Sprachen der Zuneigung von Sel ================================================================================ Kapitel 1: Ich liebe dich! -------------------------- „Spiel etwas, Roderich.“ Ludwig ließ sich auf dem mit edlem, rotem Samt bezogenen Sofa des österreichischen Landes nieder und wartete darauf, dass dieses seinem Wunsch nach Ablenkung nach kam. Und tatsächlich begab sich Roderich an seinen Flügel und begann sanft die Tasten anzuschlagen, erst ganz leise, dass man es kaum wahrnahm, dann etwas kräftiger, aber immer noch zärtlich genug, um Ludwig die Möglichkeit zu geben, sich zu entspannen. Er komponierte dabei wie immer ganz frei und ohne über etwas nachzudenken. „Ich hoffe, du kannst mir beim Zuhören noch erklären, warum du um diese Uhrzeit so verwirrt bei mir ankommst, als wäre dir die Welt über dem Kopf zusammen gefallen“, forderte Ludwigs Nachbar eine durchaus verdiente Erklärung ein. Immerhin war es drei Uhr nachmittags und der Deutsche sollte wohl wissen, dass er Roderich von seiner Teestunde mit Ungarn fern hielt. Das war nämlich die Zeit der Entspannung für den Österreicher. „Ist es wieder wegen Italien?“ Ludwig schüttelte den Kopf, was Roderich aus dem Augenwinkel einen Moment beobachtete, über sich ergehen ließ, ehe er ungeduldig nach hakte: „Was bringt dich dann so durcheinander?“ Ludwig seufzte schwer und legte die Hand an die Stirn, fast als wollte er den Österreicher bitten, ihn nicht zu einer Erklärung aufzufordern. Aber es half nichts, denn ihm war klar, dass er ihm eben diese Erklärung schuldig war. „Die Friedensverhandlungen. Du weißt... zwischen uns und den Alliierten.“ „Haben sie endlich etwas gebracht?“, fragte Roderich und unterbrach vor Überraschung sogar sein Klavierspiel. „Nein“, seufzte Ludwig. „Bitte.“ Er machte eine ausladende Geste und Roderich fuhr mit seiner Musik fort. „Es geht... um Frankreich.“ „Frankreich?“ Der Österreicher schien irritiert. Über alle möglichen Länder hatten sie in letzter Zeit gesprochen, aber Frankreich war lange nicht mehr dabei gewesen. Das letzte Mal hatte Ludwig mit ihm über den Nachbarstaat gesprochen, als der deutsch-französische Krieg beendet worden war. Und das lag nun immerhin einige Jahrzehnte zurück. „Bist du sicher, dass es nicht um Italien, Japan oder vielleicht... England geht?“ Jedes Land erschien ihm wahrscheinlicher als Frankreich. „Ja, ich bin mir sicher!“, fuhr Ludwig ihn beinahe grob an. „Es geht um Frankreich. Er... ich glaube, er hat Interesse daran, eins mit mir zu werden.“ Dass ihm dabei die Röte ins Gesicht stieg, schien Roderich Gott sei Dank nicht zu sehen oder schlichtweg zu ignorieren. „Nun“, ächzte Roderich sichtlich erleichtert. Er hatte mit etwas Schlimmerem gerechnet. „Wenn er das doch möchte? Man kann niemals genug verbündete haben, Ludwig.“ „Nein, Roderich. Er will... eins mit mir werden.“ „Schön“, wiederholte der Österreicher, als würde er mit einem Minderbemittelten sprechen, „wenn er doch möchte...? Man kann niemals genug Verbündete haben, Ludwig...!“ „Mit mir...!“, wiederholte auch Ludwig verzweifelt. „Körperlich...!“ Roderich setzte sein las an, um einen Schluck Wasser zu sich zu nehmen, als Ludwig endlich sagte, was er meinte: „Der Akt der Liebe, Roderich!“ Das Nächste, was der Deutsche von seinem Freund mitbekam, war wie er vor lauter Schreck die eine Hälfte seines Wassers wieder ins Glas zurück prustete – wobei sich auch nicht vermeiden ließ, dass sein ganzes Gesicht inklusive seiner Brille nass wurde – und die andere Hälfte so unglücklich verschluckte, dass das Wasser in seine Luftröhre geriet und ihn zum husten und keuchen brachte. Ludwig eile ihm sofort zur Hilfe und klopfte ihm auf den Rücken. „Ludwig!“, ächzte Roderich irgendwann atemlos und sah sein Nachbarland fassungslos an. „Wie kommst du auf so eine absurde Idee?“ „Während der ganzen Verhandlungen hat er seinen Blick nicht ein einziges Mal von mir gewendet. Er sah aus, als wollte er mich mit seinen Augen förmlich aufsaugen.“ „Du überreagierst“, wisperte der Österreicher und tupfte sich mit einem Tuch den Mund und das Gesicht ab, wonach er seine Brille auszog und weiter sprach, während er auch diese trocknete. „Dass er dich so angestarrt hat, kann tausend andere Gründe haben.“ Er sah kurz durch die Brille, um zu kontrollieren, dass sie wieder makellos sauber war, setzte sie auf, nachdem er festgestellt hatte, dass dem so war, und nahm sein Klavierspiel wieder auf. Der Gedanke, dass jemand Ludwig körperlich anziehend fand, war ihm zwar keineswegs suspekt, aber er missfiel ihm. Außerdem war er davon überzeugt, dass es Ludwigs jugendlicher Leichtsinn war, der diese seltsamen Ideen in Frankreichs Aussagen und Handlungen hinein interpretieren ließ. „Ich hätte da eine Lösung für das Problem“, sagte der Deutsche da plötzlich und ging zu dem im Raum stehenden Telefon und wählte eine Nummer. „Ich werde Francis einladen, dann kann ich ihn einfach fragen, ob er mich verführen wollte. Und du könntest ihm zuhören und mir sagen, wie du es empfindest.“ „Sapperlott, welche Freude!“, brach Roderich kurz in seinen gebürtigen Dialekt aus, ehe er seinen Sarkasmus wieder unterdrückte. Denn er konnte sich wirklich Schöneres vorstellen, als zu zu sehen, wie sich eines der Nachbarländer an Ludwig annäherte. „Machen wir es doch einfach so...“, wollte er gerade einen Vorschlag beginnen, da hatte das deutsche Land wohl sein Nachbarland bereits am Hörer. „Francis? Hier ist Ludwig.“ Und dabei warf er Roderich einen kurzen Blick zu, der von dem Österreicher mit einem auffälligen Augenrollen abgetan wurde. Nie und nimmer war das, was Ludwig da gesehen hatte, tatsächlich irgendeine Art von Affektion. „Du bist ohnehin in der Nähe? Oh, ja, das käme mir sehr entgegen. Ja. Vielen Dank. Bis später, Francis.“ Als er auflegte, warf Ludwig dem Österreicher einen erneuten Blick zu. Der ächzte. „Hör schon auf“, brummte er. „Du interpretierst das Ganze vollkommen falsch. Du bist schon genauso kindisch wie Feliciano.“ Gerade wollte Ludwig sich über diesen seiner Meinung nach schrecklich falschen Vorwurf beschweren, da klopfte es an der Tür, beziehungsweise an deren Rahmen. „Wieso ist die Türe denn so weit geöffnet?“, ertönte eine Frauenstimme, die die beiden Männer gleich darauf Ungarn zuordnen konnten, die nach wie vor kaum von Österreichs Seite wich und in seinem Haus lebte. Sie betrat den Raum und sah etwas enttäuscht zu Roderich und Ludwig. Als sie ihre Hände in die Seite stemmte und mit ihren zarten Fingern fast schon etwas zu energisch auf ihre Hüfte trommelte, fiel es Roderich wieder wie Schuppen von den Augen. „Oh, nein, Elizaveta... entschuldige bitte, ich hatte ganz vergessen dir zu sagen, dass Ludwig zu Besuch ist. Bitte verzeih, wir werden die Teestunde heute wohl nicht mehr halten können.“ „Oh, das macht nicht, Herr Edelstein“, antwortete die Ungarin überraschend gelassen und in etwas falschem Deutsch. „Gilbert hat ohnehin gemacht das Teeservice kaputt.“ „Das komplette!?“ Während Roderich in Richtung Küche rannte, um einerseits nach seinem guten Porzellan zu sehen und andererseits Preußen ins Gebet zu nehmen, warf Ludwig Elizaveta einen Blick zu und überlegte, wie es kam, dass sie Roderich siezte. Sie schienen sich doch recht nahe zu stehen. Erst als die Ungarin ihre Augen auch auf ihn richtete, riss ihn das aus seinen Gedanken. „Herr Ludwig?“ Sie nickte zur Tür. „Gilbert ist hier. Wollen Sie ihm nicht sagen Hallo?“ „Oh“, räusperte sich Ludwig und dachte kurz darüber nach, ob er seinen älteren Bruder im Moment wohl ertragen konnte. Und wenn er schon ein Teeservice zerbrochen hatte, bedeutete das, dass das seine sadistische und zerstörerische Ader nur noch mehr für heute angefacht hatte und er somit noch unausstehlicher sein würde, als er es sowieso war. Aber im Grunde lief es ja doch immer wieder auf dass Gleiche hinaus. „Doch, natürlich.“ „Du bist unverantwortlich“, zählte Roderich derweil in der Küche zusammen und ging vor Gilbert auf und ab wie ein Vater, der seinen Sohn gerade aus schalt, „und egozentrisch und“, er gestikulierte und suchte nach passenden Worten, ehe er sich mit sich selbst darauf einigte, dass ein einziges Wort eben doch völlig ausreichte, um Gilberts geistiges Niveau zu umschreiben, „unverantwortlich!“ Der Österreicher wirkte ungehalten und schien fast so, als wollte er am liebsten über das zerbrochene Teeservice zu weinen beginnen. Er hatte des damals mit so viel Geduld ausgewählt und nun lag es in Scherben vor ihm und ein kleiner Teil in Roderich setzte diese Scherben mit seinem eigenen Leben gleich. Schnell verdrängte er aber diese depressiven Gedanken wieder und schimpfte weiter auf den Preußen vor ihm ein. Der stand inmitten jener Scherben und betrachtete seine Nägel, während Roderichs Worte in eines seiner Ohren hinein wanderten und zu dem anderen wieder spöttisch hinaus marschierten. Hätte man kleine Verkörperungen von diesen Worten sehen können, so wären sie wahrscheinlich auf der einen Seite artig und brav hinein gegangen und hätten Roderich ausgelacht und sich wie Pöbel benommen, während sie wieder hinaus kamen. „Hey, hey! West!“ Und damit war Gilberts Aufmerksamkeit gegenüber Roderich endgültig gebrochen und er wandte sich ganz seinem kleinen Bruder zu, der gerade in den Raum getreten war, um ihn zu begrüßen. „Wie geht es dir? Alles in Ordnung bei dir?“ Während er mit Fragen auf ihn ein prasste, schob er Ludwig unauffällig aus dem Raum und ließ damit einen äußerst aufgebrachten Österreicher zurück in der Küche. „Ich bin noch nicht fertig mit dir!!“ „Jaja...“ Ludwig sah seinen Nachbarstaat kritisch an, als der an der Tür lauschte, ob Roderich nach wie vor dabei war, ihn für etwas schuldig machen zu wollen, was er doch gar nicht verbrochen hatte. Nur hatte ihm bisher keiner die Gelegenheit gegeben, sich zu erklären. „Verdammtes Ungarn...“ „Gilbert... was in Gottes Namen tust du an der Tür...?“ „Ich verfluche Elizaveta!“ „Nein, warum...“, wollte der Deutsche seine Frage umformulieren, bemerkte aber schnell, dass sich aus etwas anderem ein viel interessanteres Thema zu entwickeln schien. „Warum?“ „Rate mal, wer das Teeservice wirklich zerbrochen hat!“ Gilbert war sich sicher, dass wenigstens Ludwig, wenn schon ansonsten niemand, zu ihm stehen würde, immerhin waren sie doch Brüder. Aber weit gefehlt, denn der stand nur da und verschränkte mit einer Selbstverständlichkeit die Arme, die den Preußen schwer enttäuschten. „Na... du“, sagte Ludwig da mit eben der gleichen Selbstverständlichkeit – immerhin lag genau diese Vermutung, nämlich dass das Teeservice wegen Gilbert in Scherben lag, ja nicht in allzu weiter Entfernung. „Nein...?“ Und dann hob Gilbert seinen Zeigefinger und deutete aggressiv und vor Ärger die Lippen aufeinander pressend zu der Tür an der er nach wie vor stand. Ludwig folgte seinem Fingerzeig, brauchte einen Moment und gab dann ein entsetztes „Roderich!?“ von sich. Der Preuße vermied es, sich die Hand vor die Stirn zu schlagen, was auch gar nicht nötig war, um die Verzweiflung in ihm auszudrücken. „Feliciano färbt auf dich ab, ich hoffe das ist dir klar.“ Ludwig räusperte sich nur. Vielleicht hatte sein Bruder damit nicht einmal so ganz Unrecht. „Nein“, fuhr Gilbert genervt fort und ein Grinsen setzte sich auf sein Gesicht, das sowohl Hoffnungslosigkeit als auch abgrundtiefen Hass ausdrückte. „Elizaveta, dieses zickige, kleine Miststück! Sie will mich doch nur bei Roderich schlecht reden und stellt sich selbst unter den Heiligenschein, diese falsche Natter!“ „Was? Denkst du wirklich das...“ Ludwig hatte im Moment ernsthafte Probleme damit, seine Gedanken zu sortieren. Warum sollte Elizaveta so etwas tun? Und warum sollte Gilbert irgendjemand glauben, dass er es nicht getan hatte? Und am aller wichtigsten schien ihm eine Frage: „Warum hast du nichts gesagt, als Roderich so gezetert hat?“ „Ich... sagte ich nicht, dass er mich nicht zu Wort kommen ließ?“ Nicht einen Augenblick wirkte Gilbert bei seiner Aussage auch nur entfernt seriös genug, um Ludwig mit dieser Erklärung abzuspeisen. „Das hält dich doch sonst nie ab, du fällst ihm einfach ins Wort!“ Nun wartete er noch ungeduldiger auf eine Erklärung, nach der Gilbert nach wie vor verzweifelt suchte. Gerettet wurde er günstigerweise von der Türklingel, die laut durch das ganze Haus schallte und den Anwesenden beinahe einen Herzinfarkt versetzte. Im nächsten Moment kam Roderich aus der Küche geschnellt, stampfend und Gilbert beinahe die Tür ins Gesicht schlagend. Er verschwand einen Moment im Flur und kam gleich darauf mit dem gleichen Tempo zurück, sein Blick blieb kurz wütend an Gilbert hängen, ehe er wieder so schnell in die Küche verschwand, wie er aus ihr erschienen war. Nach ihm folgte ein doch etwas verwirrter Francis, der sich aber sein ihm übliches Lächeln nicht verkneifen konnte. „Hier ist ja eine ganze Menge los, hein?“ Er sah zu Ludwig, der augenblicklich Haltung annahm, als der Franzose den Raum betrat und auf ihn zukam, wieder diesen Blick aufgesetzt, als wollte er Ludwig nur mit den Augen ausziehen. „Ludwig. Ich bin erfreut.“ Er streckte seine Hand aus und nach kurzem Zögern erlangte der Deutsche seine Fassung wieder und schlug mit seinem Gegenüber ein, ohne aber etwas zu sagen. Francis stellte sich neben Ludwig und legte ihm eine Hand auf den Rücken, während er mit der anderen zum Balkon zeigte und einen kurzen Blick zu Gilbert warf. „Darf ich ihn für einen Moment entführen, Gilbert?“ Die Art, wie der Franzose seinen Namen aussprach, missfiel dem Preußen zwar, aber er hatte nicht einen einzigen guten Grund zu nennen, warum er nicht auf West verzichten könnte. Also gingen die Beiden auf den Balkon, um zu reden. Und dabei hatten Beide wohl etwas völlig anderes im Sinn. Als die Zwei weg waren, kroch Gilbert zurück zur Küchentür, um zu lauschen, was denn nun Elizaveta und Roderich so lange da in der Küche trieben. Erst wollte er reingehen, doch dann... Klick. Rappel. Nichts. Gilberts Gesicht zierte Verwirrung, dann ein hämisches Grinsen. Eine abgeschlossene Tür? Das gab ihm noch mehr Grund zu lauschen. Und kaum, dass er das tat, hatte er bald das Bedürfnis, noch mehr zu grinsen: „Es tut mir Leid, wirklich, Herr Edelstein.“ „Ich weiß. Wir schieben es einfach auf Gilbert und die Sache hat sich.“ Gilbert knurrte. Hatte er es doch gewusst! Aber dass Roderich auch Bescheid wusste und ihr trotzdem nicht böse war, war doch wirklich ungeheuerlich! Aber sie waren noch nicht fertig. „Wenn ich es kann machen wieder gut... Sie müssen nur sagen.“ „Bleib weiter bei mir. Mehr brauche ich nicht.“ Und wieder entfuhr Gilbert ein Geräusch, allerdings ein eher entsetztes Keuchen, gefolgt von dem Klatschen, das entstand, als seine Hand auf seinen Mund schlug. „Diese falsche...!“ Und er schlug wütend gegen die Tür, um gleich darauf aufzustehen und den Raum zu verlassen. Ludwig räusperte sich. Da Francis bereits seit einigen Minuten nichts gesagt hatte, sondern nur da stand und der untergehenden Sonne zusah, glaubte er, es sei das Beste, als Erster zu sprechen. Bevor er aber gleich die Karten auf den Tisch legte, wunderte ihn noch etwas anderes: „Wie bist du so schnell her gekommen?“ Francis lachte und schüttelte den Kopf. „Ludwig, mon ami, du hörst nicht zu. Ich sagte doch, ich war ohnehin in der Nähe.“ Er verschränkte locker die Arme und drehte sich von ihm weg. „Ich war bei meinem kleinen Bruder.“ Er sah sich etwas über die Schulter, um die Reaktion des Deutschen mit zu bekommen. „Bei Feliciano.“ Ludwig stutzte tatsächlich etwas, was Francis aber nicht weiter überraschte, immerhin hatte er es darauf angelegt. „Und wegen ihm habe ich dich heute auch so angesehen, Allemagne.“ Ludwig wich seinem Blick beschämt aus und wurde sichtlich rot im Gesicht. Der Franzose schien nicht ansatzweise so naiv oder dumm zu sein, wie Ludwg es gehofft hatte, und hatte bemerkt, wie verunsichert er wegen der Konferenz gewesen war. Es hatte also tatsächlich nichts mit Lust oder Leidenschaft zu tun gehabt, sondern mit etwas völlig anderem. Sollte Roderich das erfahren, würde er sicher wieder zu hören bekommen, dass er ihm das ja gesagt hatte. „Ich entschuldige mich“, seufzte der Deutsche und verschränkte die Arme, um zu verstecken, dass er zitterte. „Ich dachte fälschlicherweise, du fändest mich anziehend. Das war unangebracht und anmaßend von mir.“ Er schloss die Augen und betete, dass Francis einfach seine Entschuldigung annahm und ging, aber stattdessen tat sich einige Momente überhaupt nichts, bis er Schritte auf sich zukommen hörte. Er wartete auf irgendwas, auf Worte, auf Gelächter, auf eine dumme Bemerkung, wie der Franzose sie gerne einmal verlauten ließ, aber stattdessen spürte er nur etwas. Francis' Hand an seiner. Und als er die Augen öffnete, stand Francis nicht weiter als einen Zentimeter von ihm entfernt. Im nächsten Moment, auch wenn es nur für einen sehr kurzen sein sollte, berührten sich seine Lippen und die des Franzosen, ganz sanft, kaum dass man lange darauf reagieren konnte, aber es reichte, um Ludwig völlig aus der Fassung zu bringen. Francis ging einen Schritt von ihm weg und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er grinste. „Dass ich dich nicht anziehend finde, habe ich nie gesagt. Aber“, er senkte den Blick, seufzte und führte sein schon fast übertrieben glücklich wirkendes Lächeln fort, „wirklich schlagen tut mein Herz nur für einen.“ Er wandte sich elegant auf dem Absatz um und ging zur Balkontür. Ehe er hinein ging, sah er noch einmal zu Ludwig zurück. „Apropos, Herz schlagen... Feliciano fragte mich, ob ich dir etwas sagen könnte von ihm...“ Der Deutsche hörte aufmerksam zu, da fuhr Francis fort: „Ich soll dich fragen, wann du nach Hause kommst. Du wirst vermisst.“ Ludwig sah ihn kurz irritiert an, ehe sich auf dem sonst so ernsten Gesicht des Deutschen tatsächlich etwas Ähnliches wie ein Lächeln bildete, das man nur dann erkannte, wenn man Ludwig lange genug erlebt hatte. „Sag ihm“, gab der Deutsche leise von sich, „ich bin schon auf dem Weg.“ Kapitel 2: Je t'aime! --------------------- „Wir könnten auch...“ Ein Schlag auf den Tisch und Arthur und Francis schüttelten sich die Hände. Matthew saß am Ende des Tisches und seufzte. Gerade war ihm noch eine Idee gekommen, da hatten sie mal wieder alles ohne ihn beschlossen. Nicht eines einzigen Blickes hatten sie ihn während der ganzen Versammlung beachtet, als sei er nicht da. Aber das kannte er ja bereits. Er war eben nur der nutzlose Kanadier, der zufällig dabei saß. Aber nein, so schnell würde er sich heute nicht abspeisen lassen. Denn Arthur hatte ganz klar die Vorteile der Abmachung gezogen und Matthew würde nicht zulassen, dass Francis so schlecht weg kam. Er verstand nicht, warum der Franzose sich mit dem kleineren Teil der Beute, wenn man es so nennen konnte, zufrieden gab. „Monsieur...!“, rief der schüchterne Junge und lief dem Franzosen hinterher, als er den Raum gerade verlassen wollte. Aber er hörte ihn nicht. „Monsieur, bitte...! Ich muss Ihnen etwas sagen!“ Ignorierte er ihn? Er ging weiter und verließ das Gebäude, Matthew völlig achtlos zurücklassend. Er stand einen Moment da, links und rechts gingen die anderen Mitglieder der Versammlung vorbei: Signor Vargas zusammen mit Herrn Ludwig, Honda-san, Mister Jones zusammen mit Mister Kirkland. Und auch, wenn sie teilweise etwas genervt voneinander wirkten, trotzdem sprachen sie miteinander. Und Matthew erinnerte sich an etwas, das ihm jemand vor langer Zeit einmal gesagt hatte: solange ein Mensch gehasst oder verachtet wird, bedeutet das immer noch etwas Besseres, als völlige Ignoranz. Was also sollte Matthew tun? Er hatte nur seinen Freund, den Polarbären Kumajiro und nicht einmal der wusste, wer er war. Immer wieder erinnerte Matthew ihn daran: „Ich bin Matthew... das weißt du doch.“ Mit einer Geduld, die wohl außer ihm niemand mehr gehabt hätte. Aber langsam geriet der junge Kanadier an seine Grenzen, was Geduld betraf. Wie sollte er nur sein ganzes Leben meistern, wenn er nicht einen einzigen Freund in der Welt hatte? Es ging ihm nicht darum, anerkannt zu werden, was seine politischen Fähigkeiten oder seine militärischen Voraussetzungen betraf. Es ging ihm darum, diese Einsamkeit zu besiegen, die er seit Jahren mit sich herum trug. Während er langsam und kraftlos aus dem Gebäude ging, dachte er über die Zeit nach, als das noch anders gewesen war. Er erinnerte sich an seinen Bruder, Alfred F. Jones, an die beiden stolzen Männer, die wie Väter zu ihm gewesen waren, Francis Bonnefoy und Arthur Kirkland, die ihn umsorgt und mit ihm gespielt hatten. Sie hatten mit ihm geredet, ihn geliebt und ihn kaum eine Sekunde aus den Augen gelassen, aus Angst, er könnte sich verletzen. Und auch einige Zeit nach diesem einer glücklichen Familie ähnelnden Bild, als Arthur begonnen hatte, sich mehr um Alfred zu kümmern, war stets Francis an seiner Seite gewesen. Aber irgendwann war es einfach geschehen. Es hatte sich verändert. Irgendwann hatten sie ihn alle nicht mehr wahr genommen. An einigen Tagen war es besser, an anderen schlimmer, aber grundsätzlich überwogen die schlechten Tage so sehr, dass Matthew nach und nach begonnen hatte, sich damit abzufinden, dass man ihn nicht mehr als Person wahrnahm, sondern nur als mysteriöse, unbekannte Gestalt. Er wusste nicht einmal mehr, wie lange er schon damit leben musste. Aber es war zu lange. Und allmählich zerfraßen ihn diese Einsamkeit und die Zweifel an sich selbst innerlich. Er wusste nicht mehr, was er machen sollte. Er hatte bereits versucht, sich mehr in das Geschehen einzubringen, doch auch wenn er das Gefühl hatte, endlich sah ihn jemand an und endlich hörte man ihm zu, wirkten die Blicke der anderen doch wieder nur so leer, als würden sie durch ihn hindurch sehen. Matthew ließ sich auf den Stufen vor dem Versammlungsgebäude nieder und stützte sein Gesicht in seine Hände. Er spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Aber zulassen, dass er jetzt zu weinen begann, wollte er auf keinen Fall. Also stand er auf und klatschte sich einige Male selber gegen die Wangen, um wieder neuen Mut zu fassen. Heute Abend trafen sich die Alliierten alle noch einmal, das wusste er, also würde er es noch einmal versuchen, sich einzubringen. Es konnte nicht unmöglich sein. Sie hatten ihn früher nicht ignoriert, sie würden es ab heute Abend auch nicht mehr tun! Matthew hatte sich den ganzen Tag darauf vorbereitet, am Abend all seinen Mut zusammen zu nehmen, um ebenso ernst genommen zu werden wie die anderen Nationen. Also stand er vor der Tür und... zitterte wie Espenlaub. Er war bis eben noch so fest davon überzeugt gewesen, dass alles klappte, aber nun da er diese riesige Tür sah, über der in Großbuchstaben „Ratssaal“ geschrieben stand. Und dann öffnete er eben diese Tür langsam und sah in einige Gesichter, die ihn eines kurzen Blickes würdigten, dann aber ignorierten, Genau genommen in viele Gesichter, unendlich viele. Das waren nicht nur die Alliierten. Er erkannte auch die Achsenmächte wieder, außerdem aber auch Leute wie Roderich Edelstein, Gilbert Beilschmidt und selbst Sadiq Adnan hatte den weiten Weg auf sich genommen. Es waren so viele mächtige Staaten anwesend, dass sämtlicher Mut aus Matthews Gliedern wich und er sich wieder klein und unbedeutend fühlte. „Hiermit eröffne ich das diesjährige Treffen der Nationen!“, verkündete Alfred lautstark und Matthew fiel es wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Das Treffen der Nationen. Aber dass es dieses Mal, ausgerechnet dieses Mal, wo Matthew sich vorgenommen hatte, vor den Alliierten Mut zu zeigen, so große Ausmaße annahm, dass selbst Nationen anwesend waren, die man sonst fast nie zu Gesicht bekam, damit hatte der Kanadier nicht gerechnet und das war es, was ihn nun wie immer verstummen ließ. Und so blieb es die gesamte Versammlung lang. Nach etwa fünf Stunden waren alle Punkte der Liste abgehakt und die Nationen verabschiedeten sich voneinander, da fiel Ludwig noch etwas ein. Er stand auf und bat noch einen Moment um Ruhe. Er war immerhin Deutscher. Und es musste alles seine Richtigkeit haben. So hielt er eine Liste herum, in die sich bitte jedes Land eintragen sollte, das hier anwesend gewesen war. „Ich habe eure Namen bereits aufgelistet, ihr müsst nur unterschreiben.“ Matthew seufzte. Er war sich ziemlich sicher dass man ihn nicht fragen würde, ob er sich einträgt, und sich durch die Massen zu schlagen brachte nichts. Also blieb er im Gegensatz zu allen anderen Ländern sitzen und faltete geduldig und schweigend die Hände im Schoß. Es dauerte ewig, bis sich alle Länder eingetragen hatten und erst, als man in aufgelockerte Gespräche versank und die Nationen sich etwas von dieser dummen Liste entfernten, wagte Matthew es, aufzustehen und auch seine Unterschrift hinter seinen Namen zu setzen. Er nahm das Klemmbrett, auf das die Liste gehaftet war, und überflog einige Namen. Sie waren nach dem Alphabet sortiert, also sollte er sich selbst ja direkt bei Wao Yong wiederfinden. Aber nichts. Vielleicht hatte man einen der Namen falsch geschrieben? Aber Matthew fand auch im Rest der Liste kein Anzeichen von seinem Namen. Kein Anzeichen davon, dass er existierte. Und da wachte irgendetwas in ihm auf, was er vorher noch nie so stark wahrgenommen hatte wie jetzt. Sein Herz begann zu pulsieren, bis zum Hals, so schien es, seine Hände krallten sich immer fester an das Brett mit der Liste, in der er verleugnet wurde, seine Augen waren weit geöffnet und zitterten vor Wut. Und dann konnte er nicht mehr zurückhalten, was er im Grunde schon seit Jahren loswerden wollte: "Hört auf mich zu ignorieren! Hört auf mich zu ignorieren!! HÖRT AUF MICH ZU IGNORIEREN!!!" Matthew sank auf die Knie und legte seine Hände vors Gesicht, in die er nun verzweifelt hinein schluchzte. Er konnte nicht fassen, dass man einfach leugnete, dass es ihn gab. Er war doch hier. Wieso sah ihn niemand...? Es dauerte noch eine Weile bis das Schallen seiner Stimme aus dem Raum entschwunden war. Als Matthew mit seinen verweinten Augen aufsah, die vor Anstrengung bereits ganz rot waren, erkannte er, was ihn noch mehr schmerzen sollte: Es hatte ihn niemand gehört. Kein einziger von ihnen. Sie alle redeten weiter mit ihren Gesprächspartnern, als sei überhaupt nichts gewesen. Matthew begann vor Entsetzen den Kopf zu schütteln und glaubte nicht, was ihm hier klar vor Augen geführt wurde. Er würde einsam bleiben. Niemals. Man würde ihn niemals wieder wahrnehmen. In seiner Verzweiflung stand er auf und rannte aus dem Raum hinaus. Es hatte einen Moment gedauert, bis sein Schallen den Raum verlassen hatte. Doch ebenso hatte es auch einen Moment gedauert, bis eben dieses Schallen an das Ohr eines Einzigen hier gedrungen war. Francis sah von einer Wand zur anderen und fixierte seinen Blick, als würde er nach etwas suchen. Er hatte es gehört. Da war eine Stimme gewesen. Doch hier im Raum gehörte sie niemandem. Also ging er langsam zum Ausgang der Halle und folgte seinem Bauchgefühl, das ihm sagte, dass er draußen finden würde, wonach er suchte. Er hatte diese Stimme wahrgenommen. Und er würde sie nicht ignorieren. Als Francis den Flur betrat, erschrak er, als er zu seiner Rechten, auf einer Bank, die hier stand, einen weinenden Jungen sah. Einen Jungen, der ihm ähnelte. Und von dem er sich sicher war, dass er ihn kannte. Er versuchte sich an seinen Namen zu erinnern, doch es funktionierte einfach nicht. „Eh... pardone...“, begann er, da sah dieser Junge auf einmal erschrocken auf und wirkte schockiert darüber, dass man ihn ansprach. Ebenso erschrocken war aber Francis, dem auf einmal all seine Erinnerung an den Jungen zurück zu kehren schien: „Matthew!“ Matthew sah ihn einen Moment lang nur mit weitem Blick an, etwas atemlos, sein Mund leicht geöffnet, als wolle er eigentlich etwas sagen. Francis hatte auf seinen Ausruf reagiert! Er stand plötzlich auf, erfüllt von neuer Kraft. "Monsieur...!" Er ging auf ihn zu, erst langsam, immer schneller, bis er rannte, seine Augen immer noch von Tränen erfüllt. "Francis...! Francis!" Als er ihm dankbar dafür, dass er sich an ihn erinnerte, in die Arme fiel, sah Francis immer noch ganz verwirrt geradeaus und erst nach einem weiteren Augenblick erwiderte er Matthews Umarmung. „Mein Gott, wo... wo warst du nur die ganze Zeit...? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht...“ Matthew glaubte nicht, was er da hörte. Sie sollten sich Sorgen um ihn gemacht hatten? Bis eben hatte er ihn doch völlig ignoriert. Alle hatten ihn ignoriert. „Ich war hier! Genau hier, die ganze Zeit, aber ihr habt mich alle nicht gesehen! Ihr habt mich ignoriert!“ Als Francis das von dem Jungen hörte, konnte er es nicht glauben. Er hatte geglaubt, der Junge sei einfach verschwunden. Er hatte ihn nicht ignorierte und mindestens genauso wenig hatten das die anderen getan. Der Franzose verfiel in sein gebürtiges Temperament und hielt sich mit seiner Muttersprache nicht mehr zurück. Er dachte nicht einmal mehr daran, dass Matthew ihn wahrscheinlich gar nicht verstehen würde, doch das war ihm erst einmal egal: Er musste Dampf ablassen. „Je ne t'ignore pas! Tu es très important pour moi. Je ne peux seulement pas le montrer!“ Matthews Atem ging schneller, sein Hals schnürte sich für einen Augenblick wie von selbst zu und Tränen erfüllten seine Augen erneut, die danach schrien, hinaus zu dürfen, aber er riss sich zusammen. Er ließ sich weiter von Francis anschreien und das in Worten, die er nicht einmal mehr verstand. Einige Bruchstücke drangen an sein Ohr, von denen er glaubte, sie schon einmal gehört zu haben. Aber sein Französisch war bei Weitem nicht mehr gut genug, um alles zu verstehen, was ihm hier an den Kopf geworfen wurde. Stattdessen fiel ihm das Atmen nur immer schwerer und er ballte seine Hände zu Fäusten. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und drängte Worte weiter nach oben, die unbedingt gesprochen werden wollten. Aber Matthew verhinderte es. Immer noch. Trotz all der Demütigung weigerte er sich, etwas zu sagen. Bis Francis etwas sagte, was seine Meinung von einem Moment zu dem nächsten änderte: „Tu es en colère, mais pourquoi tu n'as rien dit!? J'ai toujours été là!“ Es war genug. Selbst Matthews Wille, sich zurückzuhalten, war mit diesem Satz gebrochen und ebenso das Gefühl, nicht ein einziges Wort zu verstehen. Es war, als würden all seine Erinnerungen an die Sprache in ihm durch die aufsteigende Wut wieder zurückkehren und er machte, was er längst hätte tun sollen. Er schrie Francis an und sagte, was er fühlte: „Non, tu ne l'étais pas!!“ Francis schreckte zurück und sah seinen Gegenüber fragend an. Der schien von sich selbst erschrocken und senkte seine Stimme wieder. „Du warst... früher einmal für mich da. Aber... dann kamen Alfred und ich in Arthurs Obhut und du...“ Er senkte den Kopf, um die Tränen zu verstecken, die ihm nun übers Gesicht rannen. Doch sein Schluchzen verriet ihn trotz alledem. Francis seufzte. „Wieso... hast du nie etwas gesagt...?“ Matthew wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und brachte unter Schluchzen nur ein „Du... hast mich nicht gehört“ hervor. Der Franzose sah den Jungen an, wie ein Vater seinen Sohn und schüttelte enttäuscht den Kopf. Enttäuscht von sich selbst und davon wie das alles nur so hatte ausarten können. Matthew war am Ende seiner Kräfte, das erkannte auch Francis und wusste nicht, was er tun sollte. „Ich...“, setzte er an und senkte nur beschämt seinen Blick. „Matty...?“ Matthew sah erschrocken auf und blickte hinter sich, um zu sehen, wer da außer Francis auf einmal erkannte, dass der Kanadier hier war. Ein blonder, junger Mann. Eine Brille auf der Nase und eine Fliegerjacke an. Matthew biss sich auf die Lippe. „Al...“ Und als sein Bruder gerade so liebevoll lächelte, trat neben ihm der Mann hervor, den er seit Jahrzehnten einen Vater nennen konnte. Arthur, der aber nicht wie Alfred nur da stand, sondern auf Matthew zuging, wie auf etwas, das sehr kostbar und lange Zeit verloren war. Denn so glaubte er tatsächlich, er hätte ihn gerade wieder gefunden. Er sah Matthew verwirrt an. „Aber... wo... wo warst du...?“, fragte der Engländer unsicher und wirkte dabei tatsächlich sehr nachdenklich. „Er war hier“, beantwortete ihm da Francis seine Frage und legte Matthew von hinten seine beiden Hände auf die zitternden Oberarme des Jungen. „Er war die ganze Zeit hier. Und wir waren zu dumm und zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um ihn zu sehen.“ Arthur wollte noch etwas sagen, erkannte dann aber, wie erschöpft Matthew wirkte und wie glücklich auf der anderen Seite, so dass er all seine Worte hinunter schluckte und stattdessen seine Hand auf Matthews Wange legte, um ihm gleich danach einen sanften Kuss auf die Stirn zu drücken. Da trat auch Alfred näher an ihn heran. Sie hatten früher unglaublich viel Zeit zusammen verbracht. Wie hatte er ihn nicht sehen können? Stimmte es, was Francis gesagt hat? Waren sie alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um an Kanada zu denken? Waren ihre eigenen Probleme denn wirklich so groß gewesen, dass sie gereicht hatten, um eine andere Nation gänzlich zu vergessen? Er fühlte sich so dumm. „Tut mir Leid, kleiner Bruder.“ Matthew strahlte zufrieden von einem Ohr zum anderen, aber trotzdem glaubte er Alfred korrigieren zu müssen. „Ich bin genauso alt wie du.“ „Bist du?“ „Na ja.. zumindest... glaube ich das. Ach, egal!“ Von diesem Tage an war selbstverständlich nicht auf einmal alles in bester Ordnung. Aber man begann sich wieder an Kanada zu erinnern. Und besonders, und das bedeutete Matthew mehr als alles andere, erinnerten sich Francis, Arthur und Alfred wieder an ihn. Die Menschen, die er seine Familie nennen durfte. Kapitel 3: I love you! ---------------------- „Tink...?“ Arthur hing bereits halb unter seinem Bett, als er zum wiederholten Male nach einer seiner kleinen Feen rief. „Tink, wo steckst du?“ Dabei stand „Tink“ als Abkürzung für Tinkerbell. Zugegebenermaßen ein äußerst unkreativer Name für eine Fee, doch da die Wesen, die den Engländer umgaben, dazu neigten, eher wenig bis gar nicht mit ihm zu reden, sondern einfach da zu sein, musste er sich die Namen eben selbst überlegen. Und bei so einer Masse an Märchenwesen bei jedem Namen kreativ zu sein, war wirklich zu viel verlangt. „Tink, das ist nicht mehr lustig.“ Diese Fee, die er im Moment suchte, war ihm allerdings besonders wichtig – umso trauriger, dass er ihr einen so einfallslosen Namen gegeben hatte. Diese Fee war nämlich das erste Märchenwesen gewesen, das sich zu ihm gesellt hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, kaum so alt, dass er sprechen konnte, aber schon so alt, dass er wie ein kleiner Wirbelwind über die Wiesen und Felder tobte. Und dort war sie irgendwann gewesen. Damals hatte sie noch nicht einmal so winzig auf ihn gewirkt, was unter Garantie daran lag, dass er damals selbst so klein gewesen war. Sie hatte bereits das aussehen einer erwachsenen Fee gehabt. Feen sagte man nach, dass sie hunderte von Jahren alt werden konnten und das war es, was Arthur bereits als Kind so fasziniert hatte. Eines Tages war sie einfach auf einmal da gewesen, vor seiner Nase, als er gerade noch etwas auf den Feldern herum tollen wollte, hatte sie auf einmal vor ihm gestanden, klein und süß, auf einer Blüte stehend und ihn anlächelnd. Und seitdem war sie nicht mehr von seiner Seite gewichen. Außer jetzt. Seit er heute Morgen aufgewacht war, war sie verschwunden. Und er wusste nicht, wieso und wohin. Er kroch unter seinem Bett hervor und sah die anderen Märchenfiguren an. „Weiß denn keiner von euch, wo sie ist?“ Sie wussten es, da war sich Arthur sicher, denn wenn Märchengestalten eines nicht konnten, dann lügen. Sie pfiffen herum, schüttelten übertrieben mit dem Kopf und wagten es dabei nicht ihm in die Augen zu sehen. „Seht mal“, versuchte er ihre Herzen noch einmal für sich, das arme suchende Opfer, zu erwärmen, „Tink bedeutet mir wirklich viel. Sie ist meine älteste Freundin und ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn ihr etwas zustoßen würde. Also bitte: Wo ist sie...?“ Als er die Gruppe, bestehend aus einem Einhorn, einigen Kobolden und Feen und anderen skurrilen Wesen mit so großen, treuen Augen ansah, erweichte er damit doch ihr Innerstes und das Einhorn, dass Arthur Carl genannt hatte – wie gesagt, Kreativität blieb völlig aus – ging voraus und die anderen folgten ihm, Arthur zuletzt. Er hoffte, dass sie ihn zu der Fee führten, die er so vergeblich suchte. Er hatte sich sonst nie Sorgen um ihn machen müssen. Früher war es stets sie gewesen, die sich um ihn gesorgt hatte. So erinnerte er sich zum Beispiel an den Tag, an dem er in den Weiden gespielt hatte und in eine Grube gefallen war. Sie war nicht besonders tief, aber Arthur war noch nie eine besonders große Person gewesen und schaffte es mit seinen damals sechs Jahren erst recht nicht alleine heraus. Er rief nach Hilfe und begann zu weinen, weil er solche Angst hatte, nie mehr hier heraus zu kommen. Damals hatte er bereits mehrere Märchenfreunde gehabt, doch die waren ein Stück weit hinter ihm gewesen und hatten nicht mitbekommen, dass er hinab gestürzt war. Doch Tink hatte es bemerkt. Sie kam zu ihm geflogen und sah ihn am Boden hocken, die Beine an sich gezogen und am weinen. Sie setzte einen traurigen Blick auf und flog zu ihm hinunter, um dort auf seinen Knien zu landen und ihre beiden winzigen Händchen an sein Gesicht zu legen. Er sah schluchzend auf und war froh seine kleine Fee zu sehen. „Ich komme hier nicht heraus, Tink“, schluchzte er und wischte sich einige Tränen weg, die ihm noch einmal aus den Augen die Wangen hinab kullerten. Aber Tink winkte nur lächelnd ab und gab ihm zu verstehen, dass sie sich etwas einfallen lassen würde. Sie hob kurz den Zeigefinger und bat ihn damit, zu warten, dann flog sie aus der Grube und war verschwunden. Arthur bekam es bereits wieder mit der Angst zu tun und hoffte das sie ihn nicht im Stich lassen würde, da kam sie auch schon wieder zurück, dieses Mal mit Verstärkung: Alle Feen und alle anderen Wesen, die in der Lage waren zu fliegen, waren mitgekommen und umschwärmten Arthur nun wie die Motten das Licht, packten ihn an allen Seiten an seiner Kleidung und begannen ihn mit gemeinsamer Kraft in die Höhe zu ziehen, erst ganz langsam, dann immer kräftiger, bis sie ihn mit einem gemeinsamen Ruck aus der Grube hoben und auf dem sicheren Boden weiter entfernt niedersinken ließen. Der kleine Arthur keuchte ganz schön vor sich hin und bedankte sich bei seinen Freunden, die erleichtert waren, dass sie ihn gefunden hatten. Oder dass Tinkerbell ihn gefunden hatte. „Danke... meine kleine Fee“, sagte Arthur damals nur und streichelte ihr mit dem Zeigefinger über die winzige Wange. Sie schloss die Augen und schmiegte sich zufrieden lächelnd an seinen Finger. Sie hatte ihn so unglaublich lieb. Auf eine reine, unschuldige Art und Weise, die nichts mit der Liebe Erwachsener zu tun hatte. Das glaubte sie zumindest zu diesem Zeitpunkt zu wissen. Arthur seufzte. Seine Freunde hatten ihn nun durch das ganze Haus geführt und damit bereits die Mägde verwirrt, die bei hier arbeiteten. Aber endlich kamen sie an einer sehr weit hinten gelegenen Ecke des Hauses an, wo sich ihnen eine von Kisten fast zugestellte Tür zeigte, die aussah, als hätte man sie seit Jahrzehnten kaum mehr benutzt oder ihr Beachtung geschenkt. „Hier ist sie?“ Sie Wesen nickten und das Einhorn schob Arthur mit der Schnauze ein wenig zu der Tür, als würde es eilen. Arthur zögerte einen kleinen Moment, trat dann jedoch an den verstaubten Kisten vorbei und griff nach der Tür. Sie öffnete sich erst nach etwas Ruckeln und dann auch nur unter lautem Knarren. Arthur trat einen schritt in den Raum hinein und versuchte in dem Dunkeln etwas zu erkennen. Er sah ein schimmerndes Licht in der hinteren Ecke der Kammer, hinter einigen Regalen, auf denen ähnliche alte Kisten standen, wie vor der Tür. Dieses Licht. Arthur glaubte es zu kennen. „Tinkerbell, was ist los?“ Arthur war damals, als er das Licht das erste Mal gesehen hatte, junge dreizehn Jahre alt gewesen und wurde allmählich, wenn auch langsam, doch für seine Erzieher viel zu schnell, zum Mann. Trotzdem ließ er nicht von seinen Freunden, den Fabelwesen, los, egal für wie verrückt man ihn hielt. Er fand seine liebste Fee versteckt hinter einigen Blütenblättern, hinter denen sie hell hervor leuchtete. Arthur schob die Blütenblätter beiseite und lächelte Tinkerbell an. „Tink, was machst du denn da? Und warum leuchtest du so?“ Sie flog einige Schritte weit weg und versteckte sie wieder beschämt. Ihr Freund hob nachdenklich eine Augenbraue und wusste nun wirklich nicht mehr, was los war. Bis ihm auf einmal das sprichwörtliche Licht aufging. Er erinnerte sich an etwas, was sein Großvater ihm erzählt hatte: Feen leuchteten, wenn sie aufgeregt waren. Und dementsprechend passte es auch zu der Situation, dass sie sich versteckte. Sie schien sich für irgendetwas zu schämen, dass sie gleichzeitig aufregte. „Ich bin dein Freund, du kannst dich mir anvertrauen.“ Er streckte seine Hand vorsichtig nach ihr aus, welche sie einige Sekunden unsicher betrachtete, ehe sie auf die Handfläche stieg und sich an seinem Daumen festhielt. Nicht, dass schlimm gewesen wäre, wenn sie hinab gefallen wäre, immerhin konnte sie dank ihrer Flügel fliegen. Aber sein musste es ja nun nicht. Außerdem fühlte sie sich sicher, wenn sie sich so an ihm festhalten durfte, und war es auch nur sein Daumen. „Alles in Ordnung, Tink...?“ Sie drückte sich bei seinen Worten ganz fest an seinen Daumen und schloss glücklich die Augen. Doch ihr Leuchten hörte nicht auf, im Gegenteil. Es nahm nur noch zu. Und sie glaubte eine weitere Veränderung zu spüren, vor der sie aber vorsichtig sein musste. Denn wenn diese Gefühle in ihr wuchsen, würde noch etwas anderes wachsen. Arthur ging um die Ecke des großen Regals und hustete, als ihm etwas Staub entgegen kam, den er wohl beim anstoßen an eine Kiste aufgewirbelt hatte. „Tinkerbell...? Tink...?“ Und dann entdeckte er sie. Sie saß vor ihm, fast völlig in Nichts gehüllt, das Einzige, was ihren Körper verdeckte, waren ihre Beine, die sie ganz eng an ihren Körper gezogen und mit ihren Armen umklammert hatte. Doch das war es nicht einmal, was Arthur so schockierte. Etwas anderes ließ ihn fassungslos da stehen, seine Augen weit geöffnet und auch ein Mund ein wenig, glaubte er. Doch er konnte es im Moment nicht ändern. „Tinkerbell...“ Er wagte es, einen Schritt näher zu ihr zu treten, kniete sich hin. Doch es war anders als früher. Er kniete sich hin, sah geradeaus... und blickte in ihre Augen. Er musste nicht mehr hinab blicken. Sie war groß. Nur unwesentlich kleiner als er selbst. „Aber... was...?“ Und noch etwas hatte sich verändert: Sie öffnete den Mund und brachte die ersten Worte ihres Lebens heraus. „Arthur... ich...“ Ihm stockte der Atem, als er ihre traumhaft schöne Stimme hörte, die ihn fast dahin schmelzen ließ. „Ich weiß nicht, was ich tun soll...“ Sie brachte ein Lächeln auf ihre Lippen und streckte die Hand nach ihm aus, die er nach einem kurzen, aber wirklich kaum zu merkenden Zögern, in seine nahm und erst ihre zitternden Finger ansah und dann sie. „Arthur... ich denke, ich verliebe mich in dich.“ Was sollte er nur sagen? Er spürte deutlich, dass sein Herz einen kleinen Sprung machte und er konnte nicht anders, als zu lächeln. Neben ihrer einen, nahm er nun auch noch ihre andere Hand in seine und hielt sie ganz fest. Er sah sie von unten herauf an und konnte nicht anders, als zu kichern. Sehr glücklich zu kichern. „Tinkerbell...“ Sie sah ihn an und hoffte, er würde sie nicht allzu sehr niederschmettern. Aber das war wohl das Letzte, woran er im Moment dachte. „Ich denke, ich verliebe mich auch in dich.“ Sie strahlte ihn erleichtert an. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit. Er wirkte immer so verschlossen, so beschäftigt und manchmal so fern von Romantik, dass sie geglaubt hatte, wenn sie sich irgendwann ihre Gefühle ein gestand, die sie im Grunde seit Jahren hatte, und diese Form dadurch annahm, würde sie sich damit abfinden müssen, dass er sie zurückwies. Doch nun ließ sie all diese Sorgen von sich fallen und vergaß alles um sich herum. Sie lachte nur noch fröhlich und fiel ihm überglücklich in die Arme. Er schrie kurz etwas überfordert auf und fiel mit ihr gemeinsam zu Boden, völlig errötet ihm Gesicht, da es ihr zwar nicht bewusst zu sein schien, er dafür aber umso mehr spürte, wie nackt sie doch im Moment. „Tink...“ Er lachte etwas verlegen und legte aber seine Arme auch um sie. Wen kümmerte es schon? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)