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Nix Rubra

- Roter Schnee -
von

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Kälte

Es war immer dasselbe, dachte Shirō Fujimoto grimmig, als er den ersten gewaltigen Kälteschock überwunden, sich aufgerappelt und anschließend den Schnee soweit es ging von sich abgeklopft hatte. Das Reisen mittels der magischen Schlüssel mochte zwar an und für sich bequem sein und einem viel Zeit sparen, doch wusste man nie so genau, wo man letztendlich auf der anderen Seite der Tür enden würde. Es wäre durchaus hilfreich gewesen, zu wissen, dass das Kapellenportal, das ihm als Ausgang zugeteilt worden war, mit einer hohen Stufe direkt nach außen in die tief verschneite Wildnis führte – das hätte ihm seinen wenig eleganten Fall in das kalte Weiß erspart. Wenigstens hatte ihn niemand bei dem misslungenen Auftritt gesehen, stellte er erleichtert fest, als er sich nun gründlich in der Umgebung umsah. Die kleine Kapelle, aus der er soeben getreten oder vielmehr gefallen war, stand auf einer Anhöhe, von der aus er eine gute Sicht auf die Landschaft hatte. Nahezu zu allen Seiten hin erstreckte sich ein unendlich scheinender, düsterer Nadelwald, der sich noch über die nächsten Hügel weiterzog, unterbrochen lediglich von dem breiten, eisgrauen Band eines halbzugefrorenen Flusses. Zu seiner Rechten konnte er in einer Senke die Stadt sehen, wegen der er überhaupt hierher gerufen worden war, ihre Häuser schienen unter der gewaltigen Schneelast auf ihren Dächern fast im Boden zu versinken. Hier gab es eindeutig zu viel von dem weißen Zeug, beschloss Shirō frustriert, ehe er seine Tasche schulterte, seinen Schal um sein Gesicht wickelte, die Hände soweit es ging in die Ärmel zurückzog und sich an den Abstieg Richtung Tal machte.
 

Eine gute dreiviertel Stunde später hatte er die Ausläufer der Stadt erreicht, und erkannte nun, dass die Häuser nicht halb so zwergenhaft waren, wie sie von oben vielleicht ausgesehen hatten. Auch wenn man hier doch recht weit ab vom Schuss lag, war die Modernisierung auch hier nicht spurlos vorbei gegangen, die Stadt hatte nur mehr wenig von einem der malerischen Winter-Postkartendörfer, die man wohl zuerst mit dieser Gegend verbunden hätte. Die meisten Häuser sahen recht neu aus und waren nur noch mit Holz verkleidet und nicht mehr reine Holzhäuser wie vielleicht früher einmal. Die Straße, auf der er sich befand, war von den Schneemassen befreit worden, zu beiden Seiten der Bürgersteige türmten sich die durch den Schneepflug entstandenen Wälle. Außer ihm selbst schien niemand unterwegs zu sein, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die ihm gegebene Adresse selbst zu suchen.

Shirō überlegte, ob man ihn jemals zuvor so spontan abkommandiert hatte, konnte sich aber nicht erinnern. Er war morgens ins Büro seines Vorgesetzten gerufen worden, welcher ihm eine Akte in die Hand gedrückt und ihm eröffnet hatte, er solle sich noch innerhalb der nächsten Stunde auf den Weg machen. Es war gerade noch genug Zeit gewesen, das Nötigste zu packen und einen oberflächlichen Blick auf die Akte zu werfen, ehe er sein warmes Zimmer durch die Tür in dieses klirrend kalte Winterwunderland verlassen hatte. Sein Job konnte manchmal wirklich nerven. Natürlich, als Exorzist hatte man keine geregelten Arbeitszeiten und keine festgelegten Urlaubstage, aber war ein wenig mehr Rücksicht auf seine Angestellten denn wirklich zu viel verlangt? Immerhin war er erst gestern von einem sehr ermüdenden und frustrierenden mehrtägigen Einsatz aus der Hauptstadt zurückgekehrt. Er konnte Naberius und ihre Meister generell nicht leiden, und noch weniger mochte er es, ihnen ewig hinterherjagen zu müssen, nur um dann einen toten Meister und einen freien und amoklaufenden Naberius vorzufinden. Wenn man schon einen Dämon dieser Klasse heraufbeschwor, sollte man doch wenigstens in der Lage sein, ihn mit der eigenen Willenskraft unter Kontrolle zu halten. Sollte man zumindest meinen.

„Wie war das gleich, “die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los“?“ murmelte er sich bitter selbst zu, während er weiter die Straße hinabging. Mittlerweile hatte er das Gefühl, als würden seine Ohren bei der kleinsten Berührung einfach zerbröckeln. Vielleicht waren sie das auch schon, fühlen konnte er sie jedenfalls nicht mehr. Dann endlich kam ein Gebäude in Sicht, das aussah, als könnte es auf die Beschreibung in seinen Instruktionen passen – namentlich das einzige Wirtshaus mit Gästezimmern in der Stadt. Erleichtert, nun aus der Kälte entkommen zu können, beschleunigte er seinen Schritt, bis er direkt vor der schweren Holztür stand. Gerade, als er die mittlerweile schon gefühlslose Hand nach der Klinke ausstreckte, wurde die Tür schwungvoll von innen geöffnet, so dass er einen Satz nach hinten machen musste, um nicht getroffen zu werden.

„Oh- Entschuldigen Sie vielmals, Sir! Ist alles in Ordnung?“

Shirō starrte sein Gegenüber eine Sekunden perplex an, bis sein kältestarres Gehirn endlich das Gesamtbild zusammengesetzt hatte. Im Türrahmen stand ein junger Mann Anfang zwanzig, mit strubbeligen, schwarz-braunen Haaren, etwas kleiner als er selbst, aber in einen identischen schwarzen Mantel gekleidet. Am linken Revers schimmerte das goldene Abzeichen des True Cross Ordens. Sein akzentgefärbtes Englisch verriet Shirō den Rest.

„Ähm… geht es Ihnen nicht gut?“

Endlich löste er sich aus seiner Starre.

„Eh, alles klar, danke der Nachfrage. Du musst der Kollege vom russischen Orden sein, richtig?“

Der junge Mann strahlte ihn begeistert an.

„Jawohl, Sir! Mein Name ist Nikita Beljajew, es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen Sir!“

Shirō winkte unbehaglich ab.

„Um Himmels Willen, wegen mir braucht’s die ganzen Förmlichkeiten nicht. Fujimoto wäre völlig ausreichend, bitte spar‘ dir das „Sir“, ja?“

Er machte einen Schritt auf die Tür zu, und dankenswerterweise verstand Beljajew sofort und trat eilig zurück.

„Entschuldigen Sie, natürlich, kommen Sie erst mal herein. Ich hoffe, Sie hatten keine Probleme, herzufinden? Normalerweise hätte unser Orden selbstverständlich Sorge dafür getragen, dass jemand Sie abholt, aber wir sind im Moment noch ziemlich unterbesetzt“, er lächelte ihm entschuldigend zu, „und ich selbst bin nur kurz vor Ihnen hier eingetroffen. Es kam alles sehr… kurzfristig.“

„Das kannst du laut sagen“, schnaubte Shirō amüsiert. „Wie sieht es jetzt aus, haben wir noch Verstärkung zugeteilt bekommen?“

„Was das angeht…“
 

Aufgrund des plötzlichen Klimawechsels waren Shirōs Brillengläser komplett beschlagen und die ersten Schritte folgte er Beljajew quasi im Blindflug. Als sich seine Sicht halbwegs wieder aufgeklart hatte, stellte er fest, dass sie mittlerweile einen recht gemütlich anmutenden Wirtsraum mit einer niedrigen Decke, vertäfelten Wänden und einem großen dunkelgrünen Kachelofen auf einer Seite des Zimmers betreten hatten. Von einem Tisch nahe dem Tresen hatte sich ein weiterer Mann im schwarzen Mantel erhoben und kam ihnen entgegen. Er mochte um die vierzig sein, ungefähr gleich groß wie Shirō selbst, mit dunkelblondem Haar und Bart.

„Shirō Fujimoto nehme ich an? Es ist mir ein Vergnügen. Mein Name ist Cyrill Langley, ich wurde vom englischen Orden geschickt, um bei der Aufklärung dieses Falles zu helfen.“

Shirō schüttelte die angebotene Hand.

„Damit wären wir auch schon komplett“, schaltete sich nun wieder Beljajew ein, „zur Zeit sind einfach nicht mehr Exorzisten Ihres Ranges erreichbar.“

Shirō seufzte. Sie waren also zu dritt, gut, dass war weniger, als er gehofft hatte, aber er hatte schon unter schlechteren Bedingungen arbeiten müssen.

„Wie dem auch sei, wir sollten keine Zeit verlieren. Je eher wir diese Sache aufklären, desto besser.“
 

„Ich denke, es wäre am besten, ahm, also wenn ich Ihnen eine kurze Zusammenfassung gebe, wenn Sie einverstanden sind“, begann Beljajew, etwas nervös lächelnd angesichts der Aufgabe, die zwei ranghöheren Kollegen informieren zu müssen.

Mittlerweile befanden sie sich in einem der Zimmer, das Beljajew ihnen als eine Art provisorischen Konferenzraum eingerichtet hatte. Sie saßen an zwei zusammengeschobenen Tischen, auf denen verschiedene Aktenkladden und Karten auslagen. Beljajew hatte zudem zu Shirōs Freude zwei Kannen Kaffee von unten aus der Küche geholt, und nach dem zweiten Becher hatte er langsam gefühlt, wie die Symptome der Kältestarre nachließen.

Beljajew tippte auf die Aktenkladde vor sich und fing an, die Fakten zu rekapitulieren.

„Also, innerhalb der letzten vier Monate sind in der näheren Umgebung dieser Stadt insgesamt acht Personen spurlos verschwunden. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Durchreisende, deren Verschwinden nicht sofort bemerkt wurde, in zwei Fällen aber auch um Einheimische. Zunächst hat sich die Polizei des Falls angenommen, die haben alles Mögliche angenommen, von Drogenhändlern über Organschmugglerringen bis zu Serienmördern, aber sie kamen zu keinerlei Ergebnissen, die Personen blieben wie vom Erdboden verschluckt, und quasi direkt unter der Nase der Polizei verschwand ein weiterer durchreisender Arbeiter. Zwischen den Opfern bestanden keinerlei Verbindungen oder Gemeinsamkeiten.“

Langley räusperte sich.

„Ich verstehe, dass die Polizei nicht weitergekommen ist, aber warum wurde der Orden eingeschaltet? In den uns zugeschickten Berichten war nichts von einer Bitte um Unterstützung vermerkt.“

Beljajew zog aus einer der Aktenmappen vor sich ein Blatt und schob es Shirō und Langley zu. Es war ein auf Englisch verfasster Bericht, der von einigen Tabellen ergänzt wurde. Shirō überflog den Text und sah dann überrascht auf.

„Eine Untersuchung über das absolutes Fehlen jeglicher Dämonen in dieser Gegend?“

„Ein Mitglied des russischen Ordens hat diese Untersuchung angestellt. Er stammte hier aus der Gegend und war sich sicher, dass irgendetwas nicht stimmte.“

Beljajew zog ein weiteres Blatt aus der Akte, diesmal war es eine Karte der Umgebung. Von der Stadt als Mittelpunkt ausgehend war mit dem Zirkel ein Kreis gezogen worden, der mehrere Quadratkilometer abdeckte.

„Innerhalb dieser Zone findet sich kein einziger Dämon – weder Coal Tar noch Geister.“

Langley schnalzte beeindruckt mit der Zunge. Shirō starrte nachdenklich auf die Karte. Von einem solchen Fall hatte er noch nie gehört. Natürlich gab es Möglichkeiten, Barrieren gegen Dämonen zu errichten, die gesamte Stadt True Cross war beispielsweise mit solchen Schutzzaubern gesichert, aber zu welchem Zweck sollte hier jemand in dieser Abgeschiedenheit eine solche Mühe auf sich nehmen? Und wenn es niemand aktiv herbeigeführt hatte, würde das bedeuten, dass -

„Ist ein extrem starker Dämon in der Gegend, fliehen oft die Schwächeren“, sprach Langley in diesem Moment seinen Gedanken aus. Er trommelte angespannt mit den Fingern auf die Tischplatte.

„Bei dieser Größe des evakuierten Gebietes wäre es nicht unwahrscheinlich, dass es ein direkter Untergebener einer der Könige der Hölle ist. Ich nehme an, deswegen wurde die unverzügliche Order ausgegeben, hier herzukommen?“

„Es ist nicht nur das.“ Beljajew seufzte schwer, und zum ersten Mal an diesem Nachmittag verschwand sein Lächeln vollkommen.

„Der Exorzist, der diese Untersuchung angestellt hat, tat dies auf eigene Initiative hin vor Ort. Er kam vor acht Tagen hierher, vorgestern erreichten uns im Hauptquartier diese Unterlagen per Post. Aber er selbst ist seit fünf Tagen verschwunden. Laut Aussagen der Wirtsleute kam er abends nicht hierher zurück, und wir haben seitdem kein einziges Lebenszeichen von ihm erhalten. Wir müssen also davon ausgehen, dass der Second First Class Exorzist Sergej Chekov ebenfalls zum Opfer dessen geworden ist, was dort draußen lauert.“
 

Shirō trat zum zweiten Mal an diesem Tage hinaus in die Kälte. Mittlerweile war es draußen schon dunkel, die vereinzelten Straßenlaternen versuchten vergeblich, die Straße völlig zu erhellen. Sie hatten den gesamten Nachmittag damit verbracht, die Profile der verschwundenen Personen und den Polizeibericht durchzugehen, was sich für Shirō selbst als schwierig herausgestellt hatte, da er kein Wort Russisch lesen konnte. Langley hatte erklärt, dass er deswegen geschickt worden war, weil er die Sprache perfekt beherrsche, tatsächlich war er zu den Zeiten, als der russische Orden noch nicht existiert hatte, zusammen mit einigen anderen international zusammengewürfelten Exorzisten hauptsächlich dafür zuständig gewesen, in Sowjetunion Dämonen zu vernichten. Shirō hatte insgeheim jubiliert, dass die Einsatzleitung tatsächlich einmal mitgedacht hatte, doch trotzdem gestaltete sich das Unterfangen anstrengend und zeitaufwändig, da effektiv nur zwei Berichte gleichzeitig gelesen werden konnten, und auch nicht zuletzt deswegen, weil Beljajew es sich nicht hatte nehmen lassen, Langley ein ums andere Mal freundlich über die richtige Übersetzung eines Wortes aufzuklären. Langley war zunehmend entnervt über den Übereifer des jungen Kollegen gewesen, Shirō selbst fand die Situation ehrlich gesagt extrem amüsant.

Schließlich waren sie jedoch zu dem frustrierenden Schluss gekommen, dass sie vorerst zu keinem Schluss kommen konnten und hatten beschlossen, eine kurze Pause einzulegen.

Shirō lehnte sich gegen die Hauswand, seufzte tief und begann in den Taschen seines Mantels nach seiner Schachtel Zigaretten zu kramen.

„Das klingt ja herzergreifend unglücklich.“

Shirō fuhr herum als hätte ihn ein elektrischer Schlag erwischt. Aus Richtung der Hauptstraße kam jemand völlig entspannt den Bürgersteig entlang geschlendert, der zwei Sekunden zuvor garantiert noch nicht dort gewesen war. Er wusste es, noch bevor die Gestalt in den Lichtkegel einer der Straßenlaternen trat.

„Du?!“

Johann Faust der Fünfte, oder eigentlich eher Mephisto Pheles, hauptberuflich Dämon und Kundschafter Gehennas, in seiner Freizeit Doppelagent für den True Cross Orden und seit einigen Jahrzehnten Leiter der True Cross Academy, stand nunmehr keine zwei Meter von ihm entfernt. Seitens der Exorzisten des Ordens wurde ihm vermutlich mehr Animosität und Misstrauen entgegengebracht als Satan höchstpersönlich, und Shirō hatte nach ihrer ersten Begegnung vor vielen Jahren eigentlich versucht, den Kontakt auf Minimum zu halten. Das hatte sich allerdings als ein Ding der Unmöglichkeit erwiesen, denn offenbar hatte Mephisto damals ein gewisses Vergnügen daran gefunden, ihm auf die Nerven zu fallen.

„Aber, aber, etwas mehr Enthusiasmus von deiner Seite hätte ich da schon erwartet, immerhin bin ich extra hierhergekommen, um dich zu besuchen!“

„Kann mich nicht daran erinnern, dich darum gebeten zu haben“, erwiderte Shirō ehrlich verwirrt und musterte den Mann vor sich. Er war sich ziemlich sicher, dass Mephisto nicht vom Orden geschickt worden war um zu helfen, seine Position war über solch triviale Aufgaben wie Dämonenjagden absolut erhaben. Und dass Mephisto ihn aus reiner Herzensgüte besuchen kam, bezweifelte er ebenso.

„Weißt du“, erwiderte Mephisto amüsiert, „wenn ich dich nicht so gut kennen würde, könnte ich glatt denken, du wärest nicht erfreut darüber, mich zu sehen.“ Er tippte spielerisch zum Gruß mit zwei Fingern an die Hutkrempe seines lächerlich großen lindgrünen Zylinders.

Das war überhaupt der andere Grund, welcher viele der Exorzisten des Ordens dazu veranlasste, einen großen Bogen um diesen Mann zu machen: sein überaus flamboyanter Kleidungsstil. Diesmal hatte er sich neben genannten lindgrünen Zylinder mit grell pinkem Hutband für einen burgunderroten Gehrock, fliederfarbene Nappa-Leder-Handschuhe, eine mitternachtsblaue Nadelstreifenhose und cognacfarbene Oxford-Schuhe entschieden. Er stach mit seinem interessanten Kleidungsgeschmack stets aus der Masse der anderen Exorzisten in ihren schwarzen Mänteln hervor wie ein Pfau unter einem Schwarm etwas zerrupft aussehender Raben.

„Sag mal… frierst du denn überhaupt nicht in dem Aufzug?“

Mephisto zuckte milde desinteressiert mit den Schultern.

„Weißt du, im Vergleich zu da, wo ich eigentlich her komme, ist es für mich in ganz Assiah ziemlich kalt. Dreißig oder Vierzig Grad weniger machen da auch nichts mehr aus, ich habe mich schon vor langer Zeit an die Kälte hier gewöhnt.“

Die Nonchalance, mit der er von Gehenna sprach, nahm Shirō für einen Moment komplett den Wind aus den Segeln. Schließlich gab er nur ein recht klägliches „Ach so“ von sich.

Mephisto lachte nur glucksend und lehnte sich neben ihn an die Hauswand, während Shirō sich nun wieder auf seine eigentliche Tätigkeit besann und eine Zigarette aus der Packung fischte.

„Idiot, erschreck mich nächstes Mal nicht so, wenn du schon plötzlich auftauchen musst“, murrte Shirō, wenn auch etwas undeutlich, da nun mit Zigarette im Mundwinkel, während er alle Taschen seines Mantels nach einem Feuerzeug durchsuchte. Himmel, diese Mäntel hatten einfach zu viele Taschen. Schließlich gab er frustriert auf.

„Du hast nicht zufällig Feuer?“

Mephisto warf ihm einen ungläubigen Was-ist-das-denn-für-eine-blöde-Frage-Blick zu, ehe er lässig mit den behandschuhten Fingern schnippte, damit eine kleine hellorange Flamme heraufbeschwor und diese einige Zentimeter über seiner Hand tanzen ließ.

„Weißt du, Shirō“, meinte er und betrachtete gespielt nachdenklich das flackernde Flämmchen, „Rauchen schadet der Gesundheit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Laster bei dir unterstützen sollte.“

Shirō verdrehte nur genervt die Augen, murmelte undeutlich etwas, das verdächtig nach „Hältst du dich jetzt für meine Mutter oder was?“ klang und lehnte sich nach vorn, bis das Ende der Zigarette die Flamme berührte.

„Also“, meinte er dann und hauchte eine Wolke aus Rauch dem klirrend kalten und strahlend klaren Nachthimmel entgegen, „bist du nur hergekommen um mich zu ärgern oder willst du etwas Produktives zu diesem Fall beitragen?“

„Eigentlich Ersteres, aber wo ich schon mal da bin, gehe ich dir natürlich auch gerne zur Hand. Also, worum geht’s hier?“

Shirō starrte ihn perplex an.

„Du bist den ganzen weiten Weg hier irgendwo ins Nirgendwo gekommen, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, warum wir überhaupt hier sind?!“

„Ich bin lediglich der Staubwolke gefolgt, die die Kavallerie bei ihrem Aufbruch hinterlassen hat“, antwortete Mephisto gelassen. „Eine Mission, für die ein so erstklassiger Upper First Class wie du umgehend abgeordnet wird und ein Gesuch an alle Orden der Welt geht, wenn möglich Unterstützung bereit zu halten - so etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen. Außerdem, was die Entfernung angeht: du solltest wissen, dass selbst andere Kontinente für mich nur einen Katzensprung entfernt sind. Außerdem hatte ich eh grade nichts Besseres zu tun.“

Shirō grinste.

„Okay, das glaube ich dir gern.“
 

Eine Weile standen sie im einvernehmlichen Schweigen nur da, dann berichtete Shirō Mephisto in Kurzfassung von dem Fall.

„Klingt in der Tat merkwürdig. Und wenn tatsächlich einer meiner Brüder etwas dieser Größenordnung auf Assiah losgelassen hat, dann ist es bald nicht nur mehr diese Stadt, die Probleme hat“, resümierte Mephisto.

„Herzlichen Dank für die aufmunternden Worte, mein Freund“, erwiderte Shirō sarkastisch.

Sein Gegenüber lachte nur auf und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

„Aber nicht doch, kein Grund, das Ganze so schwarz zu sehen, konzentriere dich lieber auf die positive Seite der Dinge!“

„Die da wäre?“

„Von jetzt an habt ihr einen Joker in eurem Team.“ Er zwinkerte Shirō verschwörerisch zu.

„Du willst freiwillig hier mitarbeiten?“ fragte Shirō skeptisch.

„Ich lasse meine Freunde doch nicht ins offene Messer rennen. Und wenn, dann nur zu meiner Unterhaltung und in meinem Beisein. War dir das nicht klar?“

Shirō überging die offensichtliche Provokation.

„Gerne, allerdings solltest du dann lieber deine… nunja, Erscheinung überdenken.“

Mephisto sah ihn fragend an.

„Die Leute hier sind generell alles andere als aufgeschlossen gegenüber Ordensmitgliedern allgemein, noch sehr viel weniger welchen wie mir vom Vatikan“, er tippte mit dem linken Zeigefinger leicht gegen eins der kleinen Holzkreuze, die sein Brillenband verzierten, „da glaube ich kaum, dass sie jemanden wie dir auch nur annähernd über den Weg trauen würden. Nicht, dass das überhaupt jemand tun sollte.“

„Ach, ist das so?“

Shirō grinste nur.

„Meinst du, du könntest deine wundervollen Zaubertricks zur Abwechslung auch mal für etwas Sinnvolles einsetzen?“
 

Als Shirō kurz darauf erneut das Konferenzzimmer betrat, hoben Beljajew und Langley simultan die Köpfe. Letzterer schaute eindeutig erleichtert drein, und Shirō fragte sich, ob Beljajew ihm wohl während seiner Raucherpause einen Kurzvortrag über die russische Translationswissenschaft gehalten hatte, dieser lächelte jedenfalls verdächtig vergnügt.

Shirō räusperte sich Achtung heischend.

„Gute Neuigkeiten, die Herren, Verstärkung ist soeben eingetroffen.“

Beljajew strahlte begeistert, Langley seufzte erleichtert und murmelte „Oh Wunder, hat der Orden doch einmal was auf die Reihe gebracht!“.

Shirō trat von der Tür zur Seite, um eine weitere, sehr hochgewachsene Person in der schwarzen Uniform des True Cross Ordens einzulassen. Kaum hatte sie den Raum betreten, versank sie in eine definitiv überzogene und spöttische Verbeugung.

„Gestatten die Herrschaften, Heinrich Wagner, stets zu Diensten. Es wird mir ein Vergnügen sein, mit Ihnen zu arbeiten.“ Er lächelte breit und zeigte eine Reihe blitzender und etwas zu spitz geratener Zähne.

Shirō musste unwillkürlich grinsen. Diese Mission versprach eindeutig interessant zu werden.
 

---tbc---

Verschollen

A/N: Einen schönen zweiten Advent, euch allen.

An dieser Stelle möchte ich übrigens noch anmerken, dass ich Mephistos Einstellung bezüglich des Rauchens teile und Shirō hier kein positiver Anreiz sein sollte, damit anzufangen.

Sincerely, genek.
 

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„Deine Pseudonyme waren übrigens auch schon mal besser.“

„Findest du?“

Shirō schälte sich aus seinem Mantel und warf ihn achtlos über die Stuhllehne, ehe er mit routinierten Bewegungen seine Stiefel auszog.

„Finde ich.“

Mephisto verzog gekränkt das Gesicht.

„Also ich finde dafür, dass ich das Ganze in kürzester Zeit improvisieren musste, war es sehr überzeugend.“

Shirō seufzte und ließ sich aufs Bett fallen. Er bereute seine Entscheidung Mephisto zu rekrutieren fast schon wieder, denn die letzten Stunden war mehr als anstrengend gewesen. Während Beljajew das völlig unverhoffte Auftauchen des unangekündigten Kollegen fraglos und über alle Maßen begeistert aufgenommen hatte, hatte Langley genauer nachgebohrt. Ihnen beiden war also nichts anderes übrig geblieben, als schnell eine halbwegs hieb- und stichfeste Geschichte zusammen zu spinnen, wonach Mephisto – oder Henrich Wagner, wie er sich ja jetzt nannte – ein Aria Upper First Class Exorzist des deutschen True Cross Ordens war, sich aber im Moment eigentlich aus dem Dienst zurückgezogen hatte, und dass er und Shirō bereits einmal zusammengearbeitet hatten und er mehr inoffiziell als angeordnet zu ihrer Unterstützung gekommen war. Jetzt konnten sie nur hoffen, dass Langley, sobald er wieder in das Hauptquartier seines Ordens zurückkehrte, keine weiteren Nachforschungen anstellen würde.

„Abgesehen davon ist es deine Schuld, immerhin hast du doch darauf bestanden, dass ich mich als Mensch ausgebe, oder etwa nicht?“

Shirō hob den Kopf etwas an und blinzelte zu seinem Freund hinüber, der gelassen mit verschränkten Armen an den Schreibtisch unter dem Fenster gelehnt stand. Zugegeben, ohne die überkandidelte Kleidung und stattdessen in der schwarzen Einheitstracht des Ordens, ohne die spitzen Ohren und mit etwas weniger greller Haarfarbe wirkte er für jemanden, der es nicht besser wusste, wirklich sehr menschlich. Aus irgendeinem Grund bereitete das Shirō persönlich fast schon Unbehagen.

„Wenn du dich als der Honorary Knight des Ordens vorgestellt hättest, wäre das noch schwieriger zu erklären gewesen“, antwortete er dann, „außerdem trauen dir eine Menge Exorzisten einfach nicht über den Weg, und ich habe zum Beispiel nicht den Eindruck, als würde Langley zu den vertrauensvollsten Seelen zählen.“

Mephisto grinste.

„Schade eigentlich, dass wir’s nicht drauf ankommen haben lassen. Ist schon eine Weile her, dass zuletzt jemand versucht hat, mich zu exorzieren, und es ist jedes Mal wieder unterhaltsam.“

„Du hast eine merkwürdige Definition von Spaß.“

Shirō ließ den Kopf wieder zurück fallen und schloss müde die Augen.
 

Nachdem sie erfolgreich die Etablierung von Wagner-Schrägstrich-Mephisto als Exorzist hinter sich gebracht hatten, hatte es an die Tür des Zimmers geklopft und der Wirt hatte vor der Tür gestanden. Er war ein recht schmächtiger Mann Mitte vierzig mit schütterem braunen Haar und wässrig blauen Augen. Er hatte Beljajew gefragt, ob es den werten Herren Exorzisten lieber wäre, wenn ihnen das Essen nach oben gebracht würde oder ob sie unten in der Gaststube essen wollten. Sie hatten sein freundliches Angebot dankend angenommen und im Konferenzraum gegessen, während sie ihre nächsten Schritte geplant hatten. Währenddessen hatte der Wirt ein weiteres Zimmer für den hinzugestoßenen Gast hergerichtet, offenkundig sehr zufrieden mit dieser Entwicklung. Shirō wusste, dass das eigentlich absolut unnötig war, schließlich schlief Mephisto wenn überhaupt eine Stunde pro Nacht und hätte dafür nicht unbedingt ein eigenes Zimmer benötigt, aber schließlich zahlte für all ihre Ausgaben hier sowieso der Orden, also konnte es ihm genau genommen herzlich egal sein.

Nach dem Essen hatten sie schließlich beschlossen, alles weitere am nächsten Tag zu klären. Die letzte Mission, von der er noch keine Möglichkeit gehabte, sich zu erholen, hatte letztlich doch ihren Tribut gefordert und Shirō war plötzlich zum Umfallen müde gewesen, und er hatte sich eigentlich nichts gewünscht außer ein bisschen Ruhe. Er hätte es ja wissen müssen, dass das nicht funktionieren würde.

„Weißt du, ich empfinde diesen aufgezwungenen Kleidungsstil irgendwo als Einschränkung meiner freien Persönlichkeitsentfaltung.“

Shirō beschloss, einfach so zu tun, als wäre er eingeschlafen.
 

Als er früh am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wusste er einen kurzen Moment lang überhaupt nicht, wo er war. Das war einer der Umstände, die aus seinem Beruf fast schon unweigerlich folgten, er war schließlich länger als ein paar Tage am selben Ort gewesen in letzter Zeit. Noch recht dösig tastete er mit der linken Hand auf dem Nachtkästchen neben sich herum, in der Hoffnung seine Brille zu finden.

„Suchst du die hier?“

Er wäre vor Schreck beinahe aus dem Bett gefallen, als Mephisto plötzlich und wie aus dem Nichts neben ihm stand und ihm das gesuchte Objekt reichte.

„Was habe ich dir gestern über nicht-erschrecken gesagt, verdammt?!“ fauchte Shirō, immer noch unter Nachwirkungen des Schocks am frühen Morgen und nahm die Brille mehr widerwillig entgegen.

„Bitte, bitte, gern geschehen. Das nächste Mal nehme ich sie dir nicht ab, gibt sicher hübsche Druckstellen-Muster über Nacht.“

Shirō blickte an sich herunter. Während Mephisto wie aus dem Ei gepellt wirkte, waren seine Sachen furchtbar zerknittert. Offenbar war er tatsächlich eingeschlafen, ohne sich vorher umzuziehen oder seine Brille abzunehmen. Aber bedanken würde er sich trotzdem nicht bei Mephisto, beschloss er grimmig, allein schon aus Prinzip nicht.
 

Wenig später betraten die beiden den Konferenzraum, wo ein für diese Uhrzeit schon fast abstoßend gut gelaunter und munterer Beljajew sie in Empfang nahm. Langley saß schweigend am Tisch und schien sich lediglich auf die randvolle Kaffeetasse vor sich zu konzentrieren.

Etwas Koffein und Kohlenhydrate in Form von einem recht reichhaltigen Sortiment an Frühstücksbrötchen mit verschiedenen Belägen, die ebenfalls ihr russischer Kollege von einer Bäckerei im Ort besorgt hatte später, begannen sie damit, ihr Vorgehen für diesen Tag zu planen.

„Wir sollten versuchen, Chekovs letzten Tag hier so gut es geht zu rekonstruieren“, schlug Shirō vor, „denn wenn wir erfahren, wo er zuletzt war, erhalten wir auch einen Hinweis auf den Ort und möglicherweise auch die Art seines plötzlichen Verschwindens.“

„Sehr guter Plan, Fujimoto“, Beljajew strahlte ihn freudig an.

„Absolut, ich bin beeindruckt!“ meinte Mephisto, eindeutig spöttisch. „Und, welche Anhaltspunkte haben wir?“

Offenbar den Unterton völlig überhörend antwortete Beljajew unverzüglich: „Ich habe heute Morgen mit dem Wirt gesprochen, er meint, er sei sich ziemlich sicher, dass Chekov morgens, als er das Gasthaus verlassen hat, gemeint hat, dass er zu einem der ehemaligen Aussiedlerhöfe am Stadtrand wolle, warum genau, das hat er aber nicht gesagt.“

Shirō starrte den jungen Mann perplex an. Es war jetzt halb acht Uhr morgens, wann um Himmels Willen war er denn aufgestanden, wenn er bisher Frühstück für die gesamte Truppe besorgt und einen Zeugen befragt hatte?

Langley kramte aus dem mittlerweile recht chaotischen Stapel von Akten, die jetzt teilweise unter Kaffeebechern und Tellern begraben lagen, eine Karte des Ortes hervor und breitete sie vor sich aus.

„Da kommen mehrere in Frage“, stellte er dann nüchtern fest und tippte auf verschiedene Punkte auf der Karte. „Der Wirt kann sich nicht zufällig noch erinnern, auf welcher Seite der Stadt?“

„Nein, das hat Chekov wohl auch nicht gesagt“, antwortete Beljajew und legte bedauernd die Stirn in Falten.

Shirō zuckte nur mit den Schultern.

„Wäre ja auch zu einfach gewesen. Ich würde vorschlagen, wir teilen uns auf, dann haben wir das schnell rausgefunden.“

Langley warf ihm einen merkwürdigen Seitenblick zu.

„Sie brauchen auf jeden Fall einen Übersetzter. Sprechen Sie Russisch?“ fuhr er dann an Mephisto gewandt fort, der bisher das Geschehen nur milde lächelnd beobachtet hatte. Jetzt wurde aus dem milden Lächeln ein fast schon unheimliches Schmunzeln als er antwortete: „Ich spreche jede einzelne Sprache dieser Welt, plus ein paar mehr.“

„Alter Angeber“, schnaubte Shirō.

Beljajew schlug Langley gönnerhaft auf die Schulter.

„Sehr schön, dann sollen sie doch zusammen gehen, immerhin haben sie bereits miteinander gearbeitet. Wir beide bekommen das sicher genauso gut hin!“ erklärte er munter.

Als sie das Zimmer verließen, konnte Shirō Langley, als sie auf selber Höhe waren, leise murmeln hören „Warum muss es denn ausgerechnet der sein.“, woraufhin er ihm nur kaum wahrnehmbar zuflüsterte „Glaub mir, du willst nicht mit mir tauschen. Wirklich nicht.“.
 

Im Gegensatz zum gestrigen Tag war der Himmel völlig wolkenfrei und eisblau, der Schnee funkelte im reflektierten Sonnenlicht, sodass man die Augen zusammenkneifen musste, um etwas sehen zu können. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten, klaren Luft, als Shirō und Mephisto die Straße stadtauswärts schritten. Einige der wenigen Passanten warfen ihnen mehr oder weniger unverhohlen neugierige und skeptische Blicke zu. Im Gegensatz zu True Cross waren die Leute hier Exorzisten überhaupt nicht gewöhnt, dachte Shirō bei sich, immerhin war der bestehende Orden nach Kriegsende zwangsaufgelöst und erst vor wenigen Jahren neu gegründet worden, viele Leute hier wussten wahrscheinlich noch nicht einmal, zu welcher Organisation die zwei Männer in Schwarz wohl gehören mochten. Mephisto neben ihm fing an, irgendeine muntere Weise zu pfeifen, irgendwo in der Nähe hörte er das raue Krächzen einer Krähe, und plötzlich spürte er ein merkwürdiges Unbehagen. Er blieb abrupt stehen und sah sich um, unsicher, was dieses Gefühl bei ihm hervorgerufen hatte. Mephisto hielt überrascht ebenfalls inne.

„Was ist?“

„Ich weiß nicht… spürst du etwas?“

Mephisto schenkte ihm einen verständnislosen Blick.

„Ich weiß ja nicht, wie du dir das vorstellst, aber es ist nicht so, als hätte ich eine Art Dämonenradar oder so, nur weil ich selbst einer bin. Wäre ja auch hochgradig bescheuert, stell dir mal vor, du würdest jeden Menschen um dich herum spezifisch wahrnehmen, du würdest doch total durchdrehen!“

Shirō sah ihn überrascht an.

„Du kannst deinesgleichen also nicht aufspüren?“

„Naja, wenn mir einer gegenübersteht, erkenne ich ihn, auch wenn er sich noch so gut als Mensch tarnen mag“, er machte eine umfassende Geste Richtung seiner momentan sehr menschlichen Erscheinung, „aber ob und wo hier ein Dämon in der Stadt ist, kann ich höchstens sagen, wenn er aktiv in Erscheinung tritt. Ehrlich gesagt haben manche Menschen ein sehr viel besseres Gespür für unsereins als wir selbst.“

Shirō nickte gedankenverloren und blickte erneut die Straße hinab. Außer ihnen selbst sah er keine Menschenseele, alles lag völlig friedlich und ruhig da.

„Wahrscheinlich doch nur Einbildung. Lass uns weitergehen, bevor wir noch hier festfrieren.“
 

Der erste ehemalige Hof auf ihrer Liste lag fast schon am Waldrand, in einigen hundert Metern Entfernung hinter dem Haus konnte man das Ufer des Flusses erkennen. Früher war die gesamte gerodete Fläche wohl als Viehweide verwendet worden, jetzt verwilderte sie wahrscheinlich nur noch vor sich hin.

Sie mussten drei Mal klingen, bis sie schließlich Bewegung im Hausgang hören konnten. Als sich die Tür öffnete, stand ihnen ein etwa fünfzigjähriger Mann mit ergrauten Haaren gegenüber, der sie abschätzig musterte.

„Ja?“

Mephisto erklärte ihm kurz, wer sie waren, Shirō vernahm „True Cross“ und „Vatikan“. Als er geendet hatte, nickte der Mann nur kurz und winkte sie herein. Wenig später hatten sie ihm Wohnzimmer auf der Couch beziehungsweise auf einem Sessel platzgenommen. Vom ehemaligen Bauerncharme war hier nicht mehr viel zu sehen, das Zimmer war recht modern eingerichtet und wirkte nicht halb so urig, wie der Hof von außen vielleicht vermuten ließ.

Der Mann fragte kurz etwas, das Mephisto bejahte, dann wandte er sich an Shirō direkt und begann in schwer akzentgefärbtem, aber verständlichem Englisch zu erzählen.

„Ich nehme an, Sie sind wegen Ihrem Kollegen hier?“

Shirō nickte überrascht. Der erste Hof auf ihrer Liste, und schon ein Treffer, so ließen sich Ermittlungen doch durchaus aushalten.

„Er war also hier?“

Der Mann nickte.

„Vor sechs Tagen kam er hierher, um nach Vadim Sidorov zu fragen.“

Bei dem Namen klingelte etwas in Shirōs Gedächtnis.

„Einer der beiden Stadtbewohner, die ebenfalls verschwunden sind, nicht wahr?“

„Ja. Außerdem mein Cousin, ich bin nämlich Gavril Sidorov. Ich nehme an, deswegen war ihr Kollege auch bei mir.“

Mephisto lehnte sich lauernd vor.

„Wieso ist er denn zu Ihnen gekommen? War er der Meinung, Sie wüssten mehr als Sie bereits bei der Polizei ausgesagt hatten?“

Der provokante Unterton entging ihrem Gegenüber nicht.

„Was auch immer Sie damit andeuten wollen ist Schwachsinn!“ Sidorov funkelte sie wütend an. „Er kam und stellte völlig sinnlose Fragen, ich weiß überhaupt nicht, was er von mir wollte!“

Shirō spitzte interessiert die Ohren.

„Was für sinnlose Fragen zum Beispiel?“

„Ob Vadim sich je für Okkultes interessiert hätte. Oder ob er Kontakt zu Leuten gehabt hätte, die sich damit beschäftigen würden. Ob er in letzter Zeit anders wirkte. Oh, und ob er seit neustem den Eindruck gemacht hätte, zum Naturschützer zu werden.“

„Pardon?“ fragten Shirō und Mephisto unison.

„Sehen Sie? Total zusammenhangloser Quatsch! Als ob sich Vadim je mit so etwas abgegeben hätte! Ich hätte Sie beide ja nicht einmal reingelassen, nach dem, was Ihr Kollege da für Unsinn erzählt hat, aber als er am Tag nach seinem Besuch hier verschwand, da habe ich mich schon gefragt, ob vielleicht doch irgendwas an der Sache dran ist.“

Sidorov blickte nachdenklich aus dem Fenster.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich glaube nicht an böse Geister und Dämonen“, an dieser Stelle grinste Mephisto beinahe schon diabolisch, und Shirō war froh, dass Sidorov es nicht bemerkte, „aber irgendjemand in dieser Stadt scheint es zu tun.“

Shirō hob fragend die Augenbrauen.

„Wieso glauben Sie das?“

Sidorov wandte sich wieder ihnen zu und blickte sie düster an.

„Liegt das nicht auf der Hand? Irgendjemand hier war durch das Erscheinen eines Exorzisten beunruhigt genug, um ihn verschwinden zu lassen. Wenn ich Sie wäre, wäre ich vorsichtig, oder Ihr Kollege bleibt nicht der einzige verschollene Exorzist in dieser Stadt.“
 

Shirō lehnte sich auf dem Stuhl zurück und widerstand dem Drang, die überschlagenen Beine auf dem Tisch vor sich abzulegen. Nachdem sie schon beim ersten Hof Erfolg gehabt hatten, hatten er und Mephisto beschlossen, am besten wieder ins Gasthaus zurück zu kehren und dort auf die anderen beiden Exorzisten zu warten, anstatt zu versuchen, sie an einem der anderen Höfe abzufangen. Murphys Gesetz folgend hätten sie sich wahrscheinlich sowieso immer nur knapp verpasst und wären so unnötig in der Dummheit rumgelaufen, und dafür war es draußen entschieden zu kalt.

Während Shirō sich vom Wirt eine Portion Kartoffelsuppe hatte bringen lassen, hatte Mephisto aus unbekannten Quellen in seinen Manteltaschen einen ganzen Berg Süßkram zu Tage gefördert, denn er jetzt kontinuierlich dezimierte. Nun starrte Shirō dumpf an die schmucklose weiße Decke und dachte nach. Aus irgendeinem Grund hatte Sidorovs Warnung ihn getroffen und beunruhigt, ohne, dass er genau hätte sagen können, warum eigentlich. Ihm war schon so oft der Tod oder noch Schlimmeres angedroht worden, von Wesen, die durchaus in der Lage gewesen wären, ihre Drohungen einfach in die Tat umzusetzen, dass es ihn eigentlich nicht beunruhigen sollte, wenn es ein Mensch ohne die geringste Vorstellung der dämonischen Welt dort draußen tat. Und dennoch… es war wie das Gefühl an diesem Morgen auf der Straße, schleichend, grundlos und beunruhigend.

„Was meinst du, warum hat Chekov das mit dem Naturschützer gefragt?“ fragte Mephisto plötzlich.

„Viele okkulte Rituale berufen sich doch auf die Elemente und dergleichen. Vielleicht wollte er nur so fragen, ob sich Sidorov plötzlich mehr für den Kram interessiert hat, dass es auch ein Zweifler versteht“, antwortete Shirō automatisch.

„Der liebe Cousin meint ja, Sidorov hätte nicht so den Draht zu Mutter Natur gehabt, und wenn ich mir so die Polizeiakte in Erinnerung rufe, glaube ich, dass er da absolut Recht hat“, Mephisto schnaubte amüsiert. „Heidnische Elementrituale und Gesellschafterdasein in einer der größten Rodungsfirmen der Gegend passen irgendwie schlecht zusammen, findest du nicht?“

„Nicht wirklich, nein.“

Shirō richtete sich seufzend wieder auf und schnappte sich den Polizeibericht über Sidorov, den er sich vorher von oben aus dem Konferenzsimmer geholt hatte.

„Das Naturverbundenste an ihm war sein Haustier, so wie’s aussieht. Seine Frau hat ausgesagt, dass er oft nach der Arbeit noch mit dem Hund rausgegangen ist, entweder Richtung Fluss oder in die Wälder hinterm Haus. Von einem dieser Spaziergänge ist er dann nicht zurückgekehrt“, las Shirō ab, stutzte dann kurz, ehe er fortfuhr: „Der Hund übrigens auch nicht.“

Mephisto verzog abschätzig das Gesicht.

„Ich mag Hunde. Wenn das ein Wesen ist, dass Hunde umbringt, nehme ich das persönlich.“

„Du bist ein Idiot.“
 

In diesem Moment öffnete sich mit einem leisen Glockenklingeln die Tür und Shirō wandte den Kopf in der Erwartung, Beljajew und Langley zu sehen. Stattdessen trat ein verhärmt aussehender junger Mann in den Raum, der, als er sie erblickte, plötzlich erstarrte und sie aus geweiteten Augen anstarrte. Shirō wollte schon fragen, ob etwas nicht in Ordnung war, als der Wirt, durch das Klingeln herbeigerufen, aus der Küche kam.

„Ah, Antosha!“

Diesem erfreuten Ausruf folgte ein kurzer Wortwechsel, den Shirō nicht verstand, und während dem der Wirt zunehmend mitfühlend und traurig wirkte. Schließlich verschwand er wieder Richtung Küche. Bevor Shirō noch dazu kam, Mephisto um eine Übersetzung zu bitten, trat der Mann zu ihnen an den Tisch.

„Sie beide, sind Sie Exorzisten?“

Shirō blickte zu ihm hoch. Er war blass und unter seinen dunklen Augen zogen sich eben so dunkle Schatten; er wirkte, als habe er mehrere Nächte am Stück nicht geschlafen.

Mephisto kam ihm mit einer Antwort zu vor, als er fast schon spöttisch mit schiefgelegtem Kopf fragte: „Was wäre, wenn ja?“

Der junge Mann zuckte etwas hilflos mit den Schultern.

„Ich dachte, Ihr Kollege hätte schon hier ermittelt. Da er die Stadt verlassen hat, dachte ich nicht, dass noch ein Exorzist herkommen würde.“

Shirō starrte ihn verwirrt an.

„Er hat die Stadt nicht verlassen, er ist ohne jegliche Spur in dieser Stadt verschwunden“, sagte er dann gedehnt.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe auch die restliche Farbe aus dem Gesicht des Mannes gewichen war.

„Sie meinen, ihm könnte etwas zugestoßen sein?“ fragte er dann heiser, und Shirō vermeinte, einen Anflug dumpfer Panik in seinem Tonfall zu hören.

„Wir meinen, dass er sich wohl kaum einfach spontan in Luft aufgelöst hat“, erklärte Mephisto amüsiert und zerbiss mit einem krachenden Geräusch ein Bonbon.

Der Mann zuckte zurück, und für einen Moment dachte Shirō, er würde in Ohnmacht fallen, als der Wirt erneut den Raum betrat, nun mit einem großen in Alufolie verpackten Paket in der Hand. Der Mann wandte sich abrupt ab, nahm es entgegen, murmelte offenkundig ein Dankeschön und verschwand durch die Tür, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Shirō sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Der Wirt schien seinen misstrauischen Blick bemerkt zu haben.

„Entschuldigen Sie bitte, wenn er Sie irgendwie beleidigt haben sollte. Der arme Junge ist derzeit völlig durch den Wind. Seine Frau Ilya ist jetzt schon seit Monaten krank, es wird einfach nicht besser“, erklärte er und verzog mitleidig das Gesicht.

„Und deswegen versorgen Sie ihn mit Essen umsonst?“ schlussfolgerte Mephisto.

„Naja, ich kannte seinen Vater sehr gut, und so auch ihn, seit er ein kleiner Junge war. Wenn ich irgendwie helfen kann, werde ich das tun. Die Beiden leben ziemlich ab vom Schuss hinten an der Waldgrenze, gerade bei solchen Witterungsverhältnissen wie wir sie diesen Winter hatten, kann das sehr abgeschieden sein.“

„Das ist sehr ehrenwert“, meinte Shirō aufrichtig.
 

In diesem Moment ging erneut die Tür auf und Beljajew schneite herein, der strahlte, als er sie dort sitzen sah.

„Na so was, Sie sind auch schon wieder da?“

„Jupp. Wir haben gleich beim ersten Hof einen Treffer gelandet und beschlossen, am besten hier auf euch zu warten“, gab Shirō zur Auskunft.

„Das erklärt natürlich, warum wir nur Nieten gezogen haben“, stellte Beljajew lachend fest, kam zu ihnen an den Tisch und ließ sich auf einen der Stühle fallen.

„Wo haben wir denn den werten Herrn Langley eingebüßt?“ fragte Mephisto höflich interessiert.

Beljajew lächelte halb verschämt, halb belustigt, als er antwortete.

„Ich fürchte, ich habe seine Nerven heute etwas überstrapaziert, er hat jedenfalls gesagt, er bräuchte eine kurze Pause und wolle sich draußen die Beine noch etwas vertreten.“

Mephisto grinste.

„Sie wären ein prima Quälgeist für sämtliche Zirkel der Hölle, mein Freund.“

„Ahm – Danke?“

Shirō beschloss, einzugreifen, bevor Mephisto ihrem jungen Kollegen am Ende noch einen seiner berühmt-berüchtigten Verträge aufschwatzte.

„Chekov hat den Cousin von Vadim Sidorov befragen wollen, es ist sein Aussiedlerhof“, erklärte er sachlich, bemüht, das Thema zu wechseln. Mephisto warf ihm einen halb belustigten, halb empörten Blick zu ob der abrupten Beendung seines Geplänkels mit Beljajew.

„Verstehe, verstehe. Irgendwelche neuen Erkenntnisse?“

„Sidorov war kein Umweltschützer und unser Täter ist kein Tierfreund“, erklärte Mephisto ernsthaft.

Beljajew blinzelte kurz irritiert, dann plötzlich schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und rief aufgeregt: „Oh, bevor ich’s vergesse, einer der Hofbesitzer, den wir aufgesucht haben, hält sich eine kleine Herde Ziegen, und er hat gesagt, dass ihm in den vergangenen vier Monaten drei Stück gerissen worden wären, allerdings hat er nie Spuren von irgendwelchen Raubtieren entdecken können. Ich meine, es könnte ja ein Zufall sein, aber…“

Shirō pfiff leise durch die Zähne und legte nachdenklich den Kopf schief.

„Also was auch immer es ist, eins steht fest: es ist nicht wählerisch bei dem, was es tötet“, schloss er.

Mephistos konstantes Lächeln nahm durchaus beängstigende Züge an.

„Ganz recht. Und doch, wenn wir den Worten unseres lieben Herrn Sidorov Glauben schenken wollen, dann hat es eine besondere Vorliebe für Exorzisten. Langsam fängt die Sache wirklich an, spannend zu werden. Dann wollen wir doch mal sehen, wer hier am Ende Jäger und wer hier Gejagter sein wird.“
 

---tbc----

Verlust

A/N: Einen frohen dritten Advent, die Herrschaften, wenn auch leider etwas verspätet. Ich hoffe, ihr hattet trotzdem alle einen erfreulichen Adventssonntag. Achtung, letzte Warnung an alle sensiblen Leser: Es wird hässlich. Please consider yourself warned.

Sincerely, genek.
 

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Shirō seufzte und trat den glühenden Zigarettenstummel mit dem Stiefelabsatz im Schnee aus. In der Ferne konnte er die Kirchenglocken der Kapelle die Viertelstunde schlagen hören, es war nun bereits Viertel nach zwei, und Langley war noch nicht zur Wirtschaft zurück gekehrt. Nachdem Beljajew ihnen von den verschwundenen Ziegen erzählt hatte, hatten sie zunächst eine Weile versucht, aus den diversen Fakten eine schlüssige Theorie zu formen, bis sie schließlich eingesehen hatten, dass es bei ihrem momentanen Wissenstands schlichtweg nicht möglich war, Genaueres fest zu stellen. Es gab eine Menge dämonischer Wesen, die Tiere oder Menschen angriffen oder sogar fraßen, normalerweise wurden solch gefährliche Kreaturen jedoch sehr schnell vom Orden ausfindig gemacht und eliminiert. Zudem sprach der Umstand, dass keinerlei Spuren gefunden worden waren gegen eine gefräßige dämonische Bestie, die sich nicht unter Kontrolle hatte, und das Fehlen anderer niedriger Dämonen stellte ein genauso großes Rätsel dar. Die ganze Angelegenheit war frustrierend widersprüchlich.

Shirō legte den Kopf in den Nacken und starrte nachdenklich in den Himmel. Der strahlende Sonnenschein des Morgens war einer sich nach und nach verdichtenden grau-schwarzen Wolkendecke gewichen, unter dieser Beleuchtung wirkte die Stadt düster und trostlos.

Shirō hörte die Eingangstür aufgehen und wandte sich um. Mihailov, der Wirt, trat zu ihm und warf ebenfalls einen Blick gen Himmel.

„Sieht nach schwereren Schneefällen aus“, meinte er nachdenklich.

„Man sollte meinen, hier liegt schon genug von dem Zeug“, antworte Shirō trocken. Was auch immer sie da suchten, in einem Schneesturm würde es sicherlich schwieriger werden, es zu finden, dementsprechend wenig begeistert war er von dieser Vorhersage.

„Meister Beljajew macht sich Sorgen um Meister Langley“, sprach dann Mihailov sein eigentliches Anliegen aus.

„Jaah, wahrscheinlich ist er mittlerweile schon von einem Dämon gefressen worden.“

„Bitte?!“ Mihailov starrte ihn fassungslos an. Shirō grinste nur und schlug dem Mann jovial auf die Schulter.

„War ein Scherz, war ein Scherz. Langley ist schon länger beim Orden als ich, um den würde ich mir mal keine Sorgen machen. Wahrscheinlich hat er eine Spur gefunden und ist ihr gleich allein nachgegangen, er scheint nicht so der Teammensch zu sein.“

„Meinen Sie wirklich?“

„Ich bin mir sicher“, antwortete Shirō im Brustton der Überzeugung. Mihailov musste ja nicht unbedingt wissen, dass er sich ebenfalls allmählich etwas Sorgen machte. Immerhin war Chekov auch ein Second First Class gewesen, also hätte eigentlich nichts in der Lage sein sollen, ihn so mir nichts dir nichts zu erledigen.

Mihailov lächelte erleichtert.

„Das ist schön zu hören. Es wäre furchtbar, wenn noch ein Exorzist in unserer Stadt sterben würde.“
 

Shirō fragte sich unwillkürlich, ob Mihailov sich wirklich Sorgen um ihr Wohlergehen oder nur um den Ruf der Stadt machte, schalt sich aber gleich darauf für seinen Zynismus. Die wenigsten Menschen hatten eine akkurate Vorstellung davon, was ihr Beruf wirklich für Gefahren beinhaltete, wie viele von ihnen jährlich ihr Leben dafür ließen, die nichtsahnende Bevölkerung vor allerlei Bedrohungen aus Gehenna zu schützen und wie wenig Dank ihnen dafür entgegen gebracht wurde. Für die Meisten waren Exorzisten etwas wie psychotische, fanatische Phantasiegestalten, die nicht existente Wesen aus Menschen austreiben sollten, um ihr Seelenheil für die Kirche zu retten. Für die Menschen, die nicht in der Lage waren, Dämonen und Übernatürliches wahrzunehmen, war es oftmals schlicht unmöglich, die Realität anzuzweifeln, die für sie selbstverständlich war. Nur die wenigsten Laien entschlossen sich, den Pfad der Exorzisten einzuschlagen. Manchmal beneidete Shirō diejenigen, die aufwachsen konnten, ohne all dies mitzubekommen. Ihm selber war nie eine Wahl geblieben, er hatte eine Mashō gehabt, seit er sich erinnern konnte, er hatte sein ganzes Leben schon Dinge gesehen, die den Meisten verborgen blieben. Doch meistens war er froh darüber, dass er nicht im Ungewissen leben musste, dass er wusste, was sich dort draußen befand, und vor allem, dass er in der Lage war, es zu bekämpfen – was auch immer es sein sollte.

„Ich werde mit Beljajew reden“, sagte er so nur schlicht, und wollte um Mihailov herum zurück ins Gasthaus gehen, als unter wütendem Krächzen mehrere Krähen vom Hausdach stürzten und erst knapp über ihren Köpfen abdrehten und sich zu einem größeren Schwarm gesellten, der über der Stadt seine Kreise zog.

„Verdammte Biester“, schnaube Shirō und starrte ihnen wütend hinterher.

„Normalerweise haben wir nicht so viele Krähen hier, der Winter muss sie in die Stadt treiben“, meinte Mihailov nachdenklich. „Rabenvögel sind ein schlechtes Omen.“

Shirō grinste bloß.

„Sag bloß, du bist abergläubisch? Kann ich mir bei meinem Job nicht leisten.“
 

Mihailov hatte nicht übertrieben. Beljajew wirkte für seine Verhältnisse wirklich ziemlich angespannt, was sich darin zeigte, dass sein Lächeln etwas dünner ausfiel als üblich als Shirō den Raum betrat. Mephisto hingegen wirkte wie gewöhnlich wie die Ruhe selbst. Er war in der Zwischenzeit offenkundig dazu übergegangen, aus eingewickelten Toffees eine Pyramide zu erbauen. Sie hatte bereits eine stattliche Größe erreicht.

„Was sollen wir jetzt machen, Fujimoto?“ Beljajew war aufgesprungen, offenkundig mehr als nur bereit, sofort auszurücken.

Shirō hob beschwichtigend beide Hände.

„Jetzt planlos in der Stadt rumrennen und Langley zu suchen bringt uns gar nichts. Langley ist ein erwachsener Mann, er wird schon nichts Dämliches anstellen.“

„Ehrlich gesagt ist er einer von genau der Sorte Männer, um die man sich in dieser Hinsicht Sorgen machen sollte“, warf Mephisto mit einem anzüglichen Grinsen ein.

„Ach halt die Klappe“, murrte Shirō nur.

Beljajew sah offenkundig verwirrt zwischen ihnen beiden hin und her, ihm war der Unterton nur zu offensichtlich völlig entgangen.

„Aber in einer Hinsicht hast du Recht, hier rumsitzen wird uns auch nicht weiterbringen. Ich würde also vorschlagen, dass wir uns mal die Orte näher ansehen, an denen die verschwundenen Personen zuletzt gesehen wurden. Wenn wir unterwegs Langley aufgabeln, gut, wenn nicht, dann kann Mihailov ihm ja ausrichten, wo wir hingegangen sind.“

Beljajew schenkte ihm ein erleichtertes Lächeln und machte sich unverzüglich auf den Weg zur Tür. Shirō wollte ihm schon folgen, als Mephisto ihn an der Schulter fasste und so aufhielt.

„Hier.“

Shirō blickte irritiert auf das, was Mephisto ihm da entgegenhielt. Es war Shirōs eigene Beretta 84, die er seines Wissens nach oben im Zimmer zusammen mit seinem restlichen Waffenarsenal eingeschlossen hatte.

„Was…“

„Nur so ein Gefühl. Du solltest in dieser Stadt nicht unbewaffnet rumlaufen, Shirō“, antwortete Mephisto ungewöhnlich ernst. Die Art, wie er ihn dabei ansah, ließ Shirō einen Schauer über den Rücken laufen.

„Es wird also allmählich ernst?“

Mephisto begann fast schon mordlüstern zu grinsen.

„Wollen wir’s doch hoffen. Ich habe das Warten satt.“
 

Die Luft wirkte auf einmal viel schwerer als noch vor einigen Stunden, sie schien jegliches Geräusch komplett zu absorbieren. Die meisten Einwohner waren eilig auf dem Weg zu ihren Häusern, keiner wollte in den drohenden Schneesturm geraten. Shirō, Mephisto und Beljajew hatten einen Feldweg aus der Stadt hinaus eingeschlagen, der in einigen sanften Biegungen hin zum Wald und zum darunter liegenden Flussufer führte.

„Das war also die gängige Spazierstrecke von Sidorov, huh?“ fragte Mephisto und sah sich beiläufig um.

„Offenbar, ja. Irgendwo hier muss ihn etwas erwischt haben“, antwortete Shirō während er verzweifelt versuchte, nicht auf dem glatten, festgetretenem Schnee auszurutschen.

„Bis hier ist der Weg ja eigentlich gut einsehbar und er scheint ja recht oft benutzt zu werden. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass hier unbemerkt ein Mann verschwinden kann“, warf Beljajew energetisch ein. Seit sie unterwegs waren, hatte sich seine Stimmung sichtlich gebessert, er offenkundig jemand, der keine zwei Sekunden still sitzen konnte.

„Vergiss nicht den Hund“, mahnte Mephisto melodramatisch an.

„Jetzt lass doch mal den Hund gut sein, Himmel nochmal! In China essen sie Hunde, weißt du?“ schnaubte Shirō, woraufhin Mephisto ihm einen verletzten Blick zu warf.

„Aber du hast Recht, wenn etwas Chekov verschleppt hat, dann eher außer Sichtweite der Stadtgrenze. Offenkundig geht es ja sehr vorsichtig vor, wenn es in vier Monaten absolut keine Spuren hinterlassen hat“, erklärte Shirō dann und blieb stehen.

In etwa hundert Metern Entfernung erhoben sich aus dem vollkommenen Weiß der gesamten Umgebung die Stämme mächtige Nadelbäume, die in der momentanen Beleuchtung fast schon schwarz wirkten. Die Äste der Bäume schleiften unter der Schneelast beinahe auf dem Boden. Doch was ihn irritiert hatte, war eine einzelne Spur, die sich von dem Feldweg auf dem sie standen zu einer Stelle im Wald hinzog, weg vom Fluss.

„Hier ist vor kurzem jemand lang gegangen“, stellte Beljajew etwas überflüssigerweise fest und spähte in die Richtung, in die die Spur führte.

Shirō legte nachdenklich die Stirn in Falten. Langley hatte die Polizeiberichte ebenfalls gelesen, vielleicht war er auch auf die Idee gekommen, den Ort Sidorovs Verschwindens zu untersuchen. Doch warum hatte er nicht auf sie gewartet?

„Na worauf warten wir dann?“ meinte Mephisto munter und schritt voran. Shirō bemerkte, dass er weitaus weniger tief im Schnee einsank, als ein normaler Mensch eigentlich sollte, und dass keine einzige Schneeflocke an seinem Mantelsaum hängen blieb; sie schienen zu schmelzen, sobald sie ihn auch nur berührten. Er war froh, dass Beljajew was solche Dinge anging eine absolut nicht vorhandene Beobachtungsgabe zu haben schien.
 

Das getrübte Licht des Tages war zwischen den turmhohen Stämmen noch gedämpfter, die bedrückende Dunkelheit und Stille innerhalb des Waldes ließ Shirō die Nackenhaare zu Berge stehen. Er hatte plötzlich wieder dasselbe Gefühl wie schon am Morgen, eine absolute und doch unerklärliche Gewissheit, dass etwas Bedrohliches ganz in der Nähe war. Er fuhr herum und suchte die gesamte Umgebung mit zusammengekniffenen Augen ab, konnte aber nichts entdecken.

„Ist was?“ fragte Mephisto gespannt und reckte den Hals, als könne er so durch die Baumstämme hindurchblicken.

„Wieder nur so ein Gefühl, aber ich kann so oder so nichts erkennen“, knurrte Shirō angespannt.

Das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und die da saßen am Ort und Schatten des Todes, denen ist ein Licht aufgegangen.“ [1]

Ein warmes Schimmern breitete sich mit einem Male aus, zwar schwach, aber doch hell genug, um die düsteren Schatten um sie herum zurück zu drängen. Shirō wandte sich perplex und ehrlich beeindruckt zu Beljajew um, der verlegen grinste.

„Ah, ich wollte nicht natürlich ungefragt irgendwas machen, Entschuldigung. Ich weiß natürlich, dass Sie ein ranghöherer Aria sind.“

Mephisto gluckste vergnügt und Shirō fühlte sich einen Moment lang völlig überrollt. Verdammt, auf die Idee hätte er ja auch selbst kommen können.

„Eh jaah, sehr guter Einsatz jedenfalls, Beljajew“, meinte er dann etwas konfus, ehe er sich erneut der Spurensuche zuwandte.

Die Schritte ihres Vorgängers waren nur einfach, folglich war er nicht auf selbigem Wege zurückgegangen. Wenn er es überhaupt noch konnte, dachte Shirō düster und begann, den Abdrücken zu folgen, tiefer hinein ins Dickicht.
 

Mephisto hörte es wenig überraschenderweise als Erster.

„Da kommt etwas auf uns zu“, meinte er plötzlich munter, „und das schnell.“

Shirō und Beljajew fuhren beide herum und machten sich bereit, sich dem entgegenzustellen, was auch immer da auf sie zukam. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, doch der Himmel über ihnen war mittlerweile fast schwarz, so dass nur Beljajews Beschwörung ihnen die Sicht ermöglichte. Es dauerte nur einige Sekunden mehr, bis auch sie es hören konnten, ein kehliges, raues und verzerrtes vielstimmiges Knurren, das Schaben von Leibern an den dichtstehenden Stämmen, das donnernde Trappeln von einer herannahenden Bedrohung auf dem harschen Schnee. Shirō griff in seine Gürteltasche und zog die Beretta heraus, entsicherte sie und verfluchte sich, dass er nicht sein Sturmgewehr mitgenommen hatte.

Und dann sahen sie sie.

Es war ein grotesker Anblick, der sich ihnen mit einem Mal bot, als sich die Kreaturen in den hellen Lichtschein Beljajews Zaubers wagten, so als wären die Fieberalbträume eines geplagten Menschen plötzlich real geworden. Es war schwer zu sagen, was die einzelnen Kreaturen früher einmal gewesen waren, Shirō vermeinte, ein paar Hunde, ein paar Füchse, ein paar Dachse und etwas, das wohl einmal ein Reh gewesen war, zu erkennen.

„Ghouls“, stellte Mephisto nüchtern fest.

„Ghouls“, bestätigte Shirō schlicht.
 

Und dann brach das Chaos los. Shirō richtete seine Waffe gezielt auf die Köpfe der Wesen, er hatte nur zwei Ersatzmagazine bei sich und wollte keinen einzigen Schuss verschwenden. Die schnell aufeinanderfolgenden Schüsse erschütterten seine Arme bis in die Schultergelenke, er musste ständig ausweichen, um nicht von einem der Wesen erwischt zu werden. Sie bissen um sich wie ihm Wahn, schnappten nach allem, was sich bewegte, er sah sie sich gegenseitig zerfetzen, spürte, wie scharfe Hundezähne seinen Mantel zerrissen.

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen von welchen mir Hilfe kommt; Meine Hilfe kommt von dem HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat; ER wird deinen Fuß nicht gleiten lassen; und der dich behütet schläft nicht – [2]“ , hörte er Beljajews bemüht ruhig auf Latein rezitieren, er nahm das schmerzhafte Jaulen einiger der Ghouls wahr, als der Vers seine Wirkung zeigte, doch es waren einfach zu viele.

Mit einem grässlichen Fauchen kam Shirō plötzlich etwas von der Seite her entgegen gesprungen, nur noch wenige Zentimeter trennten seine scharfen Zähne von seinem Gesicht, als das Wesen mit einem verschreckten Jaulen in Flammen aufging. Shirō fuhr herum und sah Mephisto mit einer eleganten Handbewegung einen weiteren Schwung der Angreifer zu Asche verbrennen. Für einen Dank blieb ihm jedoch keine Zeit, denn in diesem Moment hörte er Beljajew unterdrückt aufschreien. Etwas Großes und halb Verwestes hatte sich tief in seinen linken Arm verbissen, doch Beljajew rezitierte weiter eisern seine Verse mit zusammengebissenen Zähnen.

- der HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele; der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!“ [2]

Shirō richtete in einer fließenden Bewegung seine Waffe auf den Kopf des Tieres und drückte ab. Das Wesen löste sich mit einem grässlichen Geräusch zu Asche auf, und Beljajew schenkte ihm für eine Sekunde ein mattes dankerfülltes Lächeln, ehe sich sein Gesichtsausdruck in blanke Panik verwandelte.

Vorsicht, hinter Ihnen!

Shirō fuhr herum, einen Wimpernschlag zu spät, er fühlte etwas Gewaltiges ihn mit voller Wucht zu Boden werfen, der harte Aufprall lähmte seine Atmung, er sah einen Augenblick lang schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen, doch seine Hand schoss reflexartig hoch und drückte ab. Ein schwaches metallisches Klicken verkündete, dass das Magazin leer war.

Uuurgh…

Dieser Gestank, diese stöhnende Laute, der Druck von unnatürlich großen und missgestalteten Fingern gegen seinen Hals – Shirō wusste, was er da vor sich hatte, ohne es sehen zu müssen.

Dies… dies ist der Jünger, der von diesen… diesen Dingen zeugt - [3]“, brachte er keuchend hervor, er spürte wie das Gewicht des Wesens auf ihm sämtliche Luft aus dem Körper presste, meinte, seine Rippen knacksen zu hören. Er versuchte mit den eigenen Händen, den Griff der klobigen Finger um seinen Hals zu lockern, doch es war, als würde er versuchen, Stahl aufzubiegen.

- und dies geschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahrhaftig ist!“ hörte er dann Beljajew einstimmen, nur um mit einem schmerzerfüllten Japsen wieder abzubrechen.

In Shirōs Ohren begann es verdächtig zu klingeln, als das Wesen wütend aufjaulte und ihn erneut mit Wucht auf den Boden schlug, sein Kopf fühlte sich mit einem Mal seltsam leer an. Verdammt, verdammt, verdammt, er war zu unvorsichtig gewesen, er hatte sich unvorbereitet erwischen lassen, er war zu unbedacht vorgegangen. Er konnte doch hier nicht sterben!

Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat; so sie aber sollten eins nach dem andern geschrieben werden, achte ich, die Welt würde die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären!

Mephistos klare Stimme schnitt durch die Luft wie ein Schwert, das Wesen gab einen grässlichen, kreischenden Laut von sich, und mit einem Male war das Gewicht von Shirōs Körper verschwunden. Er schnappte panisch nach Luft, die nun kalt und stechend in seine Lungen strömte. Er spürte die Hitze von loderndem Feuer um sich herum, die den Schnee schmolz und Schmelzwasser von den Bäumen rieseln ließ wie Sommerregen. Er richtete sich hustend auf und sah Mephisto vor sich knien, der ihn halb besorgt, halb verärgert musterte.

„Weißt du, du bist wirklich der Erste und Einzige, der mich je dazu gebracht hat, Bibel-Verse zu rezitieren. Das ist wider meiner Natur, nur damit du’s weißt.“

„Danke“, antworte Shirō nur ehrlich und erschöpft.
 

Nachdem Mephisto ihm auf die noch etwas wackligen Beine gezogen hatte, erschloss sich Shirō das völlige Ausmaß des Schlachtfeldes, auf dem sie sich nun befanden. Um sie herum schwelten die Überreste der Ghouls und des Naberius vor sich hin, Mephistos Flammen hatten ganze Arbeit geleistet. Kein einziges der Wesen regte sich mehr, Beljajews Zauber war erloschen und der Wald lag erneut still und friedlich da, als wäre nie etwas geschehen. Beljajew selbst saß an einen Baumstamm gelehnt und hielt sich mit schmerzverzogenem und kalkweißem Gesicht den linken Arm. Shirō trat zu ihm und rollte vorsichtig den zerfetzten Ärmel nach oben. Die freigelegte Bisswunde blutete stark und hatte bereits eine hässliche schwarz-grüne Färbung angenommen, das eingeströmte Miasma entfaltete allmählich seine Wirkung. Aus einer seiner Gürteltaschen förderte Shirō einen in Aloe Vera getränkten Verband zu Tage und begann vorsichtig, die Wunde provisorisch zu verbinden.

„Es tut mir Leid… dass ich Ihnen… so viele Umstände mache“, flüsterte Beljajew schwach und lächelte entschuldigend.

„Schwachsinn, du hast mir mit den Hals gerettet. Und ich bin ja nicht umsonst Doctor, das wird wieder“, versicherte Shirō ihm, ehe er an Mephisto gewandt fortfuhr: „Bring ihn bitte sofort zum Quartier des Russischen Ordens.“

„Was ist mit dir?“ Mephisto musterte ihn besorgt.

„Mach dir um mich keine Sorgen“, Shirō schenkte ihm ein schiefes Lächeln. Ihm tat jeder Knochen im Leibe weh, seine Stimme klang kratzig und rau in seinen Ohren und er sah sicher noch fertiger aus, als er sich fühlte, doch es gab etwas, dass er wissen musste, und Beljajew musste sofort behandelt werden, wenn er seinen Arm behalten wollte. Er richtete sich wieder auf und blickte Mephisto fest an.

Dieser seufzte schließlich nur.

„Ich hoffe doch sehr, du weißt, was du da tust, Shirō. Ich komme zurück, sobald ich ihn ins Quartier gebracht habe. Sieh zu, dass du dich in der Zwischenzeit nicht umbringen lässt.“

Er schnippte locker mit den Fingern.

„Eins, zwei, drei!“

Mit einem lauten Knall erschien mitten auf der Lichtung eine Tür, die in ihrem Aussehen dem normalen Kleidungsstil ihres Beschwörers glich – sie war grellpink und mit überbordenden goldenen Elementen verziert, oben auf dem Türrahmen thronte eine Verzierung in Form einer großen mit Edelsteinen besetzten Krone.

Mephisto trat zu Beljajew hinüber und hob diesen ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung mit beiden Armen hoch, ehe er auf das Portal zuschritt, dass sich ihm automatisch öffnete, Shirō einen letzten besorgten Blick zuwarf und dann durch selbiges verschwand.
 

Shirō fluchte leise, als ihm erneut ein Ast ins Gesicht schnalzte. Er hatte sich zwar an Beljajew ein Beispiel genommen und ebenfalls künstliches Licht heraufbeschworen, doch seine Koordination war nach dem Kampf eben alles andere als funktionstüchtig, und so kollidierte er die ganze Zeit schon mit diversen Baumbestandteilen.

Nachdem das Portal nach Mephistos Abgang mit einem weiteren lauten Knall in pinkem Rauch verpufft war, hatte er eine Weile gebraucht, um im Chaos des Schlachtfeldes die ursprüngliche Spur wieder zu finden, doch schließlich hatte er sie entdeckt und war ihr erneut gefolgt. Er hatte mittlerweile komplett die Orientierung verloren, denn die Spur schien sich beinahe schon ins Unendliche zu ziehen.

Schließlich jedoch schien sich der Wald um ihn herum endlich zu lichten, der spärliche Rest Tageslicht nahm zu, und er meinte in nicht allzu großer Entfernung den Fluss rauschen zu hören. Er atmete erleichtert aus, er wollte gar nicht wissen, wie weit sich dieser Wald noch erstreckte.

Als er zwischen den letzten Stämmen hervortrat, brauchte er einen Moment um sich zu orientieren. Er stand auf einer kleinen Anhöhe, und zu seiner großen Überraschung lag die Stadt direkt zu seinen Füßen. Folglich waren die Spuren in einem großen Kreis verlaufen, dem sie brav gefolgt waren. Shirō zog die Stirn kraus. Die Sache gefiel ihm immer weniger, denn irgendetwas stimmte hier einfach nicht. Er machte sich daran, den Spuren nun auch noch bis in die Talsenke zu folgen, nunmehr stets auf der Hut vor weiteren unschönen Überraschungen. Sie schienen bei einem bestimmten Haus zu enden, welches Shirō seltsam bekannt vorkam.

Es dauerte einen kurzen Moment, bis es ihm dämmerte.

Die Spuren führten direkt zu Gavril Sidorovs Haus.
 

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[1] Matthäus 4,16

[2] Psalm 121 (in Teilen)

[3] Johannes 25,4-5
 

Der letzte Vers wird tatsächlich in der Serie von Ryūji Suguro gegen Naberius eingesetzt, bei den anderen beiden habe ich mir die Freiheit genommen, selbst Bibelstellen auszuwählen.

Schwarz

A/N: Nachträglich einen schönen vierten Advent euch allen! Das Kapitel ist leider wieder etwas verspätet, da ich diese Woche zwischen Uni, Weihnachtsmarkt, Uni, Plätzchenbacken und Uni nicht rechtzeitig dazu gekommen bin, ihm den letzten Feinschliff zu verpassen. Wie dem auch sei, here goes! The usual warnings apply, consider yourself warned.

Sincerely, genek.
 

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Shirō ließ mit einer routinierten Handbewegung das Magazin einrasten und den Verschluss zurückschnellen [1], als er sich vorsichtig und so lautlos wie irgendwie möglich dem Hauseingang näherte. In der sich nun rapide senkenden Dämmerung konnte er deutlich sehen, dass die Haustür nicht geschlossen war, ein schmaler Lichtstreifen fiel vom beleuchteten Hausgang auf die steinernen Treppenstufen, die er nun langsam, Schritt für Schritt erklomm, angespannt, die Pistole im Anschlag und mental auf jede Art von Angriff gefasst. Oben am Treppenabsatz angelangt atmete er noch einmal tief durch ehe er vorsichtig mit der linken Hand die Tür aufschob um sofort mit der Waffe in der rechten in den Gang zielen zu können – nichts. Shirō pirschte sich den hellen Flur entlang, jede Faser seines Körpers angespannt und auf mögliche Geräusche lauschend, doch alles was ihn umgab war vollkommene Stille, lediglich durchbrochen vom rhythmischen Ticken einer Uhr irgendwo im Haus. In seinem Hirn arbeitete es fieberhaft, er versuchte verzweifelt, aus dem ihm vorliegenden Puzzleteilen ein schlüssiges Gesamtbild zusammen zu setzen, die Situation in der er sich befand vollkommen zu begreifen. Mittlerweile war er sich so gut wie sicher, dass es tatsächlich Langleys Fußspuren gewesen waren, denen sie gefolgt waren, und dass Langley selbst ebenfalls jemandem oder vielleicht eher etwas gefolgt sein musste, etwas, das ihn ganz bewusst vom Rest des Teams weg hierher gelockt hatte. Der Angriff im Wald war also kein Zufall gewesen, so viel war klar. Naberius handelten stets nur auf die ausdrücklichen Befehle ihrer Beschwörer hin, und gerieten sie einmal außer Kontrolle, dann griffen sie nicht ein paar Menschen im Wald an sondern legten ganze Städte in Schutt und Asche. Nein, das Ganze war ein geplanter Anschlag auf sie Exorzisten gewesen, und er wäre auch um ein Haar geglückt. Shirō lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er einen Moment daran dachte, was passiert wäre, wäre Mephisto nicht bei ihnen gewesen. Sie hatten sich blind auf Chekovs Bericht verlassen, als sie davon ausgegangen waren, dass nur ein einziger mächtiger Dämon im Spiel war, sie hatten sich von ein paar an sich schwachen Ghouls völlig überrumpeln lassen, nur, weil sie sich in falscher Sicherheit gewiegt hatten. Chekovs Analyse war fehlerhaft gewesen, und ihr Vertrauen in seinen Bericht hatte sie in diese fatale Lage gebracht. Shirō wollte auf keinen Fall einen weiteren Fehler riskieren.
 

Das Ticken der Uhr wurde lauter, als er sich der ebenfalls nur angelehnten Tür zum Wohnzimmer näherte, in welchem sie das letzte Mal mit Sidorov gesprochen hatten. Es war mehr Intuition als eine konkrete Ahnung, die Shirō an der Tür stoppen ließ. Das Zimmer dahinter lag im Dunkeln, und außer dem stetigen Tick-Tack war immer noch kein Geräusch zu vernehmen. Doch ein anderer seiner Sinne schlug Alarm, denn es lag ein Geruch in der Luft, zwar nur schwach, aber doch für ihn unverkennbar – der metallische Geschmack von Kupfer legte sich über seinen Gaumen, ließ ungute Erinnerungen wieder hochkommen und ihn mit einer furchtbaren Ahnung die Tür mit einem Ruck auftreten. Im Halbdunkel des Zimmers konnte er einen Moment lang nichts erkennen, ehe sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Zwischen den Schemen des Mobiliars konnte er einen unförmigen dunklen Fleck auf dem Boden ausmachen, er wusste es mehr, als dass er es tatsächlich erkennen konnte, noch bevor er mit der linken Hand den Lichtschalter neben dem Türrahmen umlegte.
 

Langley lag mit dem Rücken zu ihm auf der Seite, den rechten Arm in einem unnatürlichen Winkel von sich gestreckt, etwa zwei Meter von ihm entfernt lag sein Degen, die Klinge war dunkel vor getrocknetem Blut. Von seinem reglosen Körper weg zog sich eine Blutspur zu einer offenen Tür auf der anderen Seite des Raumes. Shirō war mit einigen schnellen Schritten bei Langley und beugte sich zu ihm hinunter, um nach dem Puls zu fühlen, doch er wusste innerlich bereits, dass es zu spät war. Langleys Augen waren starr auf einen Punkt in der Ferne gerichtet, an seinem Hals zeichneten sich deutlich Wirbel ab, die sich normalerweise nicht an diesen Stellen befinden sollten. Unwillkürlich griff sich Shirō selbst an den Hals, er konnte nur zu deutlich noch die Pranken des Naberius von vorhin spüren, die dort ihre Abdrücke hinterlassen hatten, und ihm war bewusst, dass nicht viel dazu gefehlt hätte, dass auch er so geendet hätte.

„Es tut mir Leid“, murmelte er dann Langley zu und schloss ihm behutsam die Augen, ehe er sich erhob und mit erhobener Waffe der Blutspur folgte. Der Raum, der sich dem Wohnzimmer anschloss, war offensichtlich eine Art Arbeitszimmer, auf der einen Seite des Zimmers stand ein großer Schreibtisch, an zwei der Wände hohe Bücherregale und Aktenablagen. Und auf halber Strecke zwischen Tisch und Tür lag Gavril Sidorov. Langleys Klinge hatte ihm eine tiefe klaffende Wunde an der linken Seite beigebracht, seine rechte Hand war noch darüber gepresst im dem verzweifelten und sinnlosen Versuch, das ausströmende Blut in den Körper zurück zu zwingen, welches sich stattdessen in einem leuchtend roten Halbkreis um ihn herum auf dem cremefarbenen Teppichboden ausgebreitet hatte. Mit der linken Hand hielt er ein Blatt Papier umklammert, die verschnörkelten Buchstaben und Pentagramme darauf waren Shirō nur zu gut vertraut. Er ließ kraftlos die Pistole sinken. Es war vorbei.
 

In einer entschiedenen Geste knallte Shirō das leere Glas auf die Theke.

„Noch einen.“

Mihailov zuckte unbehaglich.

„Ich glaube wirklich, Sie sollten nicht-“ Er verstummte abrupt angesichts Shirōs finsteren Blickes und wand sich hastig Richtung des Regals hinter sich ab, um eine weitere Flasche hervor zu holen. Als er dann nachschenken wollte hinderte ihn jedoch zu ihrem beiderseitigen Erstaunen eine filigrane Hand in fliederfarbenen Lederhandschuhen daran, indem sie sich über das Glas legte.

„Also wirklich, als katholischer Priester solltest du dich zumindest in der Öffentlichkeit an die Werte deiner Kirche halten, Shirō, findest du nicht?“

Shirō fuhr herum. Mephisto war wie üblich aus dem Nichts neben ihm erschienen, nun, da die Mission vorbei war erneut in einer interessanten Kombination aus weißem Trenchcoat, violetten Anzughosen, mintfarbenen Stiefeln und fliederfarbenen Handschuhen. Sein Gesichtsausdruck war wie gewöhnlich spöttisch, doch seine Augen ließen Besorgnis durchschimmern.

„Meister Wagner!“ rief Mihailov komplett überrascht und starrte Mephisto an wie Kamel mit drei Köpfen.

Mephisto schenkte ihm ein nonchalantes Lächeln, ehe er sich wieder Shirō zuwandte.

„Ist alles in Ordnung?“

„Nein“, antwortete Shirō dumpf.

Mephisto ließ sich seufzend auf den Barhocker neben ihm fallen und zog die Hand über dem Glas zurück.

„Ich habe es mir anders überlegt, für mich auch einen, Meister“, forderte er dann Mihailov auf, der etwas zögernd Folge leistete.

Shirō nahm mit einem dankenden Nicken das Glas entgegen und leerte es in einem Zug.

„Wie geht es Beljajew?“ fragte er dann.

Mephisto schwenkte nachdenklich sein Glas.

„Oh, er ist schon wieder fast der Alte, bis auf ein paar Narben wird er keine bleibenden Schäden davon tragen.“

Shirō seufzte erleichtert und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Gott sei Dank.“

„Gern geschehen.“
 

Shirō überging Mephistos ungebührlichen Einwurf, er war zu deprimiert und zu müde, um sich zu streiten. Die ganze letzte Nacht hatte er so gut wie kein Auge zu bekommen; Beljajews schmerzverzerrtes Gesicht und Langleys leere Augen hatten ihn bis in seine Träume hineinverfolgt. Auch nach all den Jahren Berufserfahrung die er mittlerweile sein Eigen nennen konnte traf ihn doch der Verlust von Kameraden jedes Mal aufs Neue wieder schmerzlich, immer fragte er sich, ob er es nicht irgendwie hätte verhindern, diese Menschen retten können. Nach seiner Entdeckung in Gavril Sidorovs Haus hatte er noch aus selbigem den Orden telefonisch informiert und ihn von Cyrill Langleys Tod unterrichtet. Mephisto war mit Beljajew bereits eingetroffen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte ihm noch keiner sagen könne, wie es um den jungen Exorzisten stand. Anschließend hatte er die Polizei gerufen und dafür Sorge tragen lassen, dass die beiden Leichen gekühlt verwahrt wurden, bis die Verstärkung vom russischen Orden sich ihrer an nehmen würde. Und nun saß er bereits seit dem frühen Morgen unten in der Gaststube am Tresen, wartete auf das Eintreffen besagter Verstärkung und versuchte in der Zwischenzeit, sein Schuldbewusstsein mit Alkohol zu dämpfen.

„Wo warst du überhaupt so lange?“

Mephisto zuckte empfindlich zusammen.

„Du hast gemeint, du würdest Beljajew nur kurz im Hauptquartier abliefern und dann umgehend zurückkommen“, fuhr Shirō dennoch fort.

„Es haben sich leider gewisse… Umstände ergeben, die mich daran gehindert haben, sofort zurück zu kommen“, antwortete Mephisto unbehaglich.

„Umstände?“ Shirō stutzte kurz, ehe er schulterzuckend meinte: „Ist ja jetzt eigentlich auch völlig egal.“
 

Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen ihnen beiden, im Hintergrund klirrte Mihailov in der Küche mit Geschirr.

„Es war also tatsächlich Sidorov, huh?“ ließ sich Mephisto dann vernehmen.

Shirō nickte düster.

„Der Bastard hat uns auch noch gewarnt, erinnerst du dich?“

Mephisto schnaubte abfällig und nahm einen Schluck, ehe er fragte: „Und warum der ganze Zirkus?“

Shirō zuckte ratlos mit den Schultern.

„Langley hat ihm nicht die Zeit gelassen, ein ausführliches Bekennerschreiben zu hinterlassen“, antwortete er sarkastisch. „Also, warum lassen sich Menschen auf dämonische Pakte ein? Warum beschwören sie Wesen, denen sie nicht Herr werden? Warum bringen Menschen andere Menschen überhaupt um? Irgendeine Idee, Mephisto Pheles?“

„Aah, die Tour also? Ich bin jetzt schon seit einigen Jahrhunderten in Assiah, aber ich weiß es nicht. Ihr Menschen seid merkwürdige Wesen, immer schon gewesen.“ Mephisto lächelte nostalgisch. Shirō macht eine wegwerfende Handbewegung.

„Dann such dir was aus – Langeweile, Dummheit, Machtgier, vielleicht konnte er einfach seinen Bruder nicht leiden. Was zählt, ist, dass sowohl der Beschwörer als auch der Naberius tot sind.“

„Was ist mit den Ghouls?“

„Offenbar hat Sergej Chekov da in seinem Bericht Schwachsinn erzählt“, knurrte Shirō. „Keine Dämonen egal welcher Stärke im Umkreis einiger Kilometer, dass ich nicht lache! Hätte uns beinahe allen den Kopf gekostet, dass wir uns auf diese Untersuchung verlassen haben. Er hat sich wohl in eine Theorie reingesteigert, die jeglicher Basis entbehrt.“

„Hmm“, machte Mephisto gedehnt.

Shirō stand mit einem Ruck auf.

„Ich muss hier raus“, meinte er dann dumpf. „Wenn ich hier weiter nur rumsitze und warte drehe ich irgendwann durch.“

„Soll ich dich begleiten?“

„Um ehrlich zu sein, danke nein. Ich würde gerne etwas allein sein.“

Mit diesen Worten schritt Shirō mit einem letzten Winken Richtung Tür. Mephisto sah ihm nachdenklich hinterher. Es war schon einige Zeit her, dass er seinen Freund in so schlechter Gemütsfassung gesehen hatte und es bekümmerte ihn ehrlich, dass er ihm nicht helfen konnte. Shirō gab sich selbst die Schuld für Langleys Tod und Beljajews schwere Verletzungen, obwohl er letztlich nichts dafür konnte. Mephisto seufzte resigniert. In solchen Situationen war er wirklich froh darüber, keine menschlichen Moralvorstellungen zu besitzen.
 

Shirō schritt nachdenklich mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief in den Taschen vergrabenen Händen die Straße hinab. Wie von Mihailov angekündigt hatte es die ganze Nacht über heftig geschneit, und nun lag unter der strahlenden Wintersonne eine noch dickere glitzernde weiße Decke über allem. Die Luft war eisig und klar, sie schmerzte in Lungen und Augen und beruhigte Shirōs pochende Kopfschmerzen und hämmernde Gedanken. Ohne wirklich darüber nachzudenken hatte er denselben Weg aus der Stadt hinaus eingeschlagen wie bereits am Tag zuvor und fand sich so erneut auf dem Feldweg wieder, von dem aus sie Langleys Spuren in den Wald hinein gefolgt waren. Außer ihm selbst war noch niemand an diesem Tage hier gewesen, er versank mit jedem Schritt bis zur halben Wade im Neuschnee als er den Weg weiter Richtung Flussufer stapfte, weg von den gestern bei Dunkelheit noch so bedrohlich wirkenden Bäumen, die nun im Tageslicht funkelten wie mit weißem Glitzerpuder überstreut. Überhaupt wirkte die ganze Szenerie nun lächerlich friedlich und idyllisch, als wolle sie die Dramatik der gestrigen Ereignisse schlicht überspielen, dachte Shirō bitter. Zu seiner Rechten konnte er nun den Fluss das erste Mal wirklich von Nahem sehen. Das klare Wasser strömte schnell dahin, nur an einigen Felsen und Steinen hatten sich dicke Schneepolster gehalten und von den Ufern aus zogen sich dünne Eiskrusten gen Mitte des Flusses, im aussichtslosen Kampf gegen die Strömung beim Versuch, das Wasser gänzlich unter sich zu verschließen. Shirō folgte dem Weg dem Flusslauf entlang, der sich nun langsam wieder der Waldgrenze annäherte, genoss es einfach nur zu laufen und an nichts denken zu müssen, lauschte dem Gluckern des Wassers und dem entfernten Krächzen einiger Krähen und spürte durch die eisige Kälte die schwachen wärmenden Strahlen der Sonne. Als er schon einige Zeit so dahin gestapft war, kam langsam ein Haus in Sicht, das direkt an den Fluss gebaut war. Offensichtlich war es einmal eine Schmiede oder Mühle gewesen, denn an das Haus angebaut war ein Wasserrad, welches allerdings blockiert und somit stillgelegt war. Auf den ersten Blick schien das Haus verlassen, die Schneedecke vom Feldweg zum Haus hin war völlig unberührt, aber es zogen sich frische Spuren vom Eingang weg den Hang hinauf Richtung Wald und aus dem Schornstein stiegen zarte Rauchschwaden eines erlöschenden Feuers. Shirō fragte sich, wer wohl freiwillig so weit weg vom Rest der Stadt wohnen wollen würde, wenn noch nicht einmal eine wirkliche Straße dorthin führte. Im Sommer mochte es hier traumhaft sein, doch bei einem heftigen Schneesturm im Winter war man hier sicher von allem abgeschnitten. Shirō war schon dabei, wieder umzukehren, da der Weg nicht weiter führte, als er aus dem Augenwinkel etwas Helles im Schnee direkt am Haus blitzen sah.
 

Mephisto seufzte und wich gelassen einer Dachlawine aus. Shirō war nun schon seit über zwei Stunden unterwegs, und ihm war das Warten in der Wirtschaft zusammen mit einem ihn misstrauisch beäugenden Mihailov irgendwann zu blöd geworden. Die Herren vom russischen Orden waren immer noch nicht aufgetaucht, wahrscheinlich steckten sie noch irgendwo in den Tretmühlen der Bürokratie fest. Schließlich handelte es sich bei dem Toten um einen protestantischen Exorzisten des britischen Ordens der auf russischem Boden gestorben war, während der Einsatzleiter zum japanischen Zweig von True Cross gehörte. Von Mephistos Standpunkt war das ganze Hin-und-her absolut unverständlich, letztlich kämpften doch alle Exorzisten für dasselbe Ziel, und nur aufgrund kleiner Unterschiede in ihren Bekenntnissen machten sie sich gegenseitig das Leben schwer. Die orthodoxe Kirche gab so zum Beispiel nur in Sonderfällen magische Schlüssel heraus, die zu Orten in ihren Gebieten führten, weshalb das Reisen hier nur so zäh vor sich ging. Natürlich waren Gehennas Dämonen nicht ganz unschuldig an der einen oder anderen Streitigkeit zwischen den verschiedenen Religionen, auch Mephisto selbst hatte sich in der frühen Vergangenheit religiösen Eifer schon zu Nutzen gemacht, aber dennoch, man sollte meinen, dass die Menschen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen würden. Ging es gegen einen Feind wie Satan höchstpersönlich musste man zusammenstehen, wollte man nicht erbärmlich untergehen.

Nun also schritt er beschwingt die Hauptstraße hinab, ohne die perplexen Blicke der Passanten wirklich zu beachten. Durch sein Auftauchen mit Beljajew im Hauptquartier des Ordens war sowieso aufgeflogen, wer er in Wirklichkeit war, sehr zu seinem Missvergnügen, da er lieber noch einige Tage untergetaucht wäre, solange diese bestimmte Sache in Gange war, und insofern war es ihm jetzt herzlich egal, ob die Leute hier seine Menschlichkeit in Frage stellten oder nicht. Die ganze Scharade hatte er sowieso nur Shirō zu Liebe betrieben, und jetzt, da der Auftrag vorbei war – wen kümmerte es schon, was die Zivilisten denken mochten?
 

Wobei, und genau das beschäftigte Mephisto schon den ganzen Tag, war der Auftrag wirklich abgeschlossen? Ihm selbst war nicht so ganz wohl bei der Sache, etwas an der ganzen Sidorov-Naberius-Erklärung störte ihn, er hatte das Gefühl, dass er irgendetwas zwar erkannt, aber nicht realisiert hatte, etwas Bedeutsames, etwas Entscheidendes. Diesen hartnäckigen Verdacht hatte er, seit er Shirō im Wald zurück gelassen hatte. Irgendetwas hatten sie übersehen, irgendetwas, das die dünne Theorie rund um Sidorov vervollständigen würde. Kurzentschlossen bog er von der Straße ab in eine verlassene Seitengasse, überprüfte mit einem schnellen Blick, ob jemand ihn sehen konnte, und verschwand mit einem Fingerschnippen, nur um direkt auf der Lichtung, auf der der Kampf stattgefunden hatte, wieder aufzutauchen. Der gefallene Neuschnee hatte die Spuren verwischt, das blendende Weiß hatte die roten Blutlachen und die graue Asche verdeckt, als wären sie nie dort gewesen. Lediglich einige Einschusslöcher in und angesengte Stellen an den Baumstämmen ließen erkennen, dass die Lichtung nicht immer so friedlich gewesen war. Mephisto zupfte sich nachdenklich am Bart, als er am Rande der Lichtung entlangschritt. Chekovs Aufzeichnungen zufolge hätten keinerlei Ghouls im Wald sein dürfen, und dennoch waren sie scharenweise über sie hergefallen. Da stimmte etwas vorn und hinten nicht. Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge, das das blendende Weiß des Schnees unterbrach. Dort, nur wenige Schritte von der Lichtung entfernt, lag eine einzige lange schwarze Feder. Mephisto hob sie auf und drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern. Etwas an ihr kam ihm vertraut vor, oder vielmehr das Gefühl, dass die Berührung mit ihr in ihm auslöste. Einer plötzlichen Eingebung folgend schnippte er mit den Fingern woraufhin sich ein Beschwörungspentagramm, das die ganze Lichtung ausfüllte, mit hellorangen Flammen durch den Schnee bis auf den Waldboden hinein brannte. Er legte die Feder behutsam in die Mitte, ehe er einige Schritte zurück trat, sich Achtung heischend räusperte und mit lauter Stimme rief: „Ein Auge, das den Vater verspottet und den Gehorsam gegen die Mutter verachtet, das werden die Raben des Baches aushacken und die Jungen des Adlers fressen! [2] Höre diesen meinen Ruf und zeige dich!“

Einen kurzen Augenblick geschah nichts, und Mephisto fragte sich bereits, ob nun doch wirklich alle Pferde mit ihm durchgegangen waren, als sich plötzlich einem Orkan gleich eine Schar Krähen mit trommelfellzerreissendem Geschrei vom Himmel hinab auf die Lichtung stürzte. Das Schlagen von dutzenden von Flügeln ließ einen Schauer von schwarzen Federn auf den Schnee niederregnen, als die vielen Leiber sich mit einem Male zu einem einzigen verformten.

Inmitten des Bannkreises saß nunmehr ein einzelner sehr großer schwarzer Rabe, der bedächtig die langen Schwingen faltete und Mephisto mit schief gelegtem Kopf betrachtete.

„Na sieh mal einer an“, murmelte Mephisto gedehnt, ehe er lauter hinzufügte: „Aah, wenn du so freundlich wärest? Ich habe es nicht so mit Federvieh.“

Erneut ging ein Zittern durch das Tier als es sich streckte und verformte und plötzlich ein groß gewachsener, schlanker Mann in einem bodenlangen, federverbrämten schwarzen Kapuzenmantel Mephisto gegenüber stand. Er zog mit beiden Händen elegant die Kapuze zurück, enthüllte langes, glänzend schwarzes Haar und ebenso schwarze Augen, die Mephisto spöttisch beäugten.

„Mephistopheles, Bruderherz, lang ist’s her, nicht wahr?“ fragte er dann mit melodischer Stimme, in der immer noch das leichte Krächzen einer Krähe mitschwang.

„Das ist es in der Tat, Raum [3]“, stellte Mephisto nur fest und taxierte sein Gegenüber ebenfalls.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass du jetzt für den Vatikan arbeitest? Ich muss sagen, das hat mich doch sehr überrascht zu hören“, fuhr Raum munter fort, doch Mephisto konnte sehen, dass sein Blick entlang der Linien des Bannkreises huschte, auf der Suche nach einer Schwachstelle, durch die er brechen konnte. Da konnte er aber lange warten, dachte Mephisto zufrieden, denn er verstand sein Handwerk.

„Aah, ich tu mal dies, mal das, gerade so wie es mir beliebt“, antwortete er dann mit einem breiten Grinsen. „Und wie steht es mit dir?“

Raum zuckte mit den Schultern.

„Nunja, mal so, mal so“, meinte er kategorisch, ehe er mit einem versöhnlichen Lächeln fragte: „Meinst du nicht, dass das hier“ – an dieser Stelle deutete er vage auf das Pentagramm – „etwas überflüssig ist? Wir beide wissen doch, dass ich nie auch nur im Traum eine Chance gegen dich hätte – nicht, dass ich dich überhaupt angreifen wollen würde“, fügte er hastig hinzu.

Mephisto lächelte nur übertrieben freundlich.

„Wäre auch nicht ratsam, Raum. Wie wäre es mit einem Deal – du beantwortest meine Fragen, ich lasse dich gehen, alle sind glücklich und zufrieden. Na?“

Raum fuhr sich resigniert mit der Hand durch die langen Haare und nickte.

„Gut, meinetwegen.“

„Sehr schön, dann fangen wir doch mal mit der Frage an, warum du seit neustem wahllos in Assiah tötest.“

„… pardon?“

Raum hielt in seiner Bewegung inne und starrte Mephisto an, als hätte dieser nicht mehr alle Tassen im Schrank.

„Neun Menschen, zwei Exorzisten, drei Ziegen und ein Hund – klingelt’s da bei dir?“ zählte Mephisto auf und hielt für jede Kategorie einen Finger hoch.

„Ich denke, hier liegt ein fundamentales Missverständnis vor“, protestierte Raum. „Warum zum Geier soll ich denn bitteschön Ziegen und Hunde umbringen?“

Mephisto zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Du kennst mich und meine Spezialgebiete, Mephisto, richtig? Ich bin ein Meisterdieb, ein Manipulator, hier und da habe ich ein paar Städte ausgelöscht, ja, aber ich bin keine hirnlose Killermaschine“, fuhr Raum empört fort.

„Von alleine nicht, aber wenn der Beschwörer es befiehlt?“ bohrte Mephisto nach.
 

Raum verzog unbehaglich das Gesicht.

„Du kennst das Spiel, Befehl ist Befehl. Aber ehrlich mal, die Welt geht vor die Hunde! Kannst du dir vorstellen, für welch lächerliche Kleinigkeiten die Menschen uns mittlerweile beschwören? Das macht mich wirklich aggressiv!“ Raum hatte sich jetzt in Rage geredet und war voll in Fahrt. Mephisto konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, da war er mit seinem Dauervertrag mit dem Vatikan doch eindeutig besser bedient. „In der Vergangenheit habe ich wirklich Großes geleistet, du kannst dich bestimmt erinnern, und gestern ruft mich dieser Vollidiot und bittet mich, ihm ein paar meiner Untergebenen auszuleihen und sein Dach neu zu decken! Sehe ich etwa aus wie ein gottverdammter Handwerker?!“

Da offensichtlich eine Reaktion erwartet wurde merkte Mephisto trocken an: „Nein, nicht wirklich.“

„Eben!“

„Also gehen der Naberius und die Ghouls auf dein Konto?“

„Tun sie. Unterste Kategorie meiner Legionen, aber mehr wollte der Typ auch gar nicht haben. Stell dir das vor, er beschwört einen verdammten Großherzog Gehennas um um ein paar Ghouls und Naberius zu bitten“, schnaubte Raum.

„Damit geht zumindest ein Toter tatsächlich auf dein Konto, Raum.“

„Herzliches Beileid“, kam die sarkastische Antwort.

Mephisto seufzte. Er hatte diesen arroganten Vogel noch nie leiden können, und er würde garantiert seinen Teil des Versprechens nicht halten sondern ihn schnurstracks zurück nach Gehenna schicken, denn er war alles andere als wild darauf, sich mit diesem Idioten auf seiner Spielwiese herumärgern zu müssen. Plötzlich fuhr er zusammen, als ein Stückchen eben erhaltene Information völlig zu ihm durchsickerte.

„Warte mal, hast du gerade gesagt, du bist erst seit gestern hier?!“

„Ja, wieso?“

Mephisto starrte ihn perplex an.

„Willst du damit sagen, Gavril Sidorov hat dich gestern erst beschworen und nicht schon vor sechs Tagen?“

Raum legte fragend den Kopf schief.

„Was das mit dem Datum angeht, ja, das stimmt. Aber - “

Mephisto fühlte mit einer plötzlichen Gewissheit, dass gerade alles den Bach runterging, noch bevor Raum den Satz beendet hatte. Und er behielt Recht.

„- der, der mich gerufen hat, war nicht Gavril Sidorov.“
 

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[1] Waffenterminologie, nach dem Magazinwechsel muss im Regelfall der Verschluss (Schlitten) oben an der Pistole zurückgezogen werden (er schnellt beim Loslassen automatisch zurück), um die Waffe durchzuladen. Ob das konkret bei der Beretta 84 so funktioniert, da habe ich ehrlich keine Ahnung, und ich habe auch leider gerade zufällig keine zur Hand, um es zu überprüfen. Ich hoffe es ist trotzdem klar, was gemeint ist.

[2] Sprüche 30,17

[3] Raum oder auch Raim ist ein Großherzog der Hölle nach dem Pseudomonarchia Daemonum von Johann Weyer. Er kommandiert dreißig Legionen und erscheint als ein Rabe oder eine Krähe, solange der Beschwörer ihn nicht auffordert, menschliche Gestalt anzunehmen. Er ist dafür bekannt, Schätze aus Königshäusern zu stehlen, Städte zu zerstören, die Vergangenheit und Zukunft zu kennen und Feinde und Freunde versöhnen zu können.

Tiefe

A/N: Frohe Weihnachten nachträglich euch allen! Ich hoffe, ihr habt alle erfreuliche Feiertage hinter euch. Mit diesem Kapitel sind wir nun auch schon am Ende von ‚Nix Rubra‘ angekommen, und ich möchte mich an dieser Stelle herzlich bei allen Lesern, sowohl den schwarzen als auch den bunten, Favo-Listlern und Kommentatoren bedanken – vielen Dank! Ihr macht eine glückliche Dame alt. Oder so ähnlich. Nicht zu vergessen noch einen lieben Gruß an Hyoura, ich hoffe, dass dir dein Weihnachtsgeschenk gefällt, jetzt wo es in Gesamtheit fertig ist.

Sincerely, genek.
 

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Shirō klopfte zum zweiten Male behutsam mit den Fingerknöcheln gegen die Holztür und lauschte. Abgesehen vom stetigen Gluckern des Flusses, dem leisen Pritscheln von Schmelzwassertropfen, die vom Dach fielen und dem Gezwitscher einiger Vögel im Wald hörte er rein gar nichts. Er versuchte es erneut, diesmal deutlich energischer. Als fast eine Minute verstrichen war, überlegte er bereits, ob er die Tür einfach eintreten sollte, als er plötzlich von innen leise Fußtappser vernahm, dann, wie ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, und schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit, gerade weit genug, um ein dunkles Auge in einem blassen Gesicht zu offenbaren, das nun durch den Spalt lugte.

Ja?“ fragte eine leise Frauenstimme auf Russisch.

Shirō zog mit einer fließenden Bewegung seinen True Cross Ausweis aus der Brusttasche seines Mantels und hielt ihm der Frau hin, ehe er seine rudimentären Russischkenntnisse zusammenkratzte und sagte: „Ich bin Exorzist vom Vatikan.

Eine blasse, schmale Hand schob sich durch den Türspalt, nahm den Ausweis vorsichtig entgegen und Shirō sah das dunkle Auge die Beschriftung eingehend mustern, ehe ihm das Dokument zurückgereicht wurde. Die Frau trat zurück und öffnete die Tür nun gänzlich.

Vor Shirō stand eine zierliche Person, die gute zwei Köpfe kleiner war als er selbst und dabei wohl erschreckend dünn, wenn man das eingefallene Gesicht so ansah. Von ihrem Körper konnte man nicht viel erkennen, da sie in eine übergroße graue Wolldecke eingewickelt war, die von ihren Schultern bis auf den Fußboden reichte und außer den Armen und dem Kopf nichts freigab. Ihre langen, weißblonden Haare wirkten dünn und drahtig, ihre Augen waren fast schon schwarz und unter ihnen lagen dunkle Schatten, die in der Blässe ihres Gesichts stark herausstanden.

„Kommen Sie doch herein“, jetzt auf Englisch, immer noch leise, immer noch abweisend.

Shirō trat an der Frau vorbei ins Haus.
 

Drinnen war es düster, durch die drei Fenster drang nur wenig Licht des schönen Tages draußen, das zusätzlich abnahm, als sich mit einem Klicken die Tür hinter ihm erneut schloss. Der Raum in dem sie standen hatte eine niedrige Decke, an der man noch die Holzbalken sehen konnte, die sie trugen, der Fußboden bestand aus unlasierten Bodendielen. Außer einem kleinen gusseisernen Ofen, in dem leise die brennenden Holzscheite knackten, stand noch ein Küchentisch mit vier Stühlen im Zimmer, an einer Wand zog sich eine Küchenzeile mit Schränken und einem altersschwach wirkendem , brummenden Kühlschrank, zu ihrer linken zweigten zwei geschlossene Türen ab, vermutlich zu Bade- und Schlafzimmer. Die Frau bedeutete Shirō, Platz zu nehmen. Er kam der Aufforderung nach und ließ sich auf einem der Stühle nieder, sie selbst blieb mitten im Raum stehen, bewusst Distanz zu ihm haltend.

„Was führt einen Exorzisten hierher?“ fragte sie schließlich und musterte Shirō abwartend.

„Ermittlungen, so zu sagen. Gestern gerieten meine Kameraden und ich nicht unweit von hier in einen Hinterhalt von Dämonen, und da dachte ich, ich sollte bei den Anwohnern nach dem Rechten sehen.“

„Hier ist alles in Ordnung, Danke für ihre Sorge und Bemühungen.“

Shirō nickte und ließ den Blick über das Interieur schweifen. Er blieb an der Garderobe links neben der Tür hängen.

„Sie leben hier mit ihrem Mann?“

Die Frau nickte.

„Könnte ich ihn sprechen?“

„Warum? Ich sagte doch bereits, dass bei uns alles in Ordnung ist.“

Shirō zuckte bemüht lässig mit den Schultern.

„Ich dachte nur, vielleicht hat er etwas mitbekommen, das uns weiterhelfen kann. Zwei meiner Kollegen sind bei diesem Einsatz schon ums Leben gekommen, es handelt sich also um eine ernste Angelegenheit.“

Einen Moment lang herrschte Stille, dann: „Das tut mir Leid für Sie.“

„Mir auch“, antwortete Shirō bitter. Ihm war, als würde er mit jedem Atemzug das zusätzliche Gewicht in seiner Brusttasche spüren.

„Antosha ist im Wald, Holz holen, er müsste aber bald wieder da sein“, antwortete die Frau und trat näher an den Tisch heran.

„Antosha“, wiederholte Shirō tonlos.
 

„Sag das nochmal.“

„Wieso, bist du neuerdings schwerhörig?“

„Wer, Raum?! Wer war es, der dich beschworen hat wenn nicht Gavril Sidorov?!“

Mephisto ließ alle Vorsicht außer Acht und überschritt die Bannkreislinie um Raum am Kragen zu packen.

Darauf hatte sein Gegenüber nur gewartet. Raums Bewegungen waren geschickt und präzise und mit einer einzigen schnellen Drehung hatte er sich aus Mephistos Griff gewunden und war einem Wirbel aus schwarzen Federn verschwunden. Mephisto fuhr fluchend herum, doch er konnte seinen vermaledeiten Bruder nicht entdecken. Schnelle Abgänge waren von jeher eine seiner Spezialitäten gewesen, dachte Mephisto grimmig. Er hätte nicht so dämlich sein dürfen, den Bannkreis zu durchbrechen. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Sidorov war also nicht der Beschwörer gewesen, er hatte ihnen nicht über Raum die Ghouls und den Naberius auf den Hals gehetzt. Und dennoch war Langley in seinem Haus gestorben und es war definitiv Langleys Schwert gewesen, das Sidorov den Tod gebracht hatte. Außerdem hatte Shirō ihm das Blatt Papier gezeigt, dass er in Sidorovs Hand gefunden hatte; es war eindeutig mit Beschwörungsriten für Dämonen beschrieben gewesen. Das wiederum ließ nur einen einzigen Schluss zu: Jemand hatte ganz bewusst allen Verdacht auf Sidorov lenken wollen und hatte dafür große Umstände auf sich genommen. Die Spur, der sie einmal nahezu im Kreis herum gefolgt waren, der Hinterhalt von Dämonen, die dort gar nicht sein durften – plötzlich machte es Sinn. Chekovs Bericht war nicht falsch gewesen, nur nicht mehr aktuell. Jemand hatte ganz speziell auf ihr Eintreffen in der Stadt reagiert und Raum zur Hilfe gerufen. Jemand, der bereit war, unschuldige Menschen zu töten, um die Schuld auf andere zu schieben. Jemand, der in der Lage war und das nötige Wissen besaß, einen Dämon wie Raum herbeizurufen. Jemand, der gefährlich war. Jemand, der immer noch frei herum lief.
 

„Shirō“, entfuhr es Mephisto. Er musste seinen Freund sofort finden, bevor dieser nichtsahnend in eine weitere Falle lief. Er war bereits im Begriff, aufs Geratewohl zurück in die Stadt zurückzukehren, als er hinter sich unerwartet eine vertraute, spöttische Stimme vernahm.

Den Teufel halte, wer ihn hält! Er wird ihn nicht so bald zum zweiten Male fangen.“ [1]

Mephisto drehte sich um und starrte finster in Richtung der Stimme. Raum saß betont lässig mit überschlagenen Beinen und auf die Hand gestütztem Kopf auf einem der unteren Äste einer kahlen Fichte und musterte ihn amüsiert.

„Du wirst auf deine alten Tage ja richtig unvorsichtig, Mephisto. Und das alles nur aus Sorge um einen Menschen?“

„Du solltest mich jetzt wirklich nicht reizen, Raum. Oder ich schwöre dir, dass ich dir bei unserer nächsten Begegnung jede verdammte Feder einzeln ausreiße“, knurrte Mephisto, ernsthaft verstimmt.

Raum hob beide Hände in einer demonstrativen Friedensgeste.

„Aber, aber nicht doch, wo denkst du hin? Ich und dich reizen? So etwas Dämliches käme mir niemals in den Sinn“, verkündete er, immer noch spöttisch. Und dann, plötzlich mit ernsthafter Stimme: „Ich sag dir, wer mich gerufen hat.“

Mephisto hob überrascht die Augenbrauen.

„Tatsächlich?“

„Ist immerhin auch in meinem Interesse. Sorge dafür, dass der Beschwörer über den Jordan geht und ich habe wieder meine Ruhe.“

Er beugte sich etwas vor, in seinen schwarzen Augen glomm ein undefinierbarer Schimmer.

„Geh und bestell‘ Antosha Morozov einen schönen Gruß von mir.“
 

„Dann ist Ihr Name Ilya, richtig?“

Die Frau erstarrte und blickte Shirō aus großen Augen an.

„Woher-“

„Ich habe Antosha in Mihailovs Wirtschaft getroffen als er gestern Vorräte abgeholt hat“, antwortete Shirō ruhig. Er sah, dass Ilya unbehaglich von einem Bein aufs andere trat, die Dielen knirschten.

„Verstehe.“

Shirō erhob sich und schritt gemächlich mit in den Manteltaschen versenkten Händen auf Ilya zu.

„Jaah, Mihailov hat uns erzählt, dass Sie schon seit Monaten krank wären und er sich Sorgen um Sie machen würde“, erklärte er gedehnt. Er stand nunmehr nur noch eine Armlänge von ihr entfernt. Er konnte sehen, wie sich unter der unförmigen Wolldecke jeder Muskel in ihrem Körper anspannte.

„Wissen Sie, ich bin Arzt, vielleicht kann ich ja helfen?“ bot er dann mit einem schiefen Lächeln an.

Etwas in ihren dunklen Augen verhärtete sich, sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern.

In diesem Moment hörten sie von draußen Schritte auf dem harschen Schnee. Ilya fuhr herum. Shirō blieb mitten im Raum stehen und fixierte seinen Blick auf die Tür.

Als Antosha eintrat und ihn erblickte, konnte Shirō sehen, wie sämtliche Farbe fluchtartig sein Gesicht verließ.

Guten Tag“, sagte Shirō höflich ehe er mit einer einzigen flüssigen Bewegung die Waffe zog und abdrückte.
 

Antosha reagierte eine Millisekunde zu langsam, die Kugel ging glatt durch seine rechte Schulter. Der Knall hallte im kleinen Zimmer wieder, gemischt mit Antoshas ersticktem Aufschrei. Ilya war mit einem Satz bei ihrem Mann und zog ihn an sich, redete schnell auf ihn ein in einer Sprache, die Shirō nicht beherrschte. Er senkte die Waffe keinen Millimeter, als ihm Antosha einen schmerz- und hasserfüllten Blick zu warf.

„Verdammter Exorzistenbastard, willst du mich umbringen?“ keuchte er.

Denn der HERR wird durchs Feuer richten und durch sein Schwert alles Fleisch; und der Getöteten des HERRN wird viel sein. [2] Amen“, gab Shirō nur trocken zur Antwort. Ilya war mittlerweile verstummt und beäugte ihn nur mehr mordlüstern, während aus Antoshas Wunde weiter Blut auf den Boden troff und dort eine kleine Lache bildete.

Shirō griff mit der linken Hand in die Brusttasche seines Mantels, zog ein goldglänzendes Abzeichen des True Cross Ordens identisch dem seinigen heraus und hielt es deutlich sichtbar hoch.

„Ihr habt zwei meiner Kameraden getötet und wärt beinahe damit durchgekommen“, sagte er kalt. „Ihr hättet aber dafür sorgen müssen, dass wirklich alle Spuren verschwinden und nicht etwas direkt vor eurer Haustür liegen bleibt.“

Er warf Antosha das Abzeichen vor die Füße. Dieser fluchte und richtete sich mühsam auf, wobei ihn Ilya stützen musste.

„Du hast doch überhaupt keine Ahnung von gar nichts!“ fauchte er, angestrengt den Schmerz unterdrückend, die linke Hand auf die rechte Schulter gepresst.

„Erleuchtet mich“, knurrte Shirō, provokativ.

„Ich habe nur versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen! Ich habe nur versucht, sie zu schützen! Wäre dieser verdammte Chekov nicht aufgetaucht, hätte all das nicht passieren müssen!“

„Sie beschützen?“ Shirō lachte heiser. „Das ist nicht mehr deine Frau, verdammt noch mal!“
 

Einen Moment lang folgte Stille, dann begann Ilya leise und haltlos zu kichern, ehe sie den Kopf schief legte und Shirō ein strahlendes Lächeln schenkte, das in dem eingefallenen Gesicht merkwürdig fehl am Platze wirkte.

„Bist du dir da sicher, Herr Exorzist?“

Ihre Stimme ließ Shirō einen Schauer über den Rücken laufen, doch er rührte sich kein Stück.

„Ich weiß, was du bist.“

„Dummer Junge, dann solltest du auch wissen, dass du nicht gewinnen kannst.“

Der Schlag traf ihn unerwartet hart und ließ ihn einige Meter durch die Luft fliegen, Shirō spürte die Wand schmerzhaft mit seinem vorgeschädigten Rücken kollidieren und zum zweiten Male innerhalb vierundzwanzig Stunden hatte er das Gefühl, als würde alle Luft aus seinen Lungen weichen. Viel Zeit sich zu sammeln blieb ihm nicht, denn Ilya, oder viel mehr das, was irgendwann einmal Ilya Morozov gewesen war, stand mit einem Male über ihm und trat ihm mit einer einzigen Bewegung die Waffe aus der Hand, ehe sie ihn ohne jegliche Mühe am Kragen auf Augenhöhe zog. Die Wolldecke war von ihren Schultern gerutscht und gab nun die Sicht auf einen ausgemergelten Körper frei, Shirō hätte jede Rippe und jeden Wirbel einzeln zählen können. Er fühlte ihren Atem auf seinem Gesicht, als sie ihm mit einem grauenvollen Grinsen zuflüsterte: „Weißt du, es war so eine furchtbare Verschwendung von Antosha, diese zwei Männer gestern einfach so da liegen zu lassen. Fleisch wird nicht besser, wenn es lange herumliegt, am besten schmeckt es immer noch frisch.“

Shirō wartete nicht auf weitere Kochtipps sondern zog mit Schwung sein Knie hoch und ließ es in ihren Bauch krachen. Der Griff um seine Schultern lockerte sich abrupt und er sprang auf. Er hörte das leise, vertraute Klicken und regierte mit langerprobten Reflexen. Die Kugel verfehlte seinen Kopf um Zentimeter und ließ stattdessen eins der Fenster unter ohrenbetäubendem Splittern zerbersten.

Shirō verlor keine Sekunde und sprang vorwärts, Antosha entgegen, der immer noch Shirōs Beretta in den leicht zitternden Händen hielt. Ein gezielter Schlag auf die rechte Schulter trieb ihm alle Farbe aus dem Gesicht und ließ ihn stöhnend zu Boden gehen. Shirō entwand ihm ohne viel Mühe seine Waffe und rannte zur Tür, ohne sich umzusehen.
 

Die klirrende Kälte traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, als er den Pfad, den er gekommen war, wieder hinaufrannte. Er fühlte mit jedem Schritt seine zweifach in so kurzer Zeit misshandelten Knochen protestieren. Schließlich blieb er nach einigen Metern nach Luft schnappend stehen und warf einen Blick zurück. Es war ihm keiner der beiden gefolgt. Antosha würde mit dieser Verletzung erst mal genug zu tun haben, und Shirō hatte gesehen, was Ilya im Haus hielt. Klein und versteckt, aber für ein suchendes Auge sichtbar waren die Bannpentagramme in den Dachbalken und am Türstock gewesen, die garantieren sollten, dass der Dämon, der sich Ilyas Körpers bemächtigt hatte, nicht erneut ein Blutbad unter der Bevölkerung anrichten konnte. Mit einem Male machte zumindest ein Teil der Geschichte Sinn. Die unregelmäßigen Abstände, das heterogene Opferprofil - Ilya hatte schlicht aus Hunger getötet, wer das unglaubliche Pech hatte, ihr zu begegnen, wenn sie sich befreit hatte. Spaziergänger wie Vadim Sidorov zum Beispiel. Und seinen Hund, fügte Shirō in Gedanken automatisch hinzu. Die Ziegen waren wohl ein Versuch Antoshas gewesen, den Hunger seiner Frau anders zu stillen.

Shirō seufzte und zog eine Zigarette aus der Packung in seiner Manteltasche. Er musste überlegen, wie er jetzt am besten vorgehen sollte. Auch wenn die Beiden im Moment nicht entkommen konnten, er sollte sie keineswegs aus den Augen lassen. Allerdings hatte hier mitten im Nirgendwo keine Möglichkeit, Verstärkung zu rufen. Er verfluchte die Tatsache, dass es keine handlichen portablen Mobilfunkgeräte gab und dass er Mephisto nicht gesagt hatte, wo er hingehen würde. So würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als entweder hier darauf zu warten, dass Mephisto ihn von selber fand oder aber zurück ins Haus zu gehen und zu versuchen, das, was in Ilya steckte, zu exorzieren. Für Antosha würde er sich schon was einfallen lassen.
 

Als er sich zum zweiten Male der nun offenstehenden Haustür näherte, diesmal die Waffe im Anschlag und auf alles vorbereitet, reichte ihm bereits ein Blick, dass irgendetwas nicht stimmte. Antosha lag reglos auf dem Boden vor den Fenstern auf der anderen Seite des Raumes, in seiner rechten Hand hielt er ein Messer. Shirōs Augen wanderten automatisch zum Fensterrahmen mit dem kleinen Pentagramm in der Ecke. Die Erkenntnis traf ihn im selben Moment wie der Schlag in die Nieren.

Shirō ging mit einem Japsen zu Boden, sein Gesicht versank im kalten Weiß, er fühlte seine Brille wegrutschen und schmeckte Blut. Der folgende heftige Tritt ließ ihn den leichten Abhang hinunterrollen, ohne dass er sich irgendwie zur Wehr hätte setzen können. Schmerz pulsierte durch seinen Körper in heißen, roten Wellen, und er hatte Mühe, seinen Blick zu fokussieren, als er schließlich zum Halt kam.

Ilya stand neben ihm, doch sie hatte sich verändert, nicht länger auch nur im Geringsten darauf angewiesen, den menschlichen Schein aufrecht zu erhalten. Über ihren hageren Körper zog sich weiß-graues, glänzendes kurzes Fell, von der Hüfte abwärts verformtem sich ihre Beine zu langen, grazilen Läufen, die in dunklen Hufen endeten. Das lange, raue weiße Haar fiel ihr ins Gesicht, vermochte aber nicht, die manisch glühenden schwarzen Augen völlig zu verdecken.

„Kelpie“, brachte Shirō hustend hervor.

Sein Gegenüber grinste triumphierend.

„Willkommen in meiner Welt, Pater.“

Dann trat sie erneut zu.
 

Im ersten Moment war ihm, als würde er von einer Billion spitzer Nadeln am gesamten Körper durchstochen. Die eisige Kälte des Wassers betäubte seine Sinne, raubte ihm den Atem, ließ jeden Gedanken im Keim ersticken. Nichts umgab ihn außer Eisigkeit und Schwärze, als der Kelpie ihn tiefer auf den Grund des Flusses zog. Shirō spürte den unglaublichen Druck des Wassers, wollte schreien, sich wehren, zurück zur hellen Oberfläche, die sich immer nur noch weiter entfernte, verschwamm vor seinen Augen.

Es hieß, dass das gesamte Leben wie ein Film vor einem ablief, wenn man starb. Shirō hatte sich schon oft genug am Rand des Todes befunden um dieses Gerücht widerlegen zu können. Er fühlte in diesen Momenten nur eines, Weigerung. Nein. Er wollte nicht sterben, er würde Langley und Chekov nicht ungerächt lassen, er würde diese Ausgeburt der Hölle nicht davon kommen lassen. Seine gefühlslosen Finger streiften glattes Fell, als er an der Hand, die ihn an der Kehle weiter nach unten drückte, vorbei griff. Er spürte hartes Metall, hatte kein Gefühl mehr für die elaborierten Verzierungen des Abzeichen, doch er wusste, es war da, umschloss es verzweifelt und stach blindlinks zu, bis er einen Widerstand spürte. Er riss den Dolch mit aller ihm gebliebener Kraft zur Seite. Ein plötzlicher Schwall von Wärme umgab ihn, ein ersticktes Gurgeln, dann wieder Stille.

Das Wasser würde den Schnee rot färben, war Shirōs letzter Gedanke, ehe ihn die Schwärze vollends verschluckte und er auf den Grund sank.
 

Es war unmöglich zu sagen, was er als erstes wahrnahm, als er langsam wieder zur Besinnung kam. Eine Flut von Eindrücken und Empfindung strömte auf sein noch schlafvernebeltes Hirn ein, die im starken Widerspruch zu den fragmentarischen Erinnerungen standen, die sich in seinem Bewusstsein regten. Ohne die Augen zu öffnen versuchte Shirō, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Er lag weich und warm. Seine gesamte linke Seite schmerzte und er spürte die Einengung von mehreren Schichten Verband auf seiner Haut. Seine Lunge fühlte sich rau an mit jedem Atemzug, als hätte man sie mit Sandpapier ausgerieben. An seinem linken Handrücken fühlte er das wohlbekannte leicht Unangenehme Ziepen eines Infusionseingangs. In seine Nase drang der ebenso wohlvertraute scharfe chemische Geruch von Desinfektionsmitteln. Außer einem konstanten leisen Gluckern und Summen hörte er nichts. Krankenhaus. Kein Wasser mehr, keine Kälte, kein Kelpie, der versuchte ihn auf den Grund des Flusses zu schleppen.

Shirō öffnete die Augen und starrte an eine schmucklose weiße Decke, leicht verschwommen ohne seine Brille. Er wendete vorsichtig den Kopf etwas, er befand sich in einem Einzelzimmer, zu seiner Linken war ein Fenster mit zugezogenen weißen Vorhängen, ihm gegenüber ein kleiner Schrank und eine Tür, die wahrscheinlich zum Badezimmer führte, zu seiner Rechten ein Nachtkästchen und weiter entfernt eine Tür zum Gang hinaus. Direkt über dem Türstock hin ein geschnitztes Holzkreuz, der Doppelbalken machte es leicht zu erkennen, wo er sich befand.

Shirō richtete sich vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter auf. Wie er gedacht hatte war fast sein gesamter Oberkörper dick bandagiert, ebenso wie die rechte Hand. Er hatte sich wohl an seinem eigenen Dolch geschnitten, als er den Kelpie verletzt hatte. Und genau dort setzte seine Erinnerung völlig aus. Er hatte den Widerstand gespürt, als die Waffe in den Hals des Wesens eingedrungen war, hatte gespürt, wie der Griff um seinen Hals sich gelockert hatte, aber danach? Shirō schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern, wie um alles in der Welt er vom Grund des Flusses hierhergekommen war.
 

In diesem Moment wurde mit Schwung die Tür aufgerissen und Shirō fühlte sich mit einem Male in eine knochenbrecherische Umarmung gezogen.

„Sie leben noch! Himmel, ich bin ja so froh, Sie zu sehen!“

„Nicht– meine– Rippen–“ brachte Shirō mühsam hervor und sah bereits Punkte vor seinen Augen tanzen, schon wieder.

„Ah, entschuldigen Sie vielmals!“ Beljajew ließ ihn sofort los und trat einen Schritt zurück, immer noch strahlend.

Shirō hustete etwas und besah sich sein Gegenüber eingehend. Dieser trug einen dunkelgrauen Jogginganzug, bei dem der linke Ärmel abgetrennt war, denn sein Arm war bis zur Schulter hoch bandagiert.

„Oh, das, das ist nur ein Kratzer, machen Sie sich mal keine Gedanken.“

Beljajew war seinem Blick gefolgt und bewegte zum Beweis die ebenfalls verbundenen Finger.

„Viel wichtiger ist, wie geht es Ihnen?“

„Habe mich nie besser gefühlt“, antwortete Shirō amüsiert und rieb sich die schmerzende Seite. Wenn der verdammte Kelpie ihm nicht die Rippen gebrochen hatte, dann hatte das mit Sicherheit Beljajew soeben erledigt. Und dennoch fühlte er das warme Gefühl von Erleichterung seinen Körper durchfluten.

„Sag mal, wie bin ich überhaupt hierhergekommen?“ fragte er dann.

Beljajew setzte zu einer Antwort an, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte und offensichtlich fester zudrückte als nötig.

„Der Arzt meinte, der Patient braucht Ruhe, Beljajew. Nichts gegen dich persönlich, aber du bist so ziemlich das genaue Gegenteil von Ruhe.“

Beljajew lachte nur, offenkundig an solche Äußerungen bereits gewohnt, verabschiedete sich mit einem „Naja, dann bis später!“ und einem spöttischen Salut und verließ das Zimmer. Mephisto schloss mit einem enervierten Seufzen die Tür hinter ihm.

„Mit Nikita Beljajew im Wartezimmer auf die Untersuchungsergebnisse warten, das waren mit Abstand die längsten und nervigsten zweieinhalb Stunden meines Lebens“, verkündete er dann.

„Quark.“
 

Mephisto strich sorgfältig sein karmesinrotes Cape glatt und ließ sich neben ihm auf der Bettkante nieder.

„Du kannst einem wirklich ganz schön Sorgen machen, Shirō, weißt du das?“

„Dann habe ich mein Nicht-Ertrinken wohl dir zu verdanken?“

„Absolut und natürlich, und lass dir versichert sein, dass ich eigentlich kein Freund von Wasser bin, das ist mehr so Egyns Fall. Und für diese großherzige Tat meinerseits wirst du bis an dein Lebensende in meiner Schuld stehen und diese bei mir abarbeiten“, versicherte Mephisto ihm ernsthaft.

„Danke.“

„Gerne und jederzeit wieder.“

Für einen kurzen Moment schwiegen sie beide einvernehmlich.

„Woher wusstest du, wo ich war?“ fragte Shirō dann.

Mephisto verzog das Gesicht.

„Raum hat es mir gesagt. Jetzt stehe ich pro forma auch noch bei ihm in der Kreide, und glaub mir, jemand wie er vergisst das nicht.“

„Raum?“ fragte Shirō irritiert. „Wie Dämonenfürst Raum, König der Krähen Raum?“

„Genau der. Und wenn du seinen Namen fünfmal wiederholst wird’s auch nicht besser“, gab Mephisto verstimmt zur Antwort. „Offenbar hat Antosha ihn beschworen, um uns Ghouls und Naberius auf den Hals zu hetzen. Oh, und um sein Dach neu eindecken zu lassen. Ich glaube, ihm war gar nicht ganz klar, wen er da eigentlich gerufen hat.“

Shirō nickte, damit war ihm das letzte Puzzleteil klar geworden. Wie er bereits vermutet hatte war alles nur Ablenkungstaktik gewesen. Eine Ablenkungstaktik mit hoher Opferzahl allerdings.

„Ich fasse es immer noch nicht so ganz, dass es nur ein einzelner Kelpie und ein Mensch waren, die uns so zum Narren gehalten haben“, schnaubte Mephisto und lehnte sich auf aufgestützten Ellbogen zurück.

„Antosha war wohl überzeugt, dass seine Frau immer noch am Leben war, besessen oder nicht, und hat einfach alles getan, um sie zu beschützen. Liebe kann merkwürdige Wege gehen“, antworte Shirō nachdenklich, ehe er die entscheidende Frage stellte: „Was ist mit den Beiden?“

„Beim Kelpie hast du ganze Arbeit geleistet, Shirō, meine Hochachtung. Ich dachte ja immer, du trägst das Teil aus Zierde, ich hätte nicht gedacht, dass du damit Leute umbringen kannst“, Shirō zuckte bei dieser Bemerkung unwillkürlich zusammen, „und was Antosha angeht – nachdem er das Bannpentagramm gelockert hat, hat sie ihn offenbar getötet. Gab keinen Grund mehr für sie, sich von ihm bevormunden zu lassen.“

Shirō schwieg daraufhin einige Sekunden, ehe er sagte: „Eine traurige Geschichte.“ Er meinte es ehrlich.

Mephisto zuckte mit den Achseln.

„Sind sie das nicht immer?“
 

Shirō seufzte.

„Ich bräuchte jetzt wirklich dringend ‘ne Zigarette. Aber ich wette, die liegen noch am Grund des Flusses, huh?“

„Hier drin ist eh Rauchverbot, Shirō.“

„Als ob du dich auch nur einen Deut um Regeln scheren würdest, Mephisto.“

Angesprochener grinste nur süffisant. Shirō musterte seinen Freund, und plötzlich fiel ihm etwas ein, das Mephisto sehr viel früher an diesem Tag gesagt hatte, was aber aufgrund seiner düsteren Gemütsverfassung zu diesem Zeitpunkt nicht zu ihm durchgedrungen war.

„Sag mal, was waren das eigentlich für ominöse Umstände wegen denen du erst heute in die Stadt zurückgekommen bist?“

Mephistos Grinsen gefror und er schien mehr als unwillig, die Frage zu beantworten. Umso mehr Grund für Shirō, vehement nachzubohren.

„Also?“

Mephisto seufzte, dann: „Paladin.“

„Geht das auch noch etwas ausführlicher?“

„Der hochverehrte und über alle Maßen erhabene und exquisite Herr Paladin des ruhmreichen und hochheiligen, gottbefohlenen True-“

Shirō verpasste ihm einen Tritt vors Schienbein. Mephisto schnaubte gelinde amüsiert.

„Unser werter Herr Paladin hat die Akademie inspiziert, das ist los.“

Shirō war verwirrt.

„Wie, heute?“

„Nein, schon seit vorgestern.“

„Vorge-“, Shirō stockte. „Moment mal, du bis vorgestern zu mir gekommen und hast gemeint, du hättest sowieso nichts zu tun!“

Mephisto verzog das Gesicht.

„Ich kann den Kerl nicht ab, Shirō, und war um jede Ausrede froh, ihm aus dem Weg zu gehen. Hätte auch prima geklappt, hätten sie mich nicht bei Beljajews Einlieferung erkannt. Er war nicht unbedingt erfreut.“

Shirō blieb einen Moment lang völlig perplex sitzen. Dann brach er lauthals in Gelächter aus, dass ihm die Rippen nur so schmerzten.

„Du bist absolut und völlig unmöglich, Mephisto.“

„Gerne und jederzeit wieder.“
 

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- FINIS -
 

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[1] Johann Wolfgang von Goethe – Faust I. Jaah, ich weiß. Jaah, es ist mir egal.

[2] Jesaja 66,16



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Kommentare zu dieser Fanfic (12)
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Von:  DJ-chan
2013-08-08T14:00:17+00:00 08.08.2013 16:00
Also ich hab jetzt erst mal das erste Kapitel durchgelesen und muss sagen, dass deine FF richtig toll ist. Du hast eine wahnsinnig tolle Ausdrucksweise und der Text lässt sich flüssig lesen.
Der Einstieg ist sehr angenehm und verständlich und bei der Vorstellung Fujimoto im Schnee liegen zu sehen ist köstlich XD
Was ich sehr gut finde ist, dass du die Gespräche stets sehr lebendig beschreibst und dabei auch im Grunde "nebensächliche" Bewegungen der Charas erwähnst. Hier muss ich auch die Umgebungsbeschreibungen erwähnen die wirklich klasse sind.
Eine Stelle an der ich kurz ins Stocken gekommen bin ist die, bei der Fujimoto das Wirtshaus betreten hat. Ich hab mich da nämlich gefragt, ob da noch weitere Gäste sind oder nicht. Durch die darauffolgende Unterhaltung über den Orden hab ich daraus geschlossen, dass da wahrscheinlich kein Außenstehender anwesend ist. Aber eigentlich verwunderlich; weil ja zumindest die Wirtsleute anwesend sein müßten. Hab ja noch nicht weitergelesen, vielleicht wurden ja auch alle Anwohner evakuiert. Wollt nur sagen, dass ich an dieser Stelle ins Grübeln gekommen bin. ^^
Mephistos Auftritt ist klasse XD Allein bei der Beschreibung seiner Kleidung musste ich grinsen...XD
Und dann erst seine Unterhaltung mit Fujimoto! Ich finde du hast die Charas echt gut getroffen.
Die Story ist echt interessant und bin schon gespannt wies weitergeht ^^
Liebe Grüße
DJ-chan
Von:  Vanilla_Coffee
2011-12-28T09:24:07+00:00 28.12.2011 10:24
*das letzte Kappi verschlungen hat*
Hui alles sehr schön aufgeklärt am Ende^^ Ich bin echt total begeistert von dieser FF und dein Schreibstil gefällt mir sau gut^^
Also zuerst hab ich ja echt mitgelitten mit Shiro, aber am Ende kann er einem echt nur noch leid tun XD Was er manchmal alles durchmachen muss wegen Mephisto XD
Aber schade, dass schon Ende ist :(
Hätte mir noch mehr davon gewünscht von dir^^

LG
Amalia
Von:  Raishyra
2011-12-28T08:59:10+00:00 28.12.2011 09:59
Ein super Ende.^^
Von:  Niela_DeAhrel
2011-12-20T20:28:15+00:00 20.12.2011 21:28
Ach schau mal einer guck, ich Blindfisch! XDDD
Schön, dass ich jetzt weiß, dass diese tolle FF auch auf Mexx zu finden ist. Aber kommentieren werd ich wohl weiter auf ff.de... weil da brauchste mehr Kommis als hier! xD
Von:  Hyoura
2011-12-20T13:16:27+00:00 20.12.2011 14:16
Das ist doch nicht hässlich. Alles ganz normal, wenn man durch einen Wald geht, MUSS man doch erwarten, dass man von zombieartigen, unnatürlichen, mordlustigen Dämonen angegriffen wird.
Ich muss zugeben, der Kapiteltitel irritiert mich etwas, immerhin stirbt Langley erst im nächsten Kapitel.
Etwas verwundert bin ich auch darüber, dass Shiro erst auf Mephistos Hinweis hin seine Waffe mitnimmt. Immerhin ist ja allgemein bekannt, dass dort draußen ein ziemlich mächtiges, Exorzisten-fressendes Monster herumläuft.
Ich finde es ja einfach nur hilarious (wenn mir endlich mal ein passendes, deutsches Äquivalent zu dem Wort einfallen würde, wäre ich sehr glücklich...), wie Mephisto auf dem (zugegebnermaßen bedauerlichen) Hundetod beharrt. Nicht zu vergessen, die nachfolgende Kabbeleien mit Shiro (übrigens, In China essen [...], statt Ich).
Deine Beschreibung der Ghouls gefällt mir ausgezeichnet (insbesondere der Vergleich als wären die Fieberalbträume eines geplagten Menschen plötzlich real geworden.)
Die folgende Kampfszene ist wahrlich auch nicht von schlechten Eltern.
Allerdings wäre es zwischenzeitlich schön gewesen, wenn du die Zahl der Ghouls etwas genauer definiert hättest.
Ich mochte die Idee der Wir-machen-Monster-mit-Bibelsprüchen-fertig Kampfweise ja schon immer (zumal Latein eine echt interessant klingende Sprache ist) dementsprechend war ich begeistert, als du Bibelsprüche auch im Kampf hast auftauchen lassen.
Mephistos Eingreifen war ja DAS Sahnehäubchen. Ein Dämon die Bibel zitiert...
Ach, ich mag es, wie du Shiros und Mephistos Beziehung darstellst (ich kann das gar nicht oft genug sagen).
Ich verneige mich vor der Großartigkeit deines Schreibstils.
Liebe Grüße
Hyoura
Von:  Vanilla_Coffee
2011-12-19T18:14:31+00:00 19.12.2011 19:14
*hat das Kappi wieder verschlungen wie sonst was*
Boar diese FF is echt der Hammer und vorallem deine Cliffhanger immer XD Das is manchmal echt gemein ^-^
Gott ich bin so gespannt wie es weiter geht.
Anscheinend war es ja nicht der, den alle verdächtigt haben ;)
Und vorallem was hat Shiro da gesehen? o.o
Ich muss einfach weiterlesen >_>
Diese FF macht echt süchtig XD

LG
Amalia
Von:  Raishyra
2011-12-19T16:52:34+00:00 19.12.2011 17:52
Echt wieder ein klasse Kapitel.^^
Von:  Vanilla_Coffee
2011-12-12T07:48:51+00:00 12.12.2011 08:48
Man war das wieder ein spannendes Kappi O.O
Mir ist fast das Herz stehen geblieben als sich dieser Ghoul da auf Shiro gestürzt hat >_>
*Shiro-Fan-Fähnchen schwenk*
Und endlich gehts ja auch mal zur Sache hier^^ Bisschen Action kann ja nie schaden nicht ;)
Und respekt, dass du dir echt noch Bibelstellen herausgesucht hast extra für diese FF hier^^ Ich glaub wenn meine Ao no Excorzist gut werden soll, dann sollte ich das wohl auch machen vielleicht T_T
Man ich kanns schon gar nicht mehr abwarten bis zum nächsten Kappi XD

LG
Amalia
Von:  Hyoura
2011-12-11T20:25:27+00:00 11.12.2011 21:25
Die Suche geht voran!
Der arme Shiro, er kann einem fast leid tun mit Mephisto an seiner Seite.
Beide Charaktere schmeißen in dem Kapitel ja wieder mit Wortattacken um sich :D Und bleiben dabei so herrlich IC... hach :)
Ich mag es, wie du die Beziehung der beiden darstellst und immer wieder solche Sachen wie Aber bedanken würde er sich trotzdem nicht bei Mephisto, beschloss er grimmig, allein schon aus Prinzip nicht. einfließen lässt.
Langley und Beljajew werden vielschichtiger. Und letzterem traue ich nicht über den Weg... <_< Ich finde es gruselig, wenn Leute so früh aufstehen, dass sie Zeugenbefragung und Frühstückbesorgung schon fertig haben... der MUSS böse sein :D
Und was immer Shiro da gespürt haben mag sicher auch. Ich will wissen, was es ist. Was auch immer es sein mag, es sorgt für Spannung!
Dass Mephisto das mit den Hunden dermaßen persönlich nimmt, finde ich ja hilarious. In manchen Filmen finde ich die Tode von Katzen auch schlimmer als die von irgendwelchen Charakteren... Ich mag Katzen.
Ob man Langley lebendig wiedersieht, bleibt offen. Sich die Beine vertreten kann in derartigen Fällen sehr ungesund sein :D
Also, yay für Humor, yay für Schreibstil und yay für Spannung. I love it!
Continuation, pretty please!
Von:  Vanilla_Coffee
2011-12-04T19:36:27+00:00 04.12.2011 20:36
Hui is das spannend o.o
Also ich bin immer noch begeistert von deiner Story und finds irgendwie schade, dass das Kappi schon wieder zu Ende is XD
*will mehr davon haben*
Bin sowas von gespannt wie das noch weiter geht O.o

LG
Amalia


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