Addio von gluecklich (Vom Gehen und Bleiben) ================================================================================ Leben ohne dich --------------- XANXUS * 10.10.1974 † 27.9.2012 Stolzer Sohn der Vongola und erfolgreicher Anführer der Varia Sein Schnauben schickte kleine, weiße Wölkchen in den Himmel, die gegen die richtigen Wolken und den Schnee jedoch kaum auffielen. Squalo interessierte sich sowieso nicht für sie. Er stand da und starrte den Grabstein an, so wie jeden Donnerstag. Stolzer Sohn der Vongola. Ja, sicher, das war Xanxus gewesen. Aber nur die wenigsten wussten eben, dass man »Sohn« nur noch im übertragenden Sinne sehen konnte. Und dass er darauf auch nicht besonders stolz gewesen war. Auf diese eine, kleine Tatsache, die letztendlich wohl viel zu seinem Untergang beigetragen hatte. Immerhin hatte er genau dieses Wissens wegen angefangen, zu viel zu trinken. Aber vielleicht sollte er dankbar sein, dass Timoteo nur »stolzer Sohn« hatte hinschreiben lassen – und nicht »geliebter Sohn«, oder so eine Scheiße. Nein. Nein, er sollte nicht dankbar sein. Er sollte wirklich nicht dankbar sein, niemandem aus dieser verfickten, gestörten Familie, der er immer noch loyal war, einfach so, aus Gewohnheit. Die Zeile darunter störte ihn auch. Erfolgreicher Anführer der Varia. Xanxus war kaum erfolgreicher gewesen als irgendwer vor ihm. Ein bisschen vielleicht. Und die größeren Missionen, die er mit ihnen gestartet hatte, hatten sie verloren. Dass man die Varia überhaupt auf seinem Grabstein erwähnen konnte, lag daran, dass er natürlich auf dem Friedhof begraben lag. Es war prinzipiell ein öffentlicher Friedhof, aber so gelegen, dass nur reiche Idioten (und Squalo) ihn betreten konnten. Alle verstorbenen Vongolas lagen hier. Die meisten Leute, die hier vorbeikamen, wussten über die Mafia Bescheid. Und wer das nicht tat, wusste auch nicht, was die Varia war. Also war es egal. Alles ausgemachter Bullshit. »Porca puttana, Xanxus«, sagte Squalo leise in die Stille hinein. [Verdammte Scheiße.] Danach kam er sich dämlich vor. Er war ein erwachsener Mann Mitte dreißig. Er sollte nicht hier stehen und mit einem toten Wichser sprechen. Er hatte nur das Gefühl, dass das gesagt werden musste. Dass das hier alles für den Arsch war. Dass er immer noch nicht wusste, weshalb er jede Woche hierher zurückkehrte. Es ergab keinen Sinn. Niemand sah ihn, Xanxus erst recht nicht, niemand wusste, was hier passierte, es brachte niemanden vor und zurück und Squalo ging es dadurch auch nicht besser. Eher im Gegenteil. Er wäre froh, könnte er endlich vergessen, was das Arschloch sich angetan hatte. Verflucht, er wäre froh, könnte er endlich vergessen, dass der verfickte Krüppel überhaupt existiert hatte. Aber das ging nicht so einfach. Wahrscheinlich musste er es Schritt für Schritt tun. Und wahrscheinlich war er deshalb hier. Damit er ihn so verabschieden konnte, wie es psychologisch intelligent war – anstatt sich einfach ebenfalls das Hirn wegzusaufen. Xanxus ist eindeutig überrascht, ihn zu sehen. Überraschung sieht beim Variaboss natürlich anders aus als bei anderen Menschen, und außer Squalo ist wohl niemand in der Lage, diese Gefühlsregung überhaupt aus seinem Gesicht zu lesen. Aber er weiß es eben. Xanxus ist überrascht, dass er hier ist. Es kommt ja auch selten vor, dass Squalo einfach so ohne Ankündigung in sein Büro spaziert und sich auf einen der breiten Sessel setzt, auf die sich sonst niemand wagt, zu setzen, und das, obwohl Xanxus nicht einmal da ist. Jetzt ist er da. Er kam gerade aus dem Nebenzimmer. Dort liegt Xanxus‘ persönliches Zimmer, noch so etwas, was wohl nur Squalo weiß. Nur Squalo und der Arzt, der ihm gerade auf dem Flur entgegenkam. Deshalb ist Squalo nun hier. Er hat gesehen, dass die Untersuchung nun scheinbar fertig ist (oder Xanxus den Mediziner rausgeworfen hat) und ist einfach vorbeigekommen, um nachzufragen. »Und?«, sagt er also, als Xanxus schweigt und sich nur mit der üblichen Ablehnung hinter seinen Schreibtisch setzt. Xanxus hat sich schon wieder den Papieren auf der blankpolierten Tischplatte gewidmet und sieht ihn nicht an, als er spricht. »Leberzirrhose.« Ein paar Sekunden lang ist es still. Squalo liegt ein markerschütterndes »VOOOOOI!« in der Kehle, aber es will nicht rauskommen. Stirnrunzelnd blickt er Xanxus an, öffnet den Mund und schließt ihn wieder, bevor er nur ungläubig das Gesicht verzieht. »Was?« »Bist du schwerhörig?«, fragt Xanxus schroff, noch immer, ohne den Blick zu heben. »Oder weißt du nicht, was das ist, Idiot?« »VOOOI!« Jetzt kommt es raus. Aber so richtig gut tut es nicht. »Weder noch! Natürlich weiß ich, was eine scheiß Leberzirrhose ist! Aber du willst mir doch nicht erzählen, dass du… Verarsch mich nicht, Wichser!« Erst jetzt hebt Xanxus den Kopf. Seine roten Augen liegen vollkommen ruhig auf Squalo, er sieht von unten zu ihm hoch, an den schwarzen Haarsträhnen vorbei und durch und durch bohrend, und Squalo versteht, dass er besser die Schnauze gehalten hätte. »Kling ich vielleicht so, als hätte ich Bock, dich zu verarschen?« Nein, so klingt er nicht. Aber so klingt er ja nie und dennoch tut er es manchmal. Jedoch muss Squalo zugeben, dass das eher selten vorkommt und Themen wie dieses eigentlich nie Grundlage für seine grotesken Scherze sind. Das hier ist zu ernst. Und vor allem, auch wenn es bitter ist, zu plausibel. Leberzirrhose. Squalo geht die Symptome, die ihm davon geläufig sind, im Kopf durch. Sie passen alle. Und bei Xanxus‘ Alkoholkonsum ist es eigentlich kein Wunder, dass ihm das früher oder später passiert. Trotzdem hätte er nie damit gerechnet, weil… Na, weil es eben Xanxus ist. Den Mann konnte man acht Jahre lang einfrieren und außer ein paar popeligen Narben und einer Abneigung gegen seinen Adoptivvater, Eis und die halbe Welt, ist ihm dabei nichts passiert. Xanxus überlebt alles. Xanxus ist wie das Ungeziefer, das eine Ewigkeit damit verbringt, an der Vongola zu nagen, bis er sie endlich übernehmen kann. Zumindest wollte er das immer sein. Und Ungeziefer bekommt man nicht einfach so beseitigt. »Was…« Squalo schluckt. In seinem Mund schmeckt es nach trockenem Erbrechen. »…gedenkst du, dagegen zu tun?« »Nichts«, antwortet Xanxus sachlich und wendet sich wieder seinen dämlichen Papieren zu. »Und jetzt verzieh dich.« Bevor ich mit dir darüber diskutieren muss. Squalo weiß genau, was sein Boss nicht ausspricht. Er weiß auch, dass er ihm nicht reinreden kann, selbst wenn er wollte. Xanxus ist ein erwachsener Mann – auch wenn er sich nicht oft so benimmt. Squalo lässt ihn tun, was er will. Squalo geht. Damit Xanxus gehen kann. Sein Tod war seine eigene Schuld gewesen. Squalo wusste das sehr gut und versuchte nach Kräften, ihn zu hassen. Und meistens klappte das auch ganz gut. Nur donnerstags nicht. Er war an einem Donnerstag gestorben. Squalo war nicht zur Beerdigung gekommen, stattdessen stand er nun einfach jeden Donnerstag hier und starrte diesen verfluchten Klotz aus Stein an. Manchmal fand er es ironisch, dass er hier derjenige mit dem Beinamen Superbia war. Klar, er war um einiges stolzer als es eigentlich gesund war und er liebte diesen Namen. Aber Xanxus hätte ihn auch verdient gehabt. Er war nicht einmal unheilbar krank gewesen. Viele Hoffnungen gab es bei einer Leberzirrhose nicht mehr, aber es gab eben durchaus welche. Nur hatte Xanxus zu den Menschen gehört, die man zu jedem Arztgang hatte prügeln müssen. Er hatte irgendwann nachgelassen, war unaufmerksamer, schwächer und noch antriebsloser als sowieso schon geworden. Squalo hatte es auf seine üblichen depressiven Launen und möglicherweise auch das fortschreitende Alter geschoben, aber dann hatte seine Haut angefangen, sich zu verändern. Ja, gottverdammt, ja, sowas fiel ihm auf. Einerseits war er durch den Kampf schlicht und einfach ein aufmerksamer Mensch geworden und andererseits … war es Xanxus. Er sah ihn oft. Er sah ihn oft an. Nein, er hatte ihn oft angesehen. Und ihm waren die gelblichen Verfärbungen aufgefallen. Und dann hatte er ihn wochenlang bearbeiten müssen, um diesen verfickten Arzt kommen zu lassen. Es hätte noch eine Möglichkeit gegeben. Die Transplantation einer gesunden Leber. Gott, sie waren die Mafia, wenn sie ein gesundes Organ brauchten, dann bekamen sie auch irgendwo eins her. Sie hatten buchstäbliche Lastwagenladungen von sowas. Aber nein, Xanxus hatte nicht gewollt. Zu stolz. Er war zu stolz gewesen. Zu stolz, um zu diesem Arzt zu gehen und ihm zu sagen, dass er Hilfe brauchte, Hilfe wollte. Zu stolz, um sich einzugestehen, dass er nur weiterleben konnte, wenn er sich von anderen Menschen unter die Arme greifen ließ, was so weit gehen sollte, dass er sich ihre Organe geben ließ. Er war zu stolz gewesen, um zu leben. Also hatte er weiterhin in seinem hässlichen Chefsessel gelegen, seine Arbeit gemacht und… Und dann war er gestorben. Einfach so. War morgens nicht mehr aufgestanden und dann hatte Squalo ihn gefunden. Den dämlichen Bastard. In den Wochen vorher war Xanxus wieder öfter auf Missionen gegangen. Und er war verwundeter von ihnen zurückgekehrt, als er eigentlich hätte tun sollen. Er hatte sie alle geschafft, das war es nicht gewesen. Aber er war eben nicht sehr fit wiedergekommen. Es konnte natürlich daran liegen, dass er einfach krank gewesen war. Aber Squalo glaubte daran, dass das ein paar lächerliche Suizidversuche gewesen waren. Ein Xanxus brachte sich nicht selbst um, ein Xanxus fiel höchstens im Kampf. Aber wahrscheinlich war er zu gut gewesen. Oder sein Stolz hatte ihn sogar davon abgehalten. Also war er einfach in seinem Schlafzimmer verreckt, was auch nicht viel besser war. Wahrscheinlich hatte er sich bis zum letzten Tag nicht entscheiden können, welcher Tod die kleinere Blamage war. Squalo war es egal. Allein die Tatsache, dass er tot war, war eine Schande. Einfach nur, weil er sich nicht hatte helfen lassen. Er hatte keine Ahnung, ob er genauso gehandelt hätte. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er würde ja auch keine Leberzirrhose bekommen, er hatte nie ganze Jahre seines Lebens damit verbracht, zum Frühstück ein Glas Whiskey zu exen. Er hatte nie versucht, seine Probleme im Alkohol zu ertränken. Er hatte sie einfach auf andere Leute übertragen, er war raus in die Welt gegangen und hatte Menschen getötet. Das war wahrscheinlich noch gestörter als das, was Xanxus abgezogen hatte, aber für Squalo persönlich war es eindeutig gesünder gewesen. Er stand hier und lebte. Und Xanxus war tot. Weil dieser Trottel, dieser gehörnte Vollidiot, der so viel Wert auf seine Stärke gelegt hatte, schwach genug gewesen war, einer Sucht zu verfallen. Er hatte ihn zurückgelassen. Mit dem Wissen, mit der Vongola, mit der Varia. Squalo kam gut allein klar. Aber er hatte ihn zurückgelassen. Es gab keinen neuen Boss. Ein paar Leute hatten versucht, sich den Posten zu schnappen, aber niemand war erfolgreich gewesen. Um genau zu sein, waren sie alle tot. Squalo würde Kommandant bleiben, er wollte nicht Boss genannt werden, er wollte diesen Titel nicht. Er war Kommandant. Und er würde es auf ewig bleiben. Er wurde kein Boss. Und jeder neue Boss würde bedeuten, dass jemand über ihm stand. Jemand Neues. Das durfte nicht passieren – nein, das konnte nicht passieren. Squalo hatte ein Problem mit Autoritäten. Er akzeptierte niemanden über ihm. Niemanden außer Xanxus. Er fehlte. Squalo hatte die Varia schon einmal allein geleitet und hatte als Kommandant genug Macht, um die ganzen Trottel nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Er kam hier problemlos zurecht, was die Arbeit anging. Er konnte führen. Aber er musste auch geführt werden. Und zwar von Xanxus. Es gab niemanden, der dessen Platz einnehmen konnte. Er fehlte. Squalo hasste es. Mit der Varia war alles in Ordnung, und das war gut, verflucht, das war sein Lebensinhalt, seit er vierzehn war. Aber es war eben nicht alles. Squalo hatte wenig Privatleben, aber ein bisschen war nun mal da. Und das lief nie so, wie er wollte. Sondern immer so, wie Xanxus wollte. Selbst jetzt noch. Früher war er damit klargekommen. Xanxus hatte viel Scheiße entschieden, aber er hatte immer damit leben können – einfach, weil es Xanxus‘ Entscheidungen gewesen waren und er geschworen hatte, sich ihm zu fügen. Immer. Und überall. Er hatte damit umgehen können. Nur seine letzte Entscheidung. Die passte ihm ganz und gar nicht in den Kram. Die Entscheidung, dass er ohne ihn weiterleben musste. Squalo wollte nicht, es pisste ihn an. Nein, er wollte nicht sterben, schon gar nicht, nur weil Xanxus nicht mehr da war. Er wollte, dass Xanxus wieder lebte. Weil er sich noch immer seinen Entscheidungen fügte, weil er das auf ewig tun würde, solang er ihm folgte. Xanxus hatte entschieden, dass er hier allein in der Varia versauern würde, dass er noch verbitterter werden würde als so schon und dass er sein Leben verabscheuen würde. Einfach nur so. Weil es nicht nach seiner Nase lief. Squalo hatte keine Lust darauf. Er wollte sein Leben nicht verabscheuen und er wollte nicht noch bitterer werden als er ohnehin schon war. Er wollte das nicht und dennoch fühlte er sich unfähig, etwas dagegen zu tun. Er hatte schon immer jemanden gebraucht, der ihn leitete, der ihm Befehle gab. Schon immer – vor allem aber, seit er den Schwur geleistet hatte. Vor allem, seit er angefangen hatte, sich selbst für diese Sache aufzugeben, diese Sache, die nun nie vollendet werden würde, weil Xanxus sowieso tot war, diese Sache, der er sich umsonst verschrieben hatte… Und plötzlich war eigentlich alles ganz einfach. Es war ein später Donnerstagabend am Ende des Jahres, an dem Superbia Squalo im knöchelhohen Schnee zwischen den Grabsteinen eines selten besuchten Friedhofes stand, ins Nichts fluchte und schließlich eine Entscheidung traf. Es war ein später Donnerstagabend am Ende des Jahres, an dem Superbia Squalo zum ersten Mal seit einer langen, langen Zeit eine Entscheidung traf, die sein eigenes Leben betraf, und sich dabei von niemandem leiten ließ, nur von sich selbst. Mit einem scharfen, kurzen Geräusch fuhr die Klinge aus dem pechschwarzen Ärmel seiner Uniform. Squalo hob seine Arme, packte das dicke weiße Haar mit der rechten Hand und hielt einen Augenblick inne, als er das kalte Metall in seinem Nacken spürte. Das letzte, was ihm immer treu bleiben würde. Egal, wohin er ging, egal, was er tat – egal, wer um ihn herum starb. Wenigstens die Klinge würde immer da sein. Ein weiteres, leiseres Geräusch durchtrennte die Stille der Nacht. Nicht einmal Tiere waren zu hören und Squalo glaubte, dass seine Ohren bald schmerzen würden, würde er die Stille nicht vertreiben. »Addio«, sagte er deshalb. Auch seine Stimme war leise, heiser, aber es war schon einmal ein Anfang. Er verabschiedete sich. Nicht von Xanxus, nicht von der Varia – bei den Pappnasen würde er bleiben. Von ihnen musste er sich nicht verabschieden. Er verabschiedete sich von einem Superbia Squalo, den es nicht mehr gab. Er verabschiedete sich von dem Fluch, der irgendwann, vor langer Zeit, einmal ein Schwur gewesen war. Er verabschiedete sich von seinem alten Leben, damit er ein neues beginnen konnte. Ob das gut werden würde, wusste er noch nicht. Wahrscheinlich nicht – weil immer etwas fehlen würde. Aber damit würde er sich schon irgendwie abfinden können. Er war Superbia Squalo. Das hier war sein Leben. Und das hatte nun mal kein Happy End. Mit einem dumpfen Schlag kam das dicke Bündel weißer Haare auf der Friedhofserde, direkt vor dem neuesten Grabstein, auf. Der ewig Folgende blieb. Superbia Squalo ging. Und keiner der beiden wusste, ob das richtig war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)