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Der letzte erste Donnerstag

von

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Donnerstag, 5. Oktober 2111

Heute war der letzte erste Donnerstag im Monat. Ich dachte, es würde wie immer, als ich die Einladung vor meiner Zimmertür fand. Abendessen mit Damien und Hochwürden Michelangelo. Die Auszeichnung, von der ich nie verstand, wieso ausgerechnet ich sie verdient haben sollte.

Aber heute war alles anders. Ab heute wird sich alles ändern. Ab heute werde ich mich ändern. Keine peinlichen Auftritte mehr. Wie oft habe ich diesen Vorsatz schon gefasst? Aber diesmal ist es definitiv und diesmal schreibe ich Tagebuch um meine Fortschritte festzuhalten. Positiv denken!
 

Beginnen werde ich mit heute Abend. Der erste Donnerstag im Oktober. Wie jeden ersten Donnerstag im Monat also die Einladung. Es ist zur Gewohnheit geworden. War.

Die anderen beneideten mich, verständlicherweise, und sie fanden immer wieder Wege, mir das zu zeigen. Und ich nahm es hin. Schliesslich verstand ich selbst nicht, wie ich mit meinen Noten die Einladung verdiente. Mit meinen nicht vorhandenen Fortschritten, was meine Psi-Kräfte betrifft, hatte es erst recht nichts zu tun. Es sollte eine Belohnung für die besten sein, in meinem Fall war es ein Trostpreis. Und ich redete mir ein, die kleinen Bosheiten seinen die Strafe für mein Glück. Oder die Kompensation. Nicht dass, das die Situation erträglicher gemacht hätte. Aber es half mir, sie nicht persönlich zu nehmen.

Wird es aufhören? Wahrscheinlich schon. Es wird ihnen langweilig werden, wenn sie keinen Grund mehr haben, mich zu beachten. Das ist die positive Nachricht für heute.
 

Ich ging also wie immer zu Hochwürden Michelangelos Räumen. Und wie immer öffnete mir sein persönlicher Assistent und Butler. Damien war schon da, wartete auf dem Kanapee. Und wie immer trug er seine Paradeuniform, die seit kurzem mit dem Stern der operierenden Magier gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zu mir, ist seine Anwesenheit verdient. Er schloss als Jahrgangsbester ab und hat schon einige erfolgreiche Einsätze geleistet. Er ist ein Genie und dazu noch gutaussehend und nett, auch wenn er sich letzteres kaum anmerken lässt.

Ich setzte mich nach einem schüchternen Gruss auf einen der Stühle und wartete. Bis dahin war alles wie gewohnt. Hochwürden Michelangelo öffnete die Tür und bat uns herein. Drückte erst Damien zur Begrüssung die Hand. Dann mir. Aber da war nicht nur Hand, da war ein Stück Papier. Vor Überraschung vergass ich zu sprechen. Dafür begrüsste mich Hochwürden um so lauter und liess dann meine Hand los. Das Papier segelte los, ich griff danach und bekam es gerade noch zu fassen.

Ich machte den Mund auf um mich zu entschuldigen, sah aber gerade noch rechtzeitig, wie Hochwürden Michelangelo den Finger an die Lippen hielt. Also schwieg ich und folgte ich seiner Geste, setzte mich an den Tisch.

Ich legte mit die Serviette auf den Schoss und nutzte die Gelegenheit, um den Zettel aufzufalten und zu lesen: Für Extremfälle: NF 07 375.5

Fragend sah ich auf. Das war eindeutig eine Buchsignatur aus der Bibliothek. Die Heimlichtuerei musste einen Grund haben. Hochwürden Michelangelo und Damien liessen sich nichts anmerken und ich beschloss, so zu tun, als wäre es wie immer. Damien begann über den Dauerregen der letzten Tage zu sprechen und ich schloss mich erleichtert dem harmlosen Thema an.

Die Vorspeise wurde serviert. Olivenparfait und Brusquette. Hochwürden Michelangelo begann erst zu sprechen als wir wider alleine waren: „Das wird der letzte gemeinsame Donnerstag.“

Der letzte gemeinsame Donnerstag? Das hiess wohl, in Zukunft ohne mich. Ich stellte mich auf eine Enttäuschung ein.

„Alles was ich jetzt sage, muss unter uns bleiben“, fuhr Hochwürden fort. Das klang ernst.

„Ich werde zurücktreten. Morgen werde ich es bekannt geben. Ich hatte eine Vision, von meinem Tod. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.“

Ich vergass zu kauen, starrte ihn an. Damien reagierte schneller.

„Gibt es keine Möglichkeit, das zu verhindern? Und wieso treten sie davor zurück?“

„Ich wünschte, meine Visionen wären ungenau oder unsicher. Leider zeigen meine Erfahrungen das Gegenteil. Ich will mich auch nicht beklagen, ich hatte ein langes erfülltes Leben. 123 Jahre, immerhin.“ Der heitere Tonfall klang nicht ganz echt.

„Sie sind schon so alt? Das sieht man ihnen nicht an“, platzte ich heraus. Ich dachte immer er wäre um die achtzig.

„Ja, das bin ich. Und es gibt Menschen, die wissen das sehr genau“, antwortete er vieldeutig. „Sie würden viel dafür geben, zu wissen, wie ich so alt wurde. Aber ich werde dieses kleine Geheimnis mit ins Grab nehmen.“ Er sah selbstzufrieden aus. Natürlich war ich neugierig, wagte mich aber nicht nachzufragen. Anders Damien.

„Sie können es nicht mal uns verraten?“ Fragte er und für einmal war sein Interesse nicht reine Höflichkeit.

„Das wäre dumm von mir. Wenn sie in meinem Büro nichts finden, werden sie bei euch weiter suchen. Und dann seid ihr in Bedrängnis.“

„Das heisst, es gibt etwas zu wissen? Was ist es? Magie? Ich werde nichts weiter sagen, das schwöre ich ihnen“, liess Damien nicht locker.

„Da gibt es nicht viel zu wissen“, antwortete Hochwürden Michelangelo mit einem spöttischem Lächeln, das zweifellos Damiens Eifer galt. „Es gab einmal ein Nekromantikum. Aber es ist verschwunden und damit auch die Zauber.“

Ich umklammerte den Zettel in meiner Hand, fragte mich, ob er etwas damit zu habe.

„Mit ziemlicher Sicherheit wurde es zerstört“, fuhr Hochwürden Michelangelo fort. „Damals, bei dem Unfall, der eure Kameraden das Leben gekostet hat.“

Für einen Moment ist es still. Ich erinnere mich noch genau, obwohl ich damals erst vier Jahre alt war. Es war das einzige mal, dass sich meine Fähigkeiten zeigten. Die grosse Explosion, Dmien und ich rannten um Hilfe zu holen. Aber nicht schnell genug, die Betontrümmer kamen auf uns zugerast und ehe ich es verstand blieben sie in der Luft stehen. Ich hatte irgendwie einen Schutzschild erstellt. Das sagten jedenfalls die Soldaten, die uns später bargen. Die anderen Kinder der Übungsgruppe waren weniger glücklich.

„Wusstet ihr, dass Aquila damals den Befehl erteilte? Ich war unterwegs und übergab ihm für die Zeit das Kommando. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so enden würde“, unterbrach Hochwürden Michelangelo in besorgtem Ton die Stille.

Und wieder war es Damien, der schneller Verstand was Hochwürden zu sagen versuchte. „Die Dämonin, die sie Damals gejagt haben, trug es bei sich?“

„Soweit ich weiss, hatte sie es gestohlen. Die Chance, dass sie es bei sich hatte als sie starb ist gross.“

Wieder Stille. Ich hatte die Dämonin gesehen. Sie war verletzt und wir hielten sie für einen Mensch. Der Gruppenführer beschloss sie zu verarzten. Nur Damien musste etwas geahnt haben, denn er weigerte sich und bestand darauf, einen Ausbildner zu holen. Ich begleitete ihn.

Ich rief mir das Bild der Dämonin ins Gedächtnis. Es war da, ziemlich deutlich aber an ein Buch konnte ich mich nicht erinnern. Ich warf Damien einen Blick zu, auch er wirkte nachdenklich, ob ihm das selbe durch den Kopf ging?

„Ja, da war ein Buch, ich erinnere mich wage. Sie hielt es gegen ihre Wunden gepresst.“ Sagte er schliesslich. Und er mochte recht haben, ich war erst vier, er immerhin acht Jahre alt.

Der Butler räumte die leeren Teller ab und den brachte Hauptgang. „Guten Appetit“, wünschte er bevor er den Raum verliess.
 

„Aquila ist ein Kandidat für den Generalsposten, wenn sie zurücktreten, nicht wahr?“ Nahm Damien den Faden wieder auf.

Hochwürden Michelangelo nickte. „Er hat den Posten so gut wie sicher. Um das zu verhindern müsste schon der Papst intervenieren.“

„Welchen Grund hätte der Papst, um zu intervenieren?“ Fragte Damien diplomatisch.

„Nun, keinen, Aquila ist linientreu und konsequent. Unser Auftrag ist es, Dämonen zu jagen und zu vernichten. Und er tut dies mit Leidenschaft.“

„Das stimmt“, fügt Damien hinzu, „ich habe von seinen Aktionen gehört. Er lässt sich von nichts aufhalten.“

„Ich würde sagen er geht über Leichen, keiner verzeichnet so viele Verluste wie er“, ergänzte ich wesentlich direkter. Wieso das offensichtliche in schöne Worte hüllen, dachte ich. „Sie müssen das verhindern Hochwürden Michelangelo, Aquila ist ein Fanatiker, er wird einen Krieg anzetteln.“

Hochwürden zog nur tadelnd eine Augenbraue hoch: „Maria, was berechtigt dich, solche Anschuldigungen auszusprechen? Ist es nicht eher so, dass man mir vorwirft, zu milde zu sein? Wie könnte ich da Einwand gegen einen durchsetzungsfähigen Nachfolger wie Aquila erheben?“

Ich war wütend, bin es immer noch. Aber Hochwürden hatte klar gemacht, dass die Diskussion beendet war. Das war seltsam, bisher hatte er noch nie ein solches Gespräch gescheut. Im Gegenteil, Hochwürden erläuterte und diskutierte mit uns oft die Politik die er als General des Michaelsordens vertrat, soweit er uns einweihen konnte. Er erklärte uns den Unterschied zwischen dem Ideal, das uns gepredigt wurde und dem heiklen Gleichgewicht in der Realität. Liess uns Situationen einschätzen und Lösungen vorschlagen. Und er unterhielt uns immer wieder mit kleinen harmlosen Anekdoten aus dem Verhandlungsalltag.

Aquilas Name war nie direkt gefallen, dafür die Missbilligung seiner provokativen Taktik. Und jetzt, wo ich diese Meinung direkt vertrat, wurde ich getadelt. Ich warf Damien einen hilfesuchenden Blick zu. Er lächelte nur und deutete mir an, still zu sein.

Er war auf meiner Seite. Das machte mich glücklich und ich merkte, dass ich rot wurde. Ich beugte mich schnell über meinen Teller und gab mich beschäftigt.

Und dann wurde mir die Situation bewusst. Sie belauschten uns. Der Zettel, Hochwürden Michelangelos vorsichtige Worte, alles gab ein vollständiges Bild. Der Raum war eigentlich magisch gegen jede Spionage geschützt, aber sie mussten ein Schlupfloch gefunden haben. Ich hätte mich ohrfeigen können. Das war absolut peinlich. Und angenommen, Aquila gehörte zu den Lauschern, dann hatte ich mir gerade das Leben eben noch schwerer gemacht, als es ohnehin schon war.

Vom Rest des Essens bekam ich nicht mehr viel mit. Ich vermied jeden Blickkontakt und war froh, als es endlich zu ende war.
 

Dem Abschied konnte ich doch nicht entgehen. Es würde das letzte mal sein, dass ich Hochwürden Michelangelo die Hand reichte. Er wird in wenigen Tagen sterben, rief ich mir in Erinnerung.

Ich wich seinem Blick also nicht aus, als er mir die Hand drückte. Mein Gesicht fühlte sich heiss an, bestimmt war ich knallrot. Nur zu gern hätte ich mich für meine Unaufmerksamkeit und die resultierenden Fehler entschuldigt. Aber dann hätte ich alles verraten.

Hochwürden michelangelo schien es mir nicht übel zu nehmen. Er sah mich ruhig an und hielt meine Hand länger als sonst. Er hatte Tränen in den Augen und ich merkte dass auch ich kurz davor war, zu weinen. Nicht unbedingt wegen ihm. Nicht nur wegen ihm.

„Leb wohl, und verliere nie den Mut“, sagte er bevor er meine Hand losliess.

Ich brachte nur ein gestammeltes Danke hervor. Was wünscht man einem Todgeweihten?

Ich beeilte mich, meinen Mantel anzuziehen, beeilte mich aus dem Vorzimmer zu kommen. Damien hinterher. Ich drehte mich nicht um, als sich hinter mir die Tür schloss. Wischte mir hastig eine Träne weg, weinen konnte ich, wenn ich alleine war.

„Das war also der letzte gemeinsame Donnerstag“ sagte Damien, der vor mir ging, leise ohne sich umzuwenden. „Schade.“
 

Am liebsten würde ich die Zeit nochmal zurück drehen, diesmal alles richtig machen. Aber es ist zu spät. Alles was ich versuchen kann ist in Zukunft Fehler wie heute zu vermeiden.

Freitag 6.Oktober 2111

Viererzimmer sind ein Fluch. Deswegen floh ich in die Bibliothek. Hier bin ich allein, habe meine Ruhe. Bisher zog ich mich hierher zurück um zu lesen, jetzt um mein Tagebuch weiterzuführen. Obwohl der Text lokal auf meinem BiT (Bildschirmtelefon) gespeichert ist, das eigentlich Sicher sein sollte, habe ich Angst, dass ihn jemand lesen könnte. Gestern schrieb ich ohne mir Gedanken zu machen auf meinem Bett, im sonst dunklen Zimmer. Die anderen schliefen schon, oder kümmerten sich nicht um mich. Erst mitten in der Nacht wurde mir bewusst, wie unvorsichtig ich gewesen war. Wieder mal zu spät.

Immerhin habe ich Hochwürden Michelangelos Nachricht verbrannt, nachdem ich die Nummer auswendig gelernt habe.
 

Der Unterricht startete heute mit der Ankündigung, um vier Uhr gebe es eine Veranstaltung. Fräulein Bernasconi verriet nicht mehr, als dass es obligatorisch sei und Hochwürden Michelangelo persönlich sprechen würde. Sofort ging das Getuschel los, ich hielt mich still. Einmal die zu sein, die mehr wusste, war ein gutes Gefühl.

Aber je aufgeregter die Klasse wurde, desto mehr verstärkte sich das flaue Gefühl in meinem Magen. Ich konnte nicht genau sagen, was es verursachte. Angst? Unsicherheit? Nervosität? Wahrscheinlich von allem etwas. Dabei gab es nüchtern gesehen nichts, was mich hätte beunruhigen sollen. Oder?

In der Französischstunde von drei bis vier Uhr hörte ich kaum zu. Nicht, das ich sonst viel verstanden hätte, aber heute drehten sich meine Gedanken nur um Hochwürden Michelangelo und die kommenden Ereignisse. Erst als die Klasse aufstand merkte ich, dass der Unterricht früher beendet worden war und folgte den anderen aus dem Zimmer. Ich hatte es nicht eilig in die Aula zu kommen.
 

Alle waren da, Schüler, Soldaten (Anwärter und Diensthabende) Lehrer und all die anderen, die im Michaelsorden arbeiten. Ich erkannte eine der Putzfrauen und die Aushilfe der Cafeteria. Damien stand im Eingangsbereich neben seiner Freundin. Er sah mich nicht und ich sprach ihn nicht an. Steuerte stattdessen auf die vorderste Reihe, der für Schüler reservierten, Sitze zu. Nicht nur, weil da noch am meisten Platz war, sondern auch, weil das vielleicht die letzte Möglichkeit war, Hochwürden Michelangelo zu sehen.

Seit dreizehn Jahren, hatte ich mir ausgerechnet, ass ich einmal im Monat mit ihm zu Abend. Und auch wenn ich nicht behaupten kann, ihn gut zu kennen, war er doch zu einer der wenigen Bezugspersonen in meinem Leben geworden. Er und Damien, eine Art Ersatzfamilie für ein Waisenkind wie mich. Vor allem weil ich nie wirklich Anschluss zu meinen Klassenkameraden gefunden habe. Bald würde nur noch Damien übrig sein. Und wahrscheinlich nicht mal er. Wieso sollte er sich noch mit mir abgeben.

Das Gemurmel verstummte mit dem schwächer werdenden Licht. Jemand verpasste mir eine Kopfnuss. Ich machte mir nicht die Mühe mich umzudrehen. Die Scheinwerfer gingen an und folgten Hochwürden Michelangelo über die Bühne zum Rednerpult. Gespannt folgte ich seinen Bewegungen. Dann blieb er stehen, sein weisser Mantel und seine weissen Haare leuchteten im hellen Scheinwerferlicht. Er schien ruhig, was er unmöglich sein konnte.

„Guten Abend. Danke dass sie alle gekommen sind“, begann er. „Ich habe sie eingeladen, weil ich etwas wichtiges mitteilen muss.“ Es folgte eine Pause, die Spannung im Publikum stieg.

„Ich blicke auf eine lange Karriere im Michaelsorden zurück. Ich gehörte schon dazu als er noch keinen Namen hatte.“ Entspannung, erst eine Einleitung, ich merkte wie sich die neben mir in die Sitze zurücksinken liessen. Ich blieb auf der Kante sitzen, in der Hoffnung, etwas Neues zu hören. Hochwürden Michelangelo ist nicht gerade der Nostalgiker, der dauernd von früher erzählt.

„Ich hatte das Glück, noch vom Gründer der vatikanischen Dämonenjäger zu lehren. Und ich hatte das Unglück, seinen Tod vorherzusehen. Meine Vision erwies sich als zutreffend. Das selbe bei seinem Nachfolger. Und jetzt bei mir.“ Spannung.

„Ich habe damals den Generalsposten übernommen“, fährt Hochwürden Michelangelo ungerührt fort. „Ich habe mein Bestes gegeben um meinen Vorgänger gerecht zu werden. Seit fast sechzig Jahren führe ich jetzt den Michaelsorden. Und es sollen nicht mehr werden.

Ich habe sie heute eingeladen, weil ich meinen eigenen Tod vorhersah. Mir bleiben noch etwa vierundzwanzig Stunden. Und deswegen trete ich hier und jetzt aus meinem Amt zurück. Ich danke ihnen allen herzlich für ihre Unterstützung. Es war eine schöne Zeit.“

Ich kämpfte mit den Tränen, es war mir peinlich in der Öffentlichkeit zu weinen. Ich schluckte einige male um meinen verkrampfenden Hals zu lockern. In der Aula herrschte Stille, dann vereinzeltes Klatschen. Ein paar weitere folgten. Durfte ich seinem angekündigten Tod applaudieren? Ich beschloss, dass mein Beifall seiner Rede, seinen Leistungen als General galten und stimmte ein.
 

Schliesslich verstummte der Applaus und Hochwürden Michelangelo setzte erneut zum reden an.

„Nun, da ich zurücktrete, braucht es jemanden, der meinen Platz einnimmt. Es freut mich ihnen General Hochwürden Aquila vorzustellen.“ Aquila trat vor, ebenfalls in Generalsuniform und in mir zog sich alles zusammen. Wieso ausgerechnet er?

Und wieso musste ihn ausgerechnet Hochwürden Michelangelo ernennen? Gestern Abend hatte er noch durchblicken lassen, dass er mit der Wahl seines Nachfolgers nicht glücklich war. Natürlich liess sich Hochwürden Michelangelo auf der Bühne nichts anmerken. Aber er muss sich schrecklich anfühlen, nicht mal Einfluss auf die Wahl seines Nachfolgers zu haben.

Dazu das triumphierende Grinsen von Aquila als er die Menge grüsste. Der tosende Applaus, an dem ich mich demonstrativ nicht beteiligte. Was konnte ich mehr tun als zusehen? Ich liess Aquilas Rede über mich ergehen, sein Lob für Hochwürden Michelangelo klang in meinen Ohren aufgesetzt. Aber selbst wenn es ehrlich gewesen wäre, hätte ich es nicht geglaubt.

Den einzigen Trumpf den ich gegen Aquila in der Hand hatte, war die Buchsignatur. Und als der Anlass endlich zu ende war, ging ich in die Bibliothek. Niemand beachtete mich. Aquila und seine Freunde waren bestimmt damit beschäftigt zu feiern. Der Zeitpunkt war also Ideal.
 

Die Bibliothek war leer wie immer. Die Bücher sind alle digitalisiert und auf jeden Computer im Orden abrufbar. Bis auf einige Ausnahmen, die als unwichtig angesehen wurden oder veraltet sind. Aber ich bin gern hier. Ich habe schon Stunden in der Bibliothek verbracht, einen Roman um den anderen verschlungen. Mit den Protagonisten Abenteuer erlebt, die ich nie erleben werde.

Aber heute war ich wegen einem bestimmten Buch da. Die Signatur deutete auf den Themenbereich Religion und Esoterik hin. Und Tatsächlich standen im Regal, in dem das Buch hätte stehen sollen, Magiebücher. Keine echten, sie waren für Laien, enthielten lächerliche Liebeszauber oder Anleitungen für Voodoopuppen. Keins davon war digitalisiert worden, sie dienten höchstens dazu, sich über die Unwissenden lustig zu machen. Hier würde keiner ein wichtiges Buch suchen, oder? Die Nummer war aber nicht da. Auch nicht in der hinteren Reihe, von der nur einige Millimeter der Buchrücken zu sehen waren. Also begann ich das ganze Regal durchzusehen, ohne Erfolg. Enttäuscht gab ich die Nummer ins Suchsystem des Computers ein, ohne Resultat.

Vielleicht hatte Hochwürden das Buch mit Magie getarnt. Das war die einzige Erklärung, die ich finden konnte. Ich war enttäuscht und wütend auf mich. Selbst jemand ohne Talent wie ich konnte Magie wirken, jedenfalls mit der richtigen Anleitung und viel Zeit. In der Grundstufe besucht ich wie alle anderen den Unterricht. Magie zu orten war eine der einfachsten Übungen, sogar ich hatte sie gemeistert. Aber Hochwürden Michelangelo wäre nicht so unvorsichtig, den Zauber so banal zu halten, dass selbst ich ihn entdecken konnte. Denn das hätte bedeutet, dass jemand wie Damien das Buch beim eintreten der Bibliothek bemerkt hätte, ohne überhaupt etwas zu suchen. Einfach weil da Magie war, wo keine hätte sein sollen.
 

Dann hörte ich Schritte und verzog mich leise zur nächsten Sitzgruppe, ein wahllos herausgezogenes Buch in der Hand. Ich schlug es auf, stellte mich lesend. Auch als ich merkte, dass die Schritte nicht mehr näher kamen, blieb ich sitzen. Ich musste nachdenken.

Für Extremfälle, stand auf dem Zettel. Nun, ein Extremfall war im Moment nicht, oder? An Hochwürden Michelangelos Tod liess sich nichts mehr ändern und auch nicht an der Wahl seines Nachfolgers. Das hoffe ich zumindest, sonst käme sein Hilferuf zu spät. Beziehungsweise hätte er die falsche Person gefragt.

Lieber glaubte ich an die erste Variante. Vielleicht sollte ich das Buch gar nicht finden. Nicht jetzt. Suchte ich eine Ausrede oder war es vernünftig? Auf jeden Fall half es mir, die Situation etwas gelassener zu betrachten.
 

Und hier bin ich, schreibe die Erlebnisse von heute auf und versuche zu verstehen, was mir Hochwürden Michelangelo mitteilen wollte. Was ist ein Extremfall? Wenn es um Leben und Tod geht? Wenn Aquila tatsächlich einen Krieg anzettelt? Und was soll ich in einem solchen Fall tun?

Vielleicht hat es mit Damien zu tun. Ich habe seine Reaktion auf das Buch gesehen. Wenn er sich für etwas interessiert, dann für Magie. Kann es sein, dass Hochwürden Michelangelo mir den Zettel nur gab, damit ich den Inhalt im Extremfall Damien mitteilen könnte? Das würde Sinn machen auch wenn ich dadurch bloss zur Botin würde. Aber zu was bin ich sonst schon zu gebrauchen.

Sinn machen würde es, weil Damien den Inhalt des Buches auch ohne zwingend Umstände anwenden würde. Und sei es auch nur, um sich zu Beweisen dass er dazu in der Lage ist. Ich sehe ihn vor mir, dabei einen Zombie zu erwecken, mit seinem herablassenden zufriedenen Gesichtsausdruck. Ich verscheuche das Bild, aber auch wenn ich es nicht gern zugebe, er würde es tun.
 

In der Bibliothek ist es wieder still. Ich werde noch einmal nachsehen, ob das Buch nicht doch da ist. Aber wenn nicht, werde ich mich damit abfinden, dass ich nichts weiter bin, als ein Kontrollmechanismus für Damien.

Und wenn ich ehrlich bin, erleichtert mich diese Theorie genauso wie sie mich enttäuscht. Schlussendlich bedeutet es, dass ich keine Verantwortung übernehmen muss. Und das ist mir eigentlich ganz Recht.

Sonntag, 8.Oktober 2111

Ich habe mir gerade den letzten Beitrag durchgelesen, hatte ich nicht vor, mich zu ändern?!!!
 

Aber wo soll ich beginnen, so einfach ist das gar nicht. Ein paar Pfunde weniger wären nicht schlecht. Aber ich mache hier schon gezwungenermassen Sport und das Essen ist auch gesund und ausgeglichen. Eine Diät ist schwierig, schliesslich koche ich nicht selbst. Das einzige was ich tun kann, ist auf die Desserts zu verzichten.

Mehr lernen, guter Vorsatz, aber bei den meisten Fächer habe ich zu viel Rückstand. Was ich auf die Prüfungen lerne, bleibt nie lange hängen. Und ausserdem interessiert mich der meiste Stoff nicht. Vielleicht sollte ich mich wenigstens mit den Fremdsprachen auseinander setzen, die haben einen praktischen Nutzen. Ich wünschte, ich hätte mehr Sprachtalent.

Und das mit der Telekinese, keine Ahnung wie ich das hinkriegen soll. Die Lehrer haben mich längst aufgegeben. Ich bin schon froh, wenn ich eine rollende Murmel stoppen kann. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.
 

Aber heute habe ich Pause, oder besser gesagt noch ein bisschen Aufschub. Heute war Hochwürden Michelangelos Beerdigung.

Sein Tod überraschte niemanden. Gestern um Fünf Uhr ging eine Nachricht an alle Ordensmitglieder, die seine Vorhersage bestätigte. Er sei einfach in seinem Bett eingeschlafen. Mit Ausnahme von ein paar hohen Offizieren und Geistlichen durfte niemand in sein Zimmer.

Die Situation war hatte etwas unwirkliches. „Er hatte also recht, auf die Stunde genau,“ dachte ich nur. Ich kann nicht behaupten ich wäre traurig gewesen. Ich habe nicht geweint. Bloss ein paar Minuten gewartet, bis ich mich wieder an meine Mathematik Hausaufgaben setzte. Ich hatte mir vorgenommen, mich zu ändern, also würde ich die Schule von jetzt an ernster nehmen. Trotzdem brauchte ich bestimmt doppelt so lange wie normal, um die Rechnungen zu lösen. Und heute stellte sich heraus, dass alles falsch war. Mit anderen Worten, ich war nicht bei der Sache.
 

Ich liess das Abendessen aus, nutzte die Zeit die ich allein im Zimmer hatte. Ich lag einfach auf dem Bett und tat nichts. Die Tränen kamen erst kurz bevor meine Zimmergenossinnen zurückkehrten. Und ich riss mich zusammen als die Tür sich öffnete.

Weil Hochwürden Michelangelo von der Explosion damals gesprochen hatte, suchte ich das alte Gruppenfoto wieder hervor. Das beschäftigte mich für die nächsten Minuten und gab mir die Möglichkeit, meine geröteten Augen zu verbergen. Ich wurde in den Tiefen meines Schrankes fündig. Inzwischen hatten die andern Mädchen sich auf einem der Betten versammelt um die neuste Folge von „Liebe wieder willen“ zu sehen. Ich wäre gern allein gewesen, aber auch die Bibliothek bot mit nicht genug Privatsphäre, also blieb ich im Zimmer.

Ich setzte mich in die hinterste Ecke des Bettes. Lehnte an die Wand, betrachtete das Foto und versuchte mir die Details wieder in Erinnerung zu rufen. Auf dem Bild sind wir zu sechst, ich weiss noch, dass der Junge der fotografierte ebenfalls zur Gruppe gehörte. Praktisches Training nannten sie das. Kinder aus der Vor- und Grundstufe wurden in Gruppen eingeteilt. Eines der älteren wurde zum Anführer gemacht und mit einer Aufgabe betraut. Das ist immer noch so, soweit ist das erinnern einfach.

Die Foto ist schwarz weiss, der Junge damals hatte nur eine alte analoge Kamera. Wie er dazu kam, die Bilder zu entwickeln ist mir ein Rätsel. Das machte die Abzüge besonders wertvoll. Ich versuchte mir die Namen in Erinnerung zu rufen. Da sind Damien und ich. Die blonde hiess Rahel, sie war etwas älter als ich und machte mir Eindruck. Ich weiss noch, dass sie laut und fröhlich war. Und sie war die erste, die die Dämonin verarzten wollte.

Damien war dagegen, vielleicht schon rein aus Prinzip. Er stritt sich oft mit dem Anführer. Er war schon damals überzeugt, der Beste zu sein.

Letzten Donnerstag hatte er das Buch erwähnt, sie habe es bei sich getragen. Ich versuchte es, konnte mich aber beim besten Willen nicht daran erinnern. Gestern nicht und auch heute nicht. Inzwischen glaube ich, Damien hat gelogen. Dem Lauscher zu verstehen gegeben, das Buch sei vernichtet. Ob nun wegen Hochwürden Michelangelo oder nur um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Ich verlor mich in Gedanken, und als ich mich endlich aufraffte die Italienischaufgaben zu machen war schon fast Nachtruhe. Ich wurde nicht fertig und es war mir egal.
 

Die Beerdigung fand heute Nachmittag statt. Während des Gottesdienstes konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie liefen einfach. Zum Glück beachtete mich niemand.

Ich hatte mir nie Gedanken gemacht, wie Hochwürden war, als er noch jung war. Für mich war er immer der alte General. Und obwohl er gern erzählte, sprach er kaum über seine Vergangenheit. Es ging eigentlich immer um aktuelle Themen. Hochwürden Conti , der die Trauerrede hielt, fasste Michelangelos Leben zusammen:

Er war mal nur ein katholischer Junge mit Albträumen, die sich später als richtig erwiesen. Er hatte vom Autounfall seiner Tante geträumt, der sich eine Woche später ereignete. Verwirrt und auch etwas ängstlich hatte er sich an einen Priester gewandt. Gebeichtet. Und dieser stellte den Kontakt zum Gründer des Michaelsorden her. Es war bestimmt hart für ihn, eine solche Gabe zu besitzen und kaum jemanden zu haben, der ihm glaubte. Lumiel, der damalige „General“ (den Orden gab es noch nicht) war einer der wenigen.

Hochwürden Michelangelo war dabei, als eine Gruppe aus dem Orden mit Hilfe einiger Aussenstehender das Siegel brach, dass die Magie auf der Erde einschränkte. Es ist schwer vorzustellen, wie die Welt davor aussah. Keine Engel oder Dämonen, kaum noch Gläubige. Mit der Rückkehr der Magie änderte sich das. Das Erscheinen des Erzengels Gabriel über dem Petersdom brachte die Menschen wieder auf den rechten Weg. Hochwürden Michelangelo war zu der Zeit schon in den höheren Rängen des Ordens, der kurz nach dem Siegelbruch offiziell gegründet wurde und in die Öffentlichkeit trat. Seine Visionen halfen ihm, im darauf losbrechenden Krieg zwischen Dämonen und Gläubigen. Und er verhandelte an vorderster Front einen Waffenstillstand aus. Zu viele Zivilisten waren Opfer des Krieges geworden, eine Tatsache, die Michelangelo antrieb. Hochwürden Conti beliess es bei einer Andeutung. Es ist kein Fakt, auf den der Orden stolz ist.

Hochwürden Michelangelo hatte sich seinen Weg hochgearbeitet. Er wurde zum General und nutzte seine Kontakte aus den Verhandlungen um das Gleichgewicht zu halten. Aus seinen Erzählungen weiss ich, dass er sich regelmässig mit Vampiren, geheimen Magierorden und auch konkurrierenden Jägergruppen traf. Diplomatische Notwendigkeiten, die er offiziell nie bekannt gab.

Zum Abschluss sprach sogar der Papst ein paar Worte. Ich verstand nichts, weil alles auf Lateinisch war. Aber ich war trotzdem ein bisschen stolz, einen Mann gekannt zu haben, dem sogar der Papst seinen letzten Segen gab.
 

Die Beisetzung fand im kleinen Rahmen statt, Schüler waren nicht zugelassen. Ich drückte mich also vor der Kapelle herum, beobachtete wer in richtung Grab ging. Überraschungen blieben aus, es handelte sich um die hochrangigen Geistlichen und Offiziere. Und ein paar wenige ältere Leute, die Hochwürden Michelangelo näher gekannt haben mussten. Vielleicht hatte ich auf etwas spektakuläres gehofft. Es blieb aus und ich ging langsam ins Wohnheim zurück.
 

Ich könnte mich jetzt den Hausaufgaben widmen. Oder auf den nächsten Test lernen, aber mir fehlt die Motivation. Stattdessen sitze ich in der Bibliothek, schreibe. Mit einem etwas schlechten Gewissen, schliesslich wollte ich doch mein Leben ändern. Ich könnte heute auf das Abendessen verzichten, das hilft beim abnehmen. Und ich habe sowieso keinen Hunger.
 

Fortsetzung: Damien war von mir unbemerkt in die Bibliothek gekommen.

„Dein Leben ändern, hmm?“ fragte er und ich zuckte erschrocken zusammen. Ich drehte mich um, da stand er lässig an ein Regal gelehnt und sah mich an.

„Hast du etwa gelesen, was ich geschrieben habe?“ Was wenn?

„Nicht direkt. Aber du weisst bestimmt, dass es da diesen kleinen Zauber gibt. Gedanken lesen. Ein kniffliger Spruch, aber funktioniert ganz gut. Besonders wenn du beim schreiben die Worte mitdenkst.“

„Du liest meine Gedanken!“ brachte ich nach der ersten Schrecksekunde heraus. Mein, Gott, wusste er dass ich ... nein nicht daran denken, dachte ich. Er grinste nur.

„Dass du in mich verknallt bist? Dazu muss man keine Gedanken lesen können, das ist auch so offensichtlich.“ Bestimmt wurde ich knallrot. Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Oder wäre davon gerannt, aber der einzige Fluchtweg führte an Damien vorbei.

„Dieser Zettel, den Hochwürden dir am Donnerstag gab...“ begann er. Und ich tappte mitten in die Falle. Dachte an die Nummer, die ich so oft gelesen hatte bis ich sicher war, dass ich sie Auswendig kannte.

Er lächelte bloss herablassend. „Mach dir keine Sorgen, das war bloss ein Ablenkungsmanöver. Solange du nicht mal merkst, wenn jemand in deinem Kopf ist, ist es zu gefährlich, dir eine wichtige Information anzuvertrauen. Wieso beginnst du nicht damit, dich gegen solche Angriffe zu schützen?“

Das klang einleuchtend. Aber ich wollte ihm nicht zustimmen. Ich wollte bloss, dass er ging, mich allein liess.

„Hier“, meinte er nur, und schickte mir eine Textdatei. Sie erschien blinkend auf meinem Bildschirm. „Persönliche Notizen und Übungsvorschläge. Du beeilst dich besser. Wäre ärgerlich wenn Aquila es so leicht hätte wie ich. Und wenn sich Michelangelo schon die Mühe gemacht hat, eine falsche Spur zu legen...“ Er beendete den Satz nicht, wandte sich zum gehen. Ich sah ihm nach, er drehte sich nicht um. Für Damien war die Sache erledigt.

Und ich brach zum zweiten mal in Tränen aus.

Montag 9. Oktober 2111

Die Übungen die Damien mir gegeben hat, sind nicht besonders schwer. Wenn ich in meinen erfolglosen Psi-Übungsstunden etwas gelernt habe, dann Konzentration und Visualisierung. Und im wesentlichen geht es darum, sich eine Barriere vorzustellen. Ich wählte ein grosses schweres Tor an das ich viele Ketten mit schweren Schlössern hängte.

Ich habe das Bild genau im Kopf, kann es in Sekundenbruchteilen erscheinen lassen. Die Frage ist, funktioniert es auch in der Praxis. Ich bräuchte jemanden, der mit mir übt. Aber ausser Damien weiss ich keinen. Und ich traue mich nicht, Damien zu bitten.
 

Der Morgen begann mir einer Rede des neuen Generals. Diesmal nur vor den Schülern. Aquila ist ein Showmensch, er genoss die Aufmerksamkeit. Mir bereitete sein selbstzufriedenes Grinsen eher Übelkeit. Auch wenn er es nicht direkt aussprach, machte er klar, dass er von jetzt an einen härteren Kurs fahren würde. Und damit sprach er indirekte Kritik an Hochwürden Michelangelo aus.

„Ich werde den Brauch, Bestleistungen mit einer Einladung zum Abendessen auszuzeichnen, beibehalten. Und wirklich nur Bestleistungen. Also strengt euch an.“ Ich hatte den Eindruck, dass sich bei dieser Ankündigung alle in meine Richtung umdrehten. Au jeden Fall mussten alle an mich denken. Als ob ich die Einladungen selbst ausgesprochen hätte.

Ich bin sowieso kein bisschen traurig, dass das jetzt vorbei ist. Einen Abend neben Aquila sitzen und sich sein selbstherrliches Geplauder anhören, dürfte eher eine Folter als eine Belohnung sein. Selbst wenn Damien dabei wäre.

„Aber es wird sich auch einiges ändern. Ich habe beschlossen, den Orden etwas zu öffnen. Die Leute sollen wissen, was wir leisten. Sie sollen wissen, dass wir sie beschützen, denn das tun wir.“ Kunstpause. Applaus.

„Nun ist es aus Sicherheitsgründen nicht möglich, dass Aussenstehende den Orden besuchen. Also werden wir zu ihnen gehen. Während der Adventszeit werdet ihr alle an Projekten in ganz Rom teilnehmen. Wie diese aussehen werden, bestimmen eure Klassenlehrer. Wichtig ist einzig und allein den Leuten zu zeigen, dass wir für sie da sind. Dass wir sie beschützen.“ Wieder Applaus.

Ich fragte mich, was er sich vorstellte. Öffentlich Dämonen verschiessen? Das wäre sein Stil. Aber selbst Aquila ist nicht so unvorsichtig. Die Gefahr einen Zivilisten zu verletzen wäre zu gross. Und als er weiter sprach, zeigte sich, dass er eher an gemeinnützige Arbeit dachte. Gute Publicity, auch wenn das Wort nie fiel.

„Die zweite Neuerung wird etwas besonderes, aber dazu informiere ich euch erst, wenn alles geregelt ist.“ Und sogar ich war neugierig, was noch kommen würde. Schliesslich entliess er uns, nicht ohne noch mal zu betonen, dass er Höchstleistungen erwartete.
 

Trotzdem verlief der Unterricht wie gewohnt. Bis zur Italienischstunde am Nachmittag. Sig. Martinez, klärte uns, in seiner Funktion als Klassenlehrer, über die Details der Adventsaktion auf.

„Unsere Einsätze finden jeweils an den Adventssonntagen statt. Da ihr im letzten Jahr seid, darf deswegen der Unterricht nicht ausfallen. Überlegt euch ein soziales Projekt, das ihr umsetzen möchtet. Benachteiligten Kinder eine Freude bereiten oder so. Ich gebe euch eine Woche Zeit, dann will ich wissen, was ihr machen wollt und werde beurteilen, was möglich ist.

Also, fünf Minuten um Dreiergruppen zu bilden, danach will ich den Unterricht fortsetzen.“

Ich hasse Gruppenarbeiten. Und bei neunzehn Schüler bleibt bei Dreiergruppen immer jemand übrig. Ich.

Ich startete den halbherzigen versuch, sah mich um, ob jemand Interesse hätte, doch sie wichen meinen Blicken aus. Sig. Ramirez notierte sich die Namen und fragte dann ungeduldig: „Wer ist noch allein?“

Ich hob langsam die Hand. Es war nicht nötig, alle sahen mich an. Beziehungsweise gleich wieder weg, als Sig. Ramirez fragte, welche Gruppe mich aufnehmen wolle. Plötzlich versuchten alle, möglichst unauffällig zu sein und ich wäre am liebsten nicht da gewesen. Gern hätte vorgeschlagen, ich würde einfach nicht mitmachen. Doch das war natürlich unmöglich.

„Na gut, Maria, wem willst du dich anschliessen?“ machte Sig. Ramirez die Situation noch schlimmer. Wieso konnte nicht einfach er entscheiden? Jede Gruppe würde mich dafür hassen, dass ich mich ihnen aufdrängte. Ramirez sah mich an, trommelte ungeduldig mit den Finger auf dem Tisch. Ich war überfordert, wusste nicht was antworten. Versuchte abzuwägen, welche Taktik am besten funktionieren würde. Eine Gruppe wählen und mich dann aus allem raus halten. Oder ihnen anbieten, die Drecksarbeit zu machen.

Ausgerechnet Nathalie rettete mich. „Sie macht bei uns mit,“ bestimmte sie und ich hörte ihre Freundinnen wütend zischen.

„Danke“ murmelte ich. Sie zwinkerte mir zu. Was hatte sie vor?

Nathalie als Klassenbeste war lange an vorderster Front, wenn es darum ging mich zu mobben. Sie zeige mir gern, wie wenig ich taugte. Dass ich Hochwürden Michelangelos Einladungen nicht verdiente. Aufgehört hatte es, nachdem sie mit Damien zusammen kam. Sein Einfluss? Oder hatte sie einfach keinen Grund mehr, auf mich eifersüchtig zu sein? Ich weiss es nicht. Ich nahm die Veränderung dankbar und ohne zu hinterfragen hin.

Sig. Ramirez setzte den Unterricht gnadenlos fort und rief mich auf. Ich hatte keine Zeit weiter zu grübeln und versuchte verzweifelt, zu erraten, welche Antwort er gerade hören wollte.
 

Nach dem Unterricht liess ich mir Zeit, das unterrichtsprotokall zu speichern und den Bildschirm herunterzfahren. Ich wollte Nathalie fragen, wie es mit der Gruppenarbeit laufen sollte. Ihre Freundinnen gaben sich nicht die Mühe ihren Unmut vor mir zu verheimlichen, als ich schliesslich auf sie zu ging.

„Ähm, wegen der Gruppenarbeit“ begann ich, ohne dass ich wusste, was ich sagen wollte. „Sagt mir einfach, was ich tun soll, und ich halte mich aus dem Rest raus.“ Das schien mir der einfachste Weg.

„Gut“, antwortete Nathalie ging. Milla warf mir einen bösen blick zu, bevor sie ihr folgte. Saöome ignorierte mich einfach. Ich folge mit etwas Abstand und war kein bisschen schlauer als vorher.
 

Bis Unterrichtsschluss beachteten sie mich nicht mehr. Und danach machte ich mich sofort auf zur Bibliothek. Ich brachte Ruhe, Zeit für mich und mein Tagebuch.

Aber anstelle der leeren Bibliothek fand ich Damien. Vor dem Esoterikregal. „Sucht er nach dem Buch?“ Fragte ich mich. Für einen Moment blitzte das Bild des Tores in meinem Kopf auf. Die Schlösser sprangen auf. Mir wurde klar, dass Damien gerade dabei war, zu meinen Gedanken vorzudringen.

„Richtig, und ich bin nur hier, um das Verwirrspiel noch ein bisschen weiter zu treiben.“ Erklärte Damien und zeigte einen leeren Papierzettel. Dann begann er einen Zauber zu murmeln und ich bemühte mich das Tor zu schliessen.

Der Zettel in Damiens Hand verschwand. Er nahm einige Bücher aus dem Regal. Platzierte den, inzwischen unsichtbaren, Zettel auf dem Tablar, und stellte die Bücher wieder hin. Er sprach einen weiteren Zauber. Damien ist so gut, dass er keine Gesten mehr braucht. Das ist so viel cooler als die herumfuchtelnden und rufenden Anfänger.

Dann wandte er sich wieder mir zu. „Du merkst also schon, wenn jemand in deinen Kopf eindringt. Gut, jetzt musst du nur noch dafür Sorgen, das Aquila nichts von dem hier sieht.“ er deutete wage auf das Regal.

„Ich habe deine Übungen gemacht, aber es hat nicht geholfen. Oder? Und gegen Aquila habe ich bestimmt auch keine Chance.“ Nicht dass ich wirklich erwartete, dass ich mich so schnell schützen konnte.

Als Antwort sah ich das Tor erneut aufspringen. Damien beobachtete mich von oben herab.

„Wenn du die Technik beherrschst, ist es nur noch eine Frage des Willens. Stell dir einfach vor, welche Peinlichkeiten ich noch finden könnte.“

Damit hatte er mich, panisch liess ich das Tor zuschlagen. Als ich die Augen wieder öffnete, grinste Damien.

Dann näherten sich Schritte. Ich drehte mich um, Nathalie bog um das Regal. „Damien!“ Rief sie erfreut und warf sich ihm um den Hals. Sie küssten sich und ich beschloss, dass es an der Zeit war, zu verschwinden. Aber Nathalie rief mich zurück.

„Maria! Eigentlich kam ich wegen dir.“ Ich drehte mich um. „Wir treffen uns um sieben Uhr in unserem Zimmer um die Gruppenarbeit zu besprechen.“

Ich versuchte, mich auszuladen, aber Nathalie gab mir keine Chance.

„Du musst kommen. Mach dir keine Sorgen wegen Milla und Salome, ich habe ihnen schon erklärt, dass du mitmachen wirst.“ Ich war mir nicht sicher, ob sie es ernst meinte oder ob sie bloss versuchte, vor Damien Eindruck zu schinden.

„Ok“ meinte ich und wandte mich zum gehen.

„Bis sieben Uhr“ rief sie mir nach.
 

Fortsetzung: Um punkt sieben stand ich vor Nathalies Zimmer. Ich hatte das Abendessen damit verbracht, mir irgendwelche Horrorszenarien auszumalen. Es stellte sich heraus, dass ich mir umsonst Sorgen gemacht hatte.

Es war das erste mal, dass ich das Zimmer betrat. Wie überall sonst standen vier Betten an den Wänden, daneben die wandhohen Schränke, je nach Vorliebe dekoriert. Über einem der Betten hängte ein Foto von Damien, das musste Nathalies Ecke sein.

Die Mädchen sassen in der Mitte des Zimmers, über den Bildschirm auf der Tischplatte gebeugt. Milla hob den Kopf, als ich die Tür hinter mir schloss.

„Da bist du ja. Wie haben beschlossen, dass wir einen Selbstverteidigungskurs für Mädchen machen. Du wirst die Schlagpuppe spielen“ Sie sah aus, als wollte sie gleich los lachen. Ich fand die Idee weniger witzig. Die anderen beiden begannen zu kichern und ich war drauf und dran, wieder zu gehen. Dann brach Nathalie in Lachen aus und rief mir etwas wie „warte“ zu.

Ich blieb stehen. Was würde als nächstes kommen?

„Das war ein Witz“, erklärte Nathalie, als sie sich wieder gefasst hatte. „Sorry, du hättest dein Gesicht sehen müssen. Und das war auch der letzte auf deine Kosten für heute.“

Am liebsten hätte ich ihnen erklärt, dass ich allen Grund hatte, nicht an einen Witz zu glauben. Aber ich wollte sie nicht auf die Idee bringen, es doch ernst zu nehmen.

„Komm, setz dich“, Nathalie lächelte mir zu. „Keine Angst, wir beissen nicht. Noch wissen wir nicht, was wir machen. Hast du einen Vorschlag?“

Natürlich hatte ich keine Idee, ich hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht. Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf den freien Stuhl. Aber sie sahen mich erwartungsvoll an.

„Na ja“, begann ich, als die Stille unerträglich wurde, „etwas für Strassenkinder tun, klang nicht schlecht. Vielleicht könnten wir ihnen eine warme Mahlzeit servieren und die Weihnachtsgeschichte erzählen.“

„Eine Geschichte erzählen? Wer würde da zuhören?“ Fragte Milla, nicht abwertend sondern einfach als Frage.

„Etwas spannender müsste es schon sein.“ Stimmte Salome zu. „Wie wär's mit magischen Illusionen?“

„Das fänden die Kinder bestimmt toll“, stimmte ich zu.

„3D Projektionen sind inzwischen besser und spektakulärer als Magie. Ich will etwas besonderes machen. Aquila geht es doch um Publicity, oder? Wie brachen etwas, das auffällt. Als Engel verkleidet durch die Stadt schweben oder ein Eispalast, oder wir heilen Kranke“, fantasierte Nathalie begeistert.

„Sind deine Ideen nicht etwas blasphemisch?“ Fragte Salome grinsend.

„Das waren doch nur Beispiele in welche Richtung ich gehen möchte. Uns wird schon was angemessenes einfallen. Mal sehen, was haben wir zu bieten? Ich Magie, Salome auch Magie, Milla Phyrokinese, Maria?“ Sie sah mich fragend an.

„Telekinese, rein theoretisch jedenfalls, rechnet besser nicht damit“, erklärte ich.

„Ok, es muss ja keine übernatürliche Fähigkeit sein. Worin bist du sonst noch gut?“

„Ich weisse es nicht“, gab ich zu.

„Quatsch,“ meinte Nathalie, „jeder hat ein Talent, etwas was er besonders gut kann. Was machst du gern?“

„Lesen?“ Antwortete ich nach einigem zögern. Das war keine Fähigkeit die mit einem Talent zusammenhing.

„Eben, du kennst bestimmt viele Geschichten, oder weisst viel. Irgendwas was wir klauen können?“ Nathalie hatte einen Stift genommen und begann Stichwörter auf den Bildschirm zu notieren. Ich durchsuchte mein Gedächtniss, fand aber keine Szene, die auf unser Vorhaben gepasst hätte.

Die anderen begannen Ideen einzuwerfen und zu diskutieren, Nathalie ordnete sie in Stichwörter an und schliesslich beteiligte ich mich der allgemeinen Suche. Eine Stunde später hatten wir uns noch nicht entschieden, einige Möglichkeiten gesammelt. Dabei beliessen wir es.
 

Ich kann es noch immer nicht recht glauben, wie locker alles lief. Wieso auch immer, Nathalie und ihre Freundinnen haben mich einfach in ihrer Runde aufgenommen. Und natürlich finde ich tausend Gründe, wieso es so ist. Und keiner davon ist positiv. Aber ich will mir den Abend nicht damit verderben, dass ich mir alles mies rede.

Mittwoch 11. Oktober 2111

Ich hasse Aquila. Er ist machtbesessen und überheblich. Heute hat er mich nach dem Unterricht zu sich zitiert. Ich hatte ja schon damit gerechnet, das es dazu kommen würde. Aber nicht so!

Erst verbrachte er gefühlte Stunden damit, auf meinen schlechten Noten herumzuhacken. Gut, die sind wirklich schlecht, aber um mir das zu vermitteln hätte ein Satz gereicht. Oder eine Andeutung, ich weiss es schliesslich selbst.

Aber dann meinte er: „Du bist eine Zumutung, kurz vor Abschluss deiner Offiziersausbildung darfst du keine so gravierenden Lücken mehr aufweisen. Jede Truppe die ich mit dir losschicken würde, wäre dem Tod geweiht.“ Nicht dass ich mich darauf freue, eine Truppe zu befehligen. Aber wie will er das beurteilen? Wenn es drauf ankommt, werde ich mich eben anstrengen.

„Du magst vielleicht hoffen, zur Soldatin degradiert zu werden, um dich deiner Verantwortung zu entziehen. Aber deine sportlichen Leistungen lassen ebenso sehr zu wünschen übrig.“

Eigentlich will ich überhaupt nicht kämpfen, weder als Offizierin noch als Soldatin. Daher war die Überlegung für mich neu. Auf jeden Fall klang „der Verantwortung entziehen“ unglaublich verlockend. Immer noch, obwohl ich natürlich weiss, dass das nicht so einfach geht.

Das machte mir Aquila auch unmissverständlich klar:„Oder hoffst du, aus dem Orden austreten zu können, wenn du durch die Prüfungen rasselst? Ich verrate dir was, deine Ausbildung hat den Orden viel gekostet. So einfach kommst du nicht davon. Und dir sollte klar sein, dass obwohl du deine telekinetischen Fähigkeiten nicht im Griff hast, sie bestätigt sind. Und damit würde dich das Verlassen des Ordens zu unserem Gegner machen. Und du weisst, wie wir mit Dämonen umspringen.“

Ich hatte den Eindruck, er könne es kaum erwarten, mich zu jagen. Natürlich sagte ich nichts, ich war viel zu eingeschüchtert und jede Verteidigung hätte das Gespräch nur unnötig in die Länge gezogen.

„Michelangelo mag dich bevorzugt haben“, begann er und der Moment, den ich schon die ganze Zeit gefürchtet hatte, trat ein. Er versuchte in meinen Kopf einzudringen. Ich hielt stand, konzentrierte mich darauf, das Tor geschlossen zu halten und kriegte nicht mehr mit, was er erzählte. Ich hatte die Augen geschlossen, um besser am Bild festhalten zu können. Ich sah seine Hand nicht, als er nach meiner Griff. Ich zuckte zurück, als ich sie spürte, aber er hielt fest.

Er nutzte meine Überraschung und die Schlösser sprangen auf. Es ging zu schnell. Ich fing mich wieder, aber die Schrecksekunde hatte mich viel gekostet. Ich hielt mit aller Kraft die Torflügel zusammen.Ich wollte ihn nicht in meinen Kopf lassen. Auf keinen Fall. Aber ich hatte keine Chance, das Tor brach in Flammen aus und zerfiel zu Asche. Und da war nichts mehr um ihn aufzuhalten.

Nach dem ersten Panikmoment versuchte ich, ihn loszuwerden, wusste aber nicht wie. Also beschränkte ich mich darauf, wenigstens nichts verdächtiges zu denken. Ich begann zu zählen um ihn und mich abzulenken.
 

Als er endlich meine Hand losliess, lächelte er zufrieden. Ich verbarg meine Hände sofort hinter meinem Rücken und vermied jeden Blickkontakt.

„Damien versucht also sein eigenes Spiel zu spielen? Und ich dachte, er wäre neutral“

Ich antwortete nicht, starrte vor mir auf den Boden und schämte mich. Damien hatte mich gewarnt, und ich konnte es trotzdem nicht verhindern. Es half nichts, mir zu sagen, dass ich kaum eine Woche geübt hatte. Es war zu spät. Ich fühlte mich hilflos und hasste mich dafür. Ich hätte Aqiula gern geschlagen oder angeschrien, aber dazu fehlte mir der Mut. Vielleicht war auch noch ein bisschen Verstand übrig, der mich davon abhielt, das Ganze noch schlimmer zu machen.

„Also, wenn Michelangelo nicht mal Damien vertraut, wieso gibt er dir eine solch wichtige Nachricht? Das war ziemlich naiv von ihm. Damien ist es ein leichtes, dich um den Finger zu wickeln. Wieso sollte er sich sonst noch um dich kümmern. Ich frage mich bloss, welches Puzzleteil das Rätsel mit der Nummer lösen wird. Also, wenn du es herausfindest, überleg dir, wem du es erzählen willst. Ich könnte da vielleicht etwas für dich tun.“ Aquila sprach ruhig und deutlich und jedes seiner Worte war wie ein Stich. Mich ärgerte nicht nur, dass er dachte, er könne mich bestechen. Viel schmerzlicher war die Wahrheit die in seiner Aussage steckte.

Ich hielt die Tränen zurück, die schon lange in meinen Augen brannten und wollte nur noch gehen. Raus aus dem Büro und diesem Leben. Aquila nie mehr sehen. Den Orden und all die schlechten Erinnerungen hinter mir zurücklassen.

„Du bist immer noch hier?“ Fragte Aquila nach einiger Zeit. Ich hatte weiter auf den Boden gestarrt und nicht gemerkt, dass er sich weggedreht hatte um mir zu zeigen, dass ich gehen konnte.

Ich entschuldigte mich hastig und lief aus dem Büro. Raus. Ich eilte dem Flur entlang. Damien und Nathalie kamen mir entgegen, ich machte einen Bogen, lief weiter. Ich glaube ich weinte.
 

Ich fand mich auf dem Trainingsgelände wieder. Auf DEM Trainingsgelände. In der Mitte ist ein Kreuz zum Andenken errichtet. Oder als Warnung. Im Sommer war ich oft hier. Die Kinder trainierten nur Tagsüber und für die normalen Soldaten ist der Platz zu klein. Am Abend ist es genauso ruhig wie in der Bibliothek.

Aber heute war es vor allem kalt. Unentschlossen stand ich vor dem Kreuz bis ich mich schliesslich wie gewohnt auf dem Sockel niederliess. Ich war planlos aus dem Gebäude gelaufen und hatte nicht mal eine Jacke. Also zog ich die Beine eng an den Körper, um wenigstens dass bisschen Wärme, das mir blieb zu erhalten. Ich liess den Kopf auf die Knie sinken und überliess mich meinen Tränen.

Vielleicht hätte ich damals einfach mit den anderen Kinder sterben sollen. Dann wäre ich nie in diese Situation geraten.
 

Wie waren die übliche Gruppe, der Anführer erklärte uns die Aufgabe. Wir sollten uns an taktisch wichtigen Positionen verstecken und nach einem unbekannten Feind Ausschau halten. Immer wenn er es befahl, sollten wir die Plätze tauschen. Das war nicht neu, wir übten das öfters. Ab und zu kam ein Erwachsener in schwarzer Verhüllung um zu sehen, ob wir aufmerksam waren.

Aber an dem Tag waren wir noch nicht mal auf unseren Plätzen als die verletzte Frau kam. Sie war angeschossen worden und blutete aus einer Wunde im Bauch.

Damien war der einzige, der dachte, sie gehöre zur Übung. Der Anführer widersprach natürlich und Rahel machte sich daran, die Wunde zu untersuchen. Im Hauptbunker hatte es einen kleinen Erste Hilfe-Kasten, doch der würde nicht ausreichen. Ich meldet mich sofort, als Rahel sagte, jemand sollte Hilfe holen. Damien bestand darauf, mitzukommen. Um die Erwachsenen zu informieren, wie er mir erklärte, als wir ausser Hörweite waren.

Damals kam mir das Gelände noch riesig vor. Es dauerte lange, bis wir zum Zaun kamen. Und dann war da plötzlich diese Hitze, das Donnern und die fliegenden Bettonbrocken.

Wenn ich wenigstens noch wüsste, wie ich uns geschützt habe. Selbst das hätte mein Leben seither einfacher gemacht.

Hätte ich nicht gesehen, dass Damien noch erstaunter war als ich und wären nicht seine neugierigen, immer wiederkehrenden, Fragen gewesen, würde ich glauben, dass es sein Werk war. Aber Magie braucht Zeit, die wir nicht hatten.
 

Ich fror, meine Ärmel waren Nass von den Tränen und meine Hände hatten kaum noch Gefühl, trotzdem blieb ich sitzen. Ich fragte mich, ob es kalt genug sei, um zu erfrieren. Das war es natürlich nicht, aber ich hatte ich nicht wirklich vor zu sterben.

Als mein BiT klingelte verstand ich erst nicht, was los war. Der Orden schreib Nachrichten und ausserhalb des Ordens kennt niemand meine Nummer. Ich spielte mit dem Gedanken, den Anruf zu ignorieren, drückte schliesslich doch auf empfangen.

Es war Nathalie. „Maria, wo bist du?“

„Auf dem kleinen Trainingsplatz“, antwortete ich überrascht. Langsam dämmerte mir, dass wir heute eine weitere Gruppenbesprechung abgemacht hatten.

„Was hast du dort verloren?“ Ich zögerte mit der Antwort, es war kompliziert. Aber Nathalie wollte es gar nicht wissen. „Komm sofort in unser Zimmer, wir warten.“

Ich zögerte wieder. Ich wollte fragen, ob ich wirklich dabei sein müsse. Ich fühlte mich nicht in der Lage entspannt zu diskutieren. Aber Nathalie liess mir keine Wahl. „Beeil dich!“befahl sie und hängte auf.

Ich überlegte einen Moment, ob ich einfach bleiben sollte, aber es kalt. Und irgendwie freute es mich ja auch, dass Nathalie angerufen hatte, weil ich nicht da war. Sie hätten locker ohne mich diskutieren oder sich genüsslich über mein wegbleiben unterhalten können. Also ging ich mit steifen Beinen in den Orden zurück.
 

Sie warteten am Tisch. Diesmal standen ein Krug Kaffee und Keksen darauf. Unnötigerweise knurrte mein Magen und erinnerte mich daran, dass ich schon wieder das Abendessen verpasst hatte. Blicke folgten mir von der Tür bis zu meinem Stuhl, ich wich ihnen aus, setzte mich und rieb mir verlegen die kalten Hände.

„Jetzt wo sie da ist, kannst du es endlich sagen“, begann Milla.

Und Salome erklärte: „Sie hat eine Idee.“

„Wenn ihr mich zu Wort kommen lasst“, begann Nathalie und wartete, bis auch ich sie ansah. „Wir schenken jeden Sonntag einem Waisenhaus einen Schutzengel.“

Ich starrte sie an. Wir starrten sie alle an.

„Wie willst du das anstellen?“ „Einen Schutzengel?“ „Wie willst du einen beschwören, das ist ein aufwändiges Ritual.“ „Das braucht enorme Energie!“ „Ich weiss schon, wir tun nur als ob.“ redeten Milla und Salome durcheinander. Sie sprachen aus, was ich dachte.

„Was denkt ihr denn. Auf jeden Fall einen echten“, unterbrach Nathalie sie empört. „Es ist spektakulär, hilft den Kinder und stärkt ihren Glauben. Wir sind zwei Magierinnen, haben zwei unterstützende Eingeweihte und wir haben die Kinder. Wenn alle mithelfen, ist es möglich, das Ritual innerhalb einer Stunde durchzuführen“, erklärte Nathalie liess sich durch kein geäussertes Bedenken irritieren. Sie hatte tatsächlich an alles gedacht.

„Wenn man nur will, gibt es immer einen weg. Erstens suchen wir uns christliche Waisenhäuser aus. Am besten welche von Klostern, die auf geweihtem Boden oder in der Nähe davon stehen. Dann optimieren wir die Beschwörungsformel auf die Teilnehmenden. Und natürlich arbeiten wir mit einem Beschwörungszirkel. Maria wird sich eine Geschichte ausdenken, die wir den Kinder erzählen, damit sie mit voller Energie dabei sind. Wichtig ist, dass sie an das Ergebnis glauben, dann nehmen sie uns viel Arbeit ab.“

Während ich mich freute, dass sie mir tatsächlich eine wichtige Aufgabe geschaffen hatte, redeten Milla und Salome auf Nathalie ein. Aber es dauerte nicht lange, bis alle einverstanden waren.

Als letzte Hürde bleibt Sig. Ramirez Einverständniss.
 

Jetzt sollte ich wirklich schlafen. Ich habe halb unter der Bettdecke getippt. Diese Advendsaktion hat mir den Tag gerettet.

Donnerstag 12. Oktober 2111

Heute ist ein beschissener Tag. Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen. Ich schloss die Augen und schon hatten mich die gestrigen Erlebnisse im Griff. Erst lag ich wach, dann hatte ich Alpträume davon, beides war nicht schön. Und obwohl ich todmüde war, war ich froh, als es endlich Morgen wurde.

Mein Ausflug ohne Jacke hat mir eine Erkältung beschert. Kombiniert mit zu wenig Schlaf resultierte das in Kopfschmerzen. Und ich habe keine Ahnung, was wir heute morgen im Unterricht hatten. Am Mittag ging ich zur Ärztin. Sie schrieb mich krank und reichte mir ein Schlafmittel.

Jetzt ist es kurz vor dem Abendessen (das ich nicht wieder auslassen werde) und ich habe einige Stunden geschlafen. Trotzdem fühle ich mich benommen, als wäre ich auf Zeitlupe gestellt.
 

Am liebsten würde ich das Zimmer nicht verlassen. Was, wenn ich Damien begegne? Nicht, dass ich ihn beim Abendessen regelmässig treffen würde. Im Gegenteil, er isst sogar in einem anderen Speiseraum als wir Schüler. Aber wenn ich ihm doch begegne, muss ich ihm gestehen, dass ich nicht stark genug war. Und schon beim Gedanken daran fühle ich mich wieder so krank, dass ich mir überlege, einfach hier im Bett zu bleiben.

Aber wenn es nicht Damien ist, dann mit Sicherheit Nathalie. Und sie ist immerhin seine Freundin. Vielleicht weiss er es schon. Sie hat mich gestern verheult und durchgefroren gesehen. Wenn sie es Damien erzählt hat, hat er bestimmt seine Schlüsse daraus gezogen. Vor allem weil sie wusste, dass ich zu Aquila gerufen worden war. Meine Hoffnung beruht darauf, dass sie nicht über mich sprechen, wenn sie zusammen sind. Wozu auch.

Und so geht es schon den ganzen Tag. Aqulilas Standpauke, sein Angriff und seine Worte. Die Gewissheit, Damien enttäuscht zu haben und die Schlussfolgerung, ich bin zu nichts nutze. Ich werde Hochwürden Michelangelos Vertrauen niemals gerecht.

Ich habe versucht, die Gedanken zu verdrängen. Versuchte mich abzulenken, indem ich über die Schutzengelgeschichte nachdachte. Aber ich schweifte immer wieder ab. Und die zündende Idee blieb auch aus. Immerhin habe ich da noch etwas Zeit. Erst muss Sig. Ramirez das Projekt bewilligen und je länger ich darüber nachdenke, desdo mehr zweifle ich daran.

Ich bewundere Nathalie für ihren Optimismus. Aber sie hat es auch leichter als ich. Sie hat ihre Freundinnen und Damien. Und eine Familie, die sie unterstützt. Im Gegenteil zu mir, gelingt ihr alles. Wenn ich ehrlich bin, ich beneide sie und dass sie plötzlich nett zu mir ist, macht das ganze nicht einfacher.
 

Ich höre Stimmen auf dem Flur, der Unterricht muss zu ende sein. Es ist Zeit für das Abendessen, aber ich vertrage im Moment keine Menschenmenge. Ich glaube, ich habe noch einen Energieriegel im Schrank. Besser ich bleibe im Zimmer.

Freitag, 13. Oktober 2111

Freitag der dreizehnte, mein ganz persönlicher Unglückstag. Als ob die letzten Tage nicht schon schlimm genug waren. Aber heute habe ich mit Damien auch meine Hoffnung verloren.
 

Ich ging heute wieder normal zum Unterricht. Dank Schlafmittel verlief die Nacht ohne Alpträume, dafür konnte ich mich kaum überwinden, aus dem Bett zu steigen. Melanie half nach, indem sie mir ihr nasses Frottiertuch an den Kopf warf. Ich denke jedenfalls, dass sie es war, sie lachte am lautesten.

Und dann begann der Unterricht ausgerechnet mit einer, unangekündigten, Französischprüfung. Die eine Hälfte wusste ich nicht, die andere löste ich falsch. Wäre ich wacher gewesen, hätte ich wenigstens ein paar peinliche Fehler vermeiden können. Ich schob es auf die Schlafmedikamente. Viel Zeit darüber nachzudenken, blieb mir nicht. Um zehn Uhr gab es eine weitere Veranstaltung mit Aquila.
 

Ich hatte seine „grosse Veränderung“ schon verdrängt, aber als er vorne auf der Bühne stand und begann, fühlte ich mich sofort wieder an den Tag seine Antrittsrede zurückversetzt. So verbrachte ich auch seine Begrüssung in Erinnerungen.

Das Wort Liveübertragung liess mich aufhorchen. Das war die grosse Neuigkeit, künftig würde man uns live beim Dämonen jagen zusehen können. Jedenfalls in den Fällen, die absolut unbedenklich sein würden. Also Zombies, verwandelte Werwölfe und durchgedrehte Vampire. Gute Christen gegen böse Monster.

Intelligentere Dämonen könnten durch die Show gewarnt werden, war Aquilas Argument. Und dass Dämonen miese Tricks brauchen könnten, die professionelle Jäger durchschauten, aber unvorbereitetes Publikum nicht. Und wer sähe schon gern zu, wie ein, als hilfloses Mädchen getarnter Dämon, getötet würde. Da stimmte sogar ich Aquila zu.

Dafür würde es Specialsendungen geben, geschnitten und mit Erklärungen ergänzt. Die Betrachter könnten sogar wie in einem Game mitspielen, mit dem Michaelsorden mitfiebern. Selbst in die Jägerrolle schlüpfen. „Sollen sie uns für unsere Aufgabe beneiden. Gerade bei den Soldaten können wir talentierten Nachwuchs brauchen,“ erklärte Aquila. Eine Art Rekrutierung also.

Aber es kam noch besser. „Wir werden das Publikum mitmachen lassen. Sie dürfen für ihre Lieblingsjäger voten. Jeder der einen längeren Auftritt in der Übertragung hat, bekommt ein Onlineprofil. Wir müssen die Distanz verringern und wenn dadurch die Benutzerzahlen im Catholicnet steigen, umso besser.

Ich sass da und fragte mich mit jeden Satz was noch kommen würde. Ich will nicht behaupten etwas von Marketing zu verstehen, aber Aquilas Rezepte schienen mir altmodisch und vor allem unpassend, für den Orden.

Nachdem Aquila seinen Redeschwall beendet hatte, horchte ich auf die Reaktionen um mich herum. Sie waren zwiespältig, die einen freuten sich auf Heldenauftritte, die anderen hielten die Sache für lächerlich. Mich überholte eine Gruppe Mädchen, die das Problem unbewusst auf den Punkt brachten. „Ich werde nie mehr ungeschminkt an einem Einsatz teilnehmen. Wenn sie mich filmen, will ich gut aussehen. Und ich muss mir unbedingt die Grimasse abgewöhnen, die ich mache wenn ich zaubere“

„Zum Glück sind die Uniformen einigermassen figurbetont, ich wünschte ich wäre schon Offizier, die sehen schick aus.“

Dann hatten sie mich überholt. Die kritischen Meinungen waren in Unterzahl wie ich auf dem Weg zum Speisesaal feststellte. Trotzdem freute ich mich über jeden Zweifel. Aquila schien doch nicht so beliebt, wie ich im ersten Moment befürchtet hatte.

Ich sagte mir, dass meine Leistungen und meine mollige Figur mich wohl von Videostreems verschonen würden. Ein bisschen Ruhm wäre schon schön, aber lieber verzichte ich, als zum Quotenlacher zu werden.
 

„Maria, wie weit bist du mit deiner Geschichte?“ fragte Nathalie als ich nach dem Mittagessen an ihrem Tisch vorbei ging.

„Wird schon“, antwortete ich obwohl ich mir nicht sicher war, um nicht zu lange aufgehalten zu werden.

„Sehr gut, ich denke, Aquila wird die Liveübertragungen mir der Adventsaktion starten, und ich denke wir haben die beste Idee. Streng dich also an.“ Sie nickte mir zu und beugte sich dann wieder über ihren Teller. Damit wusste ich in welches Lager sie einzuordnen war. Kein Wunder, Nathalie ist hübsch und talentiert genug, um Zuschauerstimmen zu sammeln.

Aber heisst das nicht auch, dass ich in Gefahr laufe, ebenfalls aufgenommen zu werden. Es ist kaum vermeidbar, dass ich irgendwann im Bild zu sehen sein werde. Nathalie wird sowieso die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich musste bloss unauffällig im Hintergrund bleiben. Meine Aufgabe war die Geschichte, dann konnte ich mich zurückziehen.
 

Die Schlussfolgerung war klar, ich musste eine geniale Geschichte abliefern, und schon beim Gedanken daran wurde ich nervös. Noch fehlte mir die entscheidende Idee und langsam aber sicher begann ich, die Angst vor dem leeren Blatt zu verstehen.

Als der Unterricht endete hatte ich einen Plan: Inspiration. Ich steuerte also direkt auf die Bibliothek zu. Zu spät fiel mir ein, dass das keine allzu gute Idee sein könnte. Damien bemerkte mich, bevor ich mich davon schleichen konnte. Er rief mich zurück und so standen wir einmal mehr vor dem Esoterikregal und ich starrte auf den Boden.

Die Stille wurde unerträglich. Damien sagte nichts, versuchte nicht in meine Gedanken einzudringen. Und wenn doch, so geschickt, dass ich nichts davon merkte.

„Es tut mir Leid“ murmelte ich schliesslich. Er schnaubte, einen Moment lang dachte ich aus Wut, doch dann gab er ein seltsames Geräusch von sich und ich sah auf. Er grinste, unterdrückte anscheinend ein lautes Lachen. Die Situation war absurd, wann hatte ich ihn zum letzten mal lachen sehen? Nicht dieses arrogante, distanzierte Grinsen. Lachen. Richtig fröhlich lachen? Wahrscheinlich vor der Explosion, als wir noch kindische Streiche spielten.
 

Damiens lachen war nicht fröhlich, eher höhnisch, und es galt nicht mir.

„Er war da, hat sich alles angesehen.“ Erklärte Damien schliesslich und befriedigte damit meine Neugier. „Er hat alles genau untersucht, wahrscheinlich weil er glaubte, ich hätte etwas übersehen.“

„Es tut mir Leid“, entschuldigte ich mich überflüssigerweise ein zweites mal. „Er war zu stark, ich konnte ihn nicht aufhalten.“ Die Erinnerung an das brennende Tor kehrte zurück. An das hilflose Gefühl, ich schüttelte den Kopf.

„Maria,“ Damiens Stimme klang herablassend. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wie solltest du ihm auch standhalten, wenn er dich direkt mit Magie attackiert. Dir fehlt da definitiv das können.“

Ich starrte wieder auf den Teppich, liess die losen Haarsträhnen über mein Gesicht fallen und hoffte, dass Damien nicht merkte, dass ich rot wurde.

„Ich habe dir doch gesagt, dass der Zettel ein Ablenkungsmanöver war, kein Grund nervös zu sein. Allerdings musst du in Zukunft lernen, deine Barrieren wieder aufzubauen. Als du aus Aquilas Büro kamst, musste ich kaum Magie anwenden, um zu sehen, was los war. Und das ist gefährlich.“

Ich nickte, trotz seiner beruhigenden Worte fühlte ich mich nicht besser. Ich hatte ihn nicht mal enttäuscht, er wusste von Anfang an, dass es so kommen würde.

Damien seufzte: „Maria, was mache ich nur mit dir? Du musst endlich lernen, dich selbst zu behaupten. Es reicht nicht, wenn du dich klein machst und hoffst, dass dich keiner sieht.“ Seine Füsse setzten sich in Bewegung. Ich folgte ihnen mit den Augen dem Regal entlang und zurück. Hin und zurück, dann blieb er vor mir stehen.

„Ich denke, Aquila wird dich in Ruhe lassen. Er denkt, er weiss alles. Und bis du auf dich selbst aufpassen kannst dauert mir zu lange. Also, beschleunigen wir das. Sieh mich an!“

Ich hob zögernd den Kopf. Damien sah mich direkt an, kühl und distanziert wie immer.

„Ich habe Michelangelo zwar versprochen, auf dich aufzupassen, aber ich kann nicht immer da sein. Ich habe besseres zu tun, und Nathalie auch. Darum ein letzter Tipp: Traue niemandem, ausser dir. Kein Wort an irgendjemanden Lebenden. Wenn du dich ausheulen willst, richte dich meinetwegen an deine toten Freunde.

Die Bibliothek war unscharf geworden. Ich fühlte Tränen über meine Wangen laufen und Damien wandte sich zum gehen.

„Ach ja, solltest du die Bedeutung der Nummer herausfinden, komm zu mir oder vernichte das Buch. Bloss lass es Aquila nicht kriegen, ich mag den Typen nicht.“

Ich starrte ihm nach, obwohl ich ihn durch die Tränen kaum sah. Nachdem er verschwunden war, suchte ich mir einen Sessel, rollte mich darin zusammen und weinte. Es war einfach zu viel. Die Tränen halfen wenig.
 

Ich will stark sein, ich will von Damien respektiert, gemocht werden. Ich will selbstständig sein, Aquila die Stirn bieten. Ich will Michelangelos Erwartungen erfüllen, übertreffen.

Stattdessen manövriere ich mich von einer Katastrophe in die andere.
 

Ich schrieb den Tagebucheintrag in der Bibliothek, unterbrochen von Heulkrämpfen. Das Tagebuch sollte mir Kraft geben, aber ich habe das Gefühl, es macht alles noch schlimmer. Beim schreiben durchlebe ich alles ein zweites mal, intensiver, mit der Zeit, mir Gedanken dazu zu machen.

Damien, ich konnte ihn nie recht fassen. Aber eigentlich bin ich ihm einfach egal. Er versucht nicht mal, mir etwas vorzumachen. Ich sollte dafür dankbar sein, aber es schmerzt nur.

Aquila hatte recht, und ich hasse ihn dafür. Er hat Damien durchschaut. Und mit Sicherheit war auch Nathalie nur nett, weil Damien sie gebeten hatte. Anders lässt sich ihr plötzlicher Wandel nicht erklären.
 

„Wenn du heulen willst, tue das bei deinen toten Freunden.“ Er hat recht, wer will mir sonst zuhören? Aber wieso meine Freunde? Sind es nicht genauso die seinen? Am 16. jährt sich der Todestag. Zum 14. mal.

Was wenn ich damals auch einfach gestorben wäre?
 

Verdammt, verdammt, verdammt!

Und ich habe nicht mal den Mut, dem ganzen ein Ende zu setzen!

Sonntag, 15. Oktober

Ich hasse mich, es ist Sonntag Abend und ich habe noch immer keine Geschichte. Mir fiel einfach nichts passendes ein, also habe ich es vor mir her geschoben, und sitze noch immer ohne Idee da. Ich habe praktisch das ganze Wochenende in der Bibliothek verbracht, diverse Bücher über Engel gelesen oder durchgeblättert und– wenn ich ehrlich zu mir bin – gehofft, dass Damien auftauchen würde.

Tat er aber nicht, nicht als reale Person, dafür beherrschte er meine Gedanken und lenkte mich von allem anderen ab.

Wieso muss ich ausgerechnet in den unerreichbarsten Mann überhaupt verliebt sein???

Dabei muss ich mich nicht fragen, wieso ich ihm egal bin. Was habe ich schon zu bieten? Ich bin mollig, habe fade aschblonde Haare und kein Talent. Könnte ich wählen würde ich natürlich auch Nathalie vorziehen, sie ist hübsch. Und selbstbewusst, vielleicht etwas zu egoistisch, aber gegenüber Damien zeigt sie bestimmt ihre beste Seite. Hätte ich die Wahl, würde ich sofort mit ihr tauschen, ich wüsste es wenigstens zu schätzen.

Und ich tue es schon wieder, ich schreibe Tagebuch anstatt der Schutzengelgeschichte. Morgen muss ich sie haben, und wenn es nichts spektakuläres ist.
 

Fortsetzung:

Ich habe mir was aus den Finger gesogen. Der Schutzengel der über das Waisenhaus wachte ist geschwächt. Seinen richtigen Namen können Menschen nicht aussprechen, das ist zumindest eine gute Erklärung, die Kinder müssen nicht wissen, wie viel Macht ihnen das Wissen des Namens geben würde. Wir nennen ihn also einfach unseren Schutzengel.

Er hat über das Waisenhaus gewacht, doch dann kam der böse Dämon und brachte Unglück. Nach einem schweren Kampf konnte der Engel den Dämon vernichten, aber es kostete ihn alle Kraft. Deswegen legte er sich schlafen und wachte nicht mehr auf. Das Ritual wird ihn wecken.
 

Ziemlich langweilig, aber es erfüllt die Bedingungen, wenn Sig. Ramiez die Aktion erlaubt, kann ich immer noch daran feilen, bis zum ersten Advent ist noch über ein Monat Zeit. Was fehlt sind vor allem die interessanten Details. Aber ich kenne die Hintergründe der Waisenhäuser nicht, und die Geschichte muss für alle funktionieren. Und ich kann den Engel nicht beschreiben, woher soll ich wissen, wie der, den wir beschwören aussehen wird. Und ausserdem habe ich immer das Bild eines blonden Damiens im Kopf, was irgendwie absurd aussieht. Etwas anderes als seine seidigen schwarzen Haare kann ich mir an ihm nicht vorstellen. Und wann machte er zum letzten mal ein freundliches Gesicht, wie es ein Schutzengel tun müsste?

Eigentlich erstaunt es mich nicht, ich habe dauernd an Damien gedacht, als ich an der Geschichte arbeitete. Mir vorgestellt, wie es wäre, wenn er mein persönlicher Schutzengel wäre. Aber das hat er beendet, bevor er richtig begonnen hatte.

Und wieder drehe ich mich im Kreis. Für die Hausaufgaben ist es jetzt auch zu spät, die habe ich auch vor mir her geschoben. Ich sollte versuchen zu schlafen. Ich habe noch eine letzte Tablette, die hilft hoffentlich gegen die Alpträume, die mich letzte Nacht plagten. Gute Nacht.
 

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Danke an alle, die bis hierher gelesen haben. Ich habe beschlossen, parallel zur Fortsetzung die ganze Geschichte noch mal gründlich zu überarbeiten. Daher bin ich dankbar für jede Kritik, bzw. Meinung, auch welche Teile zu kurz bzw. zu lang wirken. Ich habe diesbezüglich noch einiges zu lernen :)

Montag 16. Oktober

Montag 16. Oktober
 

Es regnet in strömen, aber das hielt mich nicht ab, Blumen zu besorgen. Jetzt liegen sie neben dem metallenen Kreuz und werden vom Regen gepeitscht. Und trotzdem leuchten sie bunt in der Bettonumgebung. Alleine. Trotzig. Ich habe habe meine Freunde von damals nicht vergessen. Ich habe mich in einen der Betonbunker verzogen, hier bin ich vom Regen geschützt und habe trotzdem Blick auf ihr Grab. Ich bin die Einzige, die sich noch um sie kümmert und sie sind, was mir noch geblieben ist.

Ramirez hat unsere, besser gesagt Nathalies, Advendsaktion bewilligt. Nathalie war mit meiner unausgearbeiteten Geschichte zufrieden und liess durchblicken, dass ich damit meinen Teil erfüllt hatte. Aquila wolle mich in keiner öffentlichen Aufnahme haben, also sei es besser, wenn ich mich aus dem Rest raushalten würde. Es hat mich nicht wirklich überrascht. Ich hätte beinahe gelacht. Gelacht, weil weil ich damit gerechnet hatte. Weil ich Nathalie richtig eingeschätzt hatte. Weil sie tatsächlich so egoistisch war, wie ich die ganze zeit gedacht hatte.

Übrig blieb Leere.
 

Ironischerweise munterte mich der geplante Grabbesuch auf. Der Weg in die Stadt war wie eine Auszeit vom Orden. Das kaufen der Blumen eine Reise in die Erinnerung. Ein Treffen, mit denen die noch unglücklicher waren als ich und damals viel zu früh starben.

Übrig bin ich. Wie die Blumen im Regen trotze ich den Umständen, was habe ich jetzt noch zu verlieren? Es ist als sei alle Angst verschwunden. Hätte ich wie Hochwürden Michelanglo eine Vision von meinem baldigen Tod, ich würde nicht unternehmen, um ihn zu verhindern. Vielleicht fühlte er genau so wie ich jetzt.

Also sitze ich hier, geniesse die Einsamkeit und höre dem Regen zu.
 

Abend:
 

Noch vor wenigen Stunden hielt ich alles für verloren, war ich frei und plötzlich ist alles wieder da. Hoffnung, Verantwortung und Angst.
 

Ich sass vielleicht eine halbe Stunde im Bunker, als sich eine Gestalt über das Übungsgelände näherte. Damien. Immerhin hat er seine Übungsgruppe nicht ganz vergessen, dachte ich und zog mich etwas weiterin die Dunkelheit zurück. Ich war neugierig, was er tun würde, wenn er sich allein glaubte.

Langsam ging er auf das Grab zu, in der einen Hand einen Regenschirm, in der anderen eine einzelne weisse Rose. Er trug zivil, einen langen grauen Stoffmantel, elegant geschnitten, was ihm eine ganz andere Ausstrahlung verlieh als die Uniform.

Vor dem Kreuz blieb er kurz stehen, dann ging er in die Knie, legte die Rose ab. Für einen Moment nahm sein Gesicht einen harten Ausdruck an. Ich stellte mir vor, wie er Rache schwor, dann richtete er sich mit einer fliessenden Bewegung wieder auf. Blieb einige Zeit einfach stehen. Ich rechnete damit, dass er sich umdrehen und wieder gehen würde. Stattdessen sah er sich plötzlich um und kam dann direkt auf mich zu.
 

Mein Herz klopfte, ohne dass ich den Grund dafür nennen konnte. In der Tür blieb er kurz stehen, spähte in den Schatten.

„Maria?“ Fragte er dann.

Meine Stimme versagte, abgesehen davon, dass ich nicht wusste, was ich antworten sollte. Ich gab bloss einen seltsamen Laut von mir. Damien stand im Gegenlicht, so dass ich seine Gesichtszüge nicht sehen konnte. Er falteten den Schirm zusammen, murmelte ein paar Worte die ich nicht verstand und kam auf mich zu. Liess sich neben mir auf den Boden nieder, ich rutschte verlegen etwas zur Seite, obwohl reichlich Platz vorhanden war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit unterbrach er die Stille: „Es tut mir Leid, dass ich in der Bibliothek so hart zu dir war. Ich sah keine andere Möglichkeit, Aquila von dir abzulenken.“

Ich sass da und sagte nichts. Klammerte mich an die Hoffnung und hielt sie gleichzeitig fern, um bei einer Enttäuschung nicht zu hart aufzuschlagen.

„Hochwürden Michelangelo wurde erpresst, von Aquila. Er schrieb es mir in einem Brief, den er mir bei unserem letzten Abendessen gab. Er war gezwungen zurückzutreten. Und im Moment wissen wir als Einzige, dass Hochwürden Michelangelo, Aquila nicht freiwillig zu seinem Nachfolger gemacht hat. Ich denke, jetzt ich es dir sagen.“

„Aber wieso? Welche Erpressung rechtfertigt es, einen solchen Kriegstreiber zum Nachfolger zu küren? Ich hätte mich lieber blossgestellt, als einen solchen Schaden anzurichten!“ Hochwürden Michelangelo, der immer so Verantwortungsvoll handelte, konnte unmöglich einen solchen Fehler begehen.

„Ich weiss es nicht,“ gab Damien zu und ich hörte ihm an, dass er es genau so wenig verstand wie ich. „Mir hat er nicht geschrieben, weswegen er erpresst wurde.“

Das machte es nicht einfacher zu verstehen.

Dann zuckte Damien mit den Schultern: „Vielleicht verrät er dir mehr. Hochwürden Michelangelo gab mir seinen Abschiedsbrief für dich. Ich sollte ihn dir geben, wenn dir Aquila keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Er befürchtete zu recht, dass Aquila den Inhalt erfahren wollte. Und dass du dich nicht dagegen wehren könntest.“

Ich schauderte bei der Erinnerung und nickte, obwohl ich nicht sicher war, ob er es sah.

„Ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen. Ich habe ihn nicht geöffnet, möglicherweise befindet sich darin, die Lösung des Rätsels“, sagte Damien und holte einen versiegelten Umschlag unter dem Mantel hervor. Aquilas Warnung schoss mir durch den Kopf, und ich beschloss den Brief nicht in Damien Gegenwart zu öffnen. Anderseits hätte er ihn einfach behalten können. Ich nahm dem Umschlag entgegen und betrachtete ihn unentschieden. In Hochwürden Michelangelos Handschrift stand mein Name darauf. Ein vertrauter Schriftzug, ich hatte ihn oft auf den Einladungen gesehen.
 

Ich zögerte, ich fürchtete mich etwas vor dem, was Hochwürden Michelangelos Abschiedsbrief enthalten konnte. Anderseits war ich wirklich neugierig.

Damien bemerkte mein zögern: „Du musst ihn nicht jetzt öffnen. Du solltest dir aber sicher sein, dass du unbeobachtet bist.“

„Wenn wir schon dabei sind, ist es nicht gefährlich, wenn wir hier so offen reden? Offensichtlich hat uns Aquila in der Bibliothek belauscht, wieso sollte er das hier nicht tun?“ Ich war ein bisschen stolz dass ich daran gedacht hatte, aber Damien erwies sich als vorausschauender als ich.

„Keine Sorge, ich habe einen Schutzschild erstellt. Ohne diesen zu attackieren, kann er uns weder beobachten noch belauschen.“

Mir blieb kein Grund zu zögern mehr. Ich holte tief Luft und brach das Siegel. Im Umschlag befanden sich mehrere dünne Papierbogen. Bevor ich sie entfaltete, warf ich Damien einen Blick zu. Er wich ihm aus, zweifellos war er genau so neugierig wie ich, wollte es aber nicht zeigen. Ich hielt die Bogen ins schwache Licht und begann zu lesen:
 

Liebe Maria
 

Es tut mir Leid, dass ich dir die Wahrheit nur auf diesem Weg mitteilen kann. Alles andere wäre zu riskant. Und trotzdem möchte ich, dass du alles erfährst.

Ich bin dein Vater.
 

Ich las den Satz ein zweites, ein drittes mal. Suchte nach besserem Licht um mich zu überzeugen, dass da wirklich stand, was ich gelesen hatte.

Es wurde heller, Damien hatte eine kleine Lichtkugel erschaffen, die jetzt über mir schwebte und die Schrift unmissverständlich deutlich zeigte.
 

Ich bin dein Vater.

Das mag unglaublich klingen, dementsprechend waren die Umstände. Trotz des geschworenen Zölibats bleibe ich ein Mensch und bin als solches auch nicht gegen Liebe und Lust gefeit. Nicht einmal im hohen Alter. Ich habe nicht viel Zeit, deswegen die Kurzfassung. Deine Mutter arbeitete einige Jahre in der Küche des Michaelsorden.
 

Ich schluckte, sah zu Damien hinüber. Er hielt höflich Abstand. Ich begann noch mal von vorne, sog jedes einzelne Wort in mich auf bis zu Schluss.
 

Deine Mutter arbeitete einige Jahre in der Küche des Michaelsorden. Sechs Jahre lang waren wir einfach gute Freunde, mit ihr konnte ich über alles reden. Sie wurde zu meiner wichtigsten Ansprechpartnerin wenn ich Probleme hatte bis ich irgendwann merkte, dass sie mir mehr bedeutete, als das hätte der Fall sein dürfen.

Wir überschritten die Grenze, es war eine kurze, glückliche Zeit. Ich bereue sie nicht, habe nicht einmal ein schlechtes Gewissen gegenüber Gott, den ich gewissermassen betrogen hatte.

Aus dieser Verbindung bist du entstanden. Deine Mutter hatte nicht erwartet mit zweiundfünfzig noch schwanger zu werden. Geschweige dann, dass ich mich noch für zeugungsfähig gehalten hätte. Ich bedaure es sehr, dass ich bei deiner Geburt nicht offziell als Vater dabei sein konnte. Es war eine lange Diskussion zwischen deiner Mutter und mir. Aber es hätte mich mein Amt gekostet und deine Mutter bestand darauf, dass ich diese Verantwortung behielt. Ich führe gerade heikle Verhandlungen, ein Rücktritt hätte alles gefährdert.

Das klingt nach einer schlechten Ausrede. Das ist es eigentlich auch, ich habe mich für meine Stellung als General anstatt der Familie entschieden. Aber Verantwortung bedeutet machmal auch persönliche Opfer zu bringen. Und wer wäre ich schon, mein Glück vor das hunderter anderer zu stellen.

Deine Mutter starb ab den Folgen der Geburt, sie war zu alt für diese Belastung. Als letzten Wunsch bat sie ihre Schwester, dich dem Waisenhaus des Ordens zu übergeben. Damit du wenigstens ein bisschen unter meiner Obhut aufwachsen würdest.

Maria, entschuldige, ich war kein guter Vater. Ich habe kaum etwas von deinem Leben mitbekommen. Ich hatte nur unsere gemeinsame Donnerstage um dich zu sehen. Nathalie warf mir einmal an den Kopf, ich würde deine Situation noch schlimmer machen, als sie ohnehin schon sei. Dich zur Mobbingzielscheibe machen. Stimmt das? Dann Verzeih mir meinen Egoismus dich trotzdem immer wieder eingeladen zu haben. Ich konnte einfach nicht darauf verzichten.
 

Vielleicht hat dir Damien schon erzählt dass ich erpresst wurde. Dann wirst Du dich fragen,wieso ich jetzt zurücktrete, wenn ich es bei deiner Geburt nicht getan habe. Aquila hatte Beweise für unsere Verwandschaft. Natürlich hätte ich was unternehmen können. Aber wie lange. Und ein laut ausgesprochener Verdacht hätte ihm gereicht, um Frustierte um sich zu sammeln.

Ich hätte auch zu meiner Vaterschaft stehen können, aber dann wärst Du unweigerlich mit hineingezogen worden.

Aber vielleicht sind das auch wieder alles Ausreden, ich bin es einfach Leid. Ich verstehe jetzt meinen ersten Mentor, seine letzten Worten waren: „Ich bin es Müde zu kämpfen. Ich vertraue darauf, dass ihr selbst zurecht kommt“ Genau so komme ich mir jetzt vor. Ich habe mich jahrelang eingesetzt und miterlebt, wie immer wieder die selben Fehler gemacht wurden. Irgendwann muss ich den Stab sowieso weiterreichen und wieso nicht jetzt, bevor Aqila in seiner Gier, gefährlichere Forderungen als meinen Rücktritt stellt.
 

Maria, ich hoffe, Du verstehst mich. Und ich hoffe, Du kannst mir verzeihen, ich habe es Dir wirklich nicht leicht gemacht. Aber Du bist stark, all die Jahre hast Du durchgehalten, allen Wiedrigkeiten zum Trotz. Und du hast Talent, ich hätte es dir gern früher verraten, aber ich dachte es sei zu gefährlich. Jetzt ist meine letzte Chance, ich hoffe, ich kann dir wenigstens damit helfen.

Deine, unsere, Fähigkeit ist der Umgang mit Zeit. Erwarte bitte keine Erklärung, ich habe es nie wirklich verstanden, nur angewendet. So wie du damals, bei der grossen Explosion. Ich kann dir keine Anleitung geben, wie du mit deinen Fähigkeiten umgehen sollst. Ich kann dir nur sagen, wie es bei mir war.

Die Visionen, anfangs versuchte ich sie zu verhindern, es dauerte Jahre, bis ich verstand, dass es sich nicht um mögliche Ereignisse handelte, sondern unausweichliche Ereignisse in der Zukunft waren. Vielleicht stimmt die Theorie, dass es keine lineare Zeit gibt, sondern alles gleichzeitig geschieht. Dann waren meine Visionen bloss Blicke auf Dinge die gerade passierten, in unserem Empfinden aber erst in der Zukunft geschähen. Vielleicht ist es auch einfach, wie die griechischen Sagen schon wussten, das Schicksal lässt sich nicht verhindern. Und wenn man es versucht, ist das genau der Auslöser des Unglücks, das man vermeiden wollte.

Ich nichts gegen meinen Tod unternehmen, sein Eintreffen ist gewiss. Das zeigt meine Erfahrung, egal welche Theorie stimmen mag.

Schwerer zu sagen ist, wie ich meinen Körper vom altern abgehalten habe. Schwarze Magie war es trotz aller Gerüchte nicht, und das Nekromantikum, nach dem Aquila sucht, hat nichts damit zu tun.

Am nächsten kommt es vielleicht, wenn ich sage, ich habe mir etwas Extrazeit geklaut.

Es tut mir Leid, dass ich keine treffendere Beschreibung liefern kann. Aber ich bin überzeugt, Du wirst die Zeit für dich selbst entdecken, wenn du erst mal vom falschen Ansatz der Telekinese weg kommst.
 

Der zweite Hinweis ist nur eine hoffnungsvolle Vermutung von mir. Möglicherweise hast du auch etwas magisches Talent von mir geerbt. Ich weiss, als Kind war es nicht ausgeprägt, deswegen ordneten sie dich auch in die Psi-Klasse ein. Aber es kommt nicht selten vor, dass sich die magisches Talent erst mit der Pubertät entwickelt. Bevor ich mich hier verspekuliere, versuch es einfach aus.
 

Ich muss zum Ende kommen. Ich brauche dich nicht zu erinnern, dass Aquila nichts von dem Brief erfahren darf. Am besten gar niemand, Damien als Ausnahme, er kann dir helfen.

Und ich bitte auch dich, pass auf Damien auf, er muss ab und zu auf den Boden zurück geholt werden. Seine Faszination für Magie, sein Forschungsdrang sind gefährliche Gaben, er könnte sich darin verlieren.
 

Leb wohl Maria, ich wünschte, ich könnte dich in den Arm nehmen, aber bevor du den Brief kennst, wird es dich nur unnötig verwirren.

Alles, alles gute und viel Glück
 

Dein Vater Michelangelo
 

Ich machte am unteren Blattrand ein paar Flecken aus. Tränen? Mir war nach weinen zu mute aber Damien sass in meiner Nähe.

Wieso? Wieso musste Hochwürden Michelangelo mir das alles schreiben, jetzt wo er tot war, nie mehr wiederkehren würde. Alles nichts mehr änderte. Wie wohl jedes Waisenkind hatte ich mich gefragt, wer meine Eltern waren. Das heisst, den Namen meiner Mutter und ihre Tätigkeit im Orden hatte ich gekannt. Aber ich hätte nie mit jemandem wie Hochwürden Michelangelo gerechnet. Eher mit einem verantwortungslosen Idioten, der sofort verschwunden war, als er erfuhr, dass er Vater wurde. Ich hatte mich damit abgefunden, es nie herauszufinden. Und dann das.

Ich weiss nicht, wie lange ich auf den Brief gestarrt hatte, als Damien sich durch ein dezentes Räuspern bemerkbar machte. Hatte er mitgelesen?

Ich faltete den Brief hastig zusammern, steckte ihn unter meine Jacke. Dann dreht ich mich ihm langsam zu. Das magische Licht verblasste. Dann sieht er wenigstens mein verheultes Gesicht nicht, dachte ich unsinnigerweise. Ich klammerte mich an den Gedanken, den ich normalerweise gedachte hätte. Bevor ein paar Zeilen mein Leben auf den Kopf gestellt hatten.
 

Ich wusste, dass Damien neugierig war, ich genoss seine Aufmerksamkeit. Dass er ausnahmsweise etwas von mir wollte. Aber er hielt sich höflich zurück und liess mir Zeit.

„Ist es so schlimm? Du wirkst betroffen“, fragte es schliesslich.

„Er war mein Vater“ murmelte ich und rechnete damit, dass Damien mir gleich hundert Gründe aufzählen würde, wieso das nicht der Fall sein konnte.

Stattdessen grinste er nur: „Das erklärt einiges“

„Wusstest du es?“ Ich hatte mir eine aufregendere Reaktion gewünscht.

„Nein, er hat nichts dergleichen erwähnt. Aber wenn man es weiss, sieht man die Ähnlichkeit.“

„Ich verstehe nicht, wieso er es mir jetzt noch schreiben musste, was nützt es ihm jetzt noch und was soll ich mit dem Wissen anfangen?“

„Vielleicht wollte er nicht, dass du ihn vergisst.“

„Das werde ich mit Sicherheit nicht.“

„Siehst du?“Darauf wusste ich nichts zu entgegnen. Und nach kurzem zögern fuhr er fort: „Und, hat er...“

Ich erriet was er wissen wollte also ergänzte ich seinen Satz „das Nekromantikum erwähnt? Nein, jedenfalls nicht in dem Sinn“

„Vielleicht hast du es überlesen“ meinte er hoffnungsvoll und starrte auf meine Brüste, bzw. den dort verborgenen Brief.

„Ich denke nicht, aber er meinte, ich solle auf dich aufpassen, deine Faszination sei gefährlich. Selbst wenn er etwas geschrieben hätte, wäre es besser, du wüsstest es nicht.“

„Die Warnung hat er mir auch geschrieben. Aber ich kann auf mich allein aufpassen. Du würdest den kritischen Wendepunkt sowieso nicht bemerken.“ Es klang fast ein bisschen trotzig, ich entgegnete nicht. Er hatte recht, woran sollte ich es merken, wenn er mich nicht an sich heran liess. „Und es dürfte dir schwer fallen, vor mir etwas geheim zu halten, das ich wissen möchte.“ Ergänzte er. Ich zweifelte nicht daran, dass er Aquila diesbezüglich nicht nachstand.

„Dann ist gut, dass ich nichts weiss. Hochwürden Michelangelo hat das Rätsel wenn so angelegt, dass ich es erst lösen kann, wenn ich dir gewachsen bin.“ Er grinste, ich auch, es schien unwahrscheinlich. Jedenfalls von seinem Standpunkt aus. Es musste etwas mit der Zeit zu tun haben, aber ich wusste noch nicht, wie. Bevor Damien neugierig werden konnte, wechselte ich das Thema: „Er meinte ausserdem, ich hätte vielleicht etwas von seinem Magietalent geerbt, und das du mir vielleicht helfen könntest.“

Damien blockte sofort ab. „Der Unterrichtsstoff kannst du jederzeit vom Server abrufen, wieso probierst du es nicht einfach selbst aus?“

Dann suchte er meinen Blick. „Aber sei Vorsichtig, wenn du plötzlich dein Verhalten änderst könnte das Aquila misstrauisch machen. Am sichersten bist du, wenn du dich weiterhin vergeben abmühst.“

Seine direkten Worte schmerzten, ich gab nur ungern zu, dass er auch damit recht hatte. Ich brachte keine Antwort heraus, also nickte ich.
 

Dann stand Damien auf. „Ich gehe besser und du solltest dich von mir fern halten. Offiziell haben wir rein gar nichts gemeinsam. Also lerne auf dich selbst aufzupassen.“ Er hob die Hand zum Gruss dann öffnete er seinen Regenschirm und verschwand durch die Tür. Ich blieb sitzen, sah ihm nach. Er drehte sich nicht um.

Ich war wieder allein. Ich zog die Beine an den Körper und legte die Arme darum. Weinte, aber nur ein bisschen.
 

Ich kehrte spät in mein Zimmer zurück. Ich hätte den Brief am besten vernichtet, aber ich konnte mich nicht davon trennen. Also behielt ich ihn. Versteckte ihn sorgfältig in den falten meiner besten Bluse, so schnell würde ich die nicht wieder tragen. Ich kann nur hoffen, dass Aquila sich tatsächlich nicht mehr um mich kümmert.

Wieso muss alles immer so kompliziert sein?

Donnerstag 19. Oktober

Meine Klasse bereitet sich auf die Adventsaktion vor und ich habe ungestörte Zeit für mich. Die Bibliothek ist leer und fühlt sich langsam wieder sicher an. Die Angst, Aquila würde auftauchen oder mich beobachten legt sich. Trotzdem bin ich noch nervös, ich habe mich dreimal versichert, dass ich allein bin. Und doch schlägt mein Herz zu schnell, obwohl ich nur in mein Tagebuch schreibe.

Es ist schwer mich zu verhalten, als wäre alles wie immer. Als wüsste ich nichts.

Ich ertappe mich dabei, wie ich mich frage, wie ich mich normalerweise verhalte. Bei all den kleinen Dingen die ich täglich tat, ohne darüber nachzudenken. Wie viel Zeit verbrachte ich unter der Dusche, wie schnell ging ich in den Speisesaal. Sah ich den entgegenkommenden Ordensmitglieder in die Augen oder wich ich ihren Blicken aus? Jetzt sehe ich jedenfalls zu Boden, Hochwürden Michelangelos Brief kreist dauernd in meinen Gedanken, begleitet von der Angst, jemand könnte diese lesen, ohne dass ich es merken würde.

Oder ich spiele in Gedanken Szenarien durch. Was wenn ich früher erfahren hätte, wer mein Vater ist? Was wenn wir dadurch etwas gegen die Erpressung hätten tun können? Wenn wir zur Wahrheit gestanden hätten. Oder ich verschwunden und mir eine neue Identität zugelegt hätte?

Aber auch banale Dinge. Zum Beispiel: worüber hätten wir beim Abendessen gesprochen?

Über meine Fortschritte darin, Zeit zu manipulieren? Ich habe es versucht. Minutenlang auf eine Uhr gestarrt und versucht den Sekundenzeiger anhalten oder manipulieren. Bisher ohne Erfolg, und ich war ziemlich enttäuscht. Aber ich werde den Dreh schon noch rauskriegen. Es wäre ein Witz, wenn es einfach so klappen würde, nachdem ich mich jahrelang vergeblich abgemüht habe.
 

Aber heute werde ich es mit der Magie versuchen. Ich habe die Anleitungen für Anfänger heruntergeladen. Sie sind kindlich geschrieben und voller bunter Bilder. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich damals versuchte, den Zeichen auf dem Bildschirm einen Sinn abzugewinnen. Die einfachen Bediensymbole und Videoerklärungen wurden immer mehr durch Text abgelöst. Und anders als in anderen Fächern gab es kein Training oder Erlebnisreisen im virtuellen Raum. Schon allein deswegen war Magie für mich eine Herausforderung, genau so geheimnisvoll wie die Buchstaben die sich zu Worten fügten. Aber dann erwies sich lesen als wesentlich einfacher. Einem Talent wie Damien muss es mit der Magie ergangen sein, wie mir mit dem lesen. Es wurde zur Selbstverständlichkeit. Etwas was man täglich anwendet, und auch wenn einmal eine Fremdsprache dabei ist, erkennt man doch die Grundstruktur, weiss wie es funktionieren würde.

Ich werde mich mehr anstrengen müssen, ich bin kein Genie, aber ich kann trotz meinem mangelnden Sprachtalent gut lesen. Magie müsste auch zu schaffen sein.
 

Fortsetzung:

Es läuft „Liebe wieder willen“ und ich kann ungestört schreiben. Ein Glück, dass meine Zimmergenossinnen die Serie mögen. Mir geht das hin und her, dass ich davon mitbekomme auf die Nerven. Aber ich habe besseres zu tun, als die Handlung auf dem Bildschirm zu verfolgen.
 

Erste Lektion: Einen Gegenstand schweben lassen.

Ich folgte den Anweisungen, zeichnete sorgfältig den Beschwörungskreis auf ein Papier und sprach dann laut die Beschwörungsformel aus. Natürlich erst nach ich sicher war, dass niemand in die Bibliothek gekommen war.

Beim zweiten Versuch machte ich auch die Handbewegungen richtig, und tatsächlich, der mitgebrachte Pingpongball erhob sich um ein paar Zentimeter. Lange genug um mich über meinen Erfolg zu freuen, dann spickte er davon und ich verbrachte die nächste halbe Stunde damit, ihn unter einem Bücherregal hervorzuholen.
 

Damit beendete ich meine Übung für heute, ein Erfolg musste reichen. Um ehrlich zu sein, war der Zauber banal, fast jedes fünfjährige Kind aus der Klasse schaffte es. Sogar ich, wenn auch nach einigen misslungenen Versuchen. Aber das war das erste mal seit zehn Jahren, dass ich überhaupt wieder Magie angewandt habe. Jetzt weiss ich, dass ich es noch kann.
 

Es ist als hätte ich das Ignoriert-Werden für mich gepachtet. Wovor hatte ich Angst? Den ganzen Nachmittag hat mich keiner, ausser den Lehrern, angesprochen und kaum wer angesehen. Ich ass alleine an einer leeren Tischecke zu Mittag und dann auch das Abendessen und nahm mir die Zeit, mich im Speisesaal umzusehen. Alle waren in Gespräche vertieft oder lernten. Ich traf keinen einzigen Blick. Eigentlich müsste ich mich einsam fühlen, aber im Moment einfach nur eine grosse Erleichterung.

Wenn sie wüssten. Wenn sie wüssten, dass ich Hochwürden Michelangelos Tochter bin. Wenn sie wüssten, dass ich die Zeit manipulieren kann (daran glaube ich jetzt einfach). Wenn sie wüssten, dass ich heute zum ersten mal seit zehn Jahren wieder Magie genutzt habe.

Es ist seltsam, aber diese kleinen Geheimnisse geben mir Kraft. Ich habe das Gefühl, irgendwann werde ich allen zeigen, was in mir steckt und dann werden sie es bereuen, dass sie mich ignoriert haben.

Ich will den Zauber von heute Morgen noch einmal ausprobieren. In Gedanken habe ich ihn immer wieder durchgespielt. Sobald meine Zimmergenossinnen verschwunden sind, werde ich ihn ausprobieren.

Im Januar sind die Abschlussprüfungen, ich kann es kaum erwarten. Nicht die Prüfungen, aber danach werden Einzelzimmer zur Verfügung gestellt. Dann habe ich endlich einen Ort für mich. Aber davor muss ich noch einiges lernen. Besser ich setze mich dahinter, schliesslich muss ich das nicht heimlich tun.

Freitag, 20. Oktober

Zu früh gefreut.

Heute nach dem Unterricht zitierte mich Ramirez zu sich. Meine Gruppe habe ohne mich für die Adventsaktion gearbeitet. Was mir einfalle, mich vor der Arbeit zu drücken, wo ich doch sowieso schon auf der Abschlussliste stehen würde. Ich solle mich bei der Gruppe entschuldigen, die sogar so anständig gewesen sei, mich zu decken. Aber er hätte sich nicht täuschen lassen, und schliesslich hätten sie es ihm gesagt. Wenn das noch mal vorkomme...

Ich stand nur da und nickte. Ich brachte keinen Ton heraus, so sehr musste ich mir das weinen verkneifen. Geglaubt hätte er mir sowieso nicht.

Es ist nicht fair. Nathalie ist so was von scheinheilig. Aber was überrascht mich das. Sie bemüht sich immer um den Eindruck der Musterschülerin. Salome und Milla widersprachen ihr bestimmt nicht, glücklich, eine Ausrede zu haben. Ich musste Ramirez versprechen, sie sofort zu suchen und bei allen weiteren Vorbereitungen zu helfen. Stattdessen eilte ich zur nächsten Toilette und schloss mich ein, bis die Tränen aufhörten zu fliessen. Und noch ein bisschen länger, damit ich die Toilette nicht allzu verheult verlassen musste.
 

Da ich keine Ahnung hatte wo Nathalie und die anderen steckten, rief ich sie an. In der Stadt, lautete die Antwort. Ob sie arbeiteten blieb unklar, aber Nathalie meinte kurzerhand, arbeite an deiner Geschichte. Mit guten Sätzen, die sich zum Erzählen eignen. Dann unterdrücktes Lachen und dann Stille. Sie hatte aufgelegt.

Und wieder einmal sitze ich in der Bibliothek. Ich habe das Gefühl, auf der Stelle zu treten. In jeder Beziehung, dass ich mit der Geschichte nicht wirklich vorankomme, ist bezeichnend dafür. Aber wenn ich jetzt aufgebe, haben sie gewonnen. Und das will ich nicht. Nicht wenn ich verliere, weil sie lügen.
 

Vor langer Zeit lebte hier im Waisenhaus ein Mädchen, das Carla hiess. Sie war ein verträumtes Kind das Geschichten liebte und auch selbst gern welche erfand. Aber nicht in der Geschichte, die ich euch gleich erzählen werde.

Eines Tages wurde Carla in den Keller geschickt, um Samen für den Garten zu holen. Sie ging nicht gern in den Keller, dort war es dunkel. Trotzdem wollte sie ihre Angst nicht zugeben und gehorchte. Stufe um Stufe stieg sie die Treppe hinunter. Und dann trat sie ins Leere, stolperte und fiel.

Aber sie schlug nicht hart auf den Boden, sondern landete ganz weich und ohne sich zu verletzen. Sie blinzelte und sah in ein freundliches Gesicht. Eine Gestalt ganz in weiss half ihr auf. Carla wusste sofort, dass es ein Engel war, weil er wunderschöne weisse Flügel hatte.

„Bin ich gestorben“, fragte sie sich und kniff sich zur Sicherheit in den Arm. Es tat weh.

„Danke“, sagte sie und der Engel lächelte ihr zu. Der Keller schien nicht mehr so unheimlich. Carla eilte zu dem Regal auf dem sich der Korb mit den Samenbiefchen befand. Sie nahm ihn unter den Arm und drehte sich um. Der Engel war verschwunden. Aber Carla spürte seine Gegenwart noch immer. Ohne das kleinste bisschen Angst eilte sie die Treppe wieder hoch. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Freunden von der Begegnung zu erzählen.
 

Die anderen warteten bereits, die Nonne begann zu erzählen, wie sie die Samen zu sähen hätten. Aber Carla konnte nicht warten: „Ich habe im Keller einen Engel getroffen“, rief sie, „Ein Schutzengel, er hat mich aufgefangen, als ich die Treppe herunter fiel.“

„Du lügst, Engel gibt es nicht“ entgegnete Giovanni. Aber die anderen Kinder und die Nonne glaubten ihr und wollten alles wissen. Bis zum Abendessen erzählte Carla ihre Geschichte immer und immer wieder.

Aber als sie am Abend am Tisch sassen und auf das Abendessen warteten, unterbrach Francesca Carla.

„Isabella hat einen viel grösseren und schöneren Engel gesehen. Seine Flügel waren bunt und glitzerten.“ Sofort wandten sich alle Francesca zu, Isabella sass an einem anderen Tisch und bis zum Ende des Abendessens durfte niemand aufstehen.
 

Am nächsten Morgen erfuhr Carla, dass nicht nur Isabella den bunten Engel gesehen hatte. Auch andere Kinder hatten ihn gesehen, und bei jedem war er grösser und schöner. Bald hatte er keinen Platz mehr im Haus, er hätte sich bücken und die Flügel fest anziehen müssen.

Carla war neugierig, zu gern hätte sie den bunten Engel auch gesehen. Aber in den folgenden Tagen traf sie nur einmal auf ihren weissen Engel. Er wirkte traurig und durchsichtig. Carla wollte ihn fragen, wieso er so traurig sei. Aber da war er schon verschwunden.
 

Es vergingen drei Wochen bis Carla den Bunten Engel sah. Er war nicht ganz so gross, wie die anderen behauptet hatten. Aber er trug prächtige Kleider und seine Flügel schimmerten in allen Regenbogenfarben. Schüchtern hob Carla den Kopf, um sein Gesicht zu sehen und erstarrte.

Er guckte so böse, dass sich Carla nicht mehr zu rühren wagte. Seine Augen waren eiskalt und Carla hatte schreckliche Angst. Sie wollte weglaufen, aber ihre Beine liessen sich nicht bewegen. Sie konnte nicht mal die Augen schliessen. Für einen Moment glaubte sie, sie müsse sterben.

Da schob sich ein weisser Schleier vor ihre Augen. Sie blinzelte und erkannte den weissen Engel. Er war ganz durchsichtig, aber er schwebt schützend zwischen ihr und dem bösen Engel.

Carla rannte weg. So schnell sie konnte. Weg vor dem unheimlichen geflügelten Wesen. Ein Engel konnte das nicht sein.

Sie bog um eine Ecke und stiess fast mit Isabella und ihren Freundinnen zusammen, die ihr entgegen kamen.

„Ein Dämon!“ rief sie ihnen zu. „Geht nicht weiter, dort ist ein Dämon!“ wiederholte sie. Isabella und ihre Freundinnen blieben kurz stehen. Sie kicherten.

„Erst ein Schutzengel, dann ein Dämon, was kommt als nächstes?“ Fragte Isabella. Carla verstand nicht, was sie meinte.

„Aber, du hast doch den bunten Engel gesehen!“ Warf sie ein. Das Kichern wurde zu Lachen.

„Das habe ich doch bloss erfunden, weil alle von deinem Engel redeten.“ Erklärte Isabella und ging weiter.

Carla war wütend, und für einen Moment dachte sie: „Isabella wird gleich selbst sehen, dass ich recht hatte.“

Aber dann erinnerte sie sich an den bösen Blick. Die Mädchen waren schon um die Ecke verschwunden, Carla rannte ihnen hinterher. „Wartet!“ Rief sie so laut sie konnte.

Der Ruf war überflüssig, sie standen nur ein paar Schritte weiter. Carla hatte sich vorgenommen, nicht aufzusehen, um nicht noch mal dem Blick des Dämons zu begegnen. Aber sie konnte nicht anders.

Zu ihren Glück konzentrierte sich der Dämon gerade auf den Schutzengel. Er schleuderte Feuerkugeln, die der Schutzengel mit einem unsichtbaren Schild daran hinderte, den Gang runter auf die Mädchen zu zu fliegen. Dann erschuf er eine Kugel aus strahlendem Licht, die er auf den Dämon zu schleuderte. Der Dämon verteidigte sich mit einem bunten Licht.

Der Schutzengel wurde durch das bunte Licht des Dämons immer weiter zurückgedrängt. Und auch Carla wich zurück. Der Dämon holte zum Schlag aus und schleuderte ein lila schimmernden Pfeil in ihre Richtung. Schnell brachte sie sich hinter der Ecke in Sicherheit. Beobachtete nur das Wechselspiel der Lichter. Zu ihrem erstaunen war kein einziger Laut zu vernehmen. Auch nicht von Isabella und ihren Freundinnen.

Das Licht wurde rot und Carlas Herz begann vor Angst ganz schnell zu klopfen. Dann erklang ein hoher Schrei. Carla hielt sich die Ohren zu, kniff die Augen zusammen.
 

Nach einer Ewigkeit blinzelte sie vorsichtig. Das rote Licht war verschwunden. Es war still. Schliesslich siegte die Neugier über die Angst. Vorsichtig späte Carla um die Ecke. Die Mädchen lagen reglos am Boden. Der Dämon war weg, nur ein paar schillernde Federn am Boden erinnerten noch an ihn.

Und dann entdeckte Carla auch den Schutzengel. Er war gerade dabei in den Boden zu sinken. Es war schon nur noch sein Kopf zu sehen als er sich Carla zudrehte. Er lächelte sie traurig an und versank dann ganz.
 

Carla sah den Schutzengel nie mehr, aber auch der Dämon war weg. Der Schutzengel hatte ihn mit seiner letzten Kraft besiegt und sich danach schlafen gelegt um sich zu erholen.

Bis heute liegt er tief unter dem Keller und schläft. Aber weil wir alle an ihn glauben, wird er wieder stark. Darum werden wir ihn jetzt wecken damit er euch beschützen kann.
 

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Isabella und ihre Freundinnen starben. Das kommt davon, dass sie nicht auf Carla gehört haben. Aber das müsste ich sowieso wieder streichen.

Ich werde die Geschichte Nathalie senden. Ob sie die Ambivalenz drin erkennt? Ob die Kinder sie verstehen werden. Ich hoffe, sie stellen Nathalie unangenehme Fragen.

Das war mein Beitrag für heute. Jetzt werde ich mich noch etwas der Magie widmen, auf Abendessen habe ich sowieso keine Lust.



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Kommentare zu dieser Fanfic (19)
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Von:  Nisichan
2011-03-20T16:08:46+00:00 20.03.2011 17:08
Haha, Maria schießt zurück ^_^ die Geschichte ist gut. Ich würde mich sehr freuen, wenn du die Geschichte doch noch weiter schreiben würdest. Mir hat sie sehr gefallen besonders deine kleinen kritischen versteckten Bemerkungen über Marktpolitik und Religionsvermarktung finde ich sehr erfrischend. Schreib bitte weiter, wo sich doch gerade die Wolken in Marias Leben verziehen.
Von:  Nisichan
2011-03-20T15:57:00+00:00 20.03.2011 16:57
hm, sie ist eine HEEEEEXEEEE ... kreisch. Ich freue mich für sie, hoffentlich klappt das mit der neuen Karriere. Ganz nach dem DÄ Motto: Eines Tages wer' ich mich rächen ... *sing*
Von:  Nisichan
2011-03-20T15:40:44+00:00 20.03.2011 16:40
Boah, das war jetzt mal echt eine Überraschung. Damit hätte ich echt nicht gerechnet O_O sollte ich mich geirrt habe und du bist gar nicht so ein Folterknecht wie ich dachte, Helen? Naja, zumindest Folter mit System. Ich freu mich auch, dass Damien zumindest sowas wie ein großer Bruder für sie ist und sie nur schützt mit seiner gespielten Abneigung. Bin gespannt wie es weitergeht.
Von:  Nisichan
2011-03-20T15:18:22+00:00 20.03.2011 16:18
Also ich finde die Geschichte gar nicht mal schlecht, also die über den Schutzengel. Und deine Geschichte natürlich auch. Bin gespannt wie du sie überarbeiten willst, sie hat auf jedenfall Potenzial. Vielleicht solltest du in der Neuauflage nicht ganz so gemein mit Maria sein. Sie ist ja schon ein Drama für sich, ganz ohne jede Geschichte. O_O Sorry, aber sie tut mir einfach leid und so wie ich dich kenne, wird das alles noch schlimmer. Gibt es denn niemanden, der sie einfach so mag wie sie ist?
Von:  Nisichan
2011-03-20T15:10:53+00:00 20.03.2011 16:10
Oje, das wird langsam echt schlimm mit ihr, das scheint sich in eine dicke Depression zu verwandeln. Man was bist du gemein mit deinen Charakteren. Fehlt nur noch ein gebrochenes Bein und das ihr vor laufender Kamera die hose runterutscht <_< Aber nach Regen soll ja Sonnenschein folgen, auch wenn Marias Leben eher einer andauernden Regenzeit gleicht.
Von:  Nisichan
2011-03-20T14:56:56+00:00 20.03.2011 15:56
Hui, kurz und bündig O_O Gute Besserung an die Gute, sie hat es wirklich nicht leicht. Hoffentlich gibt sie sich bald einen Ruck aus ihrem Selbstmitleid herauszukommen.
Von:  Nisichan
2011-03-20T14:52:39+00:00 20.03.2011 15:52
Ein Schutzengel? Hm, klingt spannend. Bin mal gespannt wie sie das machen.
Von:  Nisichan
2011-03-20T14:36:08+00:00 20.03.2011 15:36
Na sowas, auf einmal sind sie nett zu ihr? O_o Das kommt mir irgendwie suspekt vor. Hat Damien was damit zu tun? Okay, ich werde es sicher bald erfahren.
Von:  Nisichan
2011-03-20T14:05:01+00:00 20.03.2011 15:05
Oha, ich bin mir nicht sicher, ob Damian da die Wahrheit erzählt hat. Höchstwahrscheinlich ist das nur seine Annahme, dass es sich um eine falsche Spur handelt, denn er hat die Nummer sicher auch kontrolliert und nix gefunden. Ich bin irgendwie ganz froh, dass du nicht näher auf Michelangelos Tod eingangen bist. So war das ganz gut <_< ob er wirklich eingschlafen ist? Ich habe da so meine Zweifel.
Von:  Nisichan
2011-03-20T13:51:55+00:00 20.03.2011 14:51
Hm, deine Protagonistin ist irgendwie sehr sympathisch. Die typische Antiheldin, zwar nicht sonderlich begabt aber doch irgendwie schlau. Sie hat wohl nur noch einfach nicht ihr Ding gefunden. Ich drücke ihr die Daumen. Oh nein, ich hab Angst weiterzulesen, ist morgen nicht der Todestag des Hochwürden? <_< Ich lese trotzdem weiter.


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