Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 50: 50. Kapitel ----------------------- Der Wagen war nicht gerade das, was Ryon als geeignetes Transportmittel bezeichnet hätte, aber er tat wenigstens seinen Zweck, was die Unauffälligkeit anbelangte und zusätzlich hatte er noch ein paar verborgene Pferdestärken unter der Haube, was man anhand des rostigen Lacks und den diversen Beulen gar nicht vermuten würde. Das Ideale Gefährt für ihre Mission also. Trotzdem fehlte es Ryon an Euphorie. Ganz im Gegenteil. Er war total verspannt und seine Sinne arbeiteten auf Hochtouren, weshalb er auch Paige hatte fahren lassen. Nicht nur, weil sie den Weg bereits kannte, sondern weil ihn das nur zu sehr von der Umgebung abgelenkt hätte, die er keine Sekunde lang aus den Augen ließ. Weshalb er Paige auch bedeutete, dass sie kurz warten sollte, während er als erstes Ausstieg und die Eindrücke der relativ normal wirkenden Gegend in sich aufsog. Kein verräterischer Geruch, keine seltsamen Geräusche, stattdessen herrschte fast schon so etwas wie Banalität an diesem Ort. Was aber vielleicht auch an den ersten Sonnenstrahlen liegen könnte, die sich durch die Wolkendecke kämpften und den Tag somit nicht mehr ganz so unfreundlich machten. „Okay, alles in Ordnung.“, flüsterte er leise, ehe er die Beifahrertür vorsichtig zu schlug, als könne sie unter größerer Gewaltanwendung einfach abfallen. Der Gedanke war aber auch wirklich nicht abwegig. Am liebsten hätte sie es seit ihrer Flucht vergessen, aber Paige fand den Weg zum Haus der Hexe ohne Probleme. Vor dem unangenehmen Zwischenfall war sie ja auch einige Male dort gewesen. Während sich ihre Kiefermuskeln immer weiter anspannten, je näher sie der Straße kamen, die ihr Ziel war, konnte Paige auch Ryons Anspannung auf ihren Armen prickeln fühlen. Sie redeten nicht, sondern warfen nur immer wieder misstrauische Blicke nach allen Seiten. 'Warum macht dich das so fertig? Steckbriefe solltest du in deiner Branche auf die leichte Schulter nehmen.' Hatte sie auch schon. Aber das hier war etwas Anderes. Es ging nicht darum, dass sie ein Händler oder ein Juwelier suchte, den sie beklaut hatte. Das hier war größer. Erschreckend groß sogar und etwas, das einem durchaus Kopfschmerzen und ein flaues Gefühl im Magen verursachen konnte. Vor allem, wenn man gerade dorthin zurück fuhr, wo man erst vor Kurzem um ein Haar erwischt worden war. Daher hätte Ryon ihr gar nicht bedeuten müssen, kurz im Auto sitzen zu bleiben, während er sich umsah. Paige hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass sie die Pause brauchte, um sich überhaupt bereits zu fühlen, sich aus dem Sitz und schließlich aus dem Wagen zu schälen. Ihre Tür gab einen holprigen Laut von sich, als Paige sie zudrückte und den verbeulten hellgrauen Wagen absperrte, um anschließend Ryon zum Gartentürchen des Hauses zu führen. Auf dem kleinen, auf Hochglanz polierten Klingelschild stand der Name „McAndrews“. Kein Vorname und Paige war sich auch nicht sicher, ob außer der Frau, die sie mehrmals gesehen hatte, noch weitere Personen hier lebten. In Erinnerung daran, was passiert war, als die Dämonen hatten klingeln wollen, kam Paige Ryon zuvor, dessen Finger bereits über dem Klingelknopf schwebte und kniff ein Auge zu, während sie ihre Anwesenheit im Haus kundtat. Nichts passierte. Kein Stromschlag, kein Schmerz, gar nichts. Was Paige erstaunt ihr Auge wieder öffnen und über den Garten sehen ließ. „Ich kaufe nichts! Und eine neue Gemeinschaft, die mir Gott und die Welt näher bringt, brauche ich auch nicht! Verschwindet!“ Paige war instinktiv ein Stück vor der Gegensprechanlage zurück gezuckt und starrte nun die kleinen Schlitze in der Metallplatte an, aus der die Stimme gekommen war. Wenn sie reagieren wollten, dann sollten sie es schnell tun. Doch dem kratzenden Geräusch der Impulse nach, war die Leitung noch offen. „Mrs. McAndrews, wir wollen Ihnen nichts verkaufen, wir...“ „Mädchen, sie wären nicht die Erste, die einen Fuß in meine Tür kriegen will.“ Paige sah irritiert zu Ryon auf und ihre Lippen formten das erste Wort der Hexe mit einem zweifelnd fragenden Ausdruck nach. 'Mädchen?' „Hören Sie, wir sind nur hier, weil wir mit Ihnen über ... Ihre nächtlichen Besucher sprechen wollen. Es...“ Es klackte und die Leitung war tot. „Scheiße.“ Aber zu erwarten. Wenn die Dame anders mit irgendjemandem umgehen würde, der einfach so vor ihrer Tür auftauchte, wäre sie bestimmt schon eine von Boudiccas Schergen. Es schien alles so vollkommen friedlich zu sein, dass es auf Ryon schon nicht mehr normal wirkte, obwohl er auch einfach nur paranoid geworden sein konnte, wenn man die kürzlich ereigneten Situationen mit einbezog. Aber wenn dem so war, dann ging es Paige wohl auch nicht gerade besser. Nicht nur, dass sie ihm mit dem Klingeln zuerst kam, sie sah auch so aus, als wäre das ein Knopf, der den ganzen Vorgarten in die Luft jagen könnte, nur wüsste sie nicht, ob er tatsächlich funktionierte oder doch nicht. Das darauf folgende Läuten im Haus war daher schon fast enttäuschend, aber auch irgendwie erleichternd. Genauso wie die darauf folgende Stimme. Ryon konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als die Frau Paige als ‚Mädchen‘ bezeichnete. Sie hatte ja keine Ahnung! Da er sowieso nichts anderes erwartet hätte, als die Tür vor der Nase zugeknallt zu bekommen, war er auch nicht großartig enttäuscht, dass genau das tatsächlich passierte. „Und was jetzt?“, fragte er mehr in die Luft, als direkt an Paige gewandt. „Ich meine, wir könnten es uns hier natürlich gemütlich machen und den ganzen Tag lang Sturmläuten, aber ob das was bringen würde…“ Er hatte wirklich keine Ahnung und bestimmt käme es auch gar nicht gut an, wenn er sich einfach Zugang zum Haus verschaffen würde, wobei er nicht einmal sicher war, dass ihm das gelingen würde. Immerhin hatte er noch immer nicht Paiges Reaktion auf den Klingelknopf vergessen. Vielleicht war der Vorgarten ja tatsächlich vermint. „Hm...“ Paige sah sich das Gartentürchen und die Pfeiler an, in die die alten Scharniere eingelassen waren. Dabei erinnerte sie sich an ihre nächtlichen Überwachungsaktionen. „Wer nicht wagt...“ So schnell, dass Ryon nicht reagieren konnte, griff Paige die obere Strebe des Türchens und schwang sich in einem Satz darüber. Mit beiden Füßen landete sie gleichzeitig fest auf einer der Steinplatten, die den Weg durch den weichen, noch grünen Rasen, zum Haus kennzeichneten. Gerade wollte sich Paige mit einem Schulterzucken zu Ryon umdrehen, als ein Knacken sie erstarren ließ. Ihre Muskeln spannten sich an und wenige Schuppen schoben sich an Händen und in ihrem Nacken durch die menschliche Haut. „Bringen Sie sich und Ihren Begleiter so unauffällig wie möglich zum Hintereingang bei der Terrasse. Sie wissen ja wo.“ Die Stimme der Hexe war weder erbost noch angespannt gewesen. Paige glaubte sogar so etwas wie unterdrückte Heiterkeit heraus gehört zu haben. Weder verstand sie das, noch wollte sie im Moment darüber nachdenken. Schon gar nicht, wo sie im nächsten Moment ein Summen hören konnte, das die Gartentür entriegelte, damit Ryon sich nicht die für ihn kaum merkbare Mühe machen musste, ebenfalls über den Zaun zu springen. „Eine Einladung?“ Natürlich war sie skeptisch. Aber mehr würden sie auf keinen Fall mehr bekommen. Die Chance mussten sie entweder jetzt nutzen oder sie bekamen nie wieder eine. Am liebsten hätte er sie in der Luft noch eingefangen, als Paige einfach so über den Zaun sprang und absolut nichts passierte. Aber es hätte etwas passieren können, weshalb er nicht gerade glücklich über ihre Aktion war. Das war im nächsten Moment aber auch schon vergessen, als er wieder die Stimme der Frau hören konnte, die offenbar ihre Meinung geändert hatte, was ihre Besucher betraf. Kommentarlos ging Ryon durch die aufgeschwungene Tür, schloss sie wieder hinter sich und folgte Paige durch den Garten ums Haus herum. Offenbar schien sie wirklich zu wissen, wo es hin ging, obwohl ihm selbst alles Fremd war, weshalb er seine Wachsamkeit keine Sekunde lang fallen ließ. Bei jedem noch so kleinen Geräusch zuckten seine Fingerspitzen und wenn jetzt jemand hinter ihn treten und ihn an der Schulter antippen würde, wäre derjenige vermutlich einen Kopf kürzer. Ryon war total angespannt, auch wenn das vermutlich gar nicht nötig zu sein schien. Dennoch. Er konnte nicht leugnen, dass er sich hier draußen unwohl fühlte, wo sie für jeden ein gutes Ziel abgaben. Inklusive dieser McAndrews. Rein die Tatsache, dass ihr auch in den Nächten, in denen sie sich über den Zaun geschwungen hatte, auf der Rasenfläche nichts passiert war, ließ Paige so ruhig bleiben, dass sie um das Haus herum gehen konnte, ohne sich in einen Feuerball zu verwandeln. Trotzdem war sie angespannt und wachsam. Außerdem half es ihrer Nervosität nicht wirklich, dass sie Ryons Schritte kaum hören konnte, obwohl er immer wieder dicht hinter oder sogar neben ihr auftauchte und sie damit erschreckte. Raubkatze hin oder her, im Moment wäre es ihr lieber gewesen, er wäre nicht ganz so auf leisen Sohlen geschlichen. Vor ihm stieg sie die zwei Stufen zu der hölzernen Terrasse hoch, ging langsam und mit skeptischem Blick an dem Rankgitter für die Rosen vorbei, um dann unentschlossen neben der Tür zum Wohnzimmer stehen zu bleiben. So weit sie das sehen konnte, bewegte sich im Inneren nichts. „Kannst du was sehen?“ Ryons Sinne waren besser als ihre. Und so auf Hochstrom wie gerade jetzt, konnte er bestimmt eine Ameise in einem der trübseligen Blumenkübel husten hören. Allerdings blieb ihm das erspart, als die Tür zur Seite geschoben wurde und eine Frau mit grauem Haar ihren Kopf heraus streckte. Sie sah die beiden Besucher mit funkelnden, aber durchaus nicht bösartigen Augen an und zog sich den bunten, weiten Schal fester um die Schultern. „Na, kommen Sie schon rein. Hier draußen ist es zu kalt, um Tee zu trinken.“ Paige war von der Einladung so perplex, dass sie einfach folgte und keine Minute später in dem vollkommen überladenen, vollgestopften Wohnzimmer stand. Jede freie Fläche Wand war mit Bildern, Photos oder Masken aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen behängt. Dazwischen tummelten sich kleine Glasfigürchen, die wohl Elfen oder Kobolde darstellen sollten. Paige empfand das alles als hauptsächlich erschlagend. Aber es passte in jedem Fall zu ihrer Gastgeberin, die sich gerade über ein filigranes Teetischchen gebeugt hatte, dessen Platte aus farbigem Glas zusammen gesetzt war. Mrs. McAndrews goß – dem Geruch nach – Kräutertee in winzige, mit Mustern und Goldrand übersäte Teetassen und hob Paige eine davon entgegen, bevor sie auch Ryon eine reichte und sich dann selbst mit ihrer Tasse in der Hand auf das Sofa sinken ließ. Paige erkannte mit einem Blick, dass Ryon mit seiner Statur vermutlich von dem Möbel schier gefressen werden würde, wenn er es wagen sollte, sich in die wolkenweichen Kissen zu setzen. Die Hexe schob sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn, bevor sie nach einem Seufzer an ihrem Tee nippte. „Ich dachte schon, dass Sie sich nie an meine Tür trauen würden, nachdem diese beiden Grobiane Sie bedroht haben.“ Paige musste bei der Wortwahl breit lächeln. Als 'Grobiane' hätte sie die beiden Dämonen wirklich nicht bezeichnet. Das ging ihm zu leicht und war einfach zu sonderbar, als dass Ryon es nicht komisch hätte finden können, wie die Dame sie empfing. Kräutertee und ein warmes Wohnzimmer? Fehlten eindeutig nur noch die Plätzchen und das Teekränzchen wäre perfekt. Ryon sträubten sich alle Nackenhärchen, als Mrs. McAndrews ihm eine wahnsinnig zerbrechlich erscheinende Teetasse, samt dazugehörigen Teller und Löffel in die Hand drückte. Ehe sie sich schließlich setzte und sofort einen eher lockeren Plauderton anschlug, obwohl für ihn das Thema durchaus sehr ernst war. Noch immer schweigend, schnupperte er kurz unauffällig an seinem Tee, konnte aber nur eine angenehme Kräutermischung riechen. Dennoch stellte er die Tasse schließlich auf einem kleinen Beistelltischen neben einer Katzenglasfigur ab und versuchte sich mit seiner Größe so unauffällig wie möglich zu verhalten. Was seine Meinung anging, hatte er hier definitiv eine Rolle als Aufpasser mit Lauschfunktion inne. Den Rest überließ er vertrauensvoll Paige. Sie war vielleicht besser in solchen Dingen als er, weshalb er sich nach einer Weile an eines der Fenster stellte und wachsam hinaus blickte. Allerdings konnte er durchaus auch das Wohnzimmer in einer Spiegelung an einem Bild neben dem Fenster sehen. Besonders die ältere Frau ließ er nicht sehr oft aus den Augen. Eigentlich hatte sich Paige tatsächlich auf den Rand des Sofas niederlassen wollen. Doch ein winziges Detail, ein Blick, den sie nur aus dem Augenwinkel bemerkt hatte, sorgte dafür, dass der Tee in der Tasse anfing intensiver zu dampfen. Der interessierte und auf irgendeine Art für Paige triumphierend wirkende Blick hatte nicht ihr selbst gegolten. Mrs. McAndrews hatte über ihre kleine Teetasse hinweg Ryon angesehen. Nicht einmal ihn als Person, sondern einen Punkt, der nur kurz unterhalb seines Hemdkragens lag. Paiges Muskeln verkrampften sich und sie musste sich dazu zwingen in einem Sessel Platz zu nehmen, der nicht ganz so flauschig aussah wie das Sofa und außerdem näher an der Terrassentür stand. Näher am Fluchtweg, wie es ihr verkam. „Mrs. McAndrews, nicht nur deshalb, weil sie mich erkannt haben, möchte ich mich für den Hausfriedensbruch entschuldigen. Ich hätte nicht einfach auf Ihrem Grundstück herumschleichen dürfen.“ Endlich stellte Paige den Tee auf dem Couchtisch auf einem der gehäkelten Untersetzer ab, um dann die Hände in ihrem Schoß zu verschränken und auf eine mögliche Antwort ihres Gegenübers zu warten. „Naja, meine Liebe, wären Sie anders vorgegangen, hätte ich nicht sofort gewusst, dass Sie eigentlich nicht gekommen sind, um mir zu schaden.“ Die alte Frau zwinkerte Paige zu und nahm noch einen Schluck Tee. „Wie Sie bestimmt aus der Reaktion der beiden ungebetenen Herren entnehmen konnten, weiß mein Grundstück mich sehr wohl zu schützen. Nicht jeder, der herein möchte, kommt auch über die magische Grenze.“ Sie redete also zumindest nicht um den heißen Brei herum. Das konnte ihnen allen hier nur von Nutzen sein. Paige nickte und erlaubte sich zum ersten Mal nach deren Blick auf Ryon von der Hexe weg zu sehen und den Raum ein wenig auf sich wirklich zu lassen. Sie hätte es vielleicht bleiben lassen sollen. Denn bereits im nächsten Moment hatte sie das Gefühl die Wände könnten unter der Last des Kitsches einfach einstürzen und sie alle darunter begraben. Da konzentrierte sie sich lieber auf das Gespräch, das Ryon anscheinend ihr allein übertragen hatte. Ob er sich noch unwohler fühlte, als Paige selbst? Allmählich wurde es ihr nämlich schon zu warm hier drin und wenn sie da an Ägypten dachte... „Dann sehen Sie uns beide nicht als Bedrohung an?“ Ein winziges Lachen, das besser zu einem Schulmädchen als zu der Frau mit dem grauen Dutt gepasst hätte, ließ Paige erstaunt die Augenbrauen hochziehen. „Ach, Mädchen, natürlich nicht. Würde ich Sie und ihren eisig schweigenden Begleiter sonst herein bitten und Ihnen meinen besten Kräutertee anbieten? Auch wenn er Ihnen offensichtlich nicht zusagt.“ Der letzte Satz hörte sich so an, als hätte die Jugend einfach keinen Sinn mehr für Werte wie gemütliches Beisammensitzen bei Tee und Keksen. „Ich trinke grundsätzlich nur meine eigene Mischung.“, gab Ryon zu seinem Besten, ohne sich umzudrehen. Eisiger Begleiter, ja? Die Frau hatte anscheinend absolut keine Ahnung. Außerdem würde er hier nicht einmal etwas trinken, wenn es nur nach Wasser riechen würde. Es gab zu viele geruchlose Gifte, als dass er sich einfach so bei fremden Leuten bedienen würde, selbst wenn sie einen noch so … ‚harmlosen‘ Eindruck machten. Wobei eine Frau mit so gut geschütztem Vorgarten sicherlich nicht absolut harmlos sein konnte und wenn Boudicca es auch auf sie abgesehen hatte, musste sie einen gewissen Wert für die Hexenmeisterin haben. Mit einer einfachen Kräuterhexe wäre es nämlich nicht einfach getan. „Was die beiden ungebetenen ‚Herren‘ anging, würde mich wirklich interessieren, weshalb Sie nicht so sehr von ihnen angetan waren. Ich nehme nicht an, dass es sich hierbei um einfache Bibelforscher gehandelt hat?“ Garantiert nicht. Denn wenn sogar Paige das kalte Grausen bekam, dann hieß das Alarmstufe Rot. Allein der Gedanke daran, was ihr alles hätte passieren können, ließ seine Unterkiefer aufeinander krachen. Wenn er diese verdammten Bastarde in die Finger bekam, würde er ihnen entweder ordentlich die Haut vom Knochen ziehen, oder bei dem Versuch drauf gehen. Aber vorerst kehrten seine Gedanken wieder in die Gegenwart und in das völlig überladene Wohnzimmer zurück. War hier eine Kitschbombe explodiert? Paige hätte am liebsten die kleine Tasse in einem Feuerball explodieren lassen! Eisig? Was ließ sich diese dahergelaufene Hexe denn bitte einfallen. Er war nicht... "Ich trinke grundsätzlich nur meine eigene Mischung." Ihr Blick zuckte nervös zu Ryons Rücken hinüber. Ihr Herz schlug ihr auf einmal bis zum Hals und sie wusste leider nur allzu genau, warum das so war. Es war einfach noch zu frisch, um keine plötzliche Panik mehr in ihr auslösen zu können. Paige kannte Ryons warme Seite, lernte sie jede Minute des Tages aufs Neue kennen und freute sich sehr daran. Aber dennoch war es noch mehr als ein Staubkörnchen in ihrem Verstand, das sie davor warnte, es könnte sich schnell wieder ändern. Die Eiseskälte in den bodenlosen, schwarzen Augen könnte zurück kehren. Mit einem winzigen Kopfschütteln holte sie sich zurück in die Gegenwart und versuchte dem minimalen Gespräch zuzuhören, das sich im Raum abspielte. Ryons Frage war mehr als angebracht. Umso interessierter blickte Paige in das Gesicht der alten Hexe, das sich überlegend runzelte. "Wie ich bereits andeutete, habe ich Mittel und Wege, meine Freunde von meinen Feinden zu unterscheiden. Die beiden Dämonen - wir wollen das Kind doch beim Namen nennen - waren eindeutig Letzteres. Hätten sie sonst..." Sie sah Paige fragend an und hielt ihre Hand in einer Geste vor sich hin, dessen Bedeutung die jüngere Frau nur allzu gut verstand. "Fe. Nennen Sie mich einfach Fe." "Also gut. Warum hätten diese Dämonen also Fe angreifen sollen, wenn sie einfach nur nach einer Adresse hätten fragen wollen. Nein, nein, ich kann sehr wohl erkennen, wenn jemand mir etwas Böses will." Sie nahm einen großen Schluck Tee, der die kleine Tasse erstaunlicher Weise nicht leeren konnte und sah dann zwischen Paige und Ryon hin und her, bevor sie fortfuhr. "Außerdem waren es in gewissem Sinne doch so etwas wie Vertreter. Und die kann ich nicht leiden. Egal, ob menschlich oder nicht." "Was wollten sie Ihnen denn andrehen?" Paige hatte gefragt, ohne auch nur eine Sekunde auf Denken zu verschwenden. Wenn die Hexe dabei war, ihr Herz auszuschütten, dann sollte man die Kuh melken, solange sie Milch gab. "Eine Mitgliedschaft." Die Worte hätte sie genauso gut auf den Boden ausspucken können, so viel Gift enthielten sie. "Mitgliedschaft?", fragte Paige leise nach, um den Schwall an Informationen bloß nicht versiegen zu lassen. "Der Zirkel ist immer noch auf Mitgliederfang. Ich denke, dass wissen Sie beide auch. Und das dürfte meiner Vermutung nach auch der Grund für Ihren Besuch sein. Haben Sie mir etwas Besseres anzubieten?" Ryon hatte dem Wortabtausch einige Zeitlang schweigend zugehört, bis er sich schließlich bei der letzten Frage der Hexe dazu entschied, sich herum zu drehen, um sie direkt ansehen zu können, wobei er jedoch nun seine anderen Sinne nach draußen richtete, anstatt umgekehrt, wie vorhin noch. Mit verschränkten Armen vor der Brust sah er im Augenblick wirklich nicht besonders warmherzig aus, aber er war nun einmal skeptisch und angespannt. Immerhin befand er sich hier mit Paige in einem fremden Terrain und das behagte ihm ganz und gar nicht. Er hätte sie gerne in Sicherheit gewusst, aber dass der beste Schutz ihn nicht davor retten konnte, etwas so Bedeutendes wie diese Frau zu verlieren, war ihm nun durchaus klar. Weshalb er sie lieber bei sich wusste, um wenigstens in ihrer Nähe zu sein, wenn die Welt untergehen sollte. „Nun, wir haben zwar keine Clubjacken, besonderen Rabatte und gruselige Aufnahmerituale. Aber dafür verschwinden bei uns nicht einfach Personen und tauchen nie wieder auf. Wir akzeptieren auch ein ‚Nein‘, ohne weiter nachzubohren und was wohl noch wichtiger ist, bei uns gibt es Vertrauen und nicht diese herzlose Vorgehensweise, in dem man nicht mehr ist als ein Bauer in einem Schachspiel, den man leicht austauschen kann, wenn er fällt. Mich wundert es überhaupt nicht, dass der Zirkel immer noch auf Mitgliedersuche ist, bei dem Verschleiß, den sie haben.“ Ryon schnaubte bei dem Gedanken und schüttelte kurz mit gesenktem Blick den Kopf, ehe er die alte Frau wieder fixierte, mit der ganzen Kraft seines Raubtierblickes. „Und was macht Sie so wertvoll für den Zirkel, dass die schon vor Ihrer Haustür übernachten? So köstlich er auch riecht, Ihr Kräutertee alleine kann es wohl nicht sein.“ Paige war beinahe irritiert über Ryons Offenheit und nicht mehr ganz unterdrückte Aggressivität. Es hätte sie schon gar nicht mehr gewundert, wenn er die Frau, die wirklich nicht nach viel mehr aussah als nach einer alten Dame, auch noch angeknurrt hätte. Und Paige hätte ihm beigepflichtet. Auch wenn sie nicht recht in Worte fassen konnte, warum. Aber diese Hexe war ihr nicht geheuer. Unter anderem vor allem deshalb, weil sie wirklich noch nicht wussten, was sie für Kräfte besaß und jede Sekunde gegen sie wenden konnte. „Der Zirkel will mich aus dem gleichen Grund rekrutierten, wie sie beide...“ Wieder ein seelenruhiger Schluck Tee. Allmählich konnte Paige ein ungeduldiges Jucken auf ihren Unterarmen spüren. Warum rückte sie nicht ganz mit der Sprache heraus, wenn sie schon mehr oder weniger anfing auszupacken? „Es geht nicht im Geringsten darum, was, sondern wen ich bieten kann, mein Lieber.“ Paiges flammende Hände zogen eine helle Spur durch die Luft. Nur Millimeter an irgendetwas Brennbarem vorbei, was es in diesem Zimmer überall gab. Die beiden Frauen waren zum exakt gleichen Zeitpunkt aufgesprungen. Allein Paiges Altersvorteil hatte sie es zu verdanken, dass sie sich noch vor Ryon hatte aufbauen können, bevor die Hexe ganz auf die Beine kam. Mit ausgebreiteten Armen und einem Blick, der kaum weniger flammte als ihre Finger, funkelte sie die Alte kampflustig an. „Wenn Sie nicht die absolut richtige Antwort auf den Lippen haben, Gnädigste, dann werd ich Ihnen den Kitsch von den Wänden brennen.“ Der Blick war wieder da gewesen. Genau in dem Moment, als die Hexe ihre Worte ausgesprochen hatte, waren ihre Augen zu Ryon gewandert. Eindeutig dort hin, wo das Amulett unter seiner Kleidung verborgen lag. Ein Fehler. Paige würde dieses Weib nur über ihre eigene Leiche an Ryon heran lassen! „Feuer...“ Die Frau sah Paige mit einer Miene an, die besagte, dass sie deren Natur nicht vollkommen überraschte. „Das erklärt, warum Sie solche Angst vor den beiden hatten..:“ Ein schwarzer Fleck entstand an der Decke, als Schuppen Paiges Gesicht überzogen und ihre Haut und Haare vor Wut in die Höhe loderten. „Ich...“ „Sie – reagieren gerade völlig übertrieben. Ich möchte nicht an das Amulett, wie Sie bestimmt annehmen. Und ich entschuldige mich sogar dafür, dass ich diesen Eindruck erweckt habe. Würden Sie bitte damit aufhören, mein Wohnzimmer anzukohlen...“ Es ging alles so schnell, dass Ryon es gerade noch so verhindern konnte, sich zu wandeln. Er war ohnehin schon angespannt gewesen, aber als Paige zu brennen anfing und die beiden Frauen dann auch noch gleichzeitig aufsprangen, da wäre seine Selbstbeherrschung beinahe in die Brüche gegangen. Auch jetzt noch, da Paige lodern zwischen ihm und der Alten stand, ging sein Atem keuchend, er war in eine leicht gebeugte Haltung gegangen, als hatte er zum Sprung ansetzen wollen und seine Krallen krümmten sich nicht nur bloß zur Warnung. Dennoch beruhigte er sich langsam wieder etwas. Einer musste hier ruhig bleiben und zugleich gefiel es ihm gar nicht, dass sich Paige schützend vor ihm gestellt hatte. Nicht, dass er an ihrer Stärke zweifeln würde, aber so wie sie ihn beschützen wollte, lag ihm ihr wohl mehr am Herzen, als sein eigenes. Niemals würde er sie als Schutzschild haben wollen. „Paige…“, hauchte er ihr leise zu, so dass nur sie es hören konnte, wenn überhaupt, während er ihr eine krallenbesetzte Hand mit zärtlicher Geste auf die Taille legte, um sie zu beruhigen. Es hatte keinen Sinn, hier alles in Flammen zu setzen, solange sie noch im Gebäude waren, doch zugleich fixierte er die alte Frau auch weiterhin aus Raubtieraugen. „Ich würde vorschlagen, Sie kommen endlich zur Sache. Meine-“ Ryon zögerte. Das Wort brannte ihm schier auf der Zunge und er wollte es sogar aussprechen, doch es war zu früh und gewiss nicht der passende Moment dafür und zugleich wären alle anderen Synonyme dafür nur minderwertig, also ließ er den Satz fallen. „Wir sind verständlicherweise beide nicht mehr sehr geduldig, wenn Sie das überhaupt verstehen können.“ Die Welt hätte in diesem Moment untergehen und die Alte hätte sich mit einem Dolch direkt auf sie stürzen können. Paige hätte sich dennoch nur ein wenig gestrafft. Ihre Ohren glühten unter den Flammen, die allein nach Ryons sanfter Berührung kleiner geworden waren. Ihre Augen hatten sich überrascht geweitet und jede Faser ihres Körpers und vor allem auch jeder Winkel ihres Herzens wartete, was nach dem 'Meine' kommen würde. Schon ein "Freundin" wäre mehr gewesen, als sie sich erhoffte. Dennoch war Paige nicht enttäuscht, als er gar nichts sagte. Jetzt an Definitionen zu denken, war wirklich fehl am Platz. Immerhin hatte sie sich mit dieser Hexe herum zu schlagen, der sie immer weniger über den Weg traute. Deshalb würde sie ihre Position vor Ryon auch nicht aufgeben, solange die Alte nicht erklärt hatte, auf welcher Seite sie nun stand. "Ob Sie es glauben oder nicht. Ich verstehe sogar sehr gut. Ich weiß, wer Sie sind." Die alte Frau sah Ryon an und lächelte. Zumindest das glaubte ihr Paige ohne mit der Wimper zu zucken. "Und ich weiß, dass Sie der Hüter des Amuletts sind. Was bedeutet, dass wir uns gegenseitig helfen können. Bevor mich ihre Begleiterin unterbrochen hat..." Paige ließ ein winziges Zischen hören, bevor sie ihre Hände löschte. Allerdings überzogen immer noch Schuppen ihren Körper. Sie war jederzeit bereit diese Schnepfe zu grillen, wenn sie nur einen falschen Schritt machte. "Wollte ich sagen, dass der Zirkel mich deshalb haben will, weil ich nicht allein bin. Es gibt eine weitere Gemeinschaft von Hexen. Allerdings welche, die gegen Boudicca vorgehen und ihr das Handwerk legen will." Die Hexe sah Ryon so tief in die Augen, dass Paige die Hände sinken ließ. Es fühlte sich so an, als wäre sie aus dem Gespräch oder sogar aus dem Raum verschwunden, während die alte Frau ihren Satz aussprach. "Es sind schon zu viele gute Hexen umsonst gestorben." Von Augenblick zu Augenbick wurde Ryon immer unwohler in seiner Haut, so als würde die schützende Schicht ihn ganz und gar nicht mehr beschützen, sondern seine Nerven offen vor ihnen liegen. Die Hexe kannte ihn? Und woher wusste sie von dem Amulett? Außerdem … Hüter? Ryon war verwirrt und das nicht zuletzt deswegen, weil diese alte Frau offenbar mehr wusste, als er und Paige zusammen, was dieses verfluchte Schmuckstück anging, sondern weil ihr zuletzt ausgesprochener Satz mehr zu beinhalten schien, als bloß die offenkundigen Worte. Obwohl er sich nichts anmerken ließ, zitterten seine Finger leicht an Paiges Taille und unwillkürlich zog er sie näher an sich heran, nachdem sie zu brennen aufgehört hatte und seine Krallen wieder eingefahren waren Aber selbst wenn sie noch immer in Flammen gestanden hätte, wäre sein Handeln nicht anders gewesen. Er brauchte dringend Paiges Nähe. Dringender noch als er Luft zum Atmen brauchte. „Wie können wir uns gegenseitig helfen und vor allem, was wissen Sie über das Amulett?“ Ryon fand nur langsam seine Sprache wieder, während sein Daumen sich im Schutz von Paiges Rücken unter ihr Oberteil schob, um direkt ihre Haut berühren zu können. Die vielen bereits gefallenen Hexen erwähnte er erst gar nicht. Sie alle wussten, dass schon zu viele gestorben waren. Nicht nur Hexen. Erdung … er musste sich erden. Nur so konnte er auch weiterhin halbwegs ruhig bleiben. Das Thema behagte ihm ganz und gar nicht, also trat er einen Schritt vor, dichter an Paige heran und ließ seine Hand hinter ihrem Rücken ganz unter ihr Oberteil wandern, um sie auf ihre Wirbelsäule zu legen und mit den Fingerspitzen darüber zu streichen. Die Berührung tat seine Wirkung auf der Stelle. Seine Muskeln begannen sich etwas zu lockern und er konnte wieder freier Atmen. "Mir wäre es lieber, wenn wir uns alle wieder setzen würden. Wie Sie sehen, bin ich im Gegensatz zu Ihnen beiden nicht mehr so jung und fit..." Als wolle sie ihre Worte noch unterstreichen, ließ die Hexe sich mit einem kleinen Ächzen auf das Sofa zurück sinken und sah mit einem ernsten Gesichtsausdruck zu ihnen auf. "Jedem in World Underneath ist Ihr Gesicht inzwischen bekannt. Wenn auch die Wenigsten wissen, warum Sie tatsächlich gesucht werden." Sie machte es sich auf der Couch bequem und Paige hatte einen Moment, Ryons Berührung an ihrem Rücken wahrzunehmen. Seine warmen Finger auf ihrer Wirbelsäule und seine Gegenwart so nah hinter ihr. Das war auch nötiger, als ihm selbst bestimmt bewusst war, als die nächsten Sätze der Hexe Paige fast im wörtlichen Sinne den Boden unter den Füßen wegzogen. "Ich habe zwar nicht Marlene persönlich, aber ihren Zirkel gekannt. Gute Frauen, die sich um das Richtige bemüht haben." Ein warmes Lächeln, das allein Ryon und seiner Vergangenheit galt und Paige unwillkürlich die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Sie wollte nicht, aber eine Feder in ihr schien sich anzuspannen. Dabei half es vielleich sogar, dass die Frau einfach weiter sprach ohne auch nur auf eine Reaktion zu achten oder darauf zu warten. "Sie hat sich damals nach einem Schutzgegenstand erkundigt und in dem Amulett gefunden, was sie gesucht hatte." Ein Schluck Tee, der Paige dazu brachte, eine kleine Feuerkugel zwischen ihren Fingerspitzen zu zerdrücken. Konnte diese Frau nicht zur Sache kommen? Schnell und so schmerzlos es ging. Dabei war Letzteres bereits ein verlorenes Spiel. "Dass sie damit nicht nur den Schutz für Sie, sondern gleichzeitig auch den Hüter für das Schmuckstück gefunden hatte, wusste sie nicht. Das haben auch wir erst nach Marlenes Tod heraus gefunden. Und da waren Sie bereits... von der Bildfläche verschwunden." Ryon versteifte sich bei dem Gesagten. Da half es auch nicht, dass er sich an Paige fest hielt. Dazu hätte er ihr noch viel näher sein müssen, um das alles einfach so über sich ergehen lassen zu können, ohne einen unbändigen Drang zur Flucht zu verspüren. Die Alte zwang ihn mit ihren so harmlos dahin gesagten Worten förmlich in die Knie, wenn auch nicht im praktischen Sinne übertragen. Gut, er hatte sich bereits sehr viel mit Marlenes Tod und den damit verbundenen Gefühlen auseinander gesetzt, aber etwas aus dem Mund einer Fremden über sie zu hören, war noch zu viel, als dass es ihn hätte kalt lassen können und dann auch noch in Paiges Anwesenheit. Er spürte nur zu deutlich, dass nicht nur er sich immer unwohler in seiner Haut zu fühlen begann, weshalb er Paige schließlich direkt an sich zog und einen Moment sein Haupt beugte, um ihren Duft in sich einsaugen zu können. Das gab ihm die nötige Kraft, dem Blick der alten Hexe stand zu halten. „Kommen Sie endlich zur Sache, anstatt in Erinnerungen zu schwelgen.“ Sein Knurren war kaum unverhohlen. Aber war es ihm zu verdenken? „Ich versteh nicht, was es mit diesem Hüter auf sich haben soll und wenn wir schon dabei sind, würde es mich interessieren, was Sie und ihr Zirkel dazu beisteuern können, gegen Boudicca anzugehen. Überleben alleine wird in diesem Fall ja leider nicht ausreichen.“ Erstaunen zeigte sich im Blick der Hexe, als Ryon so deutlich reagierte. Und anscheinend so anders, als sie es erwartet hatte. Auch Paige war überrascht. Aber mehr darüber, dass Ryon sie an sich heran zog. Bei der Erwähnung von Marlene und davon, was sie für ihn getan hatte, hätte Paige Körperkontakt von ihm am wenigsten erwartet. "Um Ihnen alles über das Amulett und die Rolle des Hüters zu erklären, müsste ich noch einmal aufstehen. Ich hoffe, diesmal werden sie nicht derart in Feuer aufgehen." "Keine Sorge..." Paige trat sogar einen Schritt zur Seite. Allerdings nur so weit, dass sie sich nicht von Ryon lösen musste, der seinen Arm um ihren Bauch geschlungen hatte und nicht so wirkte, als wolle er sie demnächst loslassen. Die Hexe trat an eine Kommode heran, zog langsam eine der Schubladen heraus und entnahm ihr ein Kästchen, in dem verschiedene Papiere und auch Fotos lagen. Einige davon legte die alte Frau auf dem Couchtisch aus, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte. Ihre Stimme klang auf einmal weicher. Als würde sie ihren Enkeln ein altes Märchen erzählen. "Das Amulett ist nur eines von zwei Teilen. Seine Aufgabe ist es, Gutes zu verstärken und den Träger zu schützen. Es hat auch noch andere Aufgaben und Kräfte. Aber über alles sind wir uns auch noch nicht im Klaren. Es ist allerdings so, dass es nicht nur schützt, sondern auch geschützt werden muss. Damit seine Kräfte nicht in falsche Hände fallen." Nun verdüsterte sich der Blick der Hexe merklich, bevor sie weiter sprach. "In unserem Fall sind diese falschen Hände diejenigen, von dieser Schreckschraube Boudicca. Sie will das Amulett dafür benutzen, eine alte, böse Kraft zu befreien und sich zur obersten Macht von Menschen und Übernatürlichem aufzuschwingen. Sie war noch nie ganz richtig im Kopf." Etwas, das Paige sich vorstellen konnte, was die Sache aber nicht leichter machte. Zumal sie sich des Eindrucks nicht mehr länger erwehren konnte, dass ihre Gastgeberin die Wahrheit sagte. Immerhin würde der Altar mit dem Schloß in Ägypten dafür sprechen. Dass etwas eingesperrt war... Der dunkel Schatten, der an der Wand dargestellt gewesen war. Eiskalt lief es Paige den Rücken hinunter. Ryon musste es selbst durch seine Kleidung spüren, da war sich Paige sicher. Ihre Instinkte standen auf Flucht. Wäre da nicht die Hoffnung gewesen, dass sie tatsächlich so etwas wie Verbündete gefunden hatten. "Zurück zur zweiten Frage. Wie glauben Sie im Kampf gegen Boudicca und ihr Gefolge helfen zu können?" Die Oberlippe der Hexe kräuselte sich zu einem erfreuten Lächeln. "Mädchen, Geduld ist offenbar wirklich nicht Ihre Stärke." "Da haben Sie verdammt recht. Also rücken Sie endlich raus mit der Sprache, bevor ich mein bisschen Beherrschung doch noch verliere." Wie konnte sie eine einzige Person mit so wenigen Worten bloß so in Rage bringen? "Der kleine Trick mit der Schutzmauer ist nicht das Einzige, was ich vermag. Und der Zirkel besteht aus sehr starken Hexen. Wir wollen alle verhindern, dass Boudicca noch länger ihr Unwesen treibt und dass ihr Wahnsinn noch mehr Opfer fordert. Ich denke, das sollte schon fast genug sein, oder nicht?" Dieses Mal schwieg Ryon und mischte sich nicht ein, stattdessen begann sein Kopf zu arbeiten. Er wusste, dass die alte Frau nicht log, denn eine Lüge hätte er sofort gewittert, andererseits konnte er sich immer noch nicht vorstellen, dass sein Amulett auch nur irgendetwas für ihn tat, außer ihm Unglück zu bringen. Weder war er deshalb stärker noch sonst irgendwie im Vorteil gewesen, wenn er sich mit irgendjemanden angelegt hatte. Gerade der Vorfall mit dem Werwolf war noch frisch genug, um zu wissen, dass das Schmuckstück ihm nicht beigestanden hatte. Ryon war trotz allem verletzt worden und nur knapp einer Niederlage entkommen. Nein, das Teil sah nur hübsch aus, blieb für ihn jedoch immer noch einfach nur nutzlos. Aber darüber hätten sie wohl noch bis in die Nacht hinein streiten können und darauf hatte er keine Lust. Zumindest der Rest der Erzählung schien sich mit den Dingen zu decken, die Paige bereits in Ägypten hatte heraus finden können und als ihr Körper unter seiner Berührung förmlich erzitterte, tauchte vor seinem inneren Auge wieder die Szenerie in der Badewanne auf. Bevor das Grauen von damals ihn erneut packen konnte, schob er den Gedanken beiseite. Dieser Schatten oder dieses böse Etwas hatte Paige nicht länger in seiner Gewalt und würde es hoffentlich auch nie wieder tun. „Allein der Wille zu überleben, wäre schon genug gewesen.“, fügte Ryon nun deutlich ruhiger an, während sich seine Muskeln wieder entspannt hatten. Die Aufmerksamkeit auf ihre derzeitige Lage anstatt auf die Vergangenheit zu richten, war ihm tausendmal lieber und das war auch deutlich spürbar. „Wir wollen offensichtlich alle das Gleiche und im Grunde ist es mir egal, was es mit diesem Amulett auf sich hat. Ich will nur, dass diese Frau endlich von der Bildfläche verschwindet, aber zu zweit sind wir dazu nicht in der Lage. Wäre Ihr Zirkel bereit, sich mit uns zusammen zu tun?“ Das war hier für ihn die grundlegendste Frage und zugleich auch der Grund für ihren Besuch. Sie konnten natürlich noch bis Ende nie quatschen, aber es wäre sinnlos, wenn diese Frauen ein Bündnis mit ihnen ablehnen würden. Darum wollte er endlich zum wahren Grund ihres Besuchs kommen. Den Rest konnten sie immer noch besprechen, wenn zumindest einmal dieser Punkt geklärt war. Paige war es nicht recht, dass Ryon vor dieser Hexe ihre Schwäche eingestand. Nein, sie konnten gegen Boudicca nicht allein ankommen. Genau deshalb waren sie ja hier. Aber dennoch kam es schon einer kleinen Niederlage gleich, es so direkt zuzugeben. Aber es schien die richtige Taktik gewesen zu sein, wie das Lächeln der alten Frau zeigte. Als hätte sie auf diese Frage nur gewartet, stand sie erneut auf. Was Paige dazu brachte, sich wieder ein Stück vor Ryon zu schieben und ihre Schuppen über ihre gesamten Finger ziehen zu lassen. Noch war sie von dem guten Willen und der lichten Natur des Zirkels nicht völlig überzeugt. Immerhin konnte es auch nur einer von Boudiccas Tricks sein, um endlich an Ryon und das Amulett heran zu kommen. Allerdings war da irgendetwas, das ihr die Skepsis ein wenig nahm. Vielleicht einfach nur Ryons Wille der Frau zu glauben? Denn so wirkte es. Und Paige mochte der Hexe nicht vertrauen, aber Ryons Instikten glaubte sie umso mehr. "Natürlich werden wir mit Ihnen zusammen arbeiten. Nur allzu gern. Immerhin ist Boudicca nicht nur eine Bedrohung für unsereins, sondern das ganze Gleichgewicht zwischen den Menschen und unserer Welt. Und ich mag sie einfach nicht." Ein Zwinkern, das Paige fast ein Stöhnen entlockte. Sie wollte hier weg. Hatten sie jetzt nicht, was sie wollten? Das wiederum brachte sie auf einen anderen Gedanken. "Ich weiß, dass ich hier meine Karte als Schwarzer Peter bloß wieder ausspiele, aber ... was verlangen Sie von uns, wenn Sie uns helfen?" Nun wirkte die ältere Frau beleidigt. Paige tat das nicht leid, da ihr die Hexe wirklich auf die Nerven ging. Dass man ihr alles aus der Nase ziehen musste. Wenn sie nun noch einmal das Amulett erwähnte, würde Paige zumindest diese pink gewandete Minielfe an der gegenüberliegenden Wand zum Schmelzen bringen. "Wir möchten nur, dass die Schwestern, die zum Übertritt gezwungen wurden, ohne jegliche Schrammen aus diesem Zirkel heraus kommen. Sie wurden manipuliert oder gezwungen und verdienen es nicht, noch weiter Opfer des Ganzen zu werden." Der Wunsch der Hexe versetzte ihm einen Stich mitten ins Herz. Erinnerte es ihn doch daran, dass auch viele von Marlenes Zirkel und Freundinnen auf die ein oder andere Weise zu Boudicca gewechselt waren und bestimmt nicht alle freiwillig. Allerdings war Alice wohl zu erfahren gewesen und bereits in ihrer Persönlichkeit zu gefestigt, um sich noch manipulieren zu lassen. Ein Grund, warum die beste Freundin seiner Gefährtin hatte sterben müssen. Nein, wenn es sich vermeiden ließ, sollte so wenig Blut wie möglich vergossen werden. Erst recht, wenn darunter unschuldiges war. „Es dürfte wohl klar sein, dass wir keine absolute Garantie dafür geben können, aber es liegt auch in unserem Interesse, so wenig Unschuldige in diese Sache hinein zu ziehen, wie es uns möglich ist.“ Sich selbst beruhigend, streichelte Ryons Daumen über Paiges Bauch, während er die Hexe keine Sekunde lang aus den Augen ließ. Die Atmosphäre hatte sich zwar merklich entspannt, aber er konnte es kaum abwarten, die Kurve zu kratzen. Das alles war mehr, als seine angespannten Nerven für einen Tag verdauen konnten, ohne dass er sich irgendwie hatte abreagieren können. Noch mehr Überraschungen und er würde einfach explodieren. „Wann wäre es möglich, mit dem gesammelten Zirkel zu sprechen?“ Bevor er auch nur in Betracht zog, über irgendwelche Vorgehensweisen zu debattieren, wollte er erst einmal wissen, wer ihnen alles den Rücken stärken sollte. Mit einer gewissen Vertrauensbasis als Grundlage war ein Aufbruch in den Kampf sicherlich nicht verkehrt. Und zugleich war seine Frage hoffentlich auch ein dezenter Wink mit dem Zaunpfahl, dass sie bald aufbrechen würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)