtigen in einem verlassenen Haus inmitten eines zugeschneiten Gebirgsmassives schlecht aus, aber das machte Musica nun nicht gerade zum Schuldigen. Im Zweifelsfalle für den Angeklagten. Wieso war der Angreifer überhaupt wieder verschwunden? Largo hatte kopfüber im Schnee gelegen, wenn man ihm Schaden hatte zufügen wollen, dann war das ja praktisch die Silbertablett-Variante gewesen. Andererseits war Thunderland nun exakt in diesem Moment auf der Bildfläche erschienen. Hatte der Unbekannte gedacht, Largo wäre allein gewesen? Und sich dann erschrocken, als ihm bewusst wurde, dass dem keineswegs der Fall gewesen war? Es war zu dunkel gewesen, um für Largo irgendetwas zu sehen, und er war sich ziemlich sicher, dass der Angreifer ein Mensch gewesen war. Ein Gaichuu hätte eine viel brachialere Methode gewählt. Wenn man dann Stimmen vernahm, obwohl man annahm, dass das Opfer allein wäre... In der Dunkelheit konnte man sich nicht sicher sein, wie groß die zu erwartende gegnerische Unterstützung war, natürlich würde man eher auf Rückzug gehen. Oder gerade dann das ganze beenden, wo man seinen Zug doch gerade erst gemacht hatte. Unzufrieden rutsche Largo auf dem harten Holzstuhl herum. So sehr er das ganze auch drehte und wendete, er kam zu keiner genügend eindeutigen Entscheidung. Ein leerstehendes, obwohl beleuchtet und geheiztes Wirtshaus, mysteriöse Attacken aus dem Nichts, ein nicht unbedingt koscherer Fremder. Ihm waren schon einfachere Jobs zugeteilt worden. Der Schneesturm lichtete sich rascher, als selbst Amateur-Meteorologe Thunderland es vermutet hatte. Keine fünf Minuten zuvor hatten die Fensterscheiben gewackelt vor der Unbarmherzigkeit des kalten Windes und nun lag vor ihnen, nachdem sie es geschafft hatten, sich aus dem zugeschneiten Wirtshaus auszugraben, eine fast schon beunruhigend stille winter-weihachtliche Schneelandschaft. Largo fühlte sich nicht sehr wohl dabei, das Wirtshaus einfach so hinter sich zu lassen, ohne dass sie Antworten auf die vielen Fragen bekommen hatten. Das Gepäck auf den Rücken gespannt, stapften sie durch die jungfräuliche Schneefläche. Thunderlands verständliches Umkehrschlussargument, welches besagte, dass sollte der Schneesturm derart rasch aufhören, er auch genauso schnell wieder losbrechen konnte, trieb sie zur Eile an. Trotz allem konnte Largo nicht umhin, die malerische Aussicht zu bewundern. Schneewehen türmten sich am Wegesrand auf, verdeckten die vorher nackten Felsen und verzogen ihre Formen zu elegant geschwungenen Kurven. Schroffe Felskanten wurden weich und graue Trostlosigkeit mit einem Schleier von Reinheit verdeckt. Die vereinzelten Lichtstrahlen der unnatürlichen Sonne bahnten sich hier und da mühsam ihren Weg durch die Wolkenschichten und ließen das Weiß strahlend aufleuchten. Vereinzelt klirrten Eiszapfen im leichten Wind wie Markisen an den Rändern der sich wie Wellen auftürmenden Schneeberge, geformt in die kuriosesten Figuren. Ein Blick zurück zeigte eine prächtige Panoramalandschaft auf die Berge ringsherum, an denen sich Wolkenfetzen wie Ertrinkende in der Brandung klammerten. Den Rand des Gebirgsmassives säumten weißbedeckte Baumwipfel, die auf die Entfernung nur als dunkel-hell gemusterte Spitzen auffielen. So schön das alles auch war, Largo fluchte trotzdem ungehalten, als er zum vierten Mal tiefer in der tückischen, Löcher verbergenden Schneedecke einsank, als ihm lieb war. Die dicke Schicht ließ sie nur mühsam vorankommen und machte aus einem Kilometern gefühlte zehn. Sie kamen nur sehr mühselig voran, und schon bald schwitzten alle drei trotz Temperaturen weit unter null Grad in ihren dicken Mänteln. 'Kaum zu glauben, dass wir gestern noch mit der Kutsche den Weg entlang fahren konnten', dachte Largo. Von zwei hatte sich die Schneeschicht auf circa 30 Zentimeter hochgemausert, höher als für jede Kutsche befahrbar wäre. Und wenn es nach Largo ging, höher als für Menschen begehbar war. Seine Wadenmuskeln waren auf jeden Fall nicht begeistert. Er war sich ziemlich sicher, dass er sich nicht mit Bergen und Kälte jeglicher Art anfreunden konnte. Es war erst früher nachmittag, aber bereits jetzt kratzte der untere Rand der Sonne am Horizont und überzog Himmel und Berge mit einem warmen, rötlichen Glanz. Sie hatten einen Felsvorsprung gefunden, der halb durch einen Vorhang aus Schnee und Eis bedeckt wurde und somit eine Art Schneehöhle bildete. Dort legten sie von dem anstrengenden Marsch Rast ein und widmeten sich ihrem bereits leicht verspäteten Mittagsessen, welches – zu Lloyd und Thunderlands Leidwesen beziehungsweise Musicas Freude – aus der Dosensuppe bestand. Um genau zu sein, Kartoffelsuppe, wie der Aufkleber behauptete. „Wie weit sind wir noch Heban entfernt?“, fragte Musica, während er sein Besteck wieder in seinem Rucksack verstaute. „Ungefähr zwei Meilen“, sagte Thunderland und schob die nun leere Dose von sich. Lloyd beäugte derweil argwöhnisch den Inhalt der seinigen und überlegte ernsthaft, ob die schlammgelbe Masse sich soeben ohne sein Zutun bewegt hatte. In der Tat liefen immer wieder kleine Wellen vom Rand zum Zentrum in kleiner werdenden Kreisen. Zuerst hatte erwägt, ob es vielleicht an seinen zitternden Händen lag, die obwohl sie in Handschuhen steckten sich anfühlten wie durchgefroren. Als er die Dose dann aber vorsichtig auf den Boden setzte und die merkwürdigen Bewegungen an der Suppenoberfläche nicht aufhörten, wurde ihm das ganze doch etwas suspekt. Die Wellen wurden stärker und kamen in immer kürzeren Abständen, je länger er wartete. „Largo, was machst du dort?“, hörte er Thunderland fragen. Da dämmerte es ihm: Nicht die Suppe, die Erde selber bewegte sich! Über ihm ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und ein riesiger Stachel bohrte sich durch die Decke in den Raum, in dem sie saßen. Kapitel 5: Noch mehr unerwarteter Besuch ---------------------------------------- Largo war sofort auf den Beinen und griff in einer automatischen Bewegung nach dem Halfter seines Shindan-juus. Thunderland hatte derweil den perplexen Musica am Kragen gepackt und sich und ihn aus der Höhle geworfen. Derweil hatte Largo die Pistole aus ihrer Halterung gezogen und folgte ihrem Beispiel postwendend, denn die dünne Decke über ihm zeigte bedrohliche Risse auf. Kopf voran stürzte er sich durch den dünnen Schneevorhang vor der Höhle, gerade noch im rechten Moment, denn schon schoss der zweite Stachel durch die Decke und bohrte sich dort in den Boden, wo er soeben noch gestanden hatte. Sein Sprung katapultierte ihn rücklings in den Schnee. Weiße Flocken wirbelten hoch, als er aufsprang. Thunderland und Musica standen wenige Meter von ihm entfernt, beide mit entsicherter Pistole in der Hand. Auf ihrem Unterschlupf thronte ein Gaichuu, die stachelbewehrten Vorderfüße noch im Fels vergraben. Es hatte den Bau einer stark überdimensionierten Heuschrecke. Die toten, glänzenden Augen an der Seite des schmalen, abgeflachten Kopfes, fixierten ihre Beute. An dem Rücken waren dünne Flügel aus verästeltem Metall angelegt, die unruhig zitterten. Es besaß drei Beinpaare, wobei es zurzeit auf dem mittleren, kürzeren Paar stand, während sich das hintere, längste zum Sprung bereit machte. Kupferfarbenes Metall blitzte im Licht, dann war der Gaichuu über ihnen, die Flügel im Sprung ausgebreitet. Im nächsten Moment fiel es zu Erde und Largo konnte nur mit Mühe und Not den zermalmenden, widerhakenbewehrten Füßen entgehen. Schnee wirbelte auf und nahm ihm die Sicht auf das Geschehen. Mit einem Sprung brachte er etwas mehr Abstand zwischen sich und das Riesenvieh. Er sank tiefer im Schnee ein, als ihm lieb war, dafür entkam er den rasiermesserscharfen Stacheln, die seine Vorderklauen bildeten. Der Schneestaub legte sich und Largo erkannte mit einiger Erleichterung, dass Thunderland und Musica der Attacke ebenfalls unverletzt entkommen waren. Der Gaichuu stand nun zwischen ihnen und schien unschlüssig zu sein, wen er zuerst angreifen sollte. Largos Blick heftete sich automatisch an die Beingelenke des Wesens, doch im Gegensatz zu seinen käferförmigen Artgenossen besaß die Heuschrecke dort Abdeckplatten, die diese normalerweise so verwundbare Stelle schützten. Hektisch wanderte er über den Rest des Panzers, doch nirgendwo schien der Gaichuu sonst eine Lücke in seiner Rüstung zu besitzen. Die Deckplatten hatte sich wieder über seine Flügel gelegt und jedes Stück Metall schmiegte sich nahtlos an das nächste. Allerdings hatte sich das Monster mittlerweile entschieden und stürzte auf den Bee zu. Largo stürzte zur Seite, rappelte sich auf und rannte durch den dicken Schnee, den Gaichuu direkt an seinen Fersen. Mit einem Satz hatte es ihn überflogen und landete vor ihm im Schnee. Das Shindan-juu ladend bereitete der Bee sich auf die Attacke vor. Plötzlich hielt sein Gegner inne und richtete sich leicht auf, als hätte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Hinterbeine spannten sich an und im nächsten Moment war der Gaichuu bereits in der Luft, die Flügel ausgefahren, und schnellte auf Musica zu. Der junge Mann stand wie festgenagelt an Ort und Stelle, anscheinend starr vor Schock. „Musica, beweg dich!“, schrie Largo, doch er wusste, selbst wenn er sich aus seiner Starre lösen würde, die Attacke würde ihn trotzdem treffen. Da explodierte ein Geschoss an der rechten Seite der Heuschrecke. Die Explosion war bei weitem nicht stark genug, um den Panzer auch nur zu beschädigen, aber es brachte die Heuschrecke von ihrer Bahn ab. Der Stachel, der Musica hätte aufspießen sollen, verfehlte sein Ziel und brachte ihm stattdessen einen üblen Schnitt in den Arm ein. Der Gaichuu selber wurde von der Wucht seines eigenen Sprungs in eine Schneewehe getragen. „Musica!“, rief Largo und sprintete auf ihn zu. Blut tropfte von seinem linken Arm in den Schnee und färbte ihn rasch rot. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste er eine Hand auf die Wunde. „Nur eine Fleischwunde“, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Auch Thunderland rannte zu ihnen, aus der Mündung seiner Pistole rauchte es noch. „Mit was für Sachen lädst du deine Pistole?!“, fragte Largo ihn. „Ich sagte doch, ich kann durchaus auf mich selbst aufpassen.“ Thunderland sah ihn an. Aus dem Schneehaufen ertönte das grässlich verzerrte Brüllen des Gaichuus. Mit wütenden Bewegungen hatte es sich freigeschaufelt und fixierte Thunderland, die Flügel drohend aufgerichtet. Largo ging ein Licht auf. „Die Flügel!“, wisperte er. Der Doktor warf ihm einen Seitenblick zu. „Sicher?“ „So sicher wie möglich.“ Thunderland nickte. „Das muss reichen. Ich lenke es ab. Anscheinend ist es ja gerade nicht allzu gut auf mich zu sprechen.“ Mit diesen Worten sprintete er los, weg von der Gruppe. Der Gaichuu brüllte erneut und richtete sich auf. Mit ein, zwei Sprüngen war er vor Thunderland und schnitt ihm den Weg ab. Die Stacheln sausten herab und mit einem Sprung hechtete der Arzt unter den Bauch des Gaichuus, um ihnen zu entkommen. So schnell er konnte durchlief er den Gang, den Unterleib und Beine bildeten und kam auf der anderen Seite heraus. Furios drehte sich die Heuschrecke um und fuhr die Flügel aus, um ihre Beute mit einem Sprung zu erledigen. Auf diese Gelegenheit hatte Largo gewartet. Er betätigte den Abzug und ein Pfeil aus silbernem Licht schoss auf die ungeschützte Lücke zwischen Rücken und Flügelgelenken des Gaichuus zu. Das Geschoss kollidierte und mit einem letzten Kreischen fiel die Heuschrecke in sich zusammen. „So, das hätten wir.“ Mit einer Schere durchschnitt Thunderland den Faden, mit dem er Musicas Wunde genäht hatte und begann, Bandagen um die verletzte Stelle zu wickeln. Mit einem Clip befestigte er das letzte lose Ende und betrachtete zufrieden sein Werk. Auch Musica blickte an seinem Arm runter und berührte mit der Hand, die zu dem gesunden Arm gehörte, die bandagierte Stelle. „Danke.“ Leichtes Erstaunen schwang in seiner Stimme mit. Thunderland zuckte nur nonchalant mit den Schultern. „Dank mir nicht zu früh. Mit der Wunde musst du noch den restlichen Weg bis nach Heban laufen.“ Largo hörte auf, vor Ungeduld auf und ab zu gehen und schnappte sich sein Gepäck. „Können wir?“ Ihm war unwohl. Die Gegend war nicht unbedingt für ihre vielen Gaichuus bekannt, aber nachdem er eine Heartbullet abgeschossen hatte, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass weitere angezogen werden würden. „Ganz ruhig, Tiger.“ Thunderland half Musica hoch und beide schulterten ihr Gepäck. Zusammen traten sie aus der nun sehr beschädigten Höhle und wandten sich in Richtung Heban. Ein letztes Mal blickte Thunderland über seine Schulter zurück. Die künstliche Sonne war bereits am Verblassen und ließ die Kanten dunkle Schatten in den Schnee werfen. Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung und sein Kopf schnellte zur Seite. Doch alles, was dort war, war eine Schneeplatte, die sich gelöst hatte. Er schüttelte den Kopf über seine eigene Nervösität und folgte Musica und Lloyd beim Aufstieg. Kapitel 6: Heban ---------------- Es dunkelte bereits, als sie die Spitze der letzten Anhöhe erreichten. Vor ihnen lag ein Talkessel, beschränkt durch zahlreiche zerklüftete Felsen, geschärft durch den erbarmungslosen Wind, der in dieser Höhe gegen den Fels peitschte. Die Witterung hatte Löcher in das Gestein gefressen und von der gegenüberliegenden Gebirgsseite gähnten ihnen dunkle Höhlenöffnungen aus dem Weiß heraus entgegen. Ein kalter Schauer lief Largo über den Rücken als er daran dachte, was sich dort in der Schwärze alles verbergen könnte. Und inmitten allem, umgeben von Schnee, nacktem Stein und immerwährender Kälte lag Heban. Das Dorf war verhältnismäßig klein, selbst in den Maßstäben von Amberground, und schien nicht mehr Platz als für circa 100 Einwohner zu bieten. Aus der Ferne sah es nur aus wie eine Ansammlung wahllos hingeworfener, dunkel angemalter Miniaturhäuser. Die Sonne stand bereits viel zu tief, als dass ihr Licht den Talboden noch hätte erreichen können, selbst wenn sie sich nicht hinter den grauen Schneewolken verstecken würde, die sich bereits drohend über ihren Köpfen zusammenballten, als ob sie nur darauf warteten, sie im ungünstigsten Augenblick mit ihrer weißen Fracht zu begießen. Die drei Wanderer waren der stillen Übereinkunft, dass sie nicht auf diesen Augenblick warten wollten. Falls es einen Weg gab, der zu der Siedlung führte, so hatte der heftige Schneefall ihn unter sich begraben und so stapften sie aufs Geratewohl in einer hoffentlich geraden Linie auf Heban zu. Je näher sie dem Dorf kamen, desto mulmiger wurde Largo. Auf die Entfernung war es unmöglich gewesen zu sagen, ob das Dorf bewohnt war, doch auch als sie näher kamen, konnte Largo niemanden auf den Straßen entdecken. Und auch obwohl es in einem beunruhigend schnellen Tempo dunkel wurde, brannte in keinem der Häuser Licht. Er tauschte einen besorgten Seitenblick mit Thunderland. Auch dem Doktor schien das Fehlen von Menschen aufgefallen zu sein und seine Hand ruhte bereits auf dem Halfter, in dem seine Pistole steckte. „Ist es wirklich klug, eine solche Geisterstadt zu betreten?“, wisperte Thunderland. „Meine Auswahl an besseren Alternativen beschränkt sich auf ganze null. Wenn dir also etwas besseres einfällt...“ Sie erreichten nun die ersten Häuser und Thunderland zog und entsicherte seine Pistole. „Leider nein.“ Der Schnee knirschte beinahe ohrenbetäubend laut in der unnatürlichen Stille, als sie ins Innere des Dorfes vordrangen. Largo blickte sich um. Die Häuser hier waren alle aus solidem Stein gebaut, kein Wunder bei den vorherrschenden Witterungen. Überall waren die Vorhänge zu gezogen, jede Art von Tor, Tür und Fenster verschlossen, kein Licht brannte irgendwo versteckt und keine Rauchfahne stieg aus einem der Schornsteine ein. Kein Mensch ließ sich blinken, nicht einmal das Geräusch irgendwelcher hier lebender Tiere war zu hören. Mehr als einmal fuhren sie herum, aufgeschreckt durch eine vermeintliche Bewegung in den Schatten oder ein Ton, der nicht ganz mit dem feinen Säuseln des Windes dissoziierte, um mit rasendem Herzschlag festzustellen, dass ihre durch das Adrenalin übersensiblen Sinne ihnen einen Streich gespielt hatten. Sie erreichten den Mittelpunkt des Dorfes, ohne dass sie attackiert wurden. „Da sich hier anscheinend niemand die Ehre nimmt, uns zu begrüßen, wollen wir mal sehen, ob diese Häuser wirklich so leer sind, wie sie aussehen?“, fragte Thunderland. „Einverstanden. Nimm, welches immer dir gefällt, mein Lieber“, antwortete Largo. „Zu gütig.“ Zielstrebenden Schrittes wandte sich Thunderland einem Haus zu ihrer Linken zu. Es unterschied sich praktisch so gut wie gar nicht von den anderen Häusern. Wie sie war es aus rotem Backstein gebaut und mit einer schmucklosen Holztür und mehreren Fenster ausgestattet. Probeweise drückte der Leichendoktor die Klinke herunter. Ein metallisches Klicken verriet ihnen, dass die Tür verschlossen war – wie angenommen. Vorsichtig klopfte Thunderland gegen das Holz, er sachte, dann immer lauter. Als nach einer zähflüssig verronnen Minute niemand öffnete, machte er einen Schritt zurück und trat kräftig gegen die Tür. Drei Tritte waren nötig, dann flog die Tür aus den Angeln. Largo zog eine Augenbraue hoch. „Ich hoffe ausnahmsweise einmal, der Besitzer des Hauses ist wirklich nicht anwesend, ansonsten ist er sicherlich nicht sehr erfreut darüber, dass du seine Tür zerstört hast.“ „Es war eine langweilig ordinäre Holztür, die schlecht schloss. An seiner Stelle hätte ich mir sowieso eine andere angeschafft.“ „Hoffen wir mal, dass er im Fall der Fälle deine Meinung teilt“, entgegnete der Bee ironisch. Thunderland hatte derweil aus ihrem Gepäck eine Sturmlaterne zu Tage gefördert und diese entzündet. Pistole in der einen, Laterne in der anderen Hand schritt er über die Leiche der bedauernswerten Holztür hinweg in die unbekannten Gefilde des Hauses. Largo und Musica folgten ihm mit ebenfalls gezogenen Waffen. Das Innere des Hauses sah sehr normal aus. Sie standen in einem kleinen Flur, von dem aus eine Treppe in das nächste Stockwerk führte und zwei nur angelehnte Türen abzweigten. Thunderland stupste die Tür an, die ihm am nächsten war und mit einem feinen Quietschen schwang sie nach innen auf. Hinter ihr lag eine kleine Küche, ordentlich aufgeräumt und vom Aussehen jeder anderen, stinknormalen Küche ähnelnd. Zudem sehr frei von irgendwelchen Menschen. Das selbe Spiel ergab sich auch bei der anderen Tür, hinter der eine Stube lag. Der Gang die Treppe hinauf brachte lediglich die Kenntnis, dass das Haus auch über ein Einzelschlafzimmer und eine Toilette verfügte. Alles war in ordentlichem Zustand, als ob der Hausbewohner nur einmal eben nach draußen zum frische Luft schnappen gegangen war. Leicht entmutigt ob der gefundenen Resultate kehrten sie in den Flur zurück. „Ich nehme mal an, dass ich für euch mitspreche, wenn ich sage, dass mir dieses Dorf überhaupt nicht gefällt und dass es mir vermutlich noch weniger gefallen wird, wenn es erst einmal richtig dunkel ist“, flüsterte Thunderland. „Und was schlägt der Doktor vor sollen wir nun machen? In ein geräumigeres Haus einbrechen und dann dort nächtigen?“ „Nein!“ Erschrocken fuhren die beiden Männer zu Musica herum, der sich, anscheinend selber etwas erschrocken von seinem Ausbruch, die Hände vor den Mund hielt. „Spinnst du? Doch nicht so laut!“, zischte Thunderland ihn an. „Tut mir leid“, murmelte der Musiker etwas beschämt. „Ich halte es aber nicht für eine gute Idee, in einem Geisterdorf zu übernachten.“ „Ich stimme zwar zu, aber die Alternative wäre inmitten des aufkommenden Schneesturms zu erfrieren“, beschwichtigte Largo die beiden. „Könnten wir nicht in einer der Höhlen Unterschlupf finden?“, schlug Musica vor. „Höhlen?“ Thunderland zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Ich glaube kaum, dass diese Höhlen groß genug sind, um uns genügend Schutz zu bieten. Von der Anhöhe aus sahen sie mir mehr wie Felslöcher aus. Und selbst wenn es eine der passenden Maße geben würde, es würde ewig dauern, bis wir eine gefunden haben und bis dahin ist es längst dunkel.“ „Aber-“ „Nichts aber. Wir haben keine Wahl, ganz einfach.“ Offensichtlich unwohl mit dem Entschluss senkte Musica den Kopf. In dem Moment echote ein ohrenbetäubendes, sich sehr unmenschlich anhörendes Brüllen über das Tal. Kapitel 7: They always come out of the cave... ---------------------------------------------- In dem Moment echote ein ohrenbetäubendes, sich sehr unmenschlich anhörendes Brüllen durch das Tal. „Was war das?“ Thunderlands Blick schoss auf der Suche nach dem Verursacher des Brüllens umher. Doch außer Schnee, Bergen und dem Dorf sah er nichts, was ein derartiges Geräusch hätte erzeugen können. Zudem schränkten die Häuser sein Sichtfeld ungünstig ein und der kesselförmige Bau des Tals verzerrte das Echo dermaßen, dass es so gut wie unmöglich war, die Quelle zu orten. „Über uns“, flüsterte Musica neben ihm, den Blick starr nach oben gerichtet. Thunderland und Lloyd blickten in den wolkenbedeckten Himmel. Zuerst sah der Arzt überhaupt nichts. Dann blitzte ein Stück Metall im letzten Licht und er erkannte, dass der dunkle Fleck, den er für eine Unebenheit in der Wolkendecke gehalten hatte, sich bewegte und mit beunruhigender Geschwindigkeit größer wurde. „Was zur Hölle ist das?“, ächzte Largo neben ihm. „Was immer es ist, es ist groß. Sehr groß“, murmelte Thunderland. „Ja, und es wird uns fressen, wenn wir nicht bald von hier verschwinden“, rief Musica. Er selber war bereits Richtung Dorfausgang gerannt, während die beiden Bee Hive Angestellten in den Himmel geschaut hatten. „Also kommt endlich!“ „Wohin denn bitteschön?“, knurrte Thunderland. „In der weiten, freien Ebene im weißen Schnee wird es uns sicher nicht entdecken, natürlich!“ „In die Höhlen, mein Gott!“, brüllte Musica ungeduldig. „Ach ja, und du kennst eine, die a) groß genug für uns b) zu klein für dieses Monstervieh und c) auch noch in passender Nähe ist?“ „In der Tat kenne ich eine-“ „Und woher?“, unterbrach Thunderland ihn scharf. „Weil ich hier wohne, deshalb!“ Bevor Thunderland den Mund wieder aufmachen konnte, packte Largo ihn am Arm. „Wir klären das später. Jetzt müssen wir hier erst einmal weg.“ Thunderland sah ihn für einen langen Moment sehr skeptisch an, gab dann aber klein bei. „Falls irgendjemand später fragt, du bist schuld“, zischte er und rannte Musica hinterher. Sie folgten Musica durch den westlichen Dorfausgang in den knietiefen Neuschnee. Auch wenn vor ihnen in einer Entfernung von nicht einmal fünfhundert Metern die ersten Felsbrocken, die den Rand des Talkessels säumten, aufragten, war Largo sehr besorgt, was ihr rechtzeitiges Unterschlüpfen in ein Versteck anging. Musica rannte, so gut es im Schnee ging, auf einen unbestimmten Punkt in der unteren Felswand zu und Thunderland und Largo folgten ihm so schnell es möglich war. Der Bee warf einen Blick über die Schulter und sah, dass der schwarze Punkt langsam vogelförmige Maße angenommen hatte – lediglich mit der falschen Größenproportion, auch wenn es schwer war, aus der Entfernung die wahren Maße zu bestimmen. Und für seinen Geschmack kam er im falschen Tempo viel zu schnell näher. Sie erreichten den ersten Aufstieg und ohne Zeit zu verlieren kraxelte Musica die um fast 30 Grad geneigte Ebene hoch. Der Fels unter ihren Füßen war kantig und rau und nur an manchen Stellen war der Schnee in Spalten oder Vorsprüngen liegen geblieben. Noch ein Brüllen ertönte, dieses Mal bedeutend näher, doch da erklommen sie bereits die erste Terrasse. Wie eine Art Zwischenstopp hörte hier die Steigung für einen wenige Meter breiten Streifen auf, bevor es um so steiler in die Höhe ging. Musica rannte den Streifen entlang zu einem Flecken Schnee, der sich im Schutz eines Vorsprungs angehäuft hatte und begann eifrig, die Flocken beiseite zu schaufeln. Skeptisch folgten ihm die Beiden und sahen mit Erstaunen zu, wie unter dem Weiß eine hölzerne Falltür zum Vorschein kam. „Nicht gerade höhlentypisch“, murmelte Largo, als Musica die Tür öffnete und hinein kletterte. Noch ein Brüllen und der Bee schmiss den möglichen Einwand einer Falle beiseite und schwang sich nach Thunderland in das schwarze Loch hinein. In besagtem Loch war es stockfinster, zumindest bis Musica ein Feuerzeug hervorzauberte und mit dem kleinen Flämmchen eine Fackel in Brand setzte. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit blinzelte Largo. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatte, musste er feststellen, dass er seine Schätzung mit der Höhle korrigieren musste. Vielmehr befanden sie sich in einer Art natürlichen Tunnel, gerade mal breit genug, damit drei Männer sich nebeneinander hätten hindurch quetschen können. Was an seinem Ende lag konnte er nicht erkennen, lediglich, dass er sich leicht senkte und immer tiefer in den Berg hineinzuführen schien. Ohne ein Wort zu sagen folgte Musica der Tunnelführung. Hinter seinem Rücken wechselten Largo und Thunderland sehr skeptische Blicke, beschlossen dann aber, dass sie lieber nicht allein im Dunkeln stehen wollten und folgten dem Musiker. Es war unmöglich zu sagen, wie lange der Tunnel war, die Dunkelheit um sie herum sah immer gleich auf und auch die groben Tunnelwände mit ihren flackernden Schatten wiesen keine nennenswerte Veränderung auf. Nach, wie es Largo vorkam, einer schieren Ewigkeit bog Musica plötzlich scharf nach links ab. Der Gang weitete sich und am Ende sah Largo ein schwaches, dafür aber warmes Licht scheinen. Mit nun definitiv beschleunigten Schritten eilten sie ihm entgegen. Gemeinsam traten die Drei durch die bogenförmige Öffnung. Vor ihnen breitete sich eine Höhle aus, vom Durchmesser her circa zehn Meter breit und kreisförmig, beleuchtet mit Fackeln, die mit verrosteten Halterungen an der Wand befestigt waren. Von dem was Largo erkennen konnte schien sie natürlichen Ursprungs zur sein, lediglich hier und dort war etwas ausgebessert worden. An den Seiten waren hölzerne Kisten abgestellt, ansonsten vermisste der Raum jegliches Mobiliar. Mit der Ausnahme von den zwei jungen Männer, die in der Mitte auf Decken saßen und sie mit einer gehörigen Portion Misstrauen anblickten. Schnell musterte Largo beide. Der eine war groß und schlaksig gebaut, mit verwuscheltem, dunklen Haar und haselnussbraunen Augen. Der andere war etwas kleiner, dafür mit sehr kurz geschnittenem, hellblonden Haar und passenden blassblauen Augen. Beide trugen dicke, dem wetterentsprechenden Kleidung und von dem was Largo erkennen konnte, keine Waffen, was nicht sehr viel heißen musste, denn unter den dicken Jacken ließen sich Messer und ähnliches sicher problemlos verstecken. Ein sehr gespanntes Schweigen breitete sich aus, während beide Duos sich gegenseitig beobachteten, immer darauf wartend, wer den ersten Schritt machen würde, während Musica etwas deplatziert daneben stand. „Ronan“, sagte der Dunkelhaarige plötzlich in die Stille hinein. Irritiert blickten Thunderland und Largo ihn an. „Das ist mein Name“, erklärte er. „Und das dort“ Mit einer Kopfbewegung zeigte er auf den Blonden. „Ist Miro.“ „Largo Lloyd“, stellte der Bee sich in gleicher Manie vor. „Und Dr. Thunderland jr.“ „Thunderland?“, murmelte Ronan mehr zu sich selbst als zu dem Doktor. „Der Leichendoktor?“ „Höchstpersönlich“, sagte Thunderland kühl. Er wandte sich zu Musica. „Ich denke, eine Erklärung ist vonnöten.“ „Du hast ihnen noch nichts erzählt, Johnas?“, sprang Miro dazwischen. „Johnas?“ Die beiden Bee Hive Angestellten blickten den Musiker scharf an, der unruhig sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. „Musica ist nur mein Spitzname“, murmelte er. „In Wahrheit heiße ich Johnas Canor.“ „Und weshalb hast du uns angelogen?“, fuhr Thunderland ihn scharf an. „Ich hatte es eigentlich gar nicht vor“, platzte es aus Johnas heraus. „Aber als ihr mich in der Herberge zu Boden geworfen habt-“ „Sie haben was getan?“, rief Ronan. „Es war Notwehr!“, zischte Thunderland zurück. „Notwehr? Dass ich nicht lache!“ Ronan stand auf, bereit Thunderland anzugreifen, als Musica dazwischen sprang. „Er sagt die Wahrheit, sie dachten, ich wäre ein Einbrecher, mir geht es gut, wirklich“, versuchte er Ronan zu besänftigen. Der Erfolg war mäßig, aber er stellte sich ein. „Können wir die feineren Differenzen nun einmal beiseite legen, damit uns endlich einmal jemand erklärt, was hier gespielt wird?“, fragte Largo, dem das Hin und Hergezanke langsam am Geduldsfaden nagte. Etwas erschöpft fuhr Musica sich durch die Haare. „Ja, ich erkläre euch alles. Aber ihr solltet euch besser setzen, die Geschichte ist etwas länger.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)