Fortissimo von halfJack ================================================================================ Kapitel 13: 13. Satz: Colla Parte --------------------------------- 13. Satz: Colla Parte (einer freien Stimme folgend) „Sie bereisen also derzeit Kyoto und wollen nun unsere Pilgerklause beziehen?“ „So ist es!“, gab Ryuichi mit überschwänglicher Freude dem glatzköpfigen Priester zur Antwort. Dieser beäugte ihn skeptisch, als würde er ihm kein Wort glauben. Tatsuhas Vater war eine harte Nuss und nicht so einfach zu knacken. Allein bis zu dieser ersten Frage war eine gefühlte Ewigkeit vergangen. Nachdem Tatsuha seinen Besuch beim Hausherrn vorgestellt hatte, waren sie gemeinsam in ein kleines Zimmer geführt worden. Durch die schmalen Fenstersparren erahnte man einen winzigen Ausschnitt des gepflegten Gartens. Ihnen wurden Süßigkeiten serviert, was an der ganzen Zeremonie, wie Tatsuha es nannte, jener Teil war, den Ryuichi am besten fand. Dazu allerdings wurde ihnen eine ekelhafte grüne Brühe gereicht, die Vater und Sohn aus unerfindlichem Grund andächtig im Kreis drehten und die wortwörtlich schmeckte, als würde man ins Gras beißen. „Mir ist aufgefallen“, meinte Tatsuha, „dass die Dekoration geändert wurde.“ „In der Tat“, stimmte ihm sein Vater zu, „sie wurde an die Pflanzen angepasst, die jetzt im Garten zu blühen beginnen.“ Ryuichi folgte dem Blick der beiden Männer, die feierlich auf ein paar Blätter glotzten, die auf einem sinnlosen Regalbrett drapiert lagen. Er verstand nicht, was das alles sollte. Ihm war langweilig und seine Füße schliefen ein. „Wir bieten während der Askese eine streng vegetarische Küche an“, fuhr Uesugi derweil an Ryuichi gewandt fort. „Außerdem gehe ich davon aus, dass sie dem Gongyo beiwohnen möchten.“ „Genau, dem Ginko beiwohnen“, pflichtete Ryuichi bei, obwohl er sich fragte, was ein Baum mit der ganzen Angelegenheit zu tun hatte. „Dem Gongyo!“, flüsterte Tatsuha ihm von der Seite hektisch zu. „Das Rezitieren von Sutren, bei uns die morgendliche Andacht.“ „Eben, am Morgen wollte ich schon immer mal nachdenken.“ Ryuichi nickte ernst und war stolz, dass er solch eine überzeugende Vorstellung ablieferte. Uesugis Augenbraue zuckte leicht, wahrscheinlich vor Anerkennung, bevor er weitersprach: „Verzeihen Sie mir, wenn ich das sage, aber Sie... sehen nicht unbedingt wie ein Pilger aus.“ „Doch, doch, ich bin Belgier.“ „Pilger!“, zischte Tatsuha neben ihm. „Pilger“, wiederholte Ryuichi eifrig. Uesugi schloss für einen langen Moment die Augen und gab einen merkwürdig tiefen Seufzer von sich. Es war nicht recht ersichtlich, ob er gerade voller Hochachtung schwieg oder ob es ihm einfach nur die Sprache verschlug. Ryuichi lächelte ihn erwartungsvoll an. Er merkte, wie Tatsuha neben ihm unruhig auf seinem Sitzkissen herumrutschte. „Nun gut“, beendete Uesugi schließlich die Unterhaltung. „Mir kommt diese Begebenheit zwar auf unangenehme Weise vertraut vor, aber ein wenig erwachsene Leitung wird Tatsuha hoffentlich nicht schaden. Da Sie ein guter Freund von meinem Schwiegersohn Toma sind, werde ich eine Ausnahme machen. Fühlen Sie sich bitte wie zu Hause. Ich empfehle mich.“ Es dauerte noch ein paar Sekunden, in denen Ryuichi und Tatsuha in angestrengt erstarrter Haltung verfolgten, wie der oberste Priester sich aus dem Teezimmer zurückzog. Erst dann erlaubten sie sich, erleichtert in sich zusammenzusacken. Grinsend hob Ryuichi eine Hand und Tatsuha schlug freudestrahlend ein. Es war nicht nur jene nervige Teezeremonie, der sich Tatsuha gehorsam unterzogen hatte, um seinen Vater gnädig zu stimmen. Vom Seiza, dem korrekten Sitzen auf Fußrist und Knien, das dieser ihn stundenlang zur Disziplinierung aufnötigte, taten ihm immer noch die Beine weh. Ryuichis Anwesenheit jedoch war wie die Erfüllung eines lang gehegten Wunschtraums. Zugegeben war in diesem wiederkehrenden Traum normalerweise der Tempel relativ menschenleer und Ryuichi relativ unbekleidet, aber Tatsuha wollte sich nicht beschweren. Ganz im Gegenteil, er konnte sein Glück kaum fassen und wäre auf der Stelle mit ihm durchgebrannt. In seliger Belustigung beobachtete er, wie Ryuichi am Zipfel eines gestapelten Futons zerrte und diesen aus dem Wandschrank zu bugsieren versuchte. „Die Dinger sind viel schwerer als erwartet“, ächzte er und schien dabei so viel Spaß zu haben, dass Tatsuha sich sparte, ihn darauf hinzuweisen, dass das eigentlich Aufgabe der Dienerschaft war. Mit einem Ruck landete Ryuichi mitsamt Futon auf dem Boden und wälzte sich lachend darauf herum, bis er außer Atem von unten herauf fragte: „Wie kommt es überhaupt, dass dein Vater Priester ist und trotzdem mehrere Kinder hat? Ich dachte, Mönche müssten insolvent leben.“ „Abstinent meinst du. Das ist schon seit über hundert Jahren nicht mehr der Fall.“ Tatsuha schüttelte das Bettzeug aus und schlug es in ein Laken. „Nach dem Niedergang der Tokugawa wurde doch in Besinnung auf die japanische Volksseele strikt zwischen Shintoismus und Buddhismus getrennt. Einhergehend gab es im fünften Jahr der Meiji-Ära ein Gesetzesdekret des Kabinetts, das jedem Mönch den Fleischverzehr, die Haartracht sowie das Führen einer Ehe freistellt. Auslegung und Strenge der Vorschriften differieren je nach Orden, genauso wie es individuelle Unterschiede bei der Messe und anderen Ritualen gibt. Bei uns beispielsweise... Ryuichi? Hörst du noch zu?“ „Was?“ Ryuichi schreckte vom Futon hoch und wischte sich den Speichel vom Kinn. „Oh, ich bin weggedöst, als du irgendetwas Langweiliges erzählt hast, Tatsuha-kun.“ „Warum bist du eigentlich hier?“ Tatsuha glitt ebenfalls hinab auf den Futon, stützte sich auf einen Ellenbogen und grinste Ryuichi schelmisch von der Seite an. „Warum bist du mir gefolgt?“ „Ich brauche meinen Gehilfen“, entgegnete dieser verschwörerisch. „Ich bin in geheimer Mission unterwegs, vielmehr auf einem Feldzug, bei dem ich einen Vasallen benötige, der mir absolute Treue gelobt und alles tut, was ich verlange.“ „Was bekomme ich dafür?“ „Ich habe heute mit dir den Hof gefegt“, erinnerte ihn Ryuichi in einer Mischung aus Überraschung und Empörung. „Wäre jetzt nicht eine Gegenleistung fällig?“ „Dafür, dass du durch meine zusammengekehrten Blätterhaufen gerobbt bist und gerufen hast, du wärst Dagobert Duck, während du mit Laub um dich warfst, als wären es Geldscheine? Ein bisschen wenig Entschädigung, wenn ich im Gegenzug alles für dich tun soll, findest du nicht?“ „Eigentlich sollte ein Sklave überhaupt nichts für seine Dienste verlangen. Du bist ein schwieriger Knecht, Tatsuha-kun. In Ordnung, du kannst von mir einen Knopf haben.“ Ryuichi drehte sich auf den Rücken und nestelte am zweiten Knopf seines Rüschenhemdes. „Aber nicht irgendeinen Knopf, nein, du bekommst meinen wertvollen Herzknopf. Die Schulmädchen sind ganz verrückt danach.“ Er hatte sein Hemd in der Mitte geöffnet, zwirbelte das kleine Stück Plastik zwischen den Fingern hin und her und schabte mit dem Nagel über das Fadenkreuz zwischen den Knopflöchern, um den Knoten aufzudröseln. Wie hypnotisiert schaute Tatsuha zu. Als der Knopf bald nur noch locker am Zwirn hing, sich aber nicht vollständig lösen ließ, streckte Tatsuha die Hand aus und schob sie durch die schmale Lücke im Stoff des Hemdes. Überrascht unterbrach Ryuichi seine Tätigkeit, schwieg jedoch. Derweil strich Tatsuha über die erreichbaren Partien des nackten Oberköpers, fühlte samtige Haut und die Bewegung von Atemzügen, die dem Herzschlag folgend zuerst stockend und dumpf, dann eindeutig beschleunigt den Brustkorb unter seiner Handfläche hoben. Er beugte sich vor, um Ryuichi in die Augen blicken zu können. Augen, die ihn abschätzig musterten, ohne eine Spur von Unsicherheit. „Gäbe es nicht eine angemessenere Gegenleistung?“, hauchte er auf Ryuichis Lippen. Eine ruckartige Erschütterung, ein leises, zerreißendes Geräusch und Tatsuha spürte eine Berührung an seinem Mund, warm und fordernd, darunter kühl und glatt. Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es Ryuichis Finger waren, die sich zwischen seine Zähne schoben. Augenblicklich durchströmte ihn Hitze, heißer Atem streifte seinen Hals, die Finger waren sanft, ein wenig salzig, sie legten das kühle, glatte Etwas auf seiner Zunge ab, bevor sie sich zurückzogen. Das fremde Etwas war klein, hart und schmeckte nach nichts. Tatsuha wusste sofort, dass es der Knopf war, den Ryuichi letztlich von seinem Hemd abgerissen und ihm in den Mund geschoben hatte. Jetzt verschloss eine noch feuchte Fingerkuppe seine Lippen, während ihm mit einem Kuss zugeraunt wurde: „Für dich ist das Belohnung genug.“ Ihm schwindelte. Er konnte sich nicht von den Augen abwenden, mit denen Ryuichi ihn fixierte, von denen er befürchtete, vielmehr mit Gewissheit zu erwarten meinte, dass sie im nächsten Moment bereits ihr Feuer verlieren, die kindliche Naivität zurückgewinnen würden, dass gar eine alberne Bemerkung oder ein Plüschtier den Bann zerbrechen würde, der ihn derzeit gefangen hielt. Doch nichts dergleichen geschah. „Wir müssen hier verschwinden“, sprach Ryuichi umgarnend weiter und streichelte Tatsuha wie zufällig im Nacken. „Zur Umsetzung meines Plans kann ich es nicht gebrauchen, wenn du unter Aufsicht stehst. Lass uns von hier abhauen.“ Tatsuha gab sich Mühe, in seinem trockenen Hals nicht den Knopf herunterzuschlucken, der noch immer auf seiner Zunge lag. Obwohl er nicht antwortete, verstand Ryuichi seine fügsame Einwilligung sofort. Bei Nacht und Nebel waren sie ausgebrochen. Keine Laternen beleuchteten den Tempel zur frühen Stunde, daher blieb ihre Flucht, obwohl die Sterne schon verblassten, in der noch dunklen Umgebung völlig unbehelligt und unbemerkt. Die öffentlichen Verkehrsmittel hatten ihren Dienst bereits aufgenommen, doch Ryuichi wollte laufen, quer durch die halbe Stadt. Weder Bus, Bahn noch Taxi waren, wie er sagte, besser als die frische Luft des anbrechenden Morgens, die er in Freiheit atmen konnte, solange die Stadt nicht vollständig erwacht war. In übermüdetem Zustand fanden sie bald ein Internetcafé, quetschten sich zu zweit in eine enge Kabine und schliefen bis zum Mittag. Tatsuha kam das alles vor wie ein Traum. Seit er Ryuichi kannte, wurde seine Welt permanent auf den Kopf gestellt, er brach Regeln, Konventionen, brach sogar von daheim aus und mietete stattdessen ein Zimmer in einem zweitklassigen, altmodisch japanischen Hotel, nur weil Ryuichi es so wollte. Nun war es später Nachmittag, der Himmel bewölkt, das Licht drinnen ausgeschaltet, sodass die Dämmerung langsam das Hotelzimmer verdunkelte, während Tatsuha in sein Mobiltelefon sagte: „Shuichi Shindo steigt mit jedem in die Kiste.“ Zurückgelehnt auf dem niedrigen Stuhl zog er an seiner Kiseru und beobachtete den Rauch, der vor dem Schein seines aufgeklappten Laptops gespenstische Bahnen zog. Die schlanke japanische Pfeife hatte er sich auf Ryuichis Flehen hin vom Personal bringen lassen, um dessen Vorstellung von einem konspirativen Bühnenstück perfekt zu machen. „Das ist keineswegs ein Scherz“, sprach Tatsuha selbstsicher in den Hörer. „Überprüfen Sie Ihre E-Mails, insbesondere das Bild, das ich Ihnen im Anhang geschickt habe. Ich weiß, Sie sind eine bekannte Musikzeitschrift und wollen Ihren guten Ruf nicht durch dubiose Gerüchte gefährden, aber dann schauen Sie sich das mal an. Was meinen Sie, woher ich das Foto habe? Einer von vielen Schnappschüssen, die man von Shuichi Shindo erhalten kann, wenn man ihn beim Feiern trifft und seinem Typ entspricht.“ Tatsächlich war es nur ein Handyfoto, das Tatsuha zufällig in der Wohnung seines Bruders geschossen hatte. Shuichi, geringfügig bekleidet, schlief unter einer halb heruntergerutschten Decke, während neben ihm auf dem Wohnzimmertisch einige leere Bierdosen und ein übervoller Aschenbecher standen. Eigentlich nichts Verfängliches. Tatsuha hatte das Foto bloß gemacht, weil Shuichi süß und sexy aussah und das Bild vielleicht als Erpressungsgrundlage für Eiri dienen konnte. Dass es am Ende einem perfiden Spiel von Ryuichi behilflich war, dessen Beweggründe sich nicht gänzlich erschlossen, hatte Tatsuha nicht einmal in Erwägung gezogen. „Außerdem gingen vor einiger Zeit Gerüchte um, er hätte was mit Taki von Ask am Laufen“, fuhr Tatsuha fort und hörte anschließend den Worten am anderen Ende der Leitung zu. „Klar“, bestätigte er dann, „falls er einen Vorteil daraus zieht. Glauben Sie mir, Shuichi Shindo hat ein zweites Gesicht.“ Die Presse war in der Lage, mit einem pikanten Foto und einer dazu erfundenen Geschichte eine Schmutzkampagne ohnegleichen zu starten, wenn man ihr die passenden Ideen dafür lieferte. Für fälschliche Anklagen konnte man sich nachträglich immer noch entschuldigen, irgendwo ganz hinten auf der letzten Seite, wenn die Story genügend Geld in die Kassen gespült hatte und ihre Richtigstellung sowieso niemanden mehr interessierte. Tatsuha legte auf und wählte umgehend die nächste Nummer auf seiner Liste. Vorher hatte er einem Redakteur aufgetischt, Shuichi würde seine Texte klauen, einem anderen hatte er erzählt, die Melodien von Bad Luck wären häufig nachgeahmt, hierfür summte er am Telefon sogar die Akkordfolge von einem Grasper-Song, um seine Unterstellung zu stützen, eine Theorie, die bei jedem anderen Künstler genauso anwendbar gewesen wäre. Ihre Wirkung verfehlten seine Lügen dennoch nicht. Ein paar Märchen hatte er noch parat. Irgendwann zwischendrin schaute Tatsuha zu dem gespannt lauschenden Ryuichi hinüber und fragte ihn, noch immer mit dem Handy am Ohr, mehr rhetorisch als ernst: „Zufrieden?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)