Fishing for You von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Wahrheit ------------------- „Was...hast du gesagt?“, fragt meine Mam mit hohler Stimme, als könne sie es nicht glauben. „ICH SAGTE: HÖR AUF!“, donnere ich, ohne auf ihr entgeistertes Gesicht zu achten. Ich spüre, dass ich am ganzen Leib zittere. Und ich weiß, dass meine ganze Familie mich entsetzt ansieht. Aber es ist mir egal. Ich halte es einfach nicht mehr aus. „WIE GLAUBT IHR, DASS ES UNS DABEI GEHT, HE? GLAUBT IHR, WIR FINDEN ES WITZIG, WENN IHR EUCH DEN GANZEN TAG ANSCHWEIGT UND EUCH DANN STREITET, ALS WÜRDET IHR EUCH HASSEN? GLAUBT IHR TATSÄCHLICH, WIR SETZEN UNS ZUSAMMEN VOR DEN FERNSEHER UND TRINKEN, WEIL WIR SO GUT DRAUF SIND? HABT IHR IN EUREM EWIGEN EGOTRIP AUCH NUR EINMAL AN UNS GEDACHT?“ Mam und ich starren uns an, als wären wir von den Augen des jeweils anderen hypnotisiert. Ich spüre mein Herz fest und lebendig gegen meine Rippen schlagen. Gott, Mam hat eindeutig mehr Puste als ich. So schnell wie die Wut gekommen ist, ist sie auch schon wieder verraucht. Ob das bei großem Zorn immer so ist? Plötzlich fühle ich mich wieder klein und schwach und hilflos. Ich hasse es doch eigentlich, mich mit meiner Familie zu streiten. Schließlich ist dies doch meine Mam. Dies ist meine Familie. Trotz allem. „Ich habe es auch satt, Mam...,“ sage ich leise und höre wie meine Stimme bricht. In meinen Augenwinkel brennt es und meine Kehle kratzt. Ich schlucke, um es loszuwerden. „Ich habe es satt, nach der Schule in mein Zimmer zu schleichen, vor Angst einen von euch zu treffen. Ich habe die ständige Kühlschrankstimmung satt. Wenn ihr nicht mehr miteinander leben könnt, dann lasst euch doch bitte scheiden. Aber hört auf, uns allen das Leben zur Hölle zu machen.“ Ich verstumme. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Also mache ich den Mund zu und senke den Blick. Es ist unheimlich ruhig mit einem Mal. Als wäre ich plötzlich allein. Allerdings ist es keine erschrockene Stille mehr wie vorhin. Eher nachdenklich. Es tut gut, denn in mir drinnen herrscht Chaos. Irgendwie tut mir alles weh. Ich möchte einfach nur verschwinden. Mich mit einem sanften Geräusch in Rauch auflösen. Aber ich fürchte, das wird nicht funktionieren. Ich werde es auf die traditionelle Art und Weise machen müssen. „E...Entschuldigt mich...,“ wispere ich matt und ohne jemanden anzusehen. Ich schiebe mich mit Mühe zwischen Couch und Tisch hindurch und durchquere dann eilig das Wohnzimmer. Ich habe das Gefühl, dass ich taumle. Meine offene Zimmertür kommt mir vor wie das rettende Ziel einer ewig langen Reise. Und kaum habe ich den Rahmen passiert und die Tür hinter mir zu gezogen, fällt die Beherrschung von mir ab. Ein Ächzen entflieht meinem Mund. So verzweifelt, wie ich es schon lange nicht mehr gehört habe. Mit aller Kraft presse ich die Handballen auf meine Augen. Zum Teufel, was ist denn los? Es ist doch gar nix passiert. Mam hat mich nicht angeschrien und kein Blitz hat mich getroffen. Im Gegenteil. Eigentlich ist alles mehr als gut verlaufen. Wieso bin ich denn dann so traurig? Ich beiße die Zähne zusammen. Ich werde jetzt nicht anfangen zu flennen wie ein kleines Kind. Nein. Das habe ich hinter mir. Ich bin erwachsen. Ich bin ein Mann. Ich. Werde. Nicht. Heulen. Nein! Ich schlucke krampfhaft, bis ich wieder freier atmen kann. Dennoch, ich brauche Luft! Heftig blinzelnd nehme ich die Hände von den Augen und haste zum Fenster hinüber. Zum Glück kenne ich mein Zimmer so gut, dass ich auch im Dunkeln nirgendwo gegen renne, denn inzwischen ist es draußen stockfinster. Ich erreiche das Fenster und öffne es. Kühler Wind streicht über mein Gesicht. Das Glöckchen der Angel klingelt sanft. Ich schließe die Augen und nehme tiefe, beruhigende Atemzüge. Es tut unendlich gut. „Momo?“ Ich fahre zusammen, als mich die Stimme unvorbereitet erreicht. Aber ich blicke automatisch nach oben. Aus dem Fenster über meinem scheint Licht. Und in ihm kann ich eine Gestalt erkennen, die sich aus ihm heraus hängen lässt. Und ich erkenne die Stimme. Ich würde sie überall wiedererkennen. „Charlie...,“ sage ich rau. „Ja...,“ kommt es von oben und ich höre die Sorge in seiner Stimme, „Ist alles in Ordnung?“ Ich schniefe, als das schreckliche verzehrende Gefühl mir wieder näher auf die Pelle rückt. „Nein...,“ antworte ich und es klingt fast wie ein Schluchzen. Ich höre Charlie atmen und irgendetwas daran tröstet mich. Vielleicht der Gedanke, dass das Leben immer noch weiter geht. „Möchtest du...,“ beginnt er wieder und zögert kurz, „Möchtest du vielleicht hochkommen?“ Ich schaue zu ihm hoch und versuche seinen Gesichtsausdruck auszumachen, aber es gelingt mir nicht. Und dann, ziemlich schlagartig, schiebt sich ein anderes Gefühl in mein Inneres: Sehnsucht. Und sie verdrängt alles andere. Ich habe Alkohol getrunken und bin außerdem ziemlich neben der Spur. Ich werde höchstwahrscheinlich abstürzen. Aber trotzdem... Tatsächlich gibt es in diesem Moment keinen anderen Ort der Welt, an dem ich lieber sein würde als dort oben. Bei Charlie. „Ja...,“ wispere ich deshalb und bevor ich mich versehe, stehe ich schon auf dem Fensterbrett und klammere mich am Rahmen fest, „Lass mir das Seil runter...,“ „Okay,“ erwidert Charlie sofort und klingt hektisch und erfreut zugleich, „Warte kurz. Und fall bloß nicht runter, Mann!“ Ich schaffe es sogar, über seinen letzten Satz ein wenig zu kichern, während er kurz aus meinem Sichtfeld verschwindet. Obwohl das eigentlich gar nicht witzig ist. Einen Moment später kriecht eine dicke, weiße Raupe aus seinem Fenster heraus und die Außenmauer entlang auf mich zu: das Lakenseil. Kaum ist es in Reichweite greife ich danach. Es tut gut den festen Stoff an den Fingern zu spüren und mein Herz beginnt prompt wieder schneller zu pochen. Ich kann es kaum erwarten, endlich dort oben anzukommen. Einen Herzschlag lang denke ich daran, dass ich erneut im Begriff bin, zu fliehen und Jasmin und Lenny allein zu lassen. Doch irgendetwas sagt mir, dass die zwei heute Abend meinen Trost nicht mehr brauchen werden. Heute Abend bin ich derjenige, der Trost braucht. Und Charlie ist aus irgendeinem schrägen Grund der einzige, der mir diesen Trost geben kann. „Bist du bereit?“, zischt er zu mir herunter, als Rapunzels Haar zur Gänze ausgerollt ist, „Keine Sorge, ich halte dich fest.“ „Ich weiß...,“ erwidere ich treudoof, vergrabe meine Finger im Seil und lächle zu Charlie hinauf, obwohl er es in der Schwärze der Nacht bestimmt nicht sehen kann. Es fühlt sich seltsam an, zu lächeln. Aber es vertreibt auch die grauen Gedanken aus mir. Ich fühle mich besser. Und gleich werde ich Charlie wiedersehen! Ist es irgendwie unheimlich, wie sehr ich Charlie vertraue? Immerhin lege ich mein Leben hier gerade wortwörtlich in seine Hände. Ohne Bedenken. Denn im Augenblick verspüre ich Dumpfbacke überhaupt keine Angst. Ich will einfach nur nach oben. Das liegt bestimmt auch am Alkohol. Dieses Teufelszeug! Mit einem Mut, der – objektiv betrachtet und unter diesen Umständen – ziemlich an Dummheit grenzt, beginne ich den Aufstieg. Trotz der Dunkelheit und dem Bier in meinem Blut. Ich bin vorsichtig, aber so selbstsicher, als würde ich lediglich eine Treppe hochsteigen. Sonderbarerweise bin ich mir nämlich absolut sicher, dass nix passieren wird. Ein Ehrgeiz treibt mich vorwärts, den ich sonst nur im Physikunterricht spüre. Ich muss einen ziemlich mächtigen Schutzengel haben. Wenn ich jetzt abstürze, denken meine Eltern bestimmt, es war ein Selbstmordversuch. Grundgütiger. Ich würde im Krankenhaus viel zu erklären haben... „Besuchst...du...mich im...Krankenhaus...?“, keuche ich zu Charlie hoch, während ich mich mit zusammen gebissenen Zähnen von Knoten zu Knoten ziehe. Inzwischen kann ich von oben leise Musik hören. Hört sich nach Jefferson Airplane an. „Natürlich,“ verspricht Charlie und ich kann erkennen, wie er sich mir entgegen streckt, „Ich bringe dir Schokolade und Cola. Und Schallplatten.“ „Na...dann...,“ ächze ich und schnappe einmal nach Luft, bevor ich die rechte Hand vom Seil löse und Charlies Hand packe. Der Rest geht ganz schnell. Während mich noch die Erleichterung über meine erfolgreiche Kletterpartie und die Freude über das Wiedersehen mit Charlie durchströmt, zieht er mich weiter hoch und einen Moment später auch schon über seine Fensterbank. Dieses Mal gebe ich mir keine Mühe meinen Sturz zu bremsen und mich irgendwo festzuhalten. Ich lasse mich einfach in Charlies Arme fallen. Und er fängt mich auf. Als wäre es selbstverständlich. Und dann stehen wir hier. Er und ich. So wie Jasmin, Lenny und ich bei Sonnenuntergang. Und doch ganz anders. Ganz, ganz anders. Charlie ist unheimlich warm und er riecht so intensiv, dass ich beinahe weiche Knie bekomme. Ich spüre seine Rückenmuskeln unter seinem T-Shirt und den Stoff seiner Kufiya im Gesicht. Meine Handflächen und Wangen kribbeln ein bisschen. Genauso wie mein Magen. Und mein Herz klopft wild gegen seins. Fast im gleichen Takt. Im Takt zu der Musik, die aus seinen Boxen schallt. Eigentlich ganz schön peinlich. Aber ich kann ihn einfach nicht loslassen. Und er offenbar auch nicht. Denn er zeigt keine Zeichen von Ungeduld oder so. Er hält mich einfach nur fest und lässt das, was vor zehn Minuten in unserem Wohnzimmer geschehen ist, weniger grässlich aussehen. Wenn ich jetzt an einem Herzinfarkt sterben würde, wäre das okay für mich. Irgendwann lösen wir uns dann doch voneinander. Ich weiß nicht, wer anfängt. Vielleicht ich. Vielleicht er. Vielleicht wir beide gleichzeitig. Jedenfalls lassen wir uns gegenseitig los und treten ein paar Schritte von einander weg. Plötzlich ist mir unangenehm heiß zumute. Charlie wohl auch, denn er lüftet die Kufiya um seinen Hals und räuspert sich. „Hey...,“ sagt er dann leise und grinst verlegen. „Hey...,“ mache ich zurück und grinse nicht minder verlegen. Mein Herz schlägt so energisch in meiner Brust, dass ich davon ganz hibbelig werde. Ich schlucke. „Ist...das Jefferson Airplane?“, frage ich dümmlich. Charlie lächelt und nickt. „Ja, Surrealistic Pillow. Die Platte habe ich heute Abend wieder gefunden.” „Cool.“ Ich schlucke. „D...Danke, dass ich...hochkommen durfte...,“ kullert es dann aus mir heraus. Ich kraule meine Mütze und sehe konzentriert an Charlie vorbei. Ich fürchte, dass sein Anblick mir in dieser Situation nicht gut tun würde. Stattdessen fixiere ich interessiert seinen linken Fuß. Der ist übrigens relativ unspektakulär. „Kein Problem,“ erwidert Charlie sofort, „Du bist hier immer willkommen, wenn du...,“ er räuspert sich erneut, „Wenn du mal...einen Tapetenwechsel brauchst...oder so.“ Ich lächle und wage einen kleinen Seitenblick auf ihn. „Danke schön.“ „Gern,“ sagt er. Und schon wieder schweigen wir verlegen in uns hinein und mein Magen hüpft gemeinsam mit meinem Herz auf und ab. Ich bin wirklich nicht mehr normal. Und wieso muss ich gerade jetzt an Simba und Nala denken? „Hast du eigentlich den Streit mitbekommen?“, frage ich hastig über die Musik hinweg, schiebe mich an Charlie vorbei und lasse mich auf sein Bett fallen. „Ja, schon. So halb,“ gibt Charlie zu und folgt mir. Ich schnaube und ziehe die Knie an, um meine Arme um sie zu legen. Nachdenklich betrachte ich Charlies brennende Stehlampe, die sein Zimmer mit warmem, sanften Licht füllt. Eigentlich will ich nicht, dass die Erinnerungen an den Streit zurückkommen. Ein paar Sekunden wehre ich mich dagegen, aber dann gebe ich doch auf. Ich bin noch viel zu aufgewühlt. Ich kann nicht einfach tun, als wäre nichts passiert. Außerdem fühle ich mich in diesem Zimmer sicher. Hier tun die Erinnerungen nicht so weh. „Es war so beschissen...,“ flüstere ich plötzlich, ohne dass ich mich wirklich dafür entschieden habe, „So unglaublich beschissen...,“ Ich spüre, wie Charlie sich neben mich aufs Bett setzt. Seine Nähe ist angenehm. Und irgendwie auch nicht. Es macht mich unruhig und ruhig zugleich. Eigentlich eine Unmöglichkeit. Oder? „Das glaube ich dir...,“ seufzt Charlie und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand, an der seit Bett steht, „Und es war wirklich unfair, was deine Mam gesagt hat.“ Ich gluckse freudlos. „Hast du wirklich jedes Wort gehört?“ „Nun ja. Den größten Teil bestimmt. Sie hat ja nicht gerade leise gesprochen. Sie hat sogar Jefferson in seinen lautesten Momenten übertönt.“ Ich schnaube erneut und drehe dann den Kopf, um Charlie anzulächeln. Das hellgelbe Licht der Stehlampe malt helle Flecken auf sein Haar und seine Wangenknochen und seine Stirn. Mir fällt auf, dass er ziemlich gut aussieht. Aber warum? Ich meine, warum fällt mir das auf? Und will ich das überhaupt wissen? „Hast du mich auch gehört?“, frage ich Charlie und zwinge meine Augen, nicht die Straße seiner Muttermale entlang zu fahren, „Als ich ausgerastet bin?“ Charlie nickt und lächelt leicht dabei. „Ja, habe ich. Und du warst echt unheimlich tapfer. Ich weiß nicht, ob ich den Mut gehabt hätte, meinen Dad so anzubrüllen. Aber es war richtig so!“, fügt er entschieden hinzu, als ich gequält das Gesicht verziehe, „Wirklich. Du hast sie garantiert zum Nachdenken gebracht und das ist das Wichtigste.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und drehe den Kopf wieder weg, drücke das Kinn gegen meine Schulter. Das Gefühl von vorhin sticht schmerzhaft in mein Inneres. „Ich...Ich habe einfach nur Angst, dass...,“ beginne ich langsam und mühselig, „...dass sie mich jetzt hasst und dass...dass ich jetzt Schuld bin, wenn sie sich trennen...,“ Meine Stimme bricht und hastig presse ich mir den Arm auf den Mund, um jeden möglichen Schluchzer abzuwürgen. Meine Augen schmerzen. Aber ich werde jetzt nicht vor Charlie anfangen zu heulen! Unter keinen Umständen. Scheiße, wie albern! Er hält mich jetzt bestimmt für einen totalen Vollidioten. Scheiße. Ich hätte vielleicht nicht hoch kommen– „Unsinn!“, unterbricht Charlie in diesem Moment meine Gedanken und ich zucke leicht zusammen, „Hör auf, solchen Quatsch zu reden. Sie hasst dich doch nicht. Und du bist auch nicht Schuld daran, wenn sie sich trennen.“ „Sicher?“, wispere ich verzweifelt und selbst in meinen Ohren klingt das jämmerlich. Aber Charlie stört sich nicht daran. Im Gegenteil. Ich spüre, wie er zu mir an die Bettkante rückt. Einen Augenblick später legt er den Arm um mich. Warm und tröstend. Mein Herz klopft. „Natürlich,“ sagt er dann – nachdrücklich, aber sanft, „Du hast nur gesagt, was du fühlst. Und du hast die Wahrheit gesagt. Ich wette, das war allen bewusst. Du darfst dir keine Vorwürfe machen, weil du deine Eltern daran erinnerst, was wirklich wichtig ist. Du Trottel.“ Wir kichern ein bisschen und ich fühle mich prompt wieder ein wenig besser. Die Musik passt gerade perfekt in die Situation. Wie ein Soundtrack. Sollte mich das beängstigen? „Weißt du...,“ beginnt Charlie dann von Neuem und mustert mich aufmerksam, „Ich bin mir sicher, dass deine Eltern euch nicht weh tun wollten. Ganz bestimmt nicht. Aber die ganze Situation ist für sie auch unheimlich schwer,“ er seufzt leise, „Wenn man sich kennen lernt und verliebt, ist man davon überzeugt, dass man bis in alle Ewigkeit zusammen sein wird und will. Aber dann...nach ein paar Jahren...wendet sich das Blatt oft. Der Alltag schleicht sich ein und die Gefühle werden weniger. Und wenn dann auch noch jemand Anderes kommt, der einem so richtig gut gefällt, dann...,“ Er verstummt mit einem Mal und sieht mich an, als wäre er über seine eigenen Worte erschrocken. Ich starre zurück. Und mein Magen verkrampft sich vor Bestürzung. „Glaubst du etwa, einer meiner Eltern hat jemand Anderen?“, frage ich entsetzt. Charlie reißt wie vom Donner gerührt die Augen auf. „W...Was? Nein! Nein, so habe ich das nicht gemeint, ich...,“ er nimmt den Arm von meiner Schulter, um leidenschaftlich zu gestikulieren, „Ich habe nur sagen wollen, dass...das alles nicht einfach ist, weißt du...?“ Er verstummt erneut und versucht sich an einem schiefen Grinsen. Es verkommt zu einer mittelmäßig überzeugenden Grimasse. Ich runzle die Stirn. „Aha...,“ „Ja,“ sagt er, erhebt sich eilig von seinem Bett und entfernt sich einige Meter von mir; auf seinen Wangen kann ich einen Rotschimmer erkennen, „M...Möchtest du eigentlich irgendetwas trinken? Oder essen?“ Ich blinzle. Hä? Irgendwie komme ich nicht mehr ganz mit. Habe ich etwas Entscheidendes verpasst? Würde mich ja nicht wundern. Mein Kopf hat bei Charlies Worten nämlich wild zu rechnen begonnen: Kann es sein, dass einer meiner Eltern eine Affäre hat? Gott. Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.... Dabei ist sie doch gar nicht so abwegig. Meine Mam ist für ihr Alter eigentlich noch ganz attraktiv – sofern ich als Sohn das überhaupt beurteilen kann. Trotzdem. Würde sie meinen Dad betrügen? Würde er sie betrügen? Früher hätte ich auf solche Fragen immer klar mit Nein! geantwortet. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. „Erde an Momo...?“ Ich erwache schlagartig aus meinen Grübeleien und stelle meinen Blick wieder scharf. Charlie scheint sich inzwischen erholt zu haben. Er lehnt mir gegenüber am Kleiderschrank und lächelt mich an. Sein Bein wippt im Takt des Beats. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du deine Unterlippe knetest, wenn du sehr konzentriert nachdenkst? So wie Justus Jonas.“ Ich schnaube ungläubig und will gerade widersprechen, als mir auffällt, dass ich tatsächlich Daumen und Zeigefinger am Mund habe. Schnell nehme ich sie weg. „Sehr witzig...,“ grummle ich, kann aber nicht vermeiden, dass meine Mundwinkel zucken, „Du kommst dir wohl sehr schlau vor, was?“ Charlie lacht. Es ist Musik in meinen Ohren. Es nimmt das Gewicht von mir und lässt mein Herz höher schlagen. Plötzlich erscheinen mir die Probleme meiner Eltern weniger gravierend. Zum Glück bin ich hoch gekommen... „Oh ja,“ grinst er verschmitzt, sodass ich seine Grübchen sehen kann und automatisch zurück grinsen muss, „Ungeheuer schlau. Was ist jetzt? Willst du ne Cola?“ „Nein, danke,“ entgegne ich lächelnd und erhebe mich, „Ich sollte jetzt wieder runt–,“ „Was?“, unterbricht Charlie mich empört und macht ein paar abwehrende Schritte auf mich zu, „Nein. Du kannst noch nicht gehen.“ Ich sehe ihn verdutzt an. Und mein Herz verhaspelt sich beinahe. „W...Wieso nicht?“ „Du bist doch gerade erst gekommen.“ „Aber es ist schon bald Mitternacht...,“ erwidere ich verwirrt und werfe einen Blick auf seine Wanduhr, die meine Aussage bestätigt, „Und morgen ist Schule und ich habe zur Erst–,“ „Egal!“, Charlie kommt noch einen Schritt näher und sieht mich dabei so eindringlich an, dass ich sorgfältiger atmen muss, „Du kannst noch nicht gehen.“ „Wieso nicht?“, frage ich zum zweiten Mal. Diesmal etwas kraftloser. Denn inzwischen steht Charlie keinen Meter mehr von mir weg. „Du...musst das Lied doch noch zu Ende hören.“ Die Musik wird leiser. Die Platte knistert. „Es...ist zu Ende...,“ flüstere ich. „Verflucht...,“ wispert er und kommt noch einen Schritt näher, sodass er jetzt unmittelbar vor mir steht, „Du...kannst trotzdem noch nicht gehen...,“ Mein Herz rast in meiner Brust. Ich weiß nicht woher sie kommt, aber plötzlich herrscht eine Spannung um uns herum, wie ich sie noch nie zuvor gespürt habe. Es ist keine negative Spannung wie jüngst im Wohnzimmer. Sie ist eher...erwartungsvoll und...sehnsüchtig... Gott, was passiert hier?! „Wieso nicht?“, frage ich erneut mit schwacher Stimme. Der nächste Song beginnt. Die Gitarrenklänge dringen direkt in mein Herz ein. So klar und ungebremst, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich hören. „Weil...,“ haucht Charlie, schluckt einmal und macht dann einen finalen Schritt auf mich zu, „Weil...ich nicht will, dass du gehst...,“ Er spricht so leise, dass ich seine Worte auf der Haut spüren kann. Mir stockt der Atem und alles in mir prickelt. Er ist mir so nah. So nah. Näher als je zuvor. Ich könnte seine Wimpern zählen, wenn ich mich nur konzentrieren könnte. Aber es lähmt meine Gedanken. Ich kann Charlies warmen Atem auf meinem Gesicht spüren. Und ich kann ihn riechen. Meine Kehle fühlt sich an wie ein Stück Sandpapier. „Sag mal...,“ flüstert er mit rauer, zittriger Stimme, „Hast du eigentlich eine Glatze, die du mit dieser Mütze verstecken musst?" Ich schaffe es tatsächlich zu grinsen. Benebelt wie ein Drogenjunkie. „Nein...,“ hauche ich zurück und schüttle leicht den Kopf. „Darf ich nachsehen?“ Ich nicke matt und schließe die Augen. Ich spüre, wie Charlie über meinen Nacken streichelt und mir dann ganz behutsam meine geliebte Mütze vom Kopf zieht. Eine Gänsehaut läuft mir über den ganzen Körper. Ich habe noch nie etwas so Erotisches erlebt. Dabei nimmt er mir doch nur die Mütze ab... Aber meine Haut fühlt sich an, als würde sie in Flammen stehen. Und die Luft um mich herum scheint zu knistern. Ich bin gelähmt. So etwas habe ich noch nie empfunden. Charlie fährt mir mit beiden Händen durch die Haare, vergräbt seine Finger in ihnen. Ich zittere leicht. Flatternd öffne ich die Augen – und blicke direkt in seine. Eine Sekunde lang sehen wir einander nur an, während die Musik in unseren Ohren vibriert. Und dann küsst Charlie mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)