Baby, it's cold outside von FreeWolf (Ein Adventskalender) ================================================================================ Kapitel 19: 19. Dezember - Tony ------------------------------- Sie stützte den Kopf auf die freie Hand, und fuhr sich mit der anderen müde übers Gesicht. Der Bildschirm vor ihr auf dem Schreibtisch flackerte. Der Bildschirmschoner schaltete sich ein, beleuchtete den Raum nur spärlich. Es war dunkel rundum – die Jalousien für die Nacht hatten sich bereits vor Stunden mit automatischem Knirschen geschlossen, und sie war zu sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen, um es zu bemerken. Nun, natürlich, fiel es ihr umso mehr auf. Der Kugelschreiber lag auf den Arbeitsmaterialien vor ihr, und Judy musste sich nicht zum ersten Mal erinnern, dass sie in diesem Monat jemanden Zuhause sitzen hatte, der auf sie wartete. Max hatte ihr den Kugelschreiber irgendwann, vor der Trennung noch, geschenkt. Strahlend wie sein Vater an ihrem Hochzeitstag. Judy lächelte versonnen, griff nach dem Schreibutensil, das eigentlich schon lange keine Tinte mehr hatte, und versuchte, den kleinen Maxie von damals mit dem heutigen in Verbindung zu bringen. Sicher, Grundzüge waren noch da; aber er war nicht mehr nur allein ihr Maxie. Er war ihr Feiertags-Max, und wahrscheinlich war sie auch nur seine Feiertags-Mom. Aufseufzend lehnte Judy sich zurück, steckte den Kugelschreiber mit einer resoluten Bewegung in ihre Kitteltasche. Ein „Humbug!“ konnte sie sich dabei nicht verkneifen – Abeniezer Scrooge würde stolz auf sie herablächeln, hätte es ihn denn gegeben. „Mrs. Tate?“, ein Lichtstrahl fiel aus dem Korridor herein, durch die geöffnete Tür. Der Schatten eines Mannes, dem, zu dem die Stimme gehörte, zeichnete sich im Gegenlicht ab. Die blonde Technikerin und Forscherin kniff ihre tiefblauen Augen zusammen. Der Bildschirm schräg neben ihr flackerte. „Tony?“, sprach sie den Nachtwächter direkt beim Vornamen an, und sogleich ging auch das Licht an. Tony Riveras hatte den Lichtschalter betätigt, und sogleich musste Judy feststellen, wie überreizt ihre Augen waren. Sie begannen, kaum blendete sie das helle Licht, zu tränen. „Der bin ich, Mrs“, der Nachtwächter verzog seine wulstigen Lippen – ein Teil seines schwarzen Erbes – zu einem breiten, typisch-strahlenden Grinsen, „Was denn, machen Sie schon wieder Überstunden?“ Judy stand auf, streckte sich und fühlte die üblichen Verspannungen in ihrem Rücken. Sie zuckte mit den Schultern, lächelte seicht, und steckte eine ihrer Hände in die Kitteltaschen. Die blonde Amerikanerin spürte den Kugelschreiber an ihrer Hand. Maxie wartete auf sie, Zuhause. „Ich muss“, übernahm sie den kollegialen Ton ihres Gesprächspartners, welcher daraufhin nur den Kopf schüttelte. „Nana, Mrs. Tate“, tadelte er freundlich, „Immerhin haben alle anderen dieselbe Verantwortung zu tragen wie Sie! Kommen Sie wenigstens auf einen Tee hinüber in die Küche!“ Judy mochte Tee eigentlich nicht. Doch während sie auf einem der sperrigen Küchenstühle hockte, und darauf wartete, dass der Teebeutel-Tee in ihrer Tasse mit heißem Wasser seine Aromen entfaltete, kam es ihr seltsam richtig vor. Der Kugelschreiber lag vor ihr auf der Tischfläche. „Ach Mist, schon wieder keine Milch mehr..“, Tony hatte die Angewohnheit, Tee mit Milch zu trinken, erinnerte sich Judy dunkel, und beobachtete ihn, wie er nach einem Kugelschreiber tastete. Ausgerechnet ihren erwischte er. Kaum hatte er festgestellt, dass er nicht funktionierte, öffnete er die Mülltonne, um ihn zu entsorgen. „Nein!“, protestierte da die blondschöpfige Forscherin und streckte die Hand aus, „Den dürfen Sie nicht wegwerfen!“ Tony hielt inne. Er drehte sich zu ihr um und hob seine dichten, schwarzen Augenbrauen fragend in die Höhe. „Warum denn? Er ist doch kaputt! Sie sollten sich einen Neuen zulegen!“ „Den hat mir mein Sohn geschenkt“, erklärte Judy, verlegen lächelnd, „Vor einer halben Ewigkeit. Ich weiß, er ist schon lange aufgebraucht, aber.. ich trage ihn immer noch bei mir.“ - „Wie einen Glücksbringer!“, Tony strahlte, und drehte den Kugelschreiber in seiner Hand, schien ihn nun, mit besonderer Sorgfalt zu betrachten, ehe er ihn wieder zurückreichte. Judy lächelte, legte eine Hand kuppelförmig über den Rand ihrer Teetasse. Der heiße Wasserdampf kondensierte sogleich, und sie fühlte die Feuchtigkeit, wie sie sich langsam an ihrer Handfläche sammelte. Mit der anderen umklammerte sie den Kugelschreiber beinahe, und versonnen blickte sie auf den Zipfel des Teebeutels, der aus der Tasse mit dem Graf-Dracula-Motiv heraushing. „Maxie ist diese und die nächste Woche bei mir, bis Neujahr“, erzählte sie urplötzlich, ganz die stolze Mutter, die sie war, „Aber wir sehen uns nicht viel. Ich arbeite viel, und er unternimmt oft etwas mit seinen Freunden“ Tony musterte sie. Eine Minute, vielleicht zwei, herrschte vollkommenes Schweigen zwischen ihnen, ehe er seinen Mund zu einem breiten Lächeln verzog. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend. „Gehen Sie nach Hause, Mrs. Tate. Ihr Maxie will doch sicher seine Weihnachtsferien mit Ihnen verbringen“, riet er ruhig, und Judy blickte den Kugelschreiber an, den sie wieder unbewusst hervorgeholt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)