Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 64: 64. Kapitel ----------------------- Ryon schreckte schon beim ersten Vibrationsalarm seines Handys auf dem Nachttisch hoch und war sofort hellwach. Er schaltete nicht die Lampe ein, sondern warf nur einen kurzen Blick auf die Uhr, ehe er nach dem kleinen summenden Gerät grabschte und abhob. Es war drei Uhr morgens und Tennesseys Nummer, die ihm auf dem Display entgegen geblinkt hatte, verhieß nichts Gutes. „Was ist passiert?“ Seine Stimme klang noch rau und verschlafen, aber seine Nerven waren angespannt, während sich seine Nackenhärchen aus einem Instinkt heraus auf stellten, der höher ging, als seine menschlichen Sinneswahrnehmungen. Sein Herz raste wie verrückt und als er einen Krach im Hintergrund hörte, als würde gerade jemand eine ganze Zimmereinrichtung demolieren, ohne die Stimme seines Freundes zu vernehmen, setzte es sogar einen Schlag lang aus. Danach war die Leitung tot. Sofort sprang er aus dem Bett und erinnerte sich zu spät daran, dass Mia zwischen ihm und Paige eingeschlafen war. Vorhin hatte er sie bereits aufgeweckt, aber mit seiner hektischen Art jagte er ihr schließlich auch noch Angst ein, so dass sie zu weinen anfing. Entschuldigend, hauchte er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, drehte das Licht an, damit sie ihn sehen konnte und wandte sich dann an Paige, der das ganze schließlich auch nicht hatte entgehen können. „Bring sie zu Tyler und Ai, während ich mich anziehe und alles nötige vorbereite. Tennessey steckt offenbar bis zum Hals in Ärger.“ Wehe wenn sein Freund sich nicht an die Regeln gehalten hatte. Dann konnte er was erleben! Ihr Herzschlag sprang sofort in unermessliche Höhen, als Ryon wie von der Tarantel gestochen aufsprang und Mia sich weinend an ihr zu verstecken versuchte. Unentschieden, ob sie zuerst die Kleine beruhigen oder versuchen sollte, herauszufinden, was eigentlich los war, tat sie nichts von alledem, sondern starrte nur Ryon an. Erst als der ihr sehr klar sagte, was sie tun sollte, kam sie in Bewegung, drückte Mia beschützend an sich und stand auf. Das Mädchen weinte immer noch und klammerte sich in Paiges Schlafshirt, während diese versuchte ihr gut zuzureden. „Alles ist gut, Mia. Dad-“ Beinahe wäre sie über ihre eigenen Gedanken gestolpert. Stattdessen blieb sie wie angewurzelt mitten im Flur stehen, streichelte Mias Wange, so dass sie zu ihr hoch sah und lächelte. Dicke Tränen rollten immer noch aus ihren großen Augen, aber sie schien sofort ruhiger zu werden, sobald sie sah, dass Paiges Blick freundlich und warm war. „Ryon und ich müssen kurz weg. Ich bringe dich zu Onkel Tyler und Ai, ja? Die beiden werden auf dich aufpassen, bis wir wieder da sind. Und dann frühstücken wir alle zusammen.“ Paige küsste eine der letzten Tränen weg und machte sich nun langsamer auf den Weg zu Tylers und Ais Zimmer, wo sie höflich und leise anklopfte. Allerdings ließ sie es nicht an Nachdruck fehlen, als sie die Situation erklärte und Ai das kleine Mädchen in die Arme drückte. Danach rannte sie so schnell sie konnte zu ihrem eigenen Zimmer zurück, riss den Kleiderschrank auf und warf sich ein paar Sachen über. Die Haare in einen Pferdeschwanz zusammengenommen, war sie keine fünf Minuten später bereits loszufahren. Dabei wusste sie noch nicht einmal genau, was passiert war. Genauso wenig, wie Ryon, musste sie feststellen. Er trat lediglich so stark auf's Gaspedal, dass sie sich an die Armlehne klammerte und versuchte geradeaus zu starren, damit ihr bei der halsbrecherischen Fahrt nicht auch noch schlecht wurde. Ryon musste sich so sehr auf die Straße konzentrieren und auf den Umstand bei dieser Geschwindigkeit den Wagen nicht um einen Baum zu wickeln, dass er nicht dazu kam, Paige irgendetwas zu erklären. Es wäre auch sinnlos gewesen, weil er nicht gewusst hätte, was er hätte erklären sollen. Da war Lärm gewesen. Mehr wusste er nicht und trotzdem war er voll von Panik und Sorge. Selbst seine Krallen, die ihn im Augenblick eher hinderten, als nützlich waren, konnte er nicht einfahren. Die Schlaglöcher durch den Wald machten ihn am Meisten zu schaffen. Jedes Holpern, Hüpfen und hin und her gerüttelt werden, riss an seiner Verletzung, die inzwischen schon wieder einigermaßen gut aussah, aber es tat trotzdem verdammt weh und doch bemerkte er es noch nicht einmal. Als er in der Nähe der Hütte eine Vollbremsung hinlegte, war ihm sogar egal, dass er den Wagen abwürgte, weil er schneller raussprang, als er den Schlüssel herum drehen konnte. Er hatte es noch nicht einmal versucht. Licht brannte hinter den verschmierten Fenstern, noch immer war krachender Lärm zu hören, aber in all dem Krach, hört er auch Tennesseys besänftigende Stimme heraus. Gott sei dank, er war noch nicht tot! Ungeachtet seiner momentanen Einschränkungen stürmte Ryon zur Tür und riss sie beinahe aus den Angeln. Für einen Moment war alles still, als man auf ihn aufmerksam wurde. Er erkannte den Raum fast nicht wieder. Tennessey stand direkt neben ihm an der Wand und sah ihn überrascht an, während zwischen herum fliegenden Federn, Stofffetzen von einem Kissen, zertrümmerten Möbeln und herum liegenden Arztutensilien ein weißer Wolf stand und die Zähne bleckte. „Ryon, was-“, begann sein Freund verblüfft zu fragen, kam aber nicht weiter dazu. Der Wolf griff an und zwar nicht Tennessey sondern ihn! „Delila, nein!“ Tennesseys Ruf blieb ungehört, während Ryon von der Wucht des Aufpralls nach hinten geworfen wurde. Doch statt nun von der Wölfin zerfleischt zu werden, stürmte Delila los, in Richtung Waldrand. Das konnte er unmöglich zulassen. Sie durfte nicht entkommen! Ryon riss sich das Hemd vom Oberkörper und schlüpfte aus seinen Schuhen, ehe er auch schon dem weißen Schatten hinterher wetzte, um sie wieder einzufangen. Ein Wolf hatte gegen einen Tiger keinerlei Chance und trotzdem versuchte Delila es. Erst lief sie weg, bis er sie umrundete und wieder zurück trieb und als sie immer mehr in die Enge getrieben wurde, griff sie ihn an. Ein einziger Hieb hätte genügt, um sie zum Schweigen zu bringen, aber gerade als das Tier in ihm ausholen wollte, um sie endlich zur Ruhe zu bringen, hielt Tennesseys Schrei ihn auf. „Ryon, nein! Denk an das Baby!“ Das was? Ryon erstarrte verwirrt mitten in der Bewegung und fing sich dafür einen schmerzhaften Biss in die Schnauze ein, da sein Fell zu dick war, um das Gewebe darunter zu verletzen und sie somit seinen Schwachpunkt angriff. Schließlich reichte es ihm endgültig. Er warf sein Gewicht auf den Wolf, riss seine Kiefer auf und schloss sie so nachdrücklich um Delilas Nacken, dass die Drohung nicht deutlicher hätte sein können. Endlich gab sie Frieden. Sofort war Tennessey bei ihnen, verpasste Delila eine K.O.-Spritze, so dass Ryon sie endlich los lassen konnte. Schwer keuchend verwandelte er sich wieder zurück und hielt sich die brennende Seite. „Und jetzt will ich verdammt noch mal wissen, was du mit Baby gemeint hast!“ Er schrie seinen Freund tatsächlich an. „Was zur Hölle?!“ Paige riss den Sicherheitsgurt auf, warf sich gegen die Autotür und war doch nicht schnell genug. Sie sah nur noch eine helle Silhouette, die Ryon umwarf und in den Wald davon raste. Es folgte der silberne Dunst, der ihr sagte, dass der Tiger ebenfalls auf dem Sprung war, doch was sie als Nächstes hörte, wollte ihr fast den letzten Geduldsfaden reißen lassen. Es fand eindeutig ein Kampf zwischen den beiden Tieren statt und in Ryons Zustand... „Verdammtes Miststück!!“ Ohne auf Tennessey zu achten, der neben ihr her rannte, warf Paige einen Feuerball in die Luft, dessen Schein die Umgebung soweit erhellte, dass sie die beiden sehen konnte. Die Wölfin gab immer noch nicht gänzlich auf, obwohl sie bereits verloren hatte. Noch einmal fluchte Paige und wollte sich endgültig einmischen, als Tennessey nicht nur Ryon, sondern auch ihr mit seinem Ruf den Boden unter den Füßen wegzog. Ihre Schritte schienen langsamer geworden zu sein, denn sie erreichte die Szene erst, als schon alles vorbei und Ryon dabei war, seinen Freund anzubrüllen. Sie war sich das erste Mal seit Langem nicht sicher, ob er sie von sich stoßen würde, aber verdammt, seine Seite blutete wieder und sie würde nicht zulassen, dass er sich wegen dieser Wölfin noch schwerer verletzte, als es ohnehin schon der Fall war. „Ryon...“ Sie trat genau zwischen die beiden Männer und legte beschwichtigend ihre Hände auf seine Arme, während sie es kaum wagte ihm in die Augen zu sehen. Die Schmerzen spiegelten sich dort so deutlich und waren so viel schlimmer, als die äußere Verletzung, dass Paige selbst Angst davor bekam. Ein Baby. Sein Zorn verrauchte nur etwas, als Paige ihn berührte, aber es half ihm enorm, Tennessey nicht an die Kehle zu gehen. Es war nicht nur die Sorge um ihn, die ihn so wahnsinnig gemacht hatte, sondern dass das alles hier überhaupt hatte passieren können und dann auch noch ein Baby? Vor Wut bebend, drückte er Paige an seine unverletzte Seite, um sich noch stärker durch sie zu erden und ruhig zu bleiben. Das hier war einfach so schnell gegangen, dass seine Gedanken kaum hatte mitkommen können. Er war total verwirrt … und nackt. Obwohl so etwas wie Reue in Tennesseys Miene zu lesen war, ließ er sich doch nicht von Ryon einschüchtern, sondern kniete sich stattdessen neben der bewusstlosen Wölfin ins Gras. „Sie ist im dritten oder vierten Monat schwanger. Sie hat lange versucht, das vor mir zu verheimlichen, als ich es heraus fand, ist sie völlig durchgedreht und glaub‘ jetzt nicht, ich hätte sie nicht anständig gefesselt. Denn das hab ich.“ Tennessey sprach die Wahrheit. Es lag keine Lüge in seinen Augen oder in der Luft. „Aber selbst du wirst doch wohl wissen, dass sich die körperliche Form beim Wandeln verändert und ihre Handgelenke schlüpften einfach durch die Fesseln hindurch. Außerdem weiß ich nicht, was du hier zu suchen hast. Ich hatte alles im Griff!“ Ehe Ryon endgültig an die Decke gehen konnte, ließ er Paige sicherheitshalber los und stapfte zum Auto zurück, während er seine zerrissenen Klamotten aufhob und sich an den kleinen Vorrat an Kleidung im Kofferraum zu schaffen machte, um sich anzuziehen. Tennessey und Paige ließ er einfach zurück. Der Doc prüfte den Puls von Delila, ehe er die zierliche Wölfin hochhob und Paige entschuldigend ansah. „Ich weiß wirklich nicht, warum ihr hier seid, aber es tut mir trotzdem Leid, dass ihr das mit ansehen musstet. Eigentlich hätte sie gar nicht aus der Hütte kommen können. Vermutlich lag es daran, weil Ryon die Tür offen gelassen hat. Meine Sicherheitsprogrammierung sah vor, dass sie die Tür nicht öffnen kann.“ Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Das mit Delila wird wohl noch etwas dauern. Sie ist … verwirrt und voller Wut.“ Die beiden Männer hatten sie nun beide einfach stehen lassen und auch Paige beließ es noch einen Augenblick dabei, während sie Tennessey hinterher sah, der die Wölfin auf seinen Armen in die Hütte zurück trug. „Da ist sie nicht die Einzige...“, brummte sie leise, bevor sie sich aufmachte und den anderen zur Hütte folgte. Ihr Weg führte sie direkt zu dem kleinen Gebäude. Allerdings nicht, um sich weiter mit Delila zu beschäftigen, die – ob schwanger oder nicht – bloß warten sollte, bis sie wach und für Paige ansprechbar war, sondern um sich Tennesseys Tasche zu schnappen. Der Arzt wollte protestieren, als ein Blick aus dunklen Augen ihn traf, vor dem selbst Ryon zurück gewichen wäre. „Es mag euch allen nicht aufgefallen sein, aber seine Wunde hat wieder angefangen zu bluten.“ Damit zerrte sie die schwere Tasche mit sich aus der Hütte und zum Auto hinüber, wo Ryon sich gerade umständlich das Hemd überziehen wollte. „Stop. Fallen lassen. Zuerst wird das gesäubert und wieder verbunden.“ Und keine Wölfin der Welt würde sie davon abhalten! „Nein, Paige!“ Er wich ihr aus und gab es auf, sich vorsichtig in das Hemd schälen zu wollen, sondern zog es sich einfach mit einem Ruck über. Jede seiner Bewegungen war voller Wut und … etwas anderem. Dass seine Seite dabei nur noch heftiger zu brennen begann und sich rasch ein roter Fleck auf dem weißen Stoff ausbreitete, ignorierte er einfach. Er wollte nur noch nach Hause und wieder ins Bett. Das alles hier war so… Ryon hielt sich am Rahmen des Kofferraums fest und versuchte sich mit tiefen Atemzügen wieder zu beruhigen. Doch weder die ausgefahrenen Krallen, noch seine angespannte Haltung, konnte man übersehen. Am liebsten wollte er schreien, aber nicht mit Paige und trotzdem stand sie gerade mitten in der Schusslinie. Ihr wurde von einer Sekunde auf die Andere speiübel. Etwas in Paige rollte sich zusammen, hob schützend die Arme über den Kopf und versuchte verzweifelt das Brennen in den Augen hinunter zu kämpfen, während sie dastand, die schwere Arzttasche umklammerte und Ryon einfach nur anstarrte. Sämtliche Farbe war aus ihren Wangen gewichen und sie hätte nicht sagen können, ob sie es schaffen würde, einen Schritt zu tun. Er war ... so wütend. Hätte er ihre Kräfte gehabt, wäre das Metall unter seinen Fingern und dem lodernden Blick geschmolzen, der sich früher oder später bestimmt wieder auf Paige richten würde. Es macht ihr Angst. So viel mehr, als die Tatsache, dass er sie mit seinen Krallen vielleicht verletzen konnte. Er konnte viel mehr als das. Das kleine Mädchen, das sich in Paiges Innerem wimmernd zusammen krümmte, erwartete genau das. „Entschuldige...“ Wie hatte sie nur so dumm sein können? Das Baby! Marlene... Sein Baby... Die Tränen schienen ihren Kopf nach unten zu zerren, wo sie sah, dass ihre Finger um den Griff der Tasche zitterten. Ihr war heiß und kalt zugleich und am liebsten wäre sie weg gerannt. Genauso gern, wie sie noch näher kommen wollte, um ihn zu beruhigen. Aber er hatte sie schon zurecht gewiesen, nicht wahr. Sie durfte nicht näher kommen. Vielleicht war genau dieses leise ‚Entschuldigung‘ von Paige der einzige Grund, der zwischen ihm und einem katastrophalen Ausbruch stand. Zumindest brachte es Ryon dazu, für einen Moment gequält die Augen zu schließen. Die Wut wurde weniger, der Schmerz nahm zu, aber nicht der in seiner Wunde. Er hätte fast eine schwangere Frau geschlagen. Er hatte zugesehen, wie Delila sich Kübelweise Wodka rein schüttete und das in einer verrauchten Bar! Das war … das war so… „Paige…“, seine Stimme klang schwach und kraftlos. Er hatte einfach nicht mehr die Energie, seiner Wut gebührendem Ausdruck zu verleihen und um ehrlich zu sein, er wollte auch nicht mehr. Er wollte sich nicht mehr schuldig fühlen und sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Ryon ließ das Auto los, nahm Paige die Arzttasche aus den zitternden Händen und zog sie an sich. Er umarmte sie einnehmend und so, als wäre es das letzte Mal. Es tat so gut, sie halten zu können. Wenigstens etwas zu haben, dass ihn nicht ständig quälte. „Es tut mir leid, Paige.“ Er flüsterte es ganz leise. „So leid.“ Sofort ging es ihm etwas besser. Mit seiner Gefährtin an seiner Seite, ging es ihm immer besser. Egal wo und in welcher Situation er sich gerade befand. Denn irgendwie schien es so zu sein, dass mit Paige doch eigentlich alles gelingen musste. Es war vielleicht nicht fair, aber sie war sein Blocker gegen alles, womit er selbst nicht mehr wirklich fertig wurde. Doch nicht dafür liebte er sie, sondern viel mehr, weil sie das Schlechteste von ihm gesehen hatte und dennoch bei ihm blieb. „Ich will ins Bett, Flame. Einfach nur noch ins Bett." „Ich weiß...“ Paige glaubte mehr aus seiner Entschuldigung heraus zu hören, als nur die Worte, die an sie gerichtet waren. Sie zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, als all das wieder in ihr Gedächtnis zurückkam, das sie völlig irrsinniger Weise vergessen hatte. Ryon hatte nur für Marlene gelebt. Und für ihr gemeinsames Kind. Jahre lang hatte er die Wunde selbst offen gehalten und sich schlimmer gequält, als jeder Andere es hätte tun können. Wie hatte sie so dumm, naiv und blöd sein können, das nicht zu beachten? Wie hatte sie so ... eine verdammte Idiotin sein können, zu glauben, dass sie seine Wunden hatte heilen können? Nicht einmal mehr weinen konnte sie, als ihr diese Gedanken kamen. Sie fühlte sich schwach und vollkommen müde, als sie sich langsam aus Ryons Umarmung löste und die Arzttasche wieder an sich nahm, um sie Tennessey zurück zu geben. „Setz dich schon ins Auto. Ich fahr dich nach Hause.“ Ryon lehnte schwer an der zerschrammten Kommode in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer und starrte schon eine ganze Weile nachdenklich ins Leere, während er einen Tupfer auf die leicht blutende Wunde an seiner Seite drückte. Das Einzige, was er von Paige angenommen hatte, als sie wieder zurück waren und das, obwohl er eigentlich hatte ins Bett wollen. Doch irgendwie erschien es ihm gerade unmöglich, sich nach diesem Weckruf einfach wieder hinzulegen und weiter zu schlafen. Er war vollkommen aufgewühlt und wusste dennoch nicht, wo anfangen. Außerdem war er von einer Müdigkeit erfüllt, die weit mehr war, als körperliche Erschöpfung. Er war das alles so müde. Es war still im Raum. Vielleicht hatte Paige etwas zu ihm gesagt, Ryon konnte es nicht sagen. Vielleicht wartete sie aber auch einfach nur darauf, dass er sich in irgendeiner Form wieder bewegte und zu handeln begann. Wenn es so war, dann musste sie lange darauf warten, bis er endlich den Mund aufmachte und aus keinem richtigen Zusammenhang zu sprechen begann. „Da gab es diese Organisation – ich weiß gar nicht mehr so genau, wie sie hieß. Moonleague oder so ungefähr. Auf jeden Fall irgend so eine menschliche Einrichtung, die nichtmenschliche Wesen registrieren, überwachen und zum Teil auch für sich arbeiten lassen wollte. Vor drei Jahren erfuhr ich zum ersten Mal von ihr und zugleich war das auch das letzte Mal, dass man etwas von ihr hörte. Bis heute wissen nicht viele der Nichtmenschlichengemeinde etwas von ihnen oder das es sie je gegeben hat.“ Ryon sah Paige nicht an, als er sich endlich einmal aus seiner starren Haltung löste und einen Blick unter den Tupfer warf. Er konnte nicht viel erkennen, da überall Blut klebte, aber zumindest tropfte er nicht mehr. Trotzdem drückte er das Stoffstück weiter auf seine Wunde und fuhr in seiner Ansprache fort. „Nataniel – ein Raubkatzengestaltwandler wie ich – hat mich und fünf andere damals um Hilfe im Kampf gegen die Organisation gebeten: Unter anderem mich; Khan – ein Gestaltwandlergrizzly; Bruce – ein Gestaltwandlergorilla; die Werwolfzwillinge D und J und nicht zu vergessen Delila – die Gestaltwandlerwölfin.“ Ryon wartete nicht ab, bis Paige diese Information verdaut hatte, sondern fuhr einfach fort, als spule er ein Tonband in sich ab, dass er schon hundertmal gehört hatte und ihm somit auch keinerlei Emotion mehr entlocken konnte. So, als wäre er nie dabei gewesen. „Das alles hat nicht lange gedauert und ich verschwand danach rasch von der Bildfläche, als die Sache erledigt war. Ich weiß bis heute nicht, ob Amanda, Nataniels Gefährtin, die Geburt ihres gemeinsamen Kindes überlebt hat, schließlich war sie auch … anders.“ Damals, bei diesem gemeinsamen Frühstück mit der ganzen Truppe, hatte er flüchtig den Geruch von Nataniels Gefährtin in sich aufnehmen können, um sicher zu wissen, dass sie damals schwanger gewesen war. Zum Glück hatte ihn das in einer Zeit getroffen, als er emotional nicht mehr ansprechbar gewesen war und somit nicht mehr wegen solchen Dingen austicken konnte, so wie momentan. Seine Finger pressten sich bei dieser Erinnerung stärker an seine Seite und die Gefühle, die ihm damals gefehlt hatten, überkamen ihn nun mit voller Wucht. Er war unglaublich eifersüchtig auf das Glück, das den beiden vielleicht nun vergönnt war. Doch sicher wissen würde er es wohl nie. „Auf jeden Fall nehme ich an, dass diese Werwölfe, von denen Tennessey erzählt hat, etwas mit den Zwillingen von damals zu tun haben und wenn es wirklich so sein sollte, müssen wir umso vorsichtiger sein. Die Jungs sind nicht nur unglaublich kindsköpfig, sondern für Werwölfe auch sehr gefährlich, da sie nur zusammen arbeiten. Wenn Boudicca sie wirklich in ihrer Gewalt hat, wird das kein leichtes Stück werden, an ihnen vorbei zu kommen und was Delila angeht … Ich könnte verstehen, wenn sie endgültig durchdreht.“ Es war eine Sache, als Gestaltwandlerfrau zwei Männer mit Leidenschaft, Hingabe und ohne Grenzen zu beherrschen und für sich zu gewinnen, aber eine ganz andere Sache, wenn es sich hierbei um eine Bindung wie die zwischen zwei Gefährten handelte. Wenn Ryon nicht selbst erlebt hätte, dass ein Wandler zwei Frauen als wahre Gefährtinnen ansehen konnte, hätte er auch nicht geglaubt, dass eine Frau sich zwei Gefährten zur gleichen Zeit wählen und ebenso lieben konnte. Es klang für ihn immer noch absurd, aber andererseits hatte er den Schmerz in Delilas Augen gesehen, als sie ihn niederstach. Ein Schmerz, der einen dazu bringen konnte, Dinge zu tun, von denen man nicht gedacht hätte, dass man je dazu im Stande wäre. „Was ich damit eigentlich sagen will, ist, dass ich schon vieles gesehen und erlebt habe und irgendwann …“ ‚…kann ich einfach nicht mehr.‘ Aber sein Versprechen Paige gegenüber zwang ihn dazu, es nicht auszusprechen. Stattdessen hob er den Blick und sah sie an. „…kommt einfach die Wende. Zumindest kann ich das nur für uns alle hoffen.“ Mit einer trägen Bewegung löste Ryon sich von der Kommode und schlurfte ins Bad, um ein Handtuch mit Wasser zu tränken und sich das Blut von der Seite zu tupfen. Schwer seufzend legte er schließlich das Handtuch beiseite und stütze sich auf dem Waschtisch ab, während er sein fertiges Spiegelbild mied. „Eigentlich weiß ich heute gar nicht mehr, worauf ich hinaus will…“ Seine Stimme klang ebenso müde und erschöpft, wie er sich fühlte. Ryon wusste wirklich nichts mehr, außer, dass seit heute Nacht eine andere Wunde in ihm wieder zu bluten begonnen hatte. Feindliche Organisationen, Kämpfe, Freundschaften, zerbrochene Beziehungen, Schwangerschaften... Paige zerrte ihren bleischweren Körper vom Bett hoch, auf dem sie gesessen hatte und ignorierte den Lärm, den ihre Schritte auf den Scherbe von Ryons Gefühlen hervor riefen. Depression und Kraftlosigkeit hingen so schwer im Raum, dass man sie beinahe wabern sehen konnte. Paiges Lippen schienen aufspringen zu wollen wir trockenes Pergament, als sie im Türrahmen zum Bad stehen blieb. „Aber ich denke ich weiß, was du ausdrücken möchtest.“ Ihre Stimme klang für Paige selbst hohl und dumpf. Als würde der Raum zwischen ihnen sie einfach schlucken wollen, damit sie nicht zu Ryon durchkam. Auch deshalb überbrückte sie die Distanz mit ein paar Schritten, ignorierte das Knirschen wie von Glas unter ihren Sohlen und blieb in einem halben Meter Abstand vor Ryon stehen. „Es reicht.“ Bevor sich die Verständnislosigkeit von seinen goldenen Augen weiter ausbreiten konnte, sprach Paige weiter. Vielleicht auch, um den Mut nicht zu verlieren das zu sagen, was ihr mit ihrem Herzen auf der Zunge lag. „In den vergangenen Jahren hat es das Leben nur schlecht mit dir gemeint. Es hat dich geschunden, dir das Liebste und Teuerste genommen, das du hattest.“ Ihr Blick fiel auf das Amulett, das fast höhnisch glänzend um Ryons Hals baumelte. Wenige, für sie schrecklich schmerzhafte Momente lang, überlegte sie, ob sie sich für ihn wünschte, Marlene wäre an ihrer Stelle. Wahrscheinlich wüsste sie besser als Paige, wie ihm zu helfen war. Wie man Ryon die Last von seinen breiten Schultern nehmen konnte. Seine Augen hatten fast die gleiche Farbe wie das eben noch so verhasste Metall an dieser verwunschenen Kette. „Du konntest dich in den letzten Wochen vielleicht von Marlene und eurer Tochter verabschieden. Aber zum Trauern hattest du immer noch keine Zeit. Immer wirst du von einem Desaster ins Nächste gerissen, man zerrt an dir und nimmt dir dadurch die Kraft, die du für dich bräuchtest.“ Ob es Überraschung war oder etwas Anderes, was Ryon dazu bewegte, den Waschtisch loszulassen, war Paige nicht klar. Sie würde es vermutlich erfahren, aber noch konnte sie ihren Redeschwall nicht unterbrechen. Es gab noch so viel zu sagen... „Ich hoffe so sehr, dass das nicht mehr lange so sein wird. Ob Gestaltwandler, Dämon oder Mensch. Jeder kann nur ein bestimmtes Maß an Prüfungen ertragen.“ Ihre Fingerspitzen berührten leicht das Schmuckstück, das nun auf seiner Brust lag. „Sie würden mir beide zustimmen, denke ich. Im Moment ist es einfach zu viel... Du brauchst endlich Zeit, Ruhe und Frieden.“ Endlich sah sie zu ihm auf und verlor sie für einen Moment in den Lavaseen seiner Augen. „Wäre Marlene hier, wüsste sie bestimmt, was sie sagen müsste. Sie könnte dir vermutlich besser erklären, was ich meine... Aber... Ryon, du musst das alles nicht allein schaffen. Es ist in Ordnung, ab und zu die Nerven zu verlieren und schwach zu sein.“ Sie würde es nicht schaffen. Von einem Moment auf den Anderen schlug der Blitz der Erkenntnis in Paiges Herz, dass sie hier umsonst Worte in den Raum warf. Weder konnte sie wirklich formulieren, was sie ihm wirklich sagen wollte, noch kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, wie sie es ihm klar machen konnte. Ihre Hand rutschte von dem Amulett ab und nahm stattdessen seine Hand, während sie den Blick auf ihre nun verschränkten Finger senkte. „Ich liebe dich. Und was ich sagen will, ist eigentlich nur, dass ich dich verstehe. Vielleicht ändert das nichts. Es tut trotzdem weh. Aber wenn du willst, musst du die Last nicht allein tragen.“ Seine Finger umschlossen die ihren warm und legten sie wieder auf sich, doch dieses Mal unterhalb des Amuletts direkt auf sein schlagendes Herz. Lange sah er Paige aus schweren goldenen Augen an, schweigend und in dem Moment versunken, während ihre Worte langsam zu jeder Schicht seines Seins hindurch drangen. Schließlich hob er seine freie Hand, umschmeichelte damit die Kontur von Paiges malträtierter Gesichtshälfte und empfand dabei tiefste Verbundenheit mit dieser besonderen Frau. Paige musste ihn nicht fragen, ob er ihr etwas von seiner Last abgeben wollte. Er tat es von vornherein, obwohl es egoistisch und auch sadistisch von ihm war, aber wäre es anders, er hätte es nicht geschafft, sich für sie zu öffnen. Seine Liebe für sie zuzulassen und somit auch all das Leid, dass er damit verband. „Du hast recht.“ Seine Stimme war rau und leise. Es kratzte ihm förmlich im Hals. „Marlene und meine kleine Tochter … sie sind nicht hier … aber wenn ich Gott für eines danke, statt ihn zu verfluchen, dann ist es für die Tatsache, dass DU bei mir bist.“ Ryon zog seine Gefährtin näher zu sich heran, legte seine Arme um sie und obwohl er so viel größer und breiter war als sie, fühlte es sich doch wie ein schützender Ort an, als er sein Gesicht an ihrem Hals vergrub und die Augen schloss. Wenigstens für einen flüchtigen gestohlenen Moment lang. Wenn ihn schon die Aussicht auf ihre düstere Zukunft nicht trösten konnte, dann war es doch wenigstens das Wissen, dass er zusammen mit ihr diesen Weg beschreiten würde und nicht alleine da stand. Mit Paige zusammen, würde er sich durch jede Hölle wagen. Das Schlimme daran war nur, dass er das vielleicht auch tun würde müssen. Doch was blieb ihnen schon anderes übrig. Einige Dinge konnte man einfach nicht abwenden. Einen langen Moment kostete er das Wohlbefinden, das ihm Paige immer wieder spenden konnte, noch aus, ehe er sich zusammenriss und aufhörte, sich so hängen zu lassen. Die Nacht war einfach anstrengend gewesen, aber das war noch kein Grund, seine Gefährtin ebenfalls in dieses Loch zu ziehen, das er inzwischen nur allzu gut kannte. Ryon richtete sich wieder auf und schlang Paige einen Arm um die Taille, um ihren Körper an seine Seite zu ziehen, während er sich langsam mit ihr zu ihrem gemeinsamen Bett begab. Er sollte wenigstens die Momente noch nützen, die sie in Ruhe verbringen konnten und sie nicht mit seinem schweren Gemüt belasten. So schwer es auch fiel, doch wenigstens einen Teil seiner Last, wollte er wieder von Paiges Schultern nehmen. Ryon ließ sich auf die Matratze sinken und zog seine Gefährtin mit sich auf seinen Schoß. Er sah ihr mit tiefer Ehrlichkeit in die Augen, während seine Arme sie umfangen hielten. „Ich hoffe, du weißt, dass das Gleiche auch für dich gilt. Ich bin für dich da. Egal was auch kommt. Du kannst dich auf mich verlassen. Das verspreche ich dir.“ Sanft schmiegte er seine Stirn an ihre Halsbeuge und schnurrte leise und kaum hörbar, so dass seine leise Stimme gerade noch so zu hören war: „Für Immer und Ewig.“ Seine Lippen strichen hauchzart über die seidene Haut ihrer Kehle, während sein warmer Atem darüber glitt. „Ja, das weiß ich.“ Dennoch war es beinahe so weit gewesen, dass sie gezweifelt hätte. Jetzt, da sie durch Ryons Haar streichelte, seine warmen Arme um ihre Taille spürte und seinen Atem an ihrem Hals, konnte sie das kaum mehr verstehen. Sobald er sie hielt, schien alles in Ordnung. Und doch hatte ihr seine abweisende Haltung vorhin einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Auch wenn er ihr beteuerte, es wäre für immer und ewig. Paige würde es nicht so schnell glauben können. Dafür war sie zu ... unsicher. Dennoch wollte sie das Versprechen nur zu gern annehmen. Es einfach zuzulassen, fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben richtig an. Erst nach einer kurzen Weile ließ sie sich etwas gemütlicher auf seinem Schoß nieder, konnte aber nicht verhindern, dass sie sich insgesamt unwohl dabei fühlte. Ryon war immer noch verletzt. Und wie stark konnte Paige nicht einschätzen, weil er sie nicht hatte nach der Wunde sehen lassen. Etwas umständlich, versuchte sie zwischen ihnen beiden hinab auf seinen Bauch zu sehen, was aber nicht wirklich gelang. Das Seufzen, das Paige gerade ausstoßen wollte, verformte sich ohne ihr Zutun zu einem tiefen Gähnen, das sogar ihren Körper mit einem Zittern schüttelte. Mit weicher Stimme, sprach sie nah an seinem Ohr, während sie nicht aufhörte, seinen Nacken zu kraulen. „Was hältst du davon, wenn ich dir aus deiner Hose helfe und mich auch für's Bett umziehe. Bis zum Morgen haben wir noch ein paar Stunden.“ Wertvolle Stunden, die sie für ein wenig Erholung so gut es ging nutzen sollten. Dass Delila sich so weit erholt hatte, dass sie fliehen wollte, war ja wohl ein Zeichen dafür, dass sie bald mit weiteren, sehr ernsthaften Problemen umzugehen hatten. Ryon hätte schon im Sitzen einschlafen können und wollte sich daher so ganz und gar nicht mehr von der Stelle rühren, da es einfach bequemer war, als sich zu bewegen. Aber er sah ein, dass auch Paige müde war und er sie nicht länger von noch etwas Schlaf abhalten wollte, also nickte er leicht und ließ sich von ihr helfen. Heute schien er besonders schwer und tief in die Kissen und die Matratze zu sinken, während Paige ihm half, die Decke hoch zu ziehen und er erschöpft die Augen schloss. Die Zeit, die sie brauchte, bis sie sich umgezogen hatte, hielt er noch durch, doch kaum, dass sie bei ihm war, sank er auch schon in einen tiefen, zum Glück traumlosen Schlaf. Das alles hatte ihn wohl doch stärker mitgenommen, als er hatte zugeben wollen. Noch dazu, wo doch so ungewiss war, was jeder weitere Tag mit sich brachte. 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