Am Grab ihre Sohnes von cooking_butty ================================================================================ Kapitel 1: Am Grab ihres Sohnes ------------------------------- Mit größter Sorgfalt sammelte die alte Frau das Herbstlaub, das von den nahe stehenden Bäumen auf den makellos weißen Kies geweht worden war, auf. Danach pflückte sie noch die verwelkten Blüten der blauen Stiefmütterchen. Erst dann platzierte sie das runde Gesteck, das sie gestern nach langem Suchen endlich gefunden hatte. Die rot/gelben Chrysanthemen machten sich gut zwischen den grünen und weißen Blättern. Hoffentlich würde es diese Nacht keinen Frost geben. Der Wetterbericht hatte zwar nichts Derartiges vorausgesagt, aber man wusste ja nie. Es wäre schade um die Blumen. Ans hintere Ende des Grabes pflanzte sie links und rechts vom Kreuz noch je einen Stock gelber Begonien und damit sie nicht so verloren aussahen, steckte sie noch ein paar Fichtenzweige dazu. Ans vordere Ende stellte sie noch eine silberne Laterne, für den Fall, dass jemand eine Kerze mithatte. Während dieser ganzen Prozedur hatte ihre Tochter schweigend neben ihr gestanden. Die alte Frau wies sie nun an, eine dieser großen Plastikgießkannen, die die Pfarre zur Verfügung stellte, mit Wasser zu füllen. Gewissenhaft putzten die beiden all den Schmutz von der Holzumrahmung und dem Holzkreuz. Der Grabstein würde erst in einem halben Jahr kommen. Wenn seit der Bestattung zwei Jahre vergangen waren. Damit er nicht einsinken kann. Außerdem wurde noch die kleine Fliese vor dem Kreuz von all dem Wachs befreit, ehe die jüngere Dame die Messinglaterne zurückstellte und die Kerze darin anzündete. Zum Schluss goss die Ältere noch das Gesteck. Alles musste perfekt sein. Morgen, an seinem Geburtstag. Sicherlich würden seine Freunde ihn besuchen kommen, Blumensträuße niederlegen, ihm gedenken. So wie sie es letztes Jahr gemacht hatten. Sie hatte nie gedacht, dass sie ihren Sohn überleben würde. Er hatte sich immer gesund ernährt, hatte täglich Sport getrieben. Wäre er an diesem einen verregneten Abend vor knapp anderthalb Jahren bloß nicht ins Auto gestiegen, wäre dieser schreckliche Unfall nicht passiert! Seufzend richtete die ältere Frau sich auf und betrachtete ihr Werk. Sein Foto auf dem Schild hatte sie erneuern lassen, das alte war schon zu sehr verwittert gewesen. Ein sanftes Lächeln lag auf seinem Lippen, als wollte er seinen Besuchern sagen „Es geht mir gut, macht euch keine Sorgen“. Die Jüngere stellte sich neben ihre Mutter und betrachtete gedankenverloren das Grab. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass sich die Knochen ihres Bruders vor ihr und 1,8 Meter unter der Erde befanden. Verdammt, sie wollte doch jetzt nicht weinen! „Ich würde gern wissen, ob es wirklich so ist, wie man immer hört“, begann die Ältere. „Ob es wirklich wie Heimkommen ist. Ob man sich wirklich so schwerelos fühlt, als würde man alles hinter sich lassen.“ „Ich hoffe es“, erwiderte die Jüngere und unterdrückte einen Schluchzer. „Ich hoffe es.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)