Ein Leben im Todesrausch von Rayligh (Der Tod ist ihr Freund) ================================================================================ Kapitel 1: Der Anfang des Weges ------------------------------- Hallo. Ich bin Silvana, ihr kennt mich wohl eher nicht. Jedenfalls nicht, wenn ihr noch am Leben seit. Aber das ist nicht so wichtig, jemanden zu kennen hat mich noch nie an… dem eben gehindert. Wieso ich das hier schreibe? Weil ich wohl bald sterben werde. Nicht freiwillig, oh nein. Aber ich werde es wohl kaum verhindern können. Hätte ich mich an das gehalten, was mein Meister damals immer sagte, würde ich jetzt nicht hier sitzen und den anderen zuschauen, wie sie sich vorbereiten. Die würden dann nämlich schon längst nicht mehr leben. Schöne Andeutungen nicht wahr? Aber ich denke ich sollte jetzt wirklich anfangen… ich weiß nicht wieso, aber ich musste vor kurzem an meine Mutter denken. Sie sagte oft, dass alle Geschichten es wert seien erzählt zu werden, weil sie alle zum Geflecht des Lebens gehören. Ich weiß nicht ob es so ist, aber ich möchte erzählen, weil es eine Tat wäre, auf die meine Mutter auch mal stolz sein könnte. Falls sie es denn sieht. Ich kam im Winter 2345 auf die Welt, als Tochter eines kormanischen Bauers und einer rubianischen Landarbeiterin. Unehelich. Mutters Landarbeiterfreundin, die bei der Geburt als einzige anwesend war, meinte, ich sei still wie ein Fisch gewesen. Hätte nur geguckt. Und getrunken. Ich weiß das nicht, wisst ihr noch alles von eurer Geburt? Meine Mutter war eine sehr liebe Frau. Mütterlich und so, obwohl sie wusste, das es für sie leichter wäre mich abzugeben oder einfach in den weiten Steppen Rubias zurückzulassen, hat sie mich mitgenommen. Sie hat mich vor ihren Arbeitgebern versteckt, was nicht weiter schwer war. Die interessieren sich nur für die Arbeit und bei den jungen und hübschen für… andere Sachen halt. Als ich so in etwa sechs Jahre alt war, konnte man mich aber nicht mehr verstecken. Also stellte sie mich überall als Waise vor, die ihr über den Weg gelaufen war, und die seitdem mit auf den Feldern arbeitete. In den Vorstellungen der Farmbesitzer war ich zehn, denn die Firma achtete sehr streng auf das Alter der Landarbeiter. Muss wohl was mit der Sicherheit zutun haben, so ganz weiß und wusste das niemand. Dieses Versteckspiel ging vier Jahre über gut. In dieser Zeit brachte meine Mutter mir alles bei, was ich ihrer Meinung nach können musste, um durchs Leben zu kommen: Meine Stellung in der Gesellschaft- knapp über Vieh, aber ziemlich weit unter dem niedersten Stadtbewohner. Ich war eine unbekannte Größe, da bei uns die Kinder meist nach dem Vater beurteilt wurden. Das vereinfachte die Sache nicht gerade. Außerdem brachte sie mir alles Notwendige über Ackerbewirtung, Viehzucht, die Erntezyklen und, das Wichtigste überhaupt: Die Firma bei. Die Firma… wie soll man das erklären? Die Firma besteht im Kern aus den Nachfahren der Überlebenden der Katastrophe, die vor zwei Jahrhunderten die alte Welt und ihre Ordnung zerstörte, das Land aufwühlte und tausende Bestien schuf, die von da an durch die Welt streiften, mit einem Hunger beschenkt, der sie zu absolut tödlichen Gegnern machte, die nichts kannten- weder Angst noch Gefahr. Die Firma besteht aber nicht nur aus diesen Menschen- wäre dem so, wären sie eigentlich recht ungefährlich. Was sie gefährlich machte, waren die zahlreichen Gruppierungen unter ihnen, die die Drecksarbeit erledigten. Diese Gruppierungen mordeten und entführten, und das alles für das große Ziel der Firma: Die alte Ordnung wiederherzustellen, damit sie wieder reich wären. Außerdem beherrschte Die Firma alle Fabriken, die es damals bei uns gab. Die Leute brauchten sie für Versuche… grausame Versuche, in deren Verlauf einige von ihnen zu Kampfmaschinen wurden, die nicht aufzuhalten waren und denen jegliche Menschlichkeit geraubt war. Die anderen starben. Meine Mutter sagte oft, dass das ganze gar nicht so schlimm wäre, wenn sie durch ihre Bohrungen nicht die Erde zerstören würden und immer neue, noch größere Bestien erschaffen würden. Es gab Gebiete, in denen flüssiges Feuer wie Wasser über den Boden strömte. An anderen Orten brachen plötzlich Spalten auf, die viele hundert Menschen auf einmal verschlucken könnten. Wieder andere Landschaften wurden von einem milchigen Nebel bedeckt, der aus Gift bestehen musste, jedenfalls starb jeder, der diese Landschaften betrat. Die Firma zerstörte also unsere Erde- aber niemand konnte etwas dagegen machen. Die Patrouillen der Firma durchstreiften alle Länder, und das einzige freie Land, in dem sie nicht unterwegs waren, hatte die Grenzen geschlossen und ließ niemanden mehr rein. Sie hatten Angst vor Verrätern. Nach vier ereignislosen Jahren- meine Mutter und ich waren mit einigen anderen Landarbeitern auf dem Weg zur nächsten Farm, um zu arbeiten- kam uns eine dieser Patrouillen entgegen. Als sie uns sahen, schwärmten sie aus womit sie unsere Lastwagen zum Stehen zwangen. Einer der Kämpfer stieg von seinem Rebhak ab und baute sich vor den vordersten Wagen auf . „Wohin des Weges?“ fragte er mit einer herrischen, tiefen Stimme. „ Z-zur nächsten Farm, Sir“, antwortete der Fahrer des Wagens, der ebenfalls ausgestiegen war, den Blick demütig zu Boden gesenkt. Er war ein großer, starker Mann mit riesigen Muskeln, doch in diesem Moment sah er aus wie ein kleiner Junge. Wir alle wussten wieso- jeder sah die Waffen, die die Mitglieder der Patrouille auf dem Rücken oder an der Hüfte trugen und jeder wusste, das unser Anführer, muskulös wie er auch war, nicht kämpfen konnte und zudem auch keine Waffe hatte. Der Anführer der Patrouille ließ seinen Blich inzwischen über die Lastwagen schweifen- kurz erfasste sein Blick mich und die anderen Kinder, dann befahl er mit harscher Stimme „ Alle runter von den Lastern und in einer Reihe aufstellen.“ Hastig taten wir wie geheißen. Als alle so standen, wie er es befohlen hatte, schritt er langsam an uns vorbei, wobei er sich jeden einzelnen genau ansah. Bei manchen nickte er lediglich, bei anderen ließ er ein leises Brummen ertönen; dies alles ohne jeglichen Anreiz. Schließlich hatte er das Ende der Reihe erreicht. Hier standen die Kinder, zitternd vor Angst und einige mit Tränen in den Augen. Ihr könnt euch vielleicht nicht vorstellen wieso: Unsere Eltern haben uns oft Geschichten erzählt, wie die Patrouillen Kinder mitgenommen haben, um sie in ihre Hauptstadt zu bringen und dort wer-weiß-was mit ihnen zu tun. Uns kam es so vor, als würde er jeden von uns besonders genau ansehen und dabei im Kopf eine Liste durchgehen und abhaken. Ich stand am Anfang der Reihe, da ich mit meinen „14“ Jahren theoretisch die Älteste von uns wäre. Als er vor mir stand, mich mit kalten grauen Augen musternd, wagte ich es nicht weiter ihn anzusehen und senkte den Blick schnell auf den Boden. Dies ließ er jedoch nicht zu. Sanft und zugleich unheimlich kraftvoll hob er mein Kinn und sah mir direkt in die Augen. Die anderen Arbeiter und seine Patrouille besahen sich alles schweigend; die einen voller Angst und die anderen schlichtweg gelangweilt. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und schloss schließlich die Augen. Seine Augen waren unheimlich: kalt und tot und dennoch, als ob ein Feuer in ihnen wäre das jeden verbrannte, der diesem Blick zulange standhielt. Mit einem abfälligen Schnauben ging er weiter. Manche der anderen unterzog er der gleichen gründlichen Betrachtung wie mich, andere schien er schon auf dem ersten Blick für untauglich befunden zu haben. Untauglich… nur für was? Was wollte er von uns? Ich wollte einfach nicht glauben, das er mich… uns für irgendwelche Versuche mitnehmen konnte. Als er schließlich mit seiner Inspizierung fertig war, trat er wieder vor die versammelten Erwachsenen. Er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen, dann fragte er „Haben diese Kinder alle Eltern? Ich wünsche, das diese sich hinter ihre Kinder aufstellen.“ Dies sagte er in einem ruhigen und friedlichen Ton, der aber gleichzeitig keinerlei Widerstand zu dulden schien. Zögernd traten einige der Erwachsenen vor, tauschten unsichere Blicke mit den zurückbleibenden, bis sie schließlich bei ihren jeweiligen Kindern angekommen waren. Diese drückten sich sofort eng an ihre Eltern. Nur meine Mutter kam nicht. Ich sah sie an, konnte nicht glauben das sie mich so verraten würde. Ich sah den Schmerz, die Bitte um Verzeihen in ihrem Gesicht. Ich war maßlos enttäuscht. Wieso verriet meine Mutter- meine liebe Mutter mich? Ich verstand es nicht, und auch heute… auch heute kann ich nicht verstehen wieso sie das tat. Alle Kraft, alle Selbstsicherheit, die der Blick des Mannes noch nicht genommen hatte, verschwanden unter diesem traurigen, bittenden Blick meiner Mutter. Ich wandte den Kopf ab. Er fühlte sich leer an, nichts war mehr da. Keine Empfindungen, keine Trauer… nichts. Es war, als ob ein Sturm im Inneren meines Kopfes gewütet hatte. Lautlos formte ich mit den Lippen das Wort „Mama“. Schielte in ihre Richtung. Sie guckte weg, hatte den Blick auf irgendeinen Stein oder imaginären Fleck zu ihren Füßen gerichtet. Plötzlich viel ein Schatten über mich. Ich schaute auf, wieder mal gezwungen von der Hand, die sanft und doch kraftvoll mein Kinn anhob. Ich sah in die Augen des Mannes. Eiskalt. Grau. Brennend. Und in diesen Augen sah ich mich. Ein junges Mädchen, das Gesicht dreckig vom Staub, die Augen feucht, Tränen, die lange Spuren durch den Staub zogen, die wie Adern wirkten. Den Mund zu einer Grimasse der Angst verzogen, des maßlosen Entsetzens im Angesicht dieser Person. Schutzlos. Ohne jede Möglichkeit, mich zu verteidigen und ohne irgendwen zu haben, der mir beistand. Ich zitterte immer stärker. Dann, es kam mir vor wie eine Ewigkeit, ließ er mein Kinn los. Er wandte sich an die Erwachsenen während ich weinend zusammensank. „Dieses hat keine Eltern?“ fragte der Mann mit schneidender Stimme. Er bekam keine Antwort, doch plötzlich meldete sich eines der jüngeren Mädchen zu Wort, das sich bisher an die Jacke ihres Vaters geklammert hat. „Aber Miare ist doch ihre Mutter!“, sagte das Mädchen laut, aber mit zitternder Stimme. Mit Tränen verschmiertem Gesicht sah ich erst sie, dann meine Mutter, dann den Mann an. Dieser sah mit einem fast tadelnden Lächeln auf die Menge der Erwachsenen. „So so. Und wer von euch ist diese Miare?“ Keiner rührte sich, einzig die Reittiere der Patrouille scharten mit ihren spitzen Klauen im Sand, offensichtlich genauso gelangweilt von dem, was sich ihnen bot, wie ihre Reiter. Ich wartete. Ein Teil von mir hoffte, das meine Mutter nun vortreten würde und sich zu mir bekennen würde. Das sie einfach sagen würde, das ich ihre Tochter war und die Männer dann weiter reiten würden und wir auch einfach weiterziehen würden. Als ob nichts gewesen wäre. Aber meine Mutter trat nicht vor. Ich sackte auf dem Boden zusammen, die Arme um die Beine gelegt, den Kopf auf den Knien. Mit einem fiesen Grinsen auf den Lippen drehte der Mann sich mir zu. Mit samtweicher Stimme sagte er: „Waisenkinder können wir immer gut gebrauchen“. Mit diesen Worten bedeutete er einem der Patrouillenmitglieder , sich um mich zu kümmern. Vor Angst zitternd kroch ich in mir zusammen, als der Mann auf mich zuging und mich am Arm hochzog. Er lächelte mich an, dann zog er mich auf die wartenden Rebhak zu. Er half mir, auf eines der Tiere aufzusteigen, dann setzte er sich selber hinter mich. Ich ließ das alles mit mir machen. Was hätte ich auch tun sollen? Ich war 10 Jahre alt, meine eigene Mutter stand nicht zu mir… ich fühlte mich verraten und als wäre sämtliche Energie aus mir gewichen. Der Mann mit den kalten Augen ließ mit einem zufriedenen Lächeln noch einen Blick über die Menge schweifen, dann drehte er sich um und stieg wieder auf sein Rebhak. Er gab das Zeichen zum Aufbruch und die Rebhaks brachten uns mit schnellen Schritten wieder raus in die Prärie, weg von den Arbeitern. Ich schaute nicht zurück. Kapitel 2: Ankunft ------------------ Wir ritten lange. Unterwegs trafen wir auf viele weitere Lastwagenkarawanen von Arbeitern, aber der Mann hielt keine mehr an. Wir ritten in striktem Tempo, Rast wurde keine gemacht. Gleich nachdem wir außer Sichtweite waren, hatte der Mann sein Rebhak neben das gelenkt, auf dem ich saß. Mit seinen eiskalten Augen hatte er mich angesehen und gesagt: „ Du wirst keine Schwierigkeiten machen. Solltest du versuchen zu fliehen, werden wir dich töten. Solltest du versuchen, uns irgendwie zu schaden, werden wir dich töten. Verstanden?“ Dies sagte er mit tödlich ruhiger Stimme. Ich nickte nur verängstigt, unfähig diesem eiskalten Blick auszuhalten. Zufrieden trieb er sein Reittier an und setzte sich wieder an die Spitze des Zuges. Ich saß auf dem Rebhak, hinter mir den unbekannten Mann, der einen Arm um meine Taille geschlungen hatte und mit dem anderen die Zügel führte und fühlte mich einsam und leer. Ich sah den Blick meiner Mutter immer noch vor mir, immer durchmischt mit den kalten Augen des fremden Mannes. Sie hatten den Tod versprochen. Ich schüttelte den Kopf um die Gedanken daran loszuwerden. Der Mann hinter mir schwieg ebenfalls, und ich hatte zuviel Angst um ihn anzusprechen. Er war relativ groß, mit roten Haaren, die wie Stacheln eines Igels vom Kopf abstanden. Durch sein Gesicht, über das Auge zog sich eine breite rote Narbe und seine grünen Augen sahen fast genauso leblos aus wie die des Mannes. Auf seinem Rücken trug er ein großes, sehr breites Schwert, das allerdings nur auf einer Seite geschliffen zu sein schien. Auch wenn ich ihn anstarrte, reagierte er in keinster Weise darauf sondern konzentrierte sich strikt auf das Lenken des Rebhaks und die Beobachtung der Umgebung. Nach einiger Zeit, die Sonne ging gerade unter, wobei sie rotglühende Streifen zog und den Himmel und die Erde in ein rosarotes Licht tauchte, kamen wir an den Toren einer großen grauen, aber verfallenden Stadt an. Ich war nichtsdestotrotz beeindruckt: die hohen Häuser und Bürogebäude wurden durch das Licht der untergehenden Sonne wie magisch verziert, hier und da erreichten ihre Strahlen auch den Boden und malten rote, glühende Tupfer auf den ansonsten dunklen Boden. Ich saß auf dem Rebhak und bestaunte dies alles mit offenem Mund. In diesem Moment war alles wie weggeblasen: Die Angst vor dem was kommen würde, die Enttäuschung von meiner Mutter verraten worden zu sein, meine Einsamkeit. Alles was ich sah war diese Stadt, die meiner Meinung nach in keinem Märchen schöner hätte sein können. Schließlich blieb mein Blick an den Toren selbst hängen: Sie wirkten nicht, als ob sie zur Verteidigung notwendig geworden wären. Eher wirkten sie wie eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten, wie ein Mahnmal dessen, was einmal war. Sie waren wohl einmal aus Eisen gewesen, drei Meter hoch und jeder Flügel wohl so an die vier Meter breit. Nun lagen sie, halb in der Erde vergraben, auf dem Boden, die Ecken verbogen, die Platten selber mit Rostflecken überzogen. Auf ihnen saß je ein Wächter. Beide waren in schlichte graue Uniformen gekleidet, die aus einem Hemd und einer Hose bestanden. Als Waffen hatten sie große schwarze Pistolen, die ich zu gerne einmal näher inspiziert hätte. Ich hatte so etwas noch nie angefasst, und auch nur einmal in meinem Leben gesehen. Wir passierten die Tore nach einem kurzen Gespräch des Mannes mit den Wächtern und ritten in die Stadt ein. Es ging vorbei an großen Häusern mit leeren Fensteröffnungen, die wie Augen eines Toten auf uns herabstarrten, Von Zeit zu Zeit saßen in diesen Fenstern auch junge Menschen mit bunten, wohl gefärbten Haaren und zerrissener Kleidung und sahen mit einer Mischung aus Abscheu, und, so kam es mir vor, bei meinem Anblick auch Mitleid auf uns herab. Inzwischen hatte sich wieder das Gefühl des Verlorenseins eingestellt und mit ihm war die Angst vor dem was kommen würde zurückgekehrt. Nichtsdestotrotz beeindruckte mich diese riesige, stille Stadt doch sehr. Ich sah mich mit großen Augen um, überall entdeckte ich neue und interessante Sachen, die ich zu gerne näher erkundet hätte. Aber der Arm des Soldaten hinter mir hinderte mich an allzu großen Bewegungen, absteigen kam daher überhaupt nicht in Frage. Deswegen beschränkte ich mich auf das bloße Schauen. Und dazu gab es genug: Hunde, die sich um ein dreckiges Stück irgendwas stritten, Gruppen schwarz gekleideter Menschen, die wohl dafür sorgten, das es nicht allzu viel Ärger gab, interessant verbogene Metallstangen die scheinbar ohne Sinn in den Himmel ragten und an deren oberen Enden man im schwächer werdenden Licht gerade noch so einige Glasscherben erkennen konnte und die Vielfalt der Kleidung der wenigen Menschen, die noch unterwegs waren. Die Rebhaks trugen uns in ihrem typischen schaukelnden Hüpfgang auf eine breite Straße zu, die bald in eine enge Kurve mündete. Das, was hinter der Kurve liegen mochte, war durch ein großes dunkles Gebäude verdeckt. Neugierde kämpfte in meinem inneren mit Angst: Die ganze Stadt wirkte auf mich wie ein riesengroßer Abenteuerspielplatz, aber ich wusste von den Experimenten der Firma und hatte keine Ahnung, was wohl mit mir geschehen würde. Zudem fehlte mir meine Mutter sehr; die Erinnerung an den letzten Blick, den sie mir zugeworfen hatte, saß tief und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich ihn irgendwann vergessen würde. Als wir in die Kurve einbogen, stockte mir der Atem: Wir hielten direkt auf einen riesigen Gebäudekomplex zu, dessen Fensteröffnungen komplett mit gläsernen Scheiben geschlossen waren und dessen Spitze weit in den Himmel ragte. Er war um einiges breiter als das größte Landhaus das ich je gesehen hatte: Sicherlich so an die 200 oder sogar 300 Meter. Außerdem war es komplett in weiß gehalten, welches die letzten Strahlen der sterbenden Sonne, die das Zwielicht noch erhellten, reflektierte sodass es in den Augen wehtat, wenn man es zulange ansah. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie sich diese Eigenschaft wohl bei hellem Sonnenschein auf den Betrachter auswirken würde. Kurz bevor wir das Gebäude erreichten, gab der Mann das Zeichen abzusitzen. Der Mann hinter mir schwang sich elegant vom Rücken des stehenden Rebhaks, packte mich kraftvoll an der Hüfte und hob mich mit einem schnellen Schwung runter. Kaum da ich auf dem Boden stand, spürte ich, wie er meine Schulter packte um mich am Fliehen zu hindern. Nicht das ich das vorgehabt hätte: Ich war zu überwältigt von dem Neuen und gleichzeitig zu durcheinander von dem Verrat meiner Mutter, um irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn überhaupt über so etwas wie eine Flucht nachzudenken. Der Mann musterte mich mit seinen kalten Augen. Selbst auf die Entfernung konnte ich sehen, dass er keinerlei Gefühl darin hatte. Sie hatten die gleiche Wirkung auf mich wie schon vorher: Sie zwangen mich hinein zu sehen und nagelten mich hilflos da fest, wo ich stand. Ich dachte kurz darüber nach, dass er ein furchtbarer Gegner sein musste, aber kaum da ich diesen Gedanken gefasst hatte, war er auch schon wieder weg. Mit dunkler, ruhiger aber dennoch autoritärer Stimme befahl er dem Mann hinter mir: „Bringen Sie unseren Gast zum Doktor. Er erwünschte sich weitere Objekte, er wird wissen was zu tun ist.“ Bei diesen Worten lächelte er, aber anstatt eines warmen oder aufmunternden Lächelns war es ein eiskaltes Lächeln, das von einer großen Grausamkeit zeugte. Ich zitterte plötzlich wie Espenlaub, Das Wort ´Doktor´ wiederholte sich ständig in meinem Kopf, wie ein Mantra oder eine Beschwörung, Nur war dieses eine Beschwörung der Angst. Doktor. Das bedeutete Versuche. Und das bedeutete den Tod. Objekt. Nicht Mensch. Ich war nichts, kein Mensch. Ich war ein Objekt. Ein etwas ohne irgendwen, der es vermissen würde. In diesem Moment stieg zum ersten Mal so etwas wie Hass auf meine Mutter in mir auf. Der Soldat hinter mir nickte nur und, als ich mich nicht sofort bewegte, drückte er mir die Finger fast schmerzhaft in die Schulter. Mit einem tauben Gefühl im ganzen Körper bewegte ich mich mechanisch vorwärts, weg von den scharrenden Rebhaks und den kalten Gesichtern der Männer hinter mir, auf das Gebäude zu. Und damit auf meinen Tod, so dachte ich. Der Soldat schob mich durch eine gläserne Tür, in einen hell erleuchteten, weißen Eingangsbereich. Es waren nirgends Menschen zu sehen, aber hinter einer angelehnten Tür, die sich am anderen Ende des Bereiches befand, konnte ich Stimmen hören. Nicht das mich das interessiert hätte. Der Soldat schob mich unterdessen auf einen Aufzug zu, dessen kalte Stahltüren nicht einladender als ein großes Jaucheloch wirkten, von denen es in den Prärien einige gegeben hatte. Ratet mal, wo ich in diesem Moment lieber durchgegangen wäre. Leider war mir diese Möglichkeit nicht gegeben, die harte Hand des Soldaten zeigte mir unmissverständlich den Weg, den ich zu gehen hatte. Wir fuhren nach unten. Die Türen öffneten sich, ich wurde unsanft hindurch geschoben, Richtung einer großen gläsernen Doppeltür, in die das Wort „Entwicklung“ eingeätzt war. Hinter dieser Doppeltür befand sich eine Sicherheitsschleuse, die der Soldat ohne Probleme passierte. Ich hatte diesbezüglich keine Wahl. Wieso ich mich nicht wehrte? Selbst wenn mir dieser Gedanke auch nur im Entferntesten gekommen wäre: Er hatte ein Schwert, ich nicht. Er war sicherlich an die zwei Meter groß. Ich grade mal etwas über 1, 50. Er hatte sicherlich 30 Jahre Erfahrung, ich beeindruckende Null. Um es mit einem tierischen Vergleich auszudrücken: Er war der Löwe, ich das Antilopenbaby. Jedenfalls machte ich ihm keinerlei Schwierigkeiten, sondern ließ mich wie betäubt von ihm überall hinschieben, wie eine Schachfigur. Als wir die die Schleuse passiert haben, kam uns ein Mann entgegen, der zur Hälfte aus Metall zu bestehen schien: Seine Arme und Beine waren durch silbern glänzende Prothesen ersetzt. Seinen Torso konnte man nicht erkennen, da dieser von einem weißen Kittel verdeckt wurde. Er lächelte erfreut, als er den Soldaten sah. „Das Objekt?“ fragte er mit einem gierigen Unterton in der Stimme. „Das Objekt.“, bestätigte der Soldat. Der Metallmann, ich hielt ihn für den Doktor, ging um mich herum und begutachtete mich genau. „Sie ist in guter Verfassung.“, bemerkte er schließlich. Ich bewegte mich nicht, auch wenn mir der genaue Blick des Doktors unangenehm war. Ich fühlte mich wie ein Pferd auf dem Markt, es hätte mich nicht gewundert hätte er mir in den Mund geschaut oder meinen Fuß angehoben. Schließlich schien er zufrieden zu sein, denn er winkte den Soldaten mit einer knappen Handbewegung weg und zog eine Spritze aus seiner Tasche. Sie war lang, die Flüssigkeit in ihr schimmerte violett. Zitternd starrte ich sie wie ein Kaninchen die Schlange an. Immer noch konnte ich keinen genauen Gedanken fassen. Das letzte, an das ich mich erinnerte war das Grinsen des Doktors und den leichten Piekser, mit dem er die Spitze durch die Haut in mein Brustbein stach. Das war das Ende des Menschen Silvana. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)