Baby, it's cold outside von FreeWolf (Ein Adventskalender) ================================================================================ Kapitel 21: 21. Dezember - Die drei magischen Zutaten ----------------------------------------------------- Voltaire betrachtete die Utensilien vor sich auf dem Tisch, die er brauchte, um zu entspannen. Eine Tasse. Es war die seltsame, rote, mit dem Gesicht darauf, welches, zumindest laut seinem Enkel Kai, ihm auffallend ähnelte. Nicht, dass Voltaire besondere Ähnlichkeit bemerkt hätte – aber immerhin hatte sein Enkel an ihn gedacht, statt ihn, wie jedes andere Weihnachten, anzuschweigen. Das hieß, ihr Verhältnis zueinander war auf dem Weg zur Besserung, hatte seine Psychotherapeutin behauptet. Voltaire ging eher davon aus, dass Kai eingesehen hatte, dass er ihn enterben konnte. Er war realistisch in diesen Dingen. Eine Kanne heißer Milch, in dem schmucken Silberkännchen, das er sich selbst vor einer gefühlten Ewigkeit zugelegt hatte. Das GUM in der Moskauer Innenstadt hatte ihn verleitet. Eine kleine Sünde, wenn man die Einkaufsorgien seiner Tochter, Kais Tante, bedachte; Voltaire schmunzelte schief. Die Frau musste noch größere Probleme haben als er selbst. Bereits der Umstand, dass sein Enkel die Ferien lieber bei ihm in der Villa verbrachte, abgeschnitten von aller Außenwelt, sprach Bände. Aber immerhin: wenn Kai ihn anzickte, wurde es wenigstens niemals langweilig. Und er konnte zurück-zicken. Das hatte Voltaire Hiwatari inzwischen gelernt Kakaopulver, das gute, aus dem Fair-Trade-Laden um die Ecke. Er war teuer, aber suchtfördernd. So konnte Voltaire seinen Enkel immer wieder dazu bringen, ihn besuchen zu kommen – eigentlich ein kleines Wunder, dass Kai noch nicht selbst auf die Idee gekommen war, sich welches mitzunehmen. Voltaire Hiwataris Geheimrezept war denkbar einfach, und doch klappte es gegen alles: schlechte Laune, faule Bedienstete, Bauchschmerzen bei kleinen Enkeln, Arthritis, Thrombosen und natürlich – und vor allem – gegen sturköpfige, eigensinnige Enkel wie Kai es war. Der alte Herr setzte sich gemütlich in seinen Ohrensessel, in dem er klein-Kai früher immer Geschichten vorgelesen hatte, und blickte zum Fenster. Seine Frau, Anna, hatte zu Lebzeiten immer auf dem Kanapee platzgenommen, die am Fenster stand. Wahrscheinlich hatte sein Blick sich in den langen Jahren ihrer Ehe so daran gewöhnt, zum Kanapee zu wandern, dass es automatisch passierte. Voltaire schüttelte den Kopf, trank einen Schluck heiße Schokolade, während er Flocken vor dem Fenster hereinschneien sah. Es wurde Zeit, dass der Garten seinen weißen Puderzucker bekam, dachte er schief grinsend. Das Grünzeug dort draußen würde genauso aussehen wie der steinharte Panetone, der in Puderzucker ertrank, den ihm die italienischen Geschäftspartner immer Anfang Januar hatten zukommen lassen. „Guten Abend, Großvater“, monotone Stimmlage und ein abfälliger Tonfall? Das konnte nur sein Enkel Kai sein! Voltaire konnte nicht sagen, dass er sich freute – er freute sich niemals über die Anwesenheit anderer. Zumindest meistens nicht. Sein silberhaariger Enkel unterdessen tappte ins Wohnzimmer, ließ sich auf das Kanapee plumpsen und verschränkte die Arme vor der Brust. Voltaire trank einen weiteren Schluck heißer Schokolade, genoss das milchig verdünnte Aroma, das einfach dazugehörte, und lächelte schief in sich hinein. Natürlich darauf achtend, dass niemand etwas von dem kleinen Anflug von Freude mitbekam. Sein Enkel sah wie immer katastrophal aus: zerrissene Jeans, die unter dem Hintern aussahen, als trüge Kai eine Windel, ein Pullover, so hässlich, wie ihn nur eine erstklassige Privatschule ausgeben konnte.. und die allgegenwärtigen Dreiecke auf den Wangen. Voltaire war schon seit Jahren der Meinung, Kai sollte seine Psychotherapeutin aufsuchen – aber der Achtzehnjährige hatte schon immer etwas empfindlich auf dieses Thema reagiert, darum ließ er es lieber sein. „Wie du siehst, bin ich da“, meinte Kai irgendwann mürrisch, als wäre er dazu gezwungen worden, herzukommen. Dabei wusste Voltaire sehr genau, worum es seinem Enkel ging: den magischen Zutaten. Er machte sich nicht die Mühe, sein Schmunzeln zu verstecken. „Das heißt, du wirst mir dieses Weihnachten wieder Gesellschaft leisten, Enkel?“, erkundigte er sich, während er sich schwerfällig erhob und nach seinem Stock greifen wollte. Kai war schneller, und reichte ihn ihm. Eine neue Geste der Höflichkeit. Des Respekts. Ein Fortschritt, wie die Psychotherapeutin sagen würde. Voltaire nickte und nahm seinen Stock. „Vielleicht“, erwiderte Kai, während er ihm, seinem Großvater, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, in die Küche folgte, um sich auch mit Tasse, heißer Milch und Kakaopulver einzudecken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)