Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 60: 60. Kapitel ----------------------- Sie lagen zu dritt im Bett. Inzwischen war es schon lange dunkel und das matte Licht des halbleisen Fernsehers spendete angenehmen Trost und scheinbare Sicherheit. Ryon hätte im Augenblick alles darum gegeben, die Zeit anhalten zu können. Mia lag in ihrer angestammten Position halb auf Paiges und halb auf seinem Bauch, während er seine Gefährtin vorsichtig im Arm hielt. Sowohl wegen ihren Verletzungen, wie auch seinen eigenen. Das war wirklich ein guter Augenblick, um sich gegenseitig die Wunden zu lecken und seit kurzem schien auch endlich Paiges Fruchtbarkeitsphase ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Nicht, dass das irgendetwas geholfen hätte. Das Verlangen war natürlich da, aber es scheiterte an der Umsetzung. Ryon konnte sich kaum richtig bewegen, ohne dass ihm nicht irgendein Knochen oder Muskel weh tat und im Augenblick fasste er Paige nur mit Samthandschuhen an. Sie schien es ganz schön am Brustkorb abbekommen zu haben, weshalb er sich auch ziemliche Sorgen machte, aber das hätte er auch bei einer leichteren Verletzung getan. Ohne den Cartoons zu folgen, die über die Mattscheibe flimmerten, streichelte Ryon durch Mias Haar und mit der anderen Hand über Paiges Seite. Seine Gedanken waren weit weg von dem gemütlichen Raum an einem sehr viel düsteren Ort. Schon eine ganze Weile hatte er die vergangene Szene wieder und wieder in seinem Kopf durchgespielt und war zu der Erkenntnis gelangt, so stark der Tiger auch manchmal sein mochte, gegen solche Gegner kam er nun einmal doch nicht an. Er war ein Raubtier und kein Krieger. Das war natürlich auch bei seinen Kopfgeldjägerjobs kein unbekannter Faktor gewesen, aber seither schien so viel Zeit vergangen und so viel passiert zu sein, dass er es schon ganz vergessen hatte. „Ich werde mir so bald wie möglich, meine Waffen holen müssen. So schutzlos wie heute, möchte ich nie wieder unserem Feind gegenüberstehen.“ Er sprach vermutlich zusammenhangslos, da er schon so lange in seinen Gedanken schwelgte, dass er gar nicht mehr daran dachte, dass Paige vielleicht anderes im Kopf hatte, aber sie würde schon schlau aus seinen Worten werden. Sie waren immerhin unmissverständlich. Paige sah die bunten, bewegten Bilder, die vor ihr über die Mattscheibe tanzten, hörte aber schon die dazu gehörige Musik nicht mehr. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Mias gleichmäßige Atmung, die Paige ebenfalls zu beruhigen schien. Und außerdem konnte sie beim Lauschen sogar manchmal Ryons nur allzu laute Gedanken überhören. Bereits bevor er den Mund aufmachte, war klar gewesen, um was es sich drehte. Immerhin hatte sein Gesicht ausgesehen, als hätte er die Aufgabe zu lösen einen Gewittersturm mit bloßen Händen aufzuhalten. Für ihn schien es sich tatsächlich ähnlich schlimm anzufühlen. "Auch wenn ich grundsätzlich etwas gegen Waffen habe... Du hast Recht. Je besser wir gewappnet sind, umso kleiner das Risiko." Eigentlich wollte sie sich nicht darüber unterhalten. Bereits am Esstisch hatte sich alles in ihr dagegen gesträubt. Aber es war nunmal nicht zu vermeiden. "Ich würde es ganz ehrlich gesagt, gern so schnell wie möglich angehen." Sie sah ihm in die Augen und ob es nun Schwäche war, gemischt mit vollkommener Ehrlichkeit... Es war Paige in diesem Fall egal. "Wenn das noch lange so weiter geht... Nein, es darf einfach nicht mehr lange so weiter gehen. Es macht zu viele Leute kaputt." „Ich weiß, Paige.“ Ihn machte es schon sehr lange kaputt und das war gerade noch zu ertragen gewesen. Aber bei Paige, Mia, Ai, seinen Freunde, all die Frauen des Zirkels und die bereits geforderten Opfer. Es war bereits alles zu viel. So konnte und durfte es nicht mehr weiter gehen. Seine Gefährtin hatte nur allzu recht. Sanft strich er ihr durchs Haar und schloss die Augen. Sein leises Schnurren sollte sie etwas beruhigen, aber letztendlich war es doch nur alles Schein und Lüge. So etwas wie absolute Sicherheit gab es nicht mehr und würde es auch nie geben, ehe sie die ganze Sache nicht endgültig beendet hatten. „Trotzdem. Wir müssen uns noch einmal erholen, ehe wir es endgültig zu Ende bringen können.“ Es war mitten in der Nacht, als er endlich wieder die beruhigende Atmosphäre ihres gemeinsamen Schlafzimmers betrat, ohne das Licht anzumachen. Paige schlief bestimmt schon, weshalb er sich noch etwas vorsichtig die Lederjacke von den Schultern streifte und schwer über einen Stuhl hängte, der leise ächzte. Das Gewicht lag nicht nur an dem echten Leder, sondern auch an den ganzen kleinen Accessoires, die an dem Innenfutter befestigt waren. Kleine Dolche, Messer, Reservemagazine für die Schusswaffen. Um nur einige zu nennen. Ryon hatte heute den ganzen Tag damit verbracht, sämtliche Reservelager seiner Waffen zu plündern und in eine große metallene Truhe einzuschließen, die in der Garage stand. Es hatte lange gebraucht, bis er alle Verstecke ausgeräumt hatte. Aber es war immer noch besser, als sich neue Waffen zu besorgen. Das hätte noch viel länger gedauert und unnötige Aufmerksamkeit erregt. Auch so war er von mehreren Leuten beobachtet worden, als er einen seiner Steckbriefe mit wütender Geste von der Wand gerissen hatte. Sollten sie sich doch trauen, ihn anzugreifen. Ob noch immer leicht angeschlagen oder nicht. Er heilte schnell und mit seinen Waffen war nicht zu spaßen. Immerhin war er auch früher sehr gefährlich gewesen, gerade weil er es seinem Tiger nie gestattet hatte, an die Oberfläche zu kommen. Seine Hände waren tödlich, auch wenn es nur Hände geblieben waren. Nach einander öffnete er die Waffengurte um seinen Brustkorb und legte sie auf die Kommode. Obwohl die Waffen gesichert waren, konnte Mia dort trotzdem nicht an sie heran kommen, falls sie zufällig auf neugierige Erkundungstour gehen wollte, während er nicht in der Nähe war. Die Messer würde er ohnehin nicht aus den Augen lassen. Danach folgten seine Schuhe und Jeans, ehe er ins Bad ging, um sich den Staub und den Schweiß vom Körper zu waschen. Auch ohne das Licht, konnte er gut erkennen, dass die Kratzer und Prellungen kaum noch zu sehen waren und das schon nach zwei Tagen der Ruhe. Bei Paige würde es länger dauern, aber sie war stark und entschlossen. Was sie nicht mit raschen Selbstheilungskräften schaffte, machte sie mit ihrem Dickkopf wieder wett. Er liebte sie dafür, auch wenn er sich in eben solchen Maßen unglaubliche Sorgen machte. Trotz ihrer Schuppen erschien sie ihm so zerbrechlich. Er hatte wahnsinnige Angst um sie. Paige war schon bei seiner Ankunft aus dem Schlaf hochgetaucht, doch sie hatte sich nicht ganz davon befreien können. War Ryon doch so leise, dass ihr die wenigen Geräusche, die er verursachte, nur wie wirkliches Hintergrundgesäusel vorkam und sie nicht beunruhigte. Erst als sie Wasserrauschen aus dem Bad hörte, schaffte sie es ein Auge zu öffnen und sich das Kopfkissen so unter ihre Wange zu stopfen, dass sie in Richtung Badezimmertür sehen konnte. Kein Licht war durch den Spalt unter der Tür zu sehen. "Ryon?" Natürlich war er es, aber ihre heisere, leise Stimme konnte doch nicht ganz die Sorgen verbergen, die sie sich in seiner Abwesenheit gemacht hatte. Immerhin war er unterwegs gewesen, um seine Waffenkammern zu plündern. Orte, die ihre Feinde eventuell kennen und ihm dort auflauern konnten. "Bist du's? Alles in Ordnung?" Vollkommen verschlafen setzte sie sich schließlich doch im Bett auf und knipste die Lampe auf dem Nachtkästchen an. Was eigentlich nur dazu führte, dass sie blinzelte und noch weniger erkennen konnte, als in der Dunkelheit zuvor. Zumindest für ein paar Momente. Nur mit einem Handtuch bekleidet, feuchten Haaren und Wassertröpfchen auf der Haut, kam er zu Paige ins Schlafzimmer. Er hätte sich auch noch angezogen, aber ihr beunruhigter Tonfall hatte ihn alarmiert. „Alles in Ordnung.“, versicherte er ihr leise und gedämpft und setzte sich zu ihr. Mit einem Lächeln strich er ihr die unordentlichen Haare nach hinten und beugte sich herab, um sie vorsichtig zu küssen. Ihre aufgeplatzte Lippe sah inzwischen sogar noch fürchterlicher aus, als zu dem Zeitpunkt, als sie noch frisch war. Genauso wie der Rest ihres buntgefärbten Gesichts. Bei diesem Anblick könnte er jedes Mal irgendwo drauf schlagen, doch er beherrschte sich, um ihr nicht zu zeigen, wie schlimm ihn das alles traf. „Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.“ Noch ein Kuss. „Aber ich habe alles erledigt, was ich wollte und es gab keine Zwischenfälle.“ Genau dadurch fühlte er sich jetzt ein bisschen besser. Nicht mehr ganz so nackt, wie bei dem Zusammentreffen mit diesen Dämonen. Ohne es gewusst zu haben, hatten ihm seine Waffen gefehlt. Mit ihnen war er wieder vollständig der gefürchtete Jäger der Unterwelt, der er einmal gewesen war. Auch wenn es eigentlich ein trauriger Gedanke sein sollte. Vor einigen Jahren hätte er noch nicht einmal im Traum daran gedacht, eine Waffe in der Hand zu halten. Lautlos stand Ryon wieder vom Bett auf, um sich aus Paiges Kleiderschrank eine Short zu suchen. Inzwischen hatte er ein paar Kleider mehr bei ihr deponiert. Zumindest so viel der Platz zu ließ, ohne sie zu verdrängen. Aber auch so gefiel ihm der Anblick der aneinander gekuschelten Kleidungsstücke, die ihnen beiden gehörten. Es fühlte sich einfach … richtig an. Paige war zugegeben noch nicht ganz wach. Ryons Worte kamen genauso langsam in ihrem Hirn an, wie seine Küsse. Aber nachdem er sich nicht so anhörte und auch nicht so aussah, als wäre etwas im Argen, entspannte sie sich wieder und sofort wollten ihr die Augen zufallen. "Kommst du ins Bett?" Eigentlich war die Frage überflüssig gewesen. Das wusste sie auch schon, bevor er zu ihr unter die Bettdecke kroch. Aber etwas philosophischeres oder literarisch Hochwertigeres fiel ihr im Moment nicht ein. Oder doch. Jetzt, wo ihr endlich bewusst wurde, was er den ganzen Tag getan hatte und damit was der Grund dafür war, warum er so spät nach Hause kam, hatte sie etwas, das sie sagen konnte. "Wo willst du die Sachen lagern? Ich... Mia ist im Haus." „Keine Sorge.“ Er zog Paige mit ihrem Rücken an seine nackte Brust und schloss die Arme vorsichtig um sie, ehe er ihr einen Kuss auf die Schulter gab. „Bevor sie auch nur dieses Zimmer betritt, habe ich alles weggeräumt und der Rest ist sicher verwahrt in einer Metallkiste in der Garage, zu der nur ich einen Schlüssel habe. Sie wird nichts merken.“ Ryon kuschelte sich an Paige und schloss müde die Augen, während er daran dachte, dass er niemals zulassen würde, wie eine seiner Waffen in Kinderhände gelangte. Von dieser Welt wollte er Mia so weit wie ihm nur möglich war, fern halten. Sie sollte nie wieder mit dem Bösen zu tun haben und man konnte nur hoffen, dass sie ihre Entführung vergaß und einfach nur glücklich aufwuchs. Zwar war er nicht ihr Vater und Paige nicht ihre Mutter, aber wenn möglich, würden sie ihr so gute Eltern werden, wie es eben ging. Doch erst mussten sie diese Sache hinter sich bringen. Sie brauchten dringend Informationen. Weshalb sie nächstes Mal besser vorbereitet sein sollten, so dass sie auch noch mit ihren Angreifern reden konnten, obwohl Ryon immer froh sein würde, dass Paige diese zwei Typen fertig gemacht hatte. Nicht auszudenken, was geschehen hätte können, wenn sie es nicht getan hätte. „Ich liebe dich…“, murmelte Ryon verschlafen in ihr Haar und schob die düsteren Gedanken zur Seite. Morgen würde er sich mit Tennessey beraten. Er hatte da schon eine Idee, wie sie vielleicht an Informationen gelangen könnten. Paige gab nach dieser Antwort nur ein zufriedenes Geräusch von sich. Natürlich hatte sie nichts Anderes erwartet, als dass Ryon sich gewissenhaft darum kümmern würde, dass für Mia und auch sonst niemanden im Haus Gefahr von seinen Waffen ausging. Und dennoch fand sie es ein wenig unangenehm, sie hier zu wissen. Es hatte vielleicht etwas damit zu tun, dass es sie an ihre ersten Begegnungen erinnerte. Damals waren sie vollkommen anders gewesen. Ryon war ihr wie ein eiskaltes Monster vorgekommen. Wie eine effektive Tötungsmaschine, die nur diese Existenzberechtigung hatte. Wie sehr sie sich damals getäuscht hatte, ließen seine sanften Worte erkennen, die ihr ein wohlig warmes Gefühl die Wirbelsäule hinunter laufen ließen. "Ich liebe dich auch." Das war in den letzten paar Nächten auch mit der einzige Grund gewesen, aus dem sie Schlaf gefunden hatte. Ryon war seit dem Überfall der Dämonen und der Hexenversammlung zum absoluten Fels in der Brandung für Paige geworden. Sie hätte es ihn nie merken lassen, aber oft riss sie nachts die Augen auf, geplagt von immer den selben albtraumhaften Bildern, die sich so schwer abschütteln ließen, weil sie sich aus der Realität in Paiges Geist gebrannt hatten. Wäre er nicht gewesen, ruhig atmend, wie er sie beschützend im Arm hielt, Paige war sicher, sie hätte nie mehr Ruhe gefunden. Vermutlich würden die Albträume auch in dieser Nacht kommen. Aber irgendwann würde es vergehen. Es war an der Zeit, dass sie sich befreiten. Von allem, was ihnen auf die Seele gedrückt wurde wie scharfkantige Dornen. Sie mussten es so schnell wie möglich und vor allem endgültig beenden. „Und du bist dir da sicher?“ „Ja. Ich hab die Hütte schon ein paar Mal für Befragungen benutzt, um an die richtigen Informationen zu kommen.“ Tennessey hob eine Augenbraue und sah Ryon lange an, der jedoch blickte konzentriert auf eine Landkarte auf dem Schreibtisch und ließ sich noch einmal alles durch den Kopf gehen. „Das ist der geeignetste Ort, den ich mir vorstellen kann. Schwer zu finden, es gibt viele Fluchtmöglichkeiten durch die umliegenden Wälder, falls man einmal Ärger bekommen sollte und dort wird sich auch sicherlich kein Wanderer hin verirren. Ist nicht gerade eine beschauliche Gegend.“ Ryon sah hoch. „Natürlich musst das letztendlich du entscheiden. Ich hoffe, du bist dir des Risikos bewusst, das du dabei eingehen wirst?“ Der Doc nickte ernst und entschlossen. „Ich hab übrigens was für dich. Das dürfte deine früheren Jagdmethoden vereinfachen oder sollte es zumindest.“ Tennessey ging zu seiner großen Arzttasche und sortierte dort drin eine Weile herum, ehe er wieder an den Schreibtisch trat und Ryon eine Waffe hin hielt, die er dem Arzt gar nicht zugetraut hätte. „Das ist wirklich nett von dir, Tennessey, aber ich bin schon gut bestückt.“ Er klopfte auf seine ausgebeulte Jacke, unter der er nun immer in greifbarer Nähe eine Waffe trug. „So eine nicht. Das garantiere ich dir.“ Geschickt begann der Arzt die kleine handliche Waffe auseinander zu bauen, so dass Ryon das Magazin sehen konnte. Solche Patronen hatte er bisher immer nur in Actionfilmen gesehen. „Was ist das?“ „Ein äußerst starkes Betäubungsmittel.“ Tennessey reichte ihm eine einzelne Patrone, die teilweise aus einem durchsichtigen Material gearbeitet war und somit einen Blick auf die darin enthaltene klare Flüssigkeit frei gab. „Und du glaubst, das wirkt?“ Ryon war eher skeptisch. „Sagen wir es mal so. Schieß dir bloß nicht aus Versehen in den Fuß. Du bist weg, bevor du überhaupt bemerkst, dass du dich selbst ausgeschalten hast und ich warne dich. Es ist ein gewisses Risiko dabei. Typen wie du oder diese Dämonen haben einen anderen Metabolismus als Menschen. Ich musste die Dosis anpassen. Also wenn du Pech hast, kannst du dem Betreffenden eine Impfung verpassen, die ihn für immer Schlafen lässt. Sollte er es aber überleben, kannst du dir sicher sein, dass er für Stunden schläft, sofern ich ihm nicht ein Gegenmittel verabreiche. Was es dir wiederum erleichtern sollten, deine Beute möglichst unverletzt zu dieser Hütte zu bringen, damit ich sie befragen kann.“ Schweigend betrachtete Ryon die Patrone in seiner Handfläche, ehe er sie dem Arzt zurück gab. „Gut. Machen wir es so. Wenn ich dich anpiepe, kommst du zu dem Treffpunkt. Mal sehen, was sonst noch so in den Köpfen dieser Mistkerle vor sich geht. Vielleicht können wir den Spieß endlich einmal umdrehen und die Jäger zu Gejagten machen.“ Tennessey grinste spitzbübisch. „Ich könnte mir keinen Besseren dafür vorstellen. Aber jetzt mach dich mal auf den Weg, um deine Gefährtin in die Sache einzuweihen. Nicht, dass sie dir noch die Ohren lang zieht.“ „Danke.“ „Also anstatt darauf zu warten, dass die Typen uns wieder angreifen, sollten wir darauf vorbereitet sein und wenn möglich, uns auch selbst auf die Suche nach ihnen machen. Wir müssen ohnehin noch ein paar der Hexen für den Schutz hierher eskortieren. Vielleicht bietet sich dort eine Gelegenheit, unseren Feind näher kennen zu lernen.“ Ryon war zwar eher nach auf und ab gehen zumute, aber stattdessen stand er still vor ihrem Schlafzimmerfenster und blickte hinaus in das trübe Licht der Landschaft, die sich immer weiter dem Herbst zuneigte und von Nebelschwaden eingehüllt war. Hinter jedem Baum schien ein Schatten zu lauern, doch seine Instinkte schlugen nicht an. Vorerst war alles ruhig. „Tennessey hat sich bereit erklärt, in den Köpfen unserer Feinde herum zu wühlen. Er meinte, er wolle seine Fähigkeiten ohnehin nicht verrosten lassen und das das für ihn eine gute Übung wäre.“ Eine Ausrede, ganz klar. Ryon täte seinem Freund das nicht an, wenn sie eine andere Wahl hätten, aber so war der Doc ihr einziger Trumpf bei den Befragungen. Denn er würde sofort eine Lüge durchschauen auch ohne eine einzige Frage gestellt zu haben. „Was meinst du dazu?“ Er drehte sich zu Paige herum. Ihre Meinung war ihm wichtig und wenn sie das alles für absoluten Blödsinn halten sollte, würde er sich danach richten. Paige saß im Schneidersitz auf dem Bett und fummelte mit den Fingern an den kleinen Hautfetzen herum, die sich im Laufe des Heilungsprozesses immer wieder von ihrer aufgeplatzten Lippe lösten. Sie machte es zwar nicht besser, wenn sie daran biss oder zupfte, aber im Moment tat sie es ohnehin völlig unbewusst, während sie über das nachdachte, was Ryon ihr gerade eröffnet hatte. Sie hatte Tennessey nur einmal seine Kräfte an einem Gegner einsetzen sehen. Und sie konnte sich nur zu lebhaft an die Folge dieser Aktion erinnern. Ein toter, stinkender Haufen von Werwolf und Tennessey, der für Stunden bewusstlos im Bett gelegen hatte. Schon allein deshalb wollte sie den Vorschlag eigentlich sofort zurückweisen. „Es ist mir nicht recht, dass Tennessey sich aufopfert. Er würde mir sicher die Ohren lang ziehen, wenn er mich hören würde, aber...“ Sie sah Ryon in die goldenen Augen, in denen sie sehr wohl Sorge lesen konnte. Es war noch mehr als normalerweise, weshalb sie wusste, dass es ihm ebenfalls nicht passte, das Angebot seines langjährigen Freundes einfach so anzunehmen. „Meinst du, dass er es schaffen würde? Ich meine ... würde er sich selbst damit schaden?“ Tennessey war nicht mehr der Jüngste. Darauf wollte Paige nicht hinweisen, aber so war es nunmal. Und ihn durch diese Anstrengung zu gefährden, wollte ihr einfach nicht gefallen. Gab es denn keine andere Möglichkeit? In jeder freien Minute hatten sie entweder gemeinsam oder jeder für sich ihre Probleme gewälzt. Darauf, dass es besser war, selbst zum Angriff über zu gehen, als auf einen zu warten, waren sie sich ohne große Umschweife einig geworden. Aber wie es geschehen sollte... Auf jeden Fall, ohne irgendjemanden mit in Gefahr zu bringen, bei dem es sich vermeiden ließe. Wieder zupfte Paige an ihrer Lippe herum, bis es weh tat und ihr dadurch auffiel, was sie da überhaupt machte. Als sie die Zungenspitze über die Stelle streichen ließ, schmeckte sie Blut. Die ganze Sache mit den Verhören war ihr zuwider. Jemanden zu töten oder ihm Schmerzen zuzufügen, weil man sich selbst schützen wollte, war manchmal nicht zu vermeiden. Aber Folter... Paige seufzte und hatte schon wieder angefangen mit ihren Zähnen ihre Lippe zu bearbeiten. Oder war Tennessey doch die einzige Möglichkeit, die sie hatten? Ryon seufzte und senkten den Blick, als er sich mit seinen Händen am Fensterbrett abstützte, als würde ein tonnenschweres Gewicht auf seinen Schultern lasten, das ihn niederzudrücken versuchte. Es fühlte sich auch beinahe so an. „Wenn es ihm wirklich schaden würde, hätte ich ihm selbst gesagt, dass er es lassen soll. Aber ich bin mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die meisten Menschen ob übernatürlich oder nicht, nicht so wie dieser Werwolf sind. Nicht jeder schlechte Mensch hat auch einen ebenso kranken Verstand, wie dieser Typ ihn hatte. Tennessey kann damit umgehen. Ich kenne zwar seine Vergangenheit nicht genau, da er über das Meiste schweigt, aber ich weiß, dass er seine Fähigkeiten früher einmal beruflich eingesetzt hat und zwar für wichtige Personen. Er ist geübt darin und weiß bestimmt selbst, wann es ihm zu viel wird.“ Außerdem war die Alternative undenkbar. Folter… So etwas einem anderen lebenden Wesen anzutun, war ihm nur möglich gewesen, als er keine Gefühle mehr besessen hatte und selbst jetzt hütete er sich davor, zu viel über jene grausamen Dinge nachzudenken, die er in diesem kalten Zustand fertiggebracht hatte. Denn dieses Wissen war weitaus schlimmer, als so manche Scheiße die sein Freund vielleicht in den Köpfen ihrer Feinde finden würde. Erneut folgte ein tiefer Atemzug seinen Gedankengängen. „Ich will ehrlich mit dir sein, Paige. Ohne seine Hilfe, rechne ich uns wenige Chancen aus, überhaupt etwas über Boudicca zu erfahren. Selbst wenn man Menschen Schmerz zufügt, bedeutete das noch lange nicht, dass sie die absolute Wahrheit sagen. Nein, gerade dann sagen sie einem, was man hören will, nur damit es aufhört. Tennessey könnte sie befragen, ohne ihnen weh zu tun und würde trotzdem nur die reine Wahrheit ans Licht bringen. Es wäre einfach die humanste Lösung in diesem grausamen Krieg, den wir da führen.“ Endlich hörte Paige auf an ihren Lippen herum zu zupfen und warf über Ryons Schulter hinweg einen nachdenklichen Blick nach draußen. Zum jetzigen Zeitpunkt kam ihr der dunkle Himmel wirklich erdrückend und deprimierend vor. Ryon hatte von human gesprochen. Zumindest humaner, als alle anderen Alternativen. Aber was bedeutete das schon? Grausam würde es trotzdem werden. Denn die Frage blieb immer noch, was sie mit denjenigen tun würden, die sie gefangen nehmen und ausfragen wollten. Was passierte mit ihnen, wenn sie erfahren hatten, was sie wissen mussten? Normalerweise hätte Paige an dieser Stelle einfach aufgehört zu denken. In ihrem Leben war so etwas noch nie vorgekommen und sie hatte auch nie damit gerechnet, dass es einmal so weit kommen würde. Sofort brannte eine unglaubliche Wut in ihr hoch, die sie auf die Füße trieb. Auf der Ecke der Matratze, auf der sie gerade noch vollkommen ruhig gesessen hatte, brannten sich ihre Zehen in das Leintuch und Flammen kräuselten sich auf Paiges Stirn. An allem war diese Boudicca Schuld! Dieses feige Miststück von Hexe, das scharenweise Unschuldige und Dumme in den Kampf schickte, um sich selbst die Finger nicht schmutzig machen zu müssen! Paiges brennende Hand ballte sich zur Faust, als sie ein wütendes Grollen hören ließ und die Augen schloss, um sich einigermaßen wieder von ihrer Aggression herunter zu holen. Als Ryon den Geruch von verbranntem Stoff und Aggression wittern konnte, drehte er sich nur leicht verwundert vom Fenster weg, um Paige anzusehen, die offenbar große Mühe hatte, ihre Emotionen zu beherrschen. Wie gut er sie doch verstehen konnte. Er hätte selbst gerne auf etwas eingeschlagen, wenn es auch nur irgendetwas gebracht hätte. Doch manchmal war es besser, seine Wut zu sammeln, sie anwachsen zu lassen, bis der richtige Augenbick gekommen war, um sie frei zu lassen und daraus seine Kräfte zu beziehen. Ohne zu zögern, obwohl Paige immer noch teilweise brannte, trat Ryon vom Fenster weg und ging auf sie zu. Er schlang seine Arme um ihre Taille und legte seinen Kopf an ihre Brust, während er leise schnurrte. „Es wird alles gut, Paige.“ Ryons Hände strichen zärtlich über ihren Rücken, während er darüber nachdachte, dass es selbst gut werden würde, wenn sie alle dabei drauf gingen. Denn er glaubte an ein Leben nach dem Tod und dass man geliebte Menschen immer wieder in irgendeiner Form wieder traf. Doch bis dahin würden sie ihr bestmöglichstes tun und versuchen zu überleben. Wie schön es wäre, wenn sie das alles überleben und endlich in Frieden leben würde. Er würde für Paige, Mia und sich ein neues Haus bauen. Eines das ganz ihnen alleine gehörte, in dem sie sich wohl fühlten und glücklich sein würden. Er könnte seinen alten Job wieder ausüben, halbtags. Denn so oft er konnte, wollte er bei seiner Familie sein. Gott, er würde alles dafür tun, dass ihnen nichts zu stieß! „Ich liebe dich, Paige. Egal was passiert. Wir werden das alles schon irgendwie durchstehen. Gemeinsam.“ Sofort erstickten die Flammen auf Paiges Stirn und an ihren Fingern, als Ryon sie umarmte und sich leise schnurrend an sie drückte. Er hatte Recht. Es brachte überhaupt nichts, hier in Feuer aufzugehen. Das traf nicht diejenige, die eigentlich gemeint war und verschwendete nur wertvolle Energien. Aber manchmal ging es einfach mit Paige durch. Das lag in ihrem Charakter. Mit einem kleinen Seufzen gab sie sich diesmal jedoch sehr schnell geschlagen, schlang ihre nun ungefährlichen Arme um Ryons Schultern, fuhr mit ihren Fingern in sein Haar und küsste seinen Scheitel. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass alles gut werden wird. Die Dämonin wollte bloß auch mal ihre Meinung kundtun…“ Für ein paar Augenblicke ließ Paige es sich nicht nehmen, Ryons Nacken zu kraulen und den Geruch seiner Haare zu genießen, in die sie ihre Nase vergrub. Am liebsten wäre sie Ewigkeiten so verharrt und hätte alles um sie herum vergessen. Aber je mehr sie sich das wünschte, umso bewusster wurde ihr, dass es nicht ging. Sie mussten etwas tun, um ihre Familie zu beschützen. Vorsichtig und liebevoll hob sie mit beiden Händen Ryons Kinn an und beugte sich hinunter, um ihn lange auf die Lippen zu küssen. Sie schmeckte leuchtende, warme Farben, in denen sie sich erneut nur allzu gern verlieren wollte. „Ich liebe dich.“ Mit einem tapferen Lächeln stieg sie von der Matratze herunter und blieb dann grübelnd neben der Tür stehen. „Wir sollten mit Tennessey besprechen, wie wir es am besten anstellen. Ich wüsste einen Ort, wo uns Boudiccas Laufburschen auf jeden Fall finden würden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es zu gefährlich wäre…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)