Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil von Izaya-kun (Das Tagebuch eines Gesuchten) ================================================================================ Kapitel 1: Die Stadt Annonce ---------------------------- Da Gott mir, statt mich zu strafen, Essen schenkte, kam ich zu dem Entschluss, dass es ihn wahrscheinlich gab, er aber selbst keine große Lust auf das Machen und Tun der Inquisition hatte. Weitergehend könnte man sogar behaupten, ich sinnierte einige Minuten darüber, ob es ein Zeichen des Herrn war, dass man doch etwas verändern sollte; dass ich vielleicht eine Art Auserwählter war, eine Art Messias, dazu auserkoren die Menschheit von der Inquisition zu befreien und wieder auf den rechten Weg zu führen. Allerdings wäre das zu weither gegriffen und ich interessierte mich schlichtweg zu wenig für das Leid der anderen, als dass ich mich mit der größten Macht des gesamten Großen Kontinents angelegt hätte, nur, damit ich am Ende auf dem Scheiterhaufen stehe. Ich hatte noch gut eine halbe Woche Zeit gehabt, mir meinen weiteren Werdegang genaustens zu überlegen und so saß ich abends allein in meinem Gefängnis, versuchte den Ausschlag vom Juckreiz zu ignorieren und malte mir meine Chancen aus. Bereits nach einem halben Tag war mir klar gewesen, dass diese nicht besonders groß waren. Ich war ein gelehrter Mann, ich sprach Latein, konnte lesen, schreiben, rechnen, ja hatte sogar Ahnung von der Weltwissenschaft und verschiedenen Kulturen. Aber mit meinen dreiundzwanzig Jahren war ich kein Narr gewesen. Was brachte es einem Lesen und Schreiben zu können, wenn die Bewohner der Stadt scheinbar auch gut ohne dies auskommen? Ich beherrschte kein Handwerk, verstand nichts von Feldarbeit oder ähnlichem. Die meisten Mönche arbeiteten auf den Feldern des Klostergebietes, ich jedoch hatte mich davor weitgehend gedrückt. Ich bevorzugte die Arbeit in der Bibliothek, das Abschreiben von Werken und das heimliche Schlafen hinter Bücherregalen. Mir wurde klar, dass mein zukünftiges Leben mit viel Arbeit verbunden sein wird und ein wenig Missmut kam schon in mir hoch, als ich mir vorstellte, wie ich in einem Stall Mist zusammen schaufelte oder Kühe molk. Dennoch reizte mich die Vorstellung. Nicht mehr lange und ich würde verbrannt werden. Ich war ungehorsam und den meisten ein Dorn im Auge. Man wartete scheinbar nur noch auf den letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Also was hatte ich zu verlieren? Als man mich aus dem Bußzimmer befreite wies man mich an, mich zu waschen und wieder in meine alte, oftmals geflickte Kleidung zu schlüpfen. So wurde ich dann entlassen, man nahm mir eine Beichte ab, sprach den Segen und weihte mich in der Hoffnung, die Dämonen nun endlich von mir genommen zu haben. Noch am selben Tag begann ich meine Arbeit, als sei nie etwas gewesen. Die Brüder des Klosters sahen mich meist nur missmutig oder mit gespaltenen Meinungen an. Einerseits tat ich einigen mit Sicherheit leid – viele kannten mich seit ich ein Rotzlöffel war. Andere wiederum hatten gehofft, ich wäre nun endlich ernsthaft bestraft worden, ich, der Sündenbengel mit der dämonischen Zunge und dem Wesen eines kleinen Teufels, der nur Schabernack trieb und Gott lästerte. Ich ließ mich nicht davon unterkriegen, im Gegenteil: Ich spielte den frommen Schüler, folgte anständig den Gebeten und merkte mit Genuss, dass man meinte, ich sei bekehrt worden. Man fasste so viel Vertrauen zu mir, dass man mir irgendwann sogar auftrug, einkaufen zu gehen. Eine Aufgabe, die nicht jedem zuteil wurde. Schnell verstand ich, dass es ein Test des Abts war. Ich hatte den Auftrag Kerzen für das Kloster zu kaufen und ich wusste aus meinem früheren Leben als Straßenkind genau, dass auf dem Weg dorthin ein Bordell lag. Man wollte testen, ob ich fromm war oder ob ich hielt um zu glotzen. Aber zu solch einer Kontrolle wollte ich es nicht kommen lassen. Als ich diese Neuigkeiten vernahm hüpfte mein Herz mir bis zum Hals, darauf hatte ich gewartet und am liebsten wäre ich gesprungen und hätte gesungen auf dem Weg in den zweiten Stock zu Vater Mauritius, unserem Vater. Nur zögernd öffnete ich die Tür, ein wenig mulmig wurde mir schon zumute. Mauritius war ein strenger Mann, stets ruhig und gelassen, aber bei Gott, er hatte es in sich! Wenn ihn die Wut packte, war er nicht zu bremsen und er hasste nichts mehr, als Vergehen gegenüber Gott oder der heiligen Mutter Kirche. Manchmal überlegte ich, ob er sich die Inquisition ausgedacht hatte, denn er war durchaus der Charakter dafür und sah so alt aus, dass er durchaus bei ihrer Entstehung dabei gewesen sein kann. Als ich eingetreten war, schloss ich die Tür und senkte demütig den Blick, darauf wartend sprechen zu dürfen, wie man es mich gelehrt hatte. Dennoch hatte ich das Bild des Mannes direkt vor Augen. Graue Haut, dünne, knorrige Hände und tiefe, in Falten verloren gegangene Augen die einerseits eiskalt, andererseits alt und wässrig waren. Er erinnerte ein wenig an einen alten Baum, der nicht merkte hatte, dass er gestorben war und vergessen hatte, daraufhin umzufallen. Manchmal, wenn er mitten im Satz anfing zu schweigen, überlegte ich, ob er nun endlich gestorben sei. Stattdessen sprach er nach einigen Sekunden einfach weiter, als sei nie etwas gewesen. So tat er es auch jetzt: „Oliver, da…“, hier die betonte Pause von etwa zehn Sekunden in denen ich darauf warte, dass es klatschte und der alte Körper tot zu Boden knallte. „…bist du ja.“, er stand langsam und mühsam von seinem Schreibtisch auf und kam mit winzigen Schritten auf mich zu. Zum Gehen benötigte er einen alten, knorrigen Stock, genauso alt wie er selbst, aber das täuschte. Sowohl er, als auch der Stock täuschten die Menschen in ihrer Umgebung. Man hielt sie für schwach, zerbrechlich und dachte, sie bersten sobald man sie nur berührt, aber dieses Großväterchen mit seinem Stab war unvergleichlich stark, wenn es ums Schlagen oder Treten ging. „Richte dich auf, mein Sohn, lass dich ansehen…“ Ich tat wie verlangt und sah dem alten Mann ins Gesicht. Ein wenig Ekel überkam mich bei seinem Anblick und ich stellte fest, er roch sogar so, als wäre er bereits tot. Wann war ich zuletzt in diesem Zimmer gewesen? Und hatte er beim letzten Mal auch so gerochen? Und viel schlimmer: Wenn er nun tot umfiel, würde man mir die Schuld geben? Ich beschloss, ihn so wenig wie möglich aufzuregen. Wenn er stirbt, werde ich mit Sicherheit dafür verantwortlich gemacht, dachte ich immer wieder. Dieser Mann gehörte schließlich zum Inventar! Nichts wäre Entschuldigung genug, wenn er nun einfach umfiel! „Du bist groß geworden, mein Sohn, erwachsen.“, stellte er wie immer fest. Wahrscheinlich sagte er das zu jedem, um ein Gefühl von Nähe aufzubauen, aber diesem Mann wollte ich nicht einmal zehn Meter nahe sein. „Ich danke Euch, Vater.”, sagte ich stattdessen freundlich und mit dem liebevollsten Lächeln, das ich beherrschte. „Ihr habt nach mir gerufen?“ Nun nickte der Greis und tappte zurück zu seinem Schreibtisch. „Oh ja, das habe ich.“, der Schreibtisch war aufgeräumt wie immer. Ein paar Pergamente, ein Tintenglas, eine Schreibfeder, mehr nicht. Mauritius öffnete eine Schublade und holte ein kleines Zettelchen hervor, dann überreichte er es mir feierlich. „Ich habe eine Aufgabe für dich.“, verkündete er dabei, als wäre ich zum Weltretter ernannt worden und fügte hinzu: „Du sollst für das Kloster einige Besorgungen machen.“ „Sehr wohl, Vater.“, ich betrachtete das Schreibgut, aber nicht sonderlich ernst. Ich hatte nicht vor, zurückzukehren. Dann, als hätte ich gelesen, sah ich auf. „Verzeiht, ich brauche Geld.“ Er lächelte mit zusammen gelegten Händen, dann, nach einigen Sekunden erst, schien er zu verstehen, was ich gerade gesagt hatte. „Gewiss, natürlich.“, Mauritius ging erneut zum Tisch und holte einen ledernen Geldbeutel hervor. Anschließend drückte er mir väterlich drei kleine Münzen in die Hand. „Hier, mein Sohn, passe gut darauf auf. Den Menschen ist heutzutage nicht mehr zu trauen…“ „Oh ja, wem sagt Ihr das?“, pflichtete ich bei. „Man muss sich vor allem und jedem in Acht nehmen. Allein wenn ich an Bruder Markus denke…“, mein Herz verkrampfte sich leicht beim Gedanken an meinen nun toten Freund, aber äußerlich war ich schockiert und tief berührt. „Zu viele Menschen geraten auf Abwege. Man ist nirgends mehr sicher, nicht einmal mehr im Kloster. Die heidnischen Gedanken lauern überall, nicht wahr?“ Mauritius nickte. Ich hatte seine Gunst gewonnen, er mochte mich, wie nicht anders zu erwarten. „Ich war bestürzt, als ich von seinem Vergehen erfuhr. Gott sei seiner Seele gnädig…“, er bekreuzigte sich. Ich tat es ihm gleich. „Gott sei seiner Seele gnädig…“ „Hüte dich davor, ihm solche Schandtaten gleich zu tun, Oliver. Die Verführung ist groß, aber Gott wird seine Kinder lohnen, wenn sie widerstehen. Und nun geh und erfülle deine Aufgabe gewissenhaft und gehorsam.“ „Sehr wohl, Vater.“, ich verneigte mich leicht, dann sah ich auf die Münzen und entschuldigend den alten Mann an. „Vater Mauritius, verzeiht, aber das Geld wird nicht reichen, fürchte ich.“ „Wird nicht reichen?“, unsicher sah der alte Mann mich an. Ich schüttelte den Kopf. „Ich hörte, dass die Preise stark gestiegen seien aufgrund der Unruhen auf dem Festland. Wenn Ihr mir bitte etwas mehr geben würdet, nur für den Fall? Gewiss bringe ich sämtliches Restgeld zurück. Die Besorgungen sind doch sicherlich dringend.“ „Aber natürlich, natürlich.“, naiv wie er durch mein höfliches und gehorsames Verhalten war, legte er mir noch einmal gut die Hälfte hinzu. Dann schloss er den Beutel wieder und nickte zufrieden. Ich verbeugte mich tief, sprach Gottes Segen und verließ den Raum. Auf dem Weg zur Klostermauer konnte ich mir das Grinsen kaum noch verkneifen. Ich hatte den Schutz des Klosters im Rücken – bis sie merkten, dass ich vorhatte auszubüchsen – ich hatte Geld und in meinem Beutel zum Tragen des Einkaufes hatte ich genug Essen für die nächsten zwei Tage. Zwar war ich fleißig und gehorsam gewesen, hatte pflichtbewusst sämtliche Arbeiten, auch in der Küche, getan, aber nebenbei hatte ich stets den einen oder anderen Apfel, das eine oder andere Stück Brot unter meiner Robe verschwinden lassen. Als ich die Klosterfelder und die zwei Windmühlen, die Wassermühle und den Pferdestall passier hatte, verließ ich das Klostergebiet durch die riesige, steinerne Mauer, die bereits seit gut über hundert Jahren dort stand. Vor mir lag nun die Hafenstadt Annonce. Ich überquerte den Fluss über die alte Holzbrücke und kam vom Sandweg auf die gepflasterten Straßen der Stadt. Sofort überschwemmte mich reges Treiben und während ich durch die Straßen lief, ohne Ziel und Verstand, überfiel mich ein Hauch von Nostalgie. Es war über zehn Jahre her gewesen, dass ich diese Wege passiert hatte und immer wieder erinnerte ich mich an Dinge oder Häuser meiner Kindheit. Ich erkannte den alten Schmied, den Fleischer und auch kleinere Nischen und Ecken, in denen ich mich mit anderen Kindern des Heimes versteckt hatte, um zusammen mit ihnen unsere Opfer heraus zu suchen. Diese bestahlen wir dann und raubten sie aus. Sofort fielen mit unzählige Dinge ein, die ich als kleiner Junge getan und gelernt hatte. Ich wusste wieder, wie man sich als Taschendieb durchs Leben schlägt, hinter welchen Häusern man stets zu Essen fand und wo man Obdach suchen musste, wenn die Nächte kühl waren. Ohne es zu merken erhob ich meinen Demut angelernten Kopf und begutachtete alles mit großes und staunenden Augen. O’Hagan, der Gouverneur und Stellvertreter der Inquisition hatte einiges in dieser Stadt verändert, das war mir bewusst, aber eine so große Veränderung hatte ich mir - bei Gott - nicht ausgemalt. Wie immer war die Stadt überfüllt. Umso näher man dem Hafen kam, desto mehr verwandelte sich der Geruch von Exkrementen und verwesendem Fleisch in jenen von Teer, Fisch und verfaulendem Obst. Die Marktplätze waren überfüllt von Menschen aller Art, von Reichen Adligen, die mit Taschentüchern auf der Nase oder Fächern in der Hand herum liefen, aber auch von Armen, die dreckig und verlaust versuchten Blumen oder Armbänder zu verkaufen. Ein paar Taschenspieler versuchten mit zahnlosen Gesängen oder jonglieren die Gunst der Passanten zu erwerben, die Verkäufer schrieen wild durcheinander. Wanderhuren drängten sich an betrunkene Matrosen, Betrüger und Heuchler boten flüsternd ihre Geschäfte an und Scharlatane und Zigeuner verzauberten die Menschen mit Magie oder Heiltränken. Als ich den Hafen endlich erreichte verschlimmerte sich das Treiben zunehmend. Die rechtschaffenen Läden und Geschäfte wurden von etlichen Kneipen und Wirtshäusern ersetzt und es gab so viel Gemenge, dass ich kaum Gelegenheit hatte das blaue, glitzernde Meer zu betrachten. Endlose Schiffe tummelten sich im Hafen, stachen mit weißen Segeln hervor oder mit alten, herunter gekommenen Masten. Die Möwen kreischten und flogen wild durcheinander, so dass es von weitem wirkte, als sein im Himmel ein Schwarm riesiger Bienen und weiter am Horizont, innerhalb der Saladon-Bucht in jener Annonce lag, patrouillierten die Schiffe der Inquisition, um zu kontrollieren, wer den Hafen betrat oder verließ. Ich lief gemütlich und langsam den Kai entlang und genoss das Gefühl von Leben um mich herum. Wenngleich alles stank und überfüllt war, dreckig, voller Krankheit und Tod, so hatte ich dennoch ein Gefühl der Lebendigkeit und fühlte mich wohl. Die Tatsache, dass die Inquisition überall vertreten war, blendete ich vorerst weitestgehend aus. Mir wurde viel zu sehr bewusst, dass ich während meiner Klosterzeit diese Art des Lebens vermisst hatte. Wenngleich es als Kind schwer gewesen war, so hatte ich dennoch gelernt in diesen Abgründen der Stadt zu leben und zu bestehen, hatte gelernt, es zu vermissen. Ich passierte etliche Boote und Schiffe, Jollen wie Windjammer und betrachtete zwei oder drei Wasserleichen derer, die in den Kai gefallen waren und die man am Abend – wahrscheinlich - heraus gefischte. Irgendwann blieb ich stehen und sah die am Hafen entlang gehende, fünfstufige Treppe hinauf zu den endlosen Ständen. Oberhalb der Treppen standen im Abstand von etwa dreißig Metern Käfige, davor je zwei Soldaten postiert zur Überwachung. Sie waren mir bereits am Anfang aufgefallen, aber ich hatte ihnen zuerst kaum Beachtung gezollt. Nun wurde ich neugierig und trat die Stufen hinauf, wobei ich zwei Krähen erschreckte, die sich gerade am Hinterkopf des Mannes zu schaffen machten, der in einem der Käfige saß. Ich betrachtete das Gestell etwas genauer, es war aus Metall und recht klein. Der Mann – ich denke was war ein Mann – hockte darin, auf den Knien, gebeugt und mit gesenktem Kopf. Seine Haare hangen ihm zaus ins Gesicht, seine Haut war entstellt und verbrannt. Ich lief neugierig und unter düsteren Blicken der Wachen einmal um den Käfig herum und erkannte, dass diese armselige Gestalt gefoltert worden war. Seine Finger hatten keine Nägel mehr, ebenso seine Füße keine Zehen und sein leicht geöffneter und von Schlägen geschwollener Mund war voller Blut und zahnlos. Der Mann war über und über voller blauer Flecken und alles was er trug, war ein altes, viel zu großes und recht schäbiges Leinenhemd. Ein Gefühl der Übelkeit überkam mich und ich wich einen Schritt zurück. Es roch stark nach Exkrementen und Urin, so wie nach Erbrochenem und Verwesung und hätte der Mann nicht leise vor sich hin gestöhnt, hätte ich geglaubt, er sei tot. Dass die Wachen da miese Laune hatten, bei dem Gestank, war nicht verwunderlich. Ich bekam mit wie man eine alte Frau, scheinbar die Mutter des Angeklagten, mit Schlägen und Tritten davon jagte. Mich ließen sie gewähren, ich war ein Mönch, ich hatte freies Geleit und so studierte ich das abstoßende, aber zugleich irgendwie faszinierende Bild vor mir ganz genau. Am Gitter des Käfigs hang ein Schild: Name: Noel Beverly Vergehen: Überführt des Diebstahls im Wert von 5 Hellern. Urteil: Tod durch Gottes Hand, während der Öffentlichkeitsstellung Vollstrecker des Urteils: Richter Fulligan Der Herr wird ihn erlösen, dann, wenn seine Buße getan ist. „Im Wert von 5 Heller.“, wiederholte ich leise und versuchte dem Mann ins Gesicht zu sehen, jedoch war er scheinbar blind. „5 Heller entsprechen gerade mal einem Leib Brot. Dafür erhält man das Todesurteil?“ Diese Frage galt den Wachen und einer der Männer nickte nur knapp, scheinbar durfte er nicht sprechen. Ein Gefühl der Schwäche überkam mich. Dieses Gesetz war neu, dass man für so wenig öffentlich hingerichtet wurde und dann auch noch so qualvoll, an Hunger oder Krankheit sterbend. Ungewollt malte ich mir aus, wie ich in einem solchen Käfig saß, Krähen mir die Augen auspickten und Menschen die ich nicht einmal kannte mir aus Spaß Salzwasser über den wunden Rücken schütteten. Lange würde das wenige Geld von Vater Mauritius nicht reichen und als Taschendieb hatte man scheinbar schnellere Gelegenheit zu sterben, als ein Mörder der durch die Straßen rannte und wahllos irgendjemandem den Kopf abschlug. Früher war alles anders gewesen, vor O’Hagan. Seufzend wandte ich mich ab. Ich fühlte mich dumm und einfältig. Zwar war ich belesen, aber mehr als das Schild am Käfig entziffern zu können oder jenes des Wirtshauses das ich ansteuerte – Beim Gehängten – hatte ich davon nicht. In einer solchen Stadt, mit solchen Gesetzen und solch herunter gekommener Lebensweise hatte ich als Mönch nur wenige Chancen. Das Wirtshaus betrat ich nur zögernd. Als kleiner Junge hatte ich ein, zwei Mal ein solches Gebäude betreten, wurde jedoch meist bereits nach wenigen Minuten hinausgejagt. (Was mehr an meinem Geldmangel, als an meinem Alter lag.) Nun übermannte mich die laute Musik eines Fiedelspielers, zusammen mit dem Gestank und der dicken Luft, da kein Fenster geöffnet war. Als ich mich umsah, registrierte ich, dass jeder mich anstarrte. Ja, sogar ein Seemann, der gerade eine Hure mitten auf dem Tisch nahm, hielt einfach inne und die Frau an seinen Hüften sackte unsanft auf die Tischplatte zurück. Der Fidelspieler war verklungen und der Wirt, der gerade Bier in einen Krug liegen ließ, registrierte nicht, dass dieser längst voll war. Es war scheinbar ungewöhnlich, einen Mönch in solch einem Gebäude vorzufinden, aber ich ließ mir so gut es ging nichts anmerken, suchte mir einen freien Platz und rief laut: „Wirt! Ein Bier!“ Einige Sekunden geschah nichts, dann verstand man scheinbar, dass ich es ernst meinte und brachte mir meine Bestellung. Der Fidelspieler setzte wieder die Musik ein und langsam flüsternd, da ich von der heiligen Kirche war, fuhren alle in ihren Gesprächen fort. Mich kümmerte es nicht. Weder das Gerede der Menschen, noch ihre unsicheren Blicke. Ich versuchte so wenig wie möglich aufzufallen, ich wollte auf keinen Fall in Streit mit einem Inquisitionsfeind geraten, davon abgesehen musste ich nachdenken. Ich starrte in das pampige und leicht dickflüssige Bier und blendete so gut es ging alles einfach aus. Sowohl die nach Urin riechende Flüssigkeit, die vom Obergeschoss herunter tropfte, noch den feuchten Boden unter mir, da jeder sich scheinbar einfach unter dem Tisch erleichterte. Grübelnd schob ich den Krug etwas beiseite, damit keiner der Tropfen ins Schwarze traf und sah ein paar Stücken zu, die darin herumschwappten. Der Gestank nach Kotze und Rum benebelte mir leicht die Sinne, ebenso wie der Alkohol des Bieres, den ich in diesem Ausmaß nicht gewohnt war und nur langsam kam ich mit meinen Zukunftsplänen vorwärts. Ich schlug so stark auf das alkoholische Getränk an, dass ich kaum merkte, dass der Wirt mir zwei weitere Male nachgoss und als ich dann, unter starker Übelkeit, ein Zimmer verlangte, war bereits die Hälfte meines Geldes nicht mehr da, so viel hatte ich ungewollt verbraucht. Angekommen im schimmligen Bett, voller kratzender Wanzen und Spuren meiner – männlichen – Vorgänger, starrte ich zur Decke und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Ich überlegte, wie ich mein neues Leben beginnen sollte. Sollte ich die Mönchsrobe ablegen? Mir die Haare schneiden? Das war das Beste. Danach sollte ich zusehen, dass ich Annonce verließ. Vielleicht sollte ich irgendwo anheuern, das war der schnellste und einfachste Weg die Stadt hinter mich zu lassen und während ich überlegte und im Dämmerlicht dahin glitt, spürte ich die Hände einer Frau auf meinem Körper. Ich öffnete die Augen, ich hatte sie unbemerkt geschlossen, und registrierte wie im Halbschlaf eine recht junge und rothaarige Frau auf meinem Körper sitzen. Sie küsste und liebkoste mich und ungewollt reagierte ich entsprechend darauf. Es für einen Traum haltend glitt ich in die zweite Welt und genoss es mit jedem Atemzug. Bis ich dann ganz woanders wieder zu mir kam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)