James Norrington von Phantom (Ⅰ. Ankerlichtung) ================================================================================ Kapitel 26: I. Elizabeths Geheimnis ----------------------------------- Ich hätte dir verzeihen können. Du warst meine Freundin. Ich habe dich längst verstanden. Du warst einsam und du hattest Angst. Du wolltest niemanden mehr verlieren. Du wolltest geliebt werden. Ich hätte dir verzeihen können. Doch jemand anderes würde es nicht. „Es tut mir so Leid“, flüsterte Elizabeth erstickt, die Arme noch immer um den Sohn, den ihr niemand rauben sollte, im vollen Bewusstsein ihrer Schuld, aber nicht imstande, der Untat abzusagen. James saß auf dem Sofa, verspannt, mit gesenkten Lidern und aufeinandergepressten Lippen, unfähig, sich der Verführung durch diese attraktive Frau, die seine Mutter war, zu erwehren; unfähig, die Wirkung des reizvollen Leibes auf den seinen zu ignorieren. Ich wagte nicht zu fragen, wie lange das schon so ging, wusste aber auch nicht, was ich sonst hervorbringen sollte. Tatsache war, dass James es seit jeher geahnt hatte. Er hatte mich gefragt. Und jetzt erst wurde ich mir dem Ausmaß meiner Antwort im Vollen gewahr. „Du wirst es doch nicht Lawrence sagen?“, fragte sie mich, und in ihren Augen brodelte Todesangst. „Niemals!“, versprach ich sofort. Admiral Norrington würde James bestrafen wie Amyntor den Phoinix, und was er mit Elizabeth anstellen würde, darüber wollte ich gar nicht erst sinnieren. Dabei war er selbst nicht frei von der Schuld, welche zu diesem Sündenfall geführt hatte. „Wenn es doch nur möglich wäre…“, wisperte sie, drückte die Augen zu und entließ damit zwei Tränen, die rasch über ihre Wangen flohen. „Aber das ist es nicht“, wollte ich ihr klarmachen, wie sehr es auch mich schmerzte. „Und du weißt das. Lass deinen Sohn gehen, Elizabeth, und trauere nicht dem Mann, den du geheiratet hast, nach. Denke doch an James! Wenn du nun einen Schlussstrich setzt und bereit bist, es hiermit enden zu lassen, dann wird die Angelegenheit unter uns dreien bleiben und deinen Gatten niemals erreichen. Ich verspreche dir das. Elizabeth! Bitte!“ Meine Fäuste verkrampften sich, weil mir bewusst war, dass sie nicht schlichtweg aufhören könnte, James zu lieben über die Zuneigung, welche man seinem Sohn entgegenbrachte, hinaus. Stattdessen würde es ein langwieriger, von Rückschlägen geplagter Weg werden, aber ich wollte ihre Hand nehmen und ihn gemeinsam mit ihr gehen. „Trinken wir vom Wasser der Lethe! Noch ist es nicht zu spät! Wenn Lawrence hiervon erfährt, er wird…!“ „Es ist zu spät.“ Bei allen guten Geistern, da stand er! Lawrence Norrington! Oh Graus! Mir blieb das Herz stehen, ich wollte an die Decke springen oder in den Boden stürzen, provisorisch schoss ich an eine Wand und wünschte, mit ihr verschmelzen zu können. Elizabeth riss sich mit einem klagenden Schrei von James los, fiel zu Boden und stierte ihren Gemahl an wie die personifizierte Verkündung von Tod und Fegefeuer. Dem Leutnant half keine Selbstbeherrschung der Offizierswelt darüber hinweg, haltlos zittern zu müssen. „Ich ahnte es…“ Lord Norrington wirkte auf uns wie ein Vulkan. Der Anblick seiner kolossalen Gestalt in der Tür zerschmetterte jeden Gedanken der Flucht, während die von ihm ausgehende Hitze den Aufenthalt in seiner Nähe zur höllischen Qual machte. Mit leidvoller Spannung warteten wir auf die Sekunde, in welcher er über uns herfallen würde wie ein ausgehungertes Monster aus der Wildnis, uns zerfleischen und nichts mehr übrig lassen würde. „Elizabeth…“ Seine leeren, hellgrauen, fast weißen Iriden bewegten sich in die Richtung seiner Angebeteten. Man konnte deutlich das hässliche Geräusch ihrer sich aufeinanderschiebenden Zähne vernehmen. Der Lord trieb uns an den Rand des Wahnsinns, indem er uns der nicht einzuordnenden Gemächlichkeit seiner Aktionen aussetzte. Wir wünschten nur, es wäre endlich vorbei, egal wie. Und er wünschte sich vermutlich, in einem einzigen Bereich seines Lebens und Sterbens naiver gewesen zu sein. „Norrington!“ James schoss auf, das Gesicht feucht vor Angst, die Stimme befremdlich hoch und dünn. „Sir?!“ Mit linkischen Händen schloss er die Knöpfe der Weste, straffte den Rock, zog er das Jabot so eng, dass er sich selbst beinahe die Luft abschnürte, und rückte die Hose zurecht. Seine Augen waren fest geschlossen, und so konnte er nicht reagieren, ehe sein Vater ihn packte und aus dem Zimmer schleifte. Ich hörte, dass James wieder und wieder an ihm appellierte, dass er bat, losgelassen zu werden, dass er bereit war, alles zu tun, um es wieder gut zu machen. „Folge ihm“, schluchzte Elizabeth hinter mir. „Bitte, Abda. Folge ihm!“ Und auf Beinen, so matschig wie schottischer Haggis, hetzte ich ihnen nach. Ich widmete mich kaum noch meinen Gedanken oder Gefühlen. Womöglich hätten sie versucht, mich einmal davon abzuhalten, Beobachterin zu sein, vielleicht hätte meine Neugier einmal geschwiegen. Denn ich wollte plötzlich nicht mehr erfahren, wie es weiterging, was im Büro des Herzogs geschehen würde. Viel lieber wollte ich längst bei Benedict sein und genießen, was mir mein Alter noch zu genießen erlaubte, bevor ich mit einem Lächeln, der verblühten Blume zwischen meinen gefalteten Händen und der Erinnerung an James Lawrence Norrington in die Erde gesenkt werden würde. Stattdessen jedoch lugte ich abermals durch eine Tür, die zwar geschlossen, jedoch mit einem wenig sparsamen Schlüsselloch ausgestattet war, und wurde Zeuge, wie der Admiral den Jungen gegen den wuchtigen Arbeitstisch fallen ließ. James stand nicht auf. „Auf… auf ein Wort… Vater…“ Lord Norringtons Blick spießte ihn auf. „Jetzt beschwörst du meine Liebe als Vater? Jetzt? Du hattest offenbar kein Bedürfnis mehr dafür, mein Sohn zu sein, als du eben im Begriff warst, mein Weib und deine Mutter zu verführen! Hast du das schon verdrängt?! Hast du schon vergessen, was ich alles für dich getan und auf mich genommen habe?! Was ich durch dich verloren habe?! Das alles weißt du mir zu danken mit Blutschande und damit, meine Frau zu vögeln?! Nein, James, so nicht! Nicht mit mir! Nun wird mir klar, aus welchem Grund Elizabeth mich verachtet! Weshalb sie mich nicht einmal mehr mit ihrem Arsch ansieht! Stück für Stück hast du sie mir genommen! Aber ich lasse das nicht weiter zu. Du willst unabhängig sein, also werde ich dich nicht länger schonen! Du hast Lawrence Norrington herausgefordert, also wirst du es nun mit Lawrence Norrington zu tun kriegen!“ Er riss eine Steinschlosspistole aus dem Gürtel. „Wollen wir doch mal sehen, wie viel Mann du bist. Steig auf den Tisch, James!“ Der erblasste, worauf Lord Norrington mit einem abwertenden Grinsen reagierte. Er kannte ihn zu gut, kannte ihn in allen Details oder glaubte immerhin, es zu tun. In Spaziergeschwindigkeit stapfte er auf den Schrank zu, James überheblich den ungeschützten Rücken zuwendend, und langte nach einem Glas sowie einer Flasche schottischen Whiskys. Es war jener Moment, in dem ich feststellte, dass ich an meinem Platz außerhalb des Zimmers wie festgefroren war. „Steig. Auf. Den. Tisch, James.“ Der rührte sich noch immer nicht. Norringtons Haupt lehnte sich in den Nacken, als er sich den Scotch genehmigte. Anschließend drehte er sich herum und stopfte vor den Augen seines entsetzten Nachkommen Schusspflaster und Kugel mit dem Ladestock zwischen den hämisch verzogenen Lippen in den Pistolenlauf. „…Ich vergaß: Der Galan meiner Frau neigt bekanntlich zu einer gewissen Angst vor der Höhe. Sollte es ihn etwa überfordern, auf einen Tisch zu klettern, wo er doch offensichtlich keinerlei Schwierigkeit darin sieht, eine mehr als zweimal ältere Dame zu besteigen?“ James bebte, starrte in das schwarze Loch der Waffe und schien darauf zu hoffen, dass seine Mutter, Alexia und ich ins Zimmer gesprungen kamen und seine ganze Familie im lachenden Chor verlautete, dies alles sei nichts weiter als ein grausamer Scherz gewesen. „Norrington… Mach der Navy nicht so viel Schande… Widerspenstige Menschen bringen es in ihr nicht sehr weit, das habe ich dir schon immer gesagt. Widerspenstige Menschen haben im Allgemeinen auch keine besonders lange Lebenserwartung aufzuweisen. Du solltest immer im Kopf behalten, inwiefern du dein Offizierspatent deinem Vater und dein Leben einem Verbrecher zu verdanken hast.“ Voll innerer Schmerzen presste der Leutnant die Augen zusammen in Gedenken an die ihn so entehrende Errettung vor zwölf Jahren. „Und dann sieh dich selbst an“, fuhr des Admirals raues Timbre fort. „Was ist dein eigener Verdienst? Kannst du dein Verhalten rechtfertigen im Verhältnis zu deinen dich auszeichnenden Taten? Auf einem Schiff, Norrington, existiert kein Unterschied zwischen Adel und Pöbel. Wenn du glaubst, du als Lieutenant oder Bennett als Captain würdet dort herrschen wie der Kaiser in China, dann sei hiermit eines Besseren belehrt, ehe ich erfahren muss, dass mein Sohn durch eine meuternde Crew ermordet, durchgefickt und wie eine Wildgans ausgenommen wurde.“ James wandte das Haupt ab. „Jeder Offizier der Navy hat sich in einem gewissen Grad unterzuordnen. Matrosen können so unberechenbar sein wie das Meer selbst. Nur Respekt vermag sie zu führen! Echter Respekt, den man nicht durch Geld und Glanz erreicht, sondern durch einen eisernen Willen, stahlharte Disziplin sowie der genauen Kenntnis, dass ein Soldat Seiner Majestät niemals sich selbst dient!“ Der Boden erzitterte unter dem Aufstampfen des schwarzen Stiefels. Ein Minutenteil verstrich, bevor der Lord seinen Atem wieder gedrosselt hatte und zum Weitersprechen bereit war: „Also… Sei ein braver Junge und steige auf den Tisch, wie es dir dein Vater und Admiral befiehlt, Norrington. …Norrington. James!“ Nun gehorchte er. Die ganze Situation nach wie vor nicht wahrhaben wollend, zog er sich an dem Pult bis auf die Beine hoch, schlurfte mit gebeugtem Rücken um es herum, stieg unter der eiskalten Aufsicht des Vaters und dessen Pistole auf den Stuhl und von dort auf die breite Platte, welche von solcher Sauberkeit war, dass sich seine Umrisse, der helle Ton seines Rockes darin spiegelten. Seine Haut entbehrte jeder Farbe, war grau geworden, als er dort kniete und sich ausmalte, wie es wäre, irgendwo anders zu sein, irgendwo, nur nicht hier. „Aufstehen, Lieutenant.“ Auf Beinen, schwach wie zwei trockene Äste, mühte er sich, dem Befehl Folge zu leisten. Ich konnte spüren, wie sehr ihn die für andere Menschen bedeutungslose Größe des Tisches mit der seiner eigenen Statur völlig überforderte, wie ihm schwarz vor den Augen wurde, wie extrem er sich vor dem Fall fürchtete. Dass seine Höhenphobie solcherlei horrendes Ausmaß angenommen hatte, war mir nicht bekannt gewesen. Verkrampft stand er dort oben, die kleinen Pupillen in Richtung der mit wertvollen Ringen und alten Narben versehenen Hand Norringtons verbohrt und am Ende seiner Kräfte. „Sieh einer an“, sagte der unter ihm und doch stets über ihm Stehende mit wissenschaftlichem Interesse. „Schon sind die Rollen wieder richtig verteilt. Der Sohn und Lieutenant verschwendet keinen Gedanken mehr an die Rebellion gegen den Vater und Admiral. Er bereut, es jemals in Erwägung gezogen zu haben. Die ursprüngliche Besetzung ist wieder hergestellt. Der Admiral befiehlt, der Lieutenant folgt. Er erinnert sich, dass blinder Gehorsam allein ihn eines Tages über den alten Herrn erheben wird, derweil aufrührerisches Getue nichts weiter als nutzlose Verschwendung seiner Kraft ist. Er erkennt seinen Meister und ist bereit, sich seiner zu unterstellen, um selbst davon zu profitieren. Die Zeit ist noch nicht gekommen, in der er sein Schweigen brechen sollte. Es ist nicht klug, schon jetzt zu sprechen. Den Mund zu öffnen bedeutet, einem anderen die Möglichkeit zu geben, dir den Lauf einer Pistole in den Rachen zu schieben und…“ Er trat ganz nahe an den Tisch heran, zog mit dem Daumen den Pistolenhahn zurück und hob die Waffe, dass sie fast James’ Kinn berührte, der die Augen zukniff. Ich konnte nicht glauben, dass er wirklich schießen würde… Doch was überzeugte mich davon noch? Lawrence Norrington war zweifellos gestört, wenn er seinen eigenen Sohn dessen großer Angst aussetzte, wenn er daherredete, als würde er die Panik und das zerfressende Schuldbewusstsein nicht riechen können, während sie mich um den Verstand zu bringen drohten, wenn er seinem eigenen Sohn eine geladene Waffe an den Kopf hielt, um… „…abzudrücken…“ Er schoss. Ich schrie. Oh nein. Das darf doch nicht…! Mehr dachte ich nicht. Gleichzeitig donnerte ein Blitz gewalttätig durch meinen Köper, wirbelte meine Eingeweide herum und hinterließ ein Gefühl totaler Leere. James. James… Tot. Die Dauer des Registrierens zog sich hin, aber gleich würde ich meine Pein herausbrüllen, mich fallen lassen, weinen und schreien und wissen, dass der Tod nichts war, das man rückgängig machen oder korrigieren konnte, und trotzdem würde ich seinen Namen kreischen und "Nein!" und "Das darf doch nicht…!" und wieder, wieder, wieder seinen Namen und lange Vokale und all meine Trauer, Wut, meinen Hass, Schmerz, mein Nichtwahrhabenwollen, mein Wissen, dass es so geschehen war, herausschreien, aus mir quetschen und pressen wie eine Fehlgeburt. Ich hämmerte meinen Kopf gegen die Tür, weil mir auf den Schlag alles egal wurde, rappelte an der Klinke und erkannte, dass sie abgeschlossen war. Ich wollte rennen, irgendwohin, einfach nur rennen und niemals wieder stehen bleiben müssen, oder auf der Stelle sterben. Ein dicker Teppich aus Pech ergoss sich über mir und ließ mich noch japsen. Ich rüttelte an der verfluchten Klinke, weniger um sie zu öffnen denn um mich abzureagieren, schleuderte meinen Kopf hin und her, schluchzte; ich fiel schwer auf die Knie und gestand mir schließlich meine Machtlosigkeit ein. Wer – verdammt noch einmal, zum Teufel! – hat sich dieses Ende ausgedacht?! Man nimmt vielleicht an, in solchen Situationen, und wenn man wirklich liebt, könne man einfach den Helden heraushängen lassen. Dazwischengehen. Eingreifen. Retten, was einem alles bedeutet. Ich konnte es nicht. Ja. Vielleicht bin ich zu schwach. Ich bin schließlich eine dicke, schwarze Sklavin, ich kann mich herausreden. Und trotzdem bin ich nicht von meiner Anschauung abzubringen, dass es nur wenige Menschen gibt, die – gerade dann, wenn sie den Lebensgefährdeten lieben – wirklich in der Lage sind, etwas zu tun. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ausgelaugt wartete ich auf meinen Zusammenbruch, meinen Wein- und Schreikampf. Das mag anmaßend klingen, aber in der Tat hatte ich nichts Besseres zu tun. Was denn auch? Lawrence hassen? Ging nicht. Meine intensive Ermattung hatte Trauer wie Hass schon überschwemmt. Ich hielt mich daran fest, dass ein Zusammenbruch mir helfen würde, wenngleich selbst ich mir nicht im Klaren darüber war, wie er mir helfen sollte. Lawrence Norrington hatte unseren Sohn erschossen und nichts und niemand würde ihn wieder lebendig machen. Ausgelaugt erwartete ich meinen Zusammenbruch, meinen Wein- und Schreikampf… aber er kam nicht. Konnte es damit zu tun haben, dass mir der Gedanke des finalen Abschieds von James Norrington seit Tagen nicht mehr neu war? Doch hegte ich nicht dennoch fürderhin die tief vergrabene Hoffnung, James irgendwann einmal wiederzusehen, weil die Welt niemals groß genug sein würde, um den Faden meiner Liebe und Treue zu ihm zu zerreißen, wie sehr er sich auch um sie würde spannen müssen? Was sollte ich eigentlich Elizabeth erzählen? Kam die junge Mary ohne mich zurecht? Mich ereilte das Bedürfnis, untertänigst in das blutige Zimmer zu marschieren und dem Lord zwischen James’ Überresten irgendeine sehr banale Frage zu stellen. …Machte mich das kaltherzig? Warum ertrank ich nicht in meinen Tränen und erstickte vor Schluchzern? Warum lächelte ich? James, tot? Ich grinste. Siebzehn Jahre, umsonst? Ich wollte tanzen. Tanzen vor Wut. Lachen vor Wut. Nicht, um etwas zu überspielen. Weinen, Schreien? Nein, ich lache lieber und tanze. Womöglich, weil ich so mehr machen konnte. Dinge kaputt, zum Beispiel, denn wenn ich alte, fette Frau tanze, dann wie der Elefant im Porzellanladen. Elizabeth, was soll ich Elizabeth erzählen? Soll ich ihr erzählen von dem Aroma des Whiskys, von dem Bild der Angst, von dem bitteren Geschmack, dem Gefühl des Holzes unter meinen Fingernägeln, dem Lärm des Schusses…? Und dann wusste ich, dass ich nicht über James’ Tod lachte und tanzte, sondern ich belachte und betanzte wie die seltsamen Gestalten in meinem Traum das Überleben. Ich nahm mir das Recht heraus, seinen Tod mit meinem Unglauben zu konfrontieren. Zur Hölle mit dem Wahrhaben, der Akzeptanz, dem schweigenden Hinnehmen! Zerfleischt durch die seelische Folter der letzten fünf Sekunden feuerte ich meinen Kopf gegen die Türklinke und stierte durch das Schlüsselloch, um das Leben süffisant herauszufordern. Mir genügte es nicht zu wissen, dass der Schuss ganz bestimmt ausgelöst worden war und der Lauf in dem Moment zielsicher auf das Kinn meines Jungen gerichtet. Ich verlangte Beweise für seinen Tod; Beweise, welche mir zu liefern die Realität außerstande war. Denn da war Norrington, den Finger noch auf dem betätigten Abzug, in selber Haltung wie da er geschossen hatte, und James – James, dem Himmel sei Dank! – steif stehend auf der Tischplatte. Da war ein Klick gewesen, und die Zeit war wie angehalten. Kein Rauch. Kein Knall. Keine Explosion. Kein Schuss. Nur ein Klick. Das Gewicht des Teppichs aus Pech rutschte von mir ab und klatschte zu Boden. Einen Lidschlag lang glaubte ich, abzuheben, während das Herz in meiner Brust wild und schmerzhaft hin- und hersprang. Die Tränen, welche ich schließlich doch verloren hatte, verdampften auf meinem erhitzten Kinn. Meine Augen klebten am Schlüsselloch. „…und dir das Hirn zu perforieren“, vollendete der Lord seinen Satz, als wäre das alles ganz alltäglich für ihn. „Aber sein Schießpulver wird nicht nass sein. Verstanden? Solange dir also ein Tisch noch Angst bereitet, Norrington, und die Erinnerung an einen Piraten, der dich aus dem Wasser rettete – Gott verfluche ihn – dich und deine Entscheidungen beherrscht, hältst du besser daran zu schweigen.“ Er steckte die Waffe fort, ließ seinen Sohn in die Knie gehen und hob ihn mit nur dem einen Arm hinunter. James klammerte sich in die glänzenden Epauletten an seinen Schultern. Er konnte nicht mehr stehen, sank auf den Boden und war vollkommen neben sich. Ich notierte gar nicht, dass Lawrence Norrington auf die Tür und damit direkt auf mich zuschritt. Erst, als es bereits zu spät war, fuhr endlich wieder Bewegung in mich. Der Lord hatte bereits die Klinke umfasst. „Vater!“ Er streifte von ihr ab und drehte sich herum. „Was willst du noch, Norrington?“ Seine Stimme aus dieser Nähe war angsteinflößend wie eine Erderschütterung. „Mutter und ich haben Euch etwas zu sagen...“ „Deine Mutter? Ich lache!“ Er tat nichts dergleichen. „Habt ihr euch während des Küssens darüber ausgetauscht?“ „Ihr habt Euch dies selbst zuzuschreiben!“ James’ Hand schmetterte geballt auf die Tischplatte. „Auf Eurer ewig währenden Jagd nach Vergötterung und der Möglichkeit zur Erniedrigung anderer habt Ihr vergessen, dass irgendwo auf einem von der Zivilisation abgegrenzten Landgut eine Familie auf Euch gewartet hat! Doch Ihr habt sie niemals mit der Hingabe bedacht, die ihr zustand! Wir haben geschwiegen, Admiral, wir akzeptierten zu schweigen und erfreuten uns an den knapp bemessenen Stunden, welche Ihr uns gönntet, wo wir doch weitaus mehr hätten verlangen dürfen! Ihr mögt wissen, wie viele Schiffe die Royal Navy befehligt, wie viele davon allein unter Eurem Kommando stehen, wie jeder einzelne Eurer Offiziere mit Vornamen heißt und wen davon Ihr demnächst über Bord gehen lasst, Sir, aber wie stark Eure Frau unter Eurer Abwesenheit und Abweisung gelitten hat, dass Eure Tochter Euch für einen Onkel hält, der in der Neuen Welt wohnt, und Euer Sohn – gestattet bitte! – nicht bereit ist und es niemals sein wird, für Euch den idealisierten Ersatz Eures Erstgeborenen oder Eurerselbst zu geben, das wusstet Ihr nicht! Ihr behauptet, Eure Feinde mit Respekt zu behandeln, Sir! Entbindet Euch dieses vortreffliche Verhalten etwa von der Selbstverständlichkeit, Eure Familie zu respektieren?! Ihr fordert und fordert – nicht wie ein Admiral von einem Lieutenant, sondern wie ein Puppenspieler von seinen Marionetten! Ihr macht uns verantwortlich für das, was Euch stört, doch wenn Ihr einmal nur Euren Blick senken würdet, Sir, wenn Ihr einmal nicht nach vorne schaut, Sir, sondern an Euch selbst hinab, dann würdet Ihr erkennen, dann müsstet Ihr Euch eingestehen, dass Ihr selbst der Grund seid, weshalb sich Frau und Kinder von Euch abwenden, weshalb sie Euch verachten, weshalb wir Euch hassen! Ihr habt Euch zu einem psychischen Invaliden machen lassen und lasst Eure Geisteskrankheit nun an den Menschen aus, denen Ihr unersetzbar ward, denen Ihr all die Jahre gefehlt habt, die Euch einst geliebt haben! Und deshalb – mit Verlaub! – seid Ihr selbst an allem schuld, Sir, Ihr selbst, Ihr selbst, Ihr selbst!“ Ich bedauerte, dass der Lord mit dem Rücken zu mir stand und ich in diesem Augenblick nicht in sein Antlitz sehen konnte. „Schwachsinn“, urteilte er schließlich. „Der Tag war wohl eindeutig zu viel für dich, Norrington. Lege dich hin und schlafe, damit du wieder zur Vernunft gelangst. Ich werde deiner Amme sagen, dass du keinen Tropfen Alkohol mehr bekommst, bis du zu deiner Reise aufbrichst und in den guten Händen von Captain Bennett bist. Das Zeug bekommt dir nicht.“ „Zu Befehl, Sir“, grollte James; der Wein hatte seinen Zorn bis hinauf in seine Augen gedrängt. „Inzwischen brauchen wir Euch nicht mehr. Wir haben uns der Präsenz eines Vaters und Gatten entwöhnt. Ja, Sir. Für uns seid Ihr bereits gestorben. Nur eines haben wir zwei nunmehr gemeinsam: Was immer ich auch tue, geschieht aus meinem eigenen Willen heraus. Nicht, weil mich irgendjemand oder irgendetwas dazu bestimmt oder gezwungen hat. Sondern weil ich es so will…“ Er war so leise geworden, dass Admiral Lawrence Norrington ihn nicht mehr verstand. Es war das Letzte, was er zu seinem Vater sprach. Denn von nun an ging er seinen eigenen Weg. F i n . Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)