Fishing for You von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 10: Geschwisterliebe ---------------------------- Und sieht mich mit weit geöffneten, geschwollenen Augen an. Sie sind braun. Genau wie meine. Kein Wunder. Sie ist meine Mutter. „Ist...das dein Ernst?“, sagt sie schwach und leicht heiser. Mein Kehlkopf schwillt auf die Größe einer Mandarine an. Ich kann nur nicken. Plötzlich fühle ich mich winzig, obwohl ich ein Stück größer bin als sie. Mam schluchzt auf, sodass sich mein Magen zusammen krampft wie eine Ziehharmonika. Aber dann...breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das noch nicht mal von den Tränen auf ihren Wangen geschmälert werden kann. „Was für eine blöde Frage!“, flüstert sie atemlos und erstickt, „Natürlich ist es mir Recht, dass du hier bei mir bleibst!“ Sie zieht mich in ihre Arme und drückt mich an sich. Ganz fest, sodass meine Rippen knirschen und mein voller Magen sich zusammen ballt. Oh Mann. Mir ist schlecht und etwas spiralförmig vor den Augen. Und mein Herz fühlt sich leicht überdreht an. Vermutlich war all die Aufregung in den letzten Stunden ein bisschen viel. Ich sollte mich vielleicht einfach ins Bett legen und sterben. Scherz. Meine Mam hat ihr Gesicht an meiner Brust vergraben, genauso wie es Jasmin gestern getan hat. Aus der Küche höre ich übrigens keinen Mucks. Gutes oder schlechtes Zeichen? Ich fahre meiner Mutter über den Rücken und bemühe mich, den Anfall zu unterdrücken, der sich meine eigene Wirbelsäule hinauf hangelt. Noch nie im Leben habe ich mich so zerrissen gefühlt. Ich bin emotional am Boden. Ich kann einfach nicht mehr. Ich möchte vor Erleichterung heulen, vor Trauer schreien, vor Wut auf und ab springen und mich auf dem Boden wälzen. Ich fühle mich voller Energie und gleichzeitig so ausgelaugt, dass ich jeden Moment einfach umfallen könnte. „Ich hätte nicht gedacht, dass du hier bleiben wolltest...,“ höre ich meine Mam unvermittelt flüstern und erstarre, „Ich dachte, dass du mit Lenny gehen würdest.“ Meine Kehle schmerzt. „Ich kann dich noch nicht allein lassen...,“ Mam schluchzt bebend auf und hebt dann den Kopf, um mich anzusehen. Sie lächelt mich an, obwohl ihr Gesicht feucht und ihre Augen geschwollen sind. Sie sieht genauso aus wie Jasmin. Das ist mir irgendwie nie so richtig aufgefallen. „Ich war mir eigentlich sicher, dass...,“ krächze ich plötzlich und meine Augenwinkel beginnen so schrecklich zu kribbeln, dass mein Gehirn versteinert. Oh nein, nein, nein! Reiß dich zusammen, Momo! „Ich war mir eigentlich sicher, dass du mich nicht haben willst,“ bringe ich heiser und hastig hervor und schlucke krampfhaft, „Weil ich doch gestern Abend so...so eklig war...,“ Oh Gott... Ich kann nicht mehr weiter sprechen. Die Erinnerung reißt mir backsteingroße Stücke aus dem Inneren. Mein Hals tut so furchtbar weh, dass ich die Hand hebe, um ihn zu massieren. Und meine Augen brennen wie Feuer. Meine Mam sieht mich an. Voller Entsetzen. „Was redest du denn da?“, keucht sie dann energisch und nimmt mein Gesicht in ihre Hände, „Du warst doch nicht eklig! Du warst klug und ehrlich und gerecht und...und es tut mir so schrecklich Leid, was ich gesagt habe...,“ Sie schaut mich eindringlich an, während neue Tränen ihr über die Wangen laufen. Und in ihrem Blick liegt so viel Liebe, dass mir ganz schwummrig wird und mein Herz sich aufbläht wie ein Ballon, der jeden Moment zu explodieren droht. „Mein Schatz...,“ flüstert Mam erstickt, streicht mir mit den Daumen übers Gesicht und drückt mir kurz ihre Lippen auf die Stirn, „Ich bin so wahnsinnig stolz auf dich.“ Oh mein Gott. Das ist zuviel. Der Ballon in meiner Brust platzt und...die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Eilig hebe ich die Hände, um Mam wegzuschieben und mein Gesicht mit den Armen zu bedecken. Mein Herz hämmert wie von Sinnen. „Sorry...,“ schluchze ich nur, dann setze ich mich in Bewegung und wanke blind durch den Flur, auf meine Zimmertür zu. Oh Scheiße. OH SCHEIßE! Mein Körper verkrampft und schüttelt sich, während meine Kehle Geräusche produziert, die mir den Magen umdrehen. Ich lasse die Arme sinken, weil sie nass werden, und schlage laut und rücksichtslos die Zimmertür hinter mir zu. Meine Festung empfängt mich mit Wärme und dem muffigen, scharfen Geruch, den geschlossene Fenster und schlafende Menschen mit sich bringen. Meine Beine tragen mich zum Bett. Ohne zu zögern lasse ich mich hinein fallen und verstecke mein Gesicht im Kissen. Oh. Mein. Gott. Hör auf damit, Mann! Du bist achtzehn, schon vergessen?! Du bist ein erwachsener Mann, verdammt noch mal! Reiß dich gefälligst am Riemen! HÖR AUF! Aber ich kann nicht, ich kann einfach nicht...! Ich spüre, wie meine Schultern zucken, aber ich kann sie nicht bändigen. Ich kann es einfach nicht zurückhalten, so sehr ich es auch versuche... Verdammt! Was ist denn nur los mit mir? Es ist doch alles gut. Ich bin doch eigentlich so erleichtert, dass meine Mam mich nicht hasst und sie mich bei sich haben will und dass sie... Ich weiß genau, dass es ab jetzt wieder besser wird. Ich bin mir so sicher. Aber trotzdem... Es...es tut einfach so wahnsinnig weh! Meine Familie... Meine Geschwister... Und Charlie... Oh Gott, CHARLIE! Warum muss das immer alles so scheiße sein? Wieso kann er jetzt nicht hier neben mir sitzen? Wieso mussten wir uns ausgerechnet gestern küssen? Ich habe ihn noch nie zuvor so vermisst... Was..., wenn ich alles falsch gemacht habe? Was, wenn er mir nicht verzeiht? Was, wenn wir uns jetzt nie mehr wiedersehen? Was mach ich nur...? Oh Gott, was mach ich nur... OH. Moment mal. Streichelt mir da jemand über den Rücken? Ich erstarre zu einem Stück Treibholz. Das kann nicht sein, ich habe weder die Tür, noch Schritte gehört. Aber– Doch... Tatsächlich... Jemand sitzt neben mir auf dem Bett und streicht mir übers Haar und über die Schultern. Oh Gott! Ob das...? Nein. Schwachsinn! Eine Sekunde war ich davon überzeugt, dass es Charlie sein muss. Aber ich weiß, wie absolut lächerlich das ist. Charlie sitzt höchstwahrscheinlich in seinem Zimmer ein Stockwerk drüber und... Was weiß ich... Ob es Mam ist? Bitte nicht. Nein... Ich...ich glaube, ich weiß, wer das ist... Hektisch und mit schlagartig bollerndem Herzen versuche ich, mir das Gesicht im Kissen zu trocknen. Das ist gar nicht so einfach, weil das ebenso nass ist. Ich schniefe, hebe den Kopf und reibe mir kurz mit dem rechten Unterarm über die Augen. „Hallo...,“ näsele ich matt, ohne aufzublicken. „Hey...,“ antwortet es sanft von oben. Es ist Jasmin. Ich wusste es. Trotzdem boxt mir die Enttäuschung in die Magenkuhle. Obwohl ich dabei auch ungeheuer erleichtert bin. Wäre es Charlie gewesen, hätte ich ihn schließlich als Erstes k.o. schlagen müssen. „Geht...es dir gut?“, fragt meine Schwester und ich höre in ihrer Tonlage, dass sie mit meiner Verfassung leicht überfordert ist. Das geht mir übrigens nicht anders. Normalerweise ist das hier nicht so mein Ding. Das überlasse ich lieber den Frauen. „Klar...,“ antworte ich heiser und mit vor Ironie triefender Stimme. Jasmin kichert und schluchzt gleichzeitig. Ich wische mir ein letztes Mal über die Wangen und stemme mich dann hoch. Frische Luft füllt meine Lungen und fährt mir angenehm übers Gesicht. Irgendjemand – wahrscheinlich Jasmin – hat das Fenster gekippt. Draußen schwingen Angel und Seil. Ich könnte kotzen. Ich hole einmal tief Luft. Dann drehe ich mich vorsichtig zu meiner Schwester um. Ich sehe, wie ihre Nase bei meinem Anblick leicht zuckt. Himmel, ich will gar nicht wissen, wie ich aussehe. Jetzt habe ich nicht nur ein blaues Kinn, sondern auch noch rote Augen. Wunderbar. Aber Jasmins Augen sind ebenfalls leicht gerötet. Und ihr Haar hängt ihr wirr auf die Schultern. Trotzdem lächelt sie. Im nächsten Moment liegen wir uns mal wieder in den Armen und halten uns fest. Und ich beruhige mich langsam. Zum Glück. Oh Mist. Lenny steht vor der geschlossenen Tür und sieht uns an. Großartig. Jetzt wird der kleine Scheißer Zeuge vom Nervenkollaps seines großen Bruders. Phantastisch. Und so männlich. Das wird er mir wohl den Rest meines Lebens vorhalten. Oder...auch nicht? Eigentlich sieht Lenny nicht besonders belustigt aus. Eher...völlig fertig. Genauso, wie ich mich fühle. Nur ohne das blaue Kinn und die roten Augen. Ich erwidere seinen Blick, löse einen Arm von Jasmins Rücken und winke ihn her. Lenny zögert eine Sekunde lang. Dann zieht er die Nase hoch und durchquert mein Zimmer. Als er bei uns ankommt, lässt Jasmin mich los. Zu dritt kuscheln wir uns in mein Bett und lehnen uns, eng aneinander gedrängt, an die Wand, unter meine System of a Down -Poster. Wie die Orgelpfeifen. Und hier sitzen wir nun und schweigen. Einmal mehr. Wir drei allein. Es...fühlt sich irgendwie sonderbar an. Als würden wir voneinander Abschied nehmen. Fünfzehn Jahre lang haben wir hier in dieser Wohnung zusammen gelebt, gelacht und manchmal auch fürchterlich gestritten. Wand an Wand. Und nun...werden wir drei uns bald voneinander trennen. Irgendwie...geht das über meinen Verstand... Ich kann mir ein Leben ohne die zwei nicht vorstellen. Sie gehören zu meinem Leben, wie...ach, was weiß ich. Wie...wie mein eigener Körper... Ihre Nähe ist mir so vertraut, auch wenn sie mir schon oft grässlich auf die Nerven gegangen sind. Sie gehören zu mir. Sie sind Teil meines Ichs. Ohne sie wäre ich nicht zu dem Menschen geworden, der ich jetzt bin. Sie halten mir jeden Tag einen Spiegel vors Gesicht. Oh Gott. Werde ich mich verändern, wenn sie nicht mehr bei mir sind? Scheiße. Diese Gedanken machen mir ein bisschen Angst... Ich drehe den Kopf, um meine Geschwister anzusehen. Sie sehen beide erschöpft und nachdenklich aus. Irgendwie bin ich mir sicher, dass den beiden annähernd das Gleiche durch den Kopf geht wie mir. Keine Ahnung woher. Ist vielleicht Geschwisterintuition. In diesem Moment räuspert sich Jasmin. „Wir...wir können uns immer noch sehen...,“ sagt sie matt, aber betont optimistisch und meine Mundwinkel zucken rechthaberisch, „Wir bleiben alle in der Stadt und wir...könnten jedes Wochenende was zusammen machen. Oder ihr kommt abends in der Woche zu mir und wir essen zusammen. Ihr könnt dann sowieso immer zu mir kommen, wann immer ihr wollt. Wenn euch Mam und Dad mal auf die Nerven gehen oder so...,“ Sie verstummt. Lenny schnieft und...legt seinen Kopf auf meine Schulter...? Wow. So ein Gefühlsausbruch. Er muss wirklich ganz schön fertig sein. „Genau...,“ sage ich mit heiserer Stimme und schaue der Angel und dem Lakenseil draußen beim Schaukeln zu, „Und bei Jasmin können wir die ganze Zeit machen, was wir wollen, Lenny. Wir gucken Pornofilme, besaufen uns und ernähren uns nur von Pizza und Pommes. Hört sich das nicht gut an?“ Lenny lacht leise, während Jasmin belustigt schnaubt. „Ja, das klingt gut.“ „Never! Das könnt ihr gleich wieder vergessen.“ Wir kichern. Jasmin schaut mich an und lächelt. Dann hebt sie die Hand und fährt mir durchs Haar. „Gott...,“ murmelt sie und runzelt leicht die Stirn, „Ich glaube, ich habe deine Haare schon ewig nicht mehr richtig gesehen. Die sehen langsam echt aus wie Kraut und Rüben. Du solltest mal wieder zum Friseur.“ „Ich hasse Friseure,“ grolle ich. „Ich weiß...,“ antwortet meine Schwester und lächelt. „Wo ist deine Mütze eigentlich hin?“, fragt Lenny und sieht sich prüfend in meinem Zimmer um, „Du hast sie doch sonst immer auf.“ Mein Herz rutscht hinab und versteckt sich in meinem linken Fuß. „Weg...,“ murre ich dumpf. Jasmin und Lenny sehen mich an. „Was heißt weg?“, will meine Schwester wissen. „Na, weg halt!“, sage ich laut und ein wenig forscher, als es hätte sein müssen. Plötzlich wird mir sehr, sehr warm. Ich versuche fieberhaft nicht zum Fenster hinzusehen, aber meine Augen haben offenbar ein verdammtes Eigenleben entwickelt und Jasmin ist eine außergewöhnlich aufmerksame Person...! „Momo...?“ Oh Scheiße! Jasmins Stimme klingt plötzlich nicht mehr liebevoll, sondern eher...lauernd und warnend. Mein Magen dreht sich um und meine Handflächen werden feucht. „Was?“, frage ich bemüht cool, als hätte ich absolut nix zu verbergen. „Ich bin nicht blöde, weißt du?“, beginnt sie boshaft süßlich, „Und deshalb weiß ich auch genau, woher du die Blutergüsse an deinem Kinn und deinen Knien hast.“ Ich fahre zusammen und starre sie an. Oh Scheiße! OH SCHEIßE! Sie blufft nur oder? Bitte, bitte, sag mir, dass sie nur blufft! Siedend heiß fällt mir der stechende Blick ein, mit dem sie mich vorhin bedacht hat, als sie mich zum Mittagessen abgeholt hat. Du lieber Gott! Sie weiß es wirklich! Mit einem einzigen Satz stehe ich aufrecht an meinem Kleiderschrank. Ich musste einfach Distanz zwischen sie und mich bringen. In meiner Brust hämmert mein Herz. Ich starre meine Schwester an, während ich verzweifelt versuche, mich zu beruhigen. Mir ist sonnenklar, dass ich mich grade mindestens dreimal hintereinander verraten habe. „Ach, ja...?“, frage ich, lehne mich lässig an den Schrank und versuche, möglichst viel Verachtung in meine Stimme zu legen, was mir allerdings wenig bis gar nicht gelingt, „Und woher weißt du das bitte...?“ „Gestern Nacht...bin ich von einem ziemlich lauten Rumpeln aufgewacht...,“ erklärt Jasmin und mustert mich scharf, während Lenny mit hochgezogenen Brauen zwischen uns hin und her sieht, „...als ob jemand der Länge nach zu Boden stürzt...,“ sie macht eine Kunstpause und mein Inneres verkrampft sich, „Und kurz darauf...habe ich gehört, wie ein Fenster geschlossen wird. Dein Fenster vermutlich.” Wir starren uns an. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Dann lache ich künstlich auf. „Also weißt du’s doch nicht so gen–,“ „Deine Mütze ist da oben!“, unterbricht Jasmin mich fauchend und deutet zum gekippten Fenster, wo Laken und Angel vor sich hin baumeln, „Oder etwa nicht? Du bist gestern Nacht wieder dieses verdammte Seil hochgeklettert! Du warst wieder bei Charlie!“ Wumm! Boah! Der Schock verpasst mir einen Kinnhaken. Schlagartig beginnt die Welt um mich herum zu wackeln. Haltsuchend taste ich nach dem Schrank hinter mir, um nicht zu Boden zu gehen. Oh mein Gott! Diesen Namen aus Jasmins Mund zu hören... Ich fass es einfach nicht! Was, zum Teufel, heißt das?! Woher weiß sie von Charlie? Was weiß sie über Charlie? Himmel! Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet meine geliebte Mütze mir mal einen solchen Strick dreht. „Woher...weißt du von Charlie?“, frage ich so ausdruckslos, dass es mir selbst einen kleinen Schrecken einjagt. Meine Schwester holt tief Atem und wechselt einen Blick mit Lenny. „Von dir...,“ sagt sie dann ruhig und mein Magen zieht sich schmerzhaft und fassungslos zusammen, „Du hast gestern Abend seinen Namen genannt, als wir uns...angeschrien haben. Davor wusste ich nicht, wie er heißt. Ich wusste nur, dass...du eine ziemlich enge Freundschaft zu ihm aufgebaut hast. Du hast zwar nie von ihm gesprochen, aber...es gab da so ein paar Anhaltspunkte...,“ Sie bricht ab und sieht mich an. Und ich...sehe zurück, während langsam die Kraft aus meinen Beinen sickert und verschwindet. Ich gleite an meinem Schrank hinab und sinke auf den Fußboden. Anhaltspunkte. Grundgütiger. Ich bin so ein Riesenidiot! Ich dachte die ganze Zeit, dass meine Familie nichts bemerkt hat, dass sie nichts von Charlie wüsste. Denn im Gegensatz zu ihm, habe ich meiner Familie nie etwas von ihm erzählt. Warum eigentlich nicht? Wieso habe ich ihn geheim gehalten? Dachte ich, sie würden ihn mir wegnehmen, sobald sie von ihm Wind bekämen? Wie ungeheuer dämlich! Doch ich habe sie unterschätzt. Natürlich mussten sie all die Anhaltspunkte bemerken. Es war doch so offensichtlich: Die Angel vor meinem Fenster. All die Zettelchen an meiner Wand, die er und ich uns über die Zeit geschrieben haben. All die Dinge, die Kassetten, die Bücher, die Colaflaschen, die aus dem Nichts in meinem Zimmer auftauchten. Mein ständiges Bedürfnis, mein Zimmer aufzusuchen, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Sie mussten es einfach bemerken. Ich seufze schwer und reibe mir mit den Händen übers Gesicht. „Charlie...,“ sinniert Lenny nachdenklich und kraftlos luge ich über meine Finger zu ihm hinüber, „Das ist der Typ mit dem lilanen Palischal, der jeden Abend bei offenem Fenster Saxophon spielt, oder? Ich hab den mal im Treppenhaus getroffen.“ Oh Gott... Er weiß sogar, wie Charlie aussieht... Weil er ihn im Treppenhaus getroffen hat. Kurze Zwischenfrage: Wieso habe ich ihn eigentlich nie im Treppenhaus getroffen? „Ja, genau,“ erwidert Jasmin für mich, „Er spielt wirklich unheimlich gut. Ich habe ihm immer gern zugehört. Besonders gestern Abend, nachdem wir uns gestritten haben. Aber da...hat er nur für Momo gespielt.“ Oh mein Gott! Ich sterbe... „Was soll das denn heißen?“, fragt Lenny und klingt leicht skeptisch. Jasmin räuspert sich und mir wird entschieden übel. Diese Unterhaltung entwickelt sich in eine Richtung, die ich wirklich überhaupt nicht gutheißen kann! „Momo...?“, fragt Jasmin erneut, diesmal vorsichtig und mein Magen dreht sich um bei ihrer Tonlage. Ich wittere eine nahende Katastrophe. Grundgütiger Gott... Ich gebe nur einen schwachen Kehllaut von mir. „Als...ich dich heute Mittag geholt hab, da...,“ sie holt einmal tief Luft, „...da warst du total durch den Wind. Ich dachte erst, es liegt an Mam und Dad, aber...es ist etwas Anderes, oder...?“ Oh mein Gott... Oh mein Gott! Was mach ich denn jetzt nur? Ich kann den beiden nicht sagen, was in mir vor geht! Aber...aber ich kann sie auch nicht anlügen. Wenigstens Jasmin wird wissen, dass ich lüge. Und dann wird es noch unangenehmer für mich werden. Ich fürchte... Ich fürchte, es wäre das Beste, wenn ich einfach mit der Sprache rausrücke... Auf die Gefahr hin, dass die beiden dann mein Zimmer verlassen und mich niemals wiedersehen wollen. Mein Gott... Scheiße! „Ich...,“ meine Stimme ist ein einziges Krächzen. Ich räuspere mich und versuche es erneut. „Ich habe gestern Nacht...etwas getan, was ich nicht hätte tun sollen...,“ Ich verstumme und alles in mir presst sich zusammen. „Was denn?“, fragt Jasmin atemlos. Ich schlucke. Und spreche es dann einfach aus: „Ich habe Charlie geküsst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)