Fishing for You von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 4: Sonnenuntergang -------------------------- Hatte ich gerade erwähnt, dass auch der letzte Rest Schwermut aus mir verschwunden ist? Ich nehme alles zurück. Klar, ich weiß selber, dass das dumm und dämlich und vollkommen beknackt ist, aber meine Stimmung ist schon wieder im Eimer. Absolut im Eimer. Plötzlich möchte ich nichts mehr, als dieses Zimmer verlassen und mich in meinem eigenen Bett verkriechen und da sterben. Ganz allein. Aus irgendeinem Grund ist mir etwas kalt. Dabei war mir eben gerade noch warm und behaglich zumute. Unheimlich, wie schnell so eine Stimmung umschlagen kann. Nur durch ein einziges Wort. Einen einzigen Namen. Das ist doch krank! Ich fühle, wie Charlie mir einen raschen Blick zu wirft, bevor er aufsteht, um Natascha das Telefon aus der Hand zu nehmen und sie wieder aus dem Zimmer zu schieben. Ich sehe ihn nicht an. Ich sehe hier hin und dort hin und komme mir scheiße vor. Ich spüre meinen eigenen Herzschlag nervenaufreibend deutlich in meiner Brust. Und überall diese verdammten Bilder an den Wänden, die alle diesen einen Namen schreien... Was ist nur los mit mir? „Hey...,“ höre ich Charlie ins Telefon sagen. Er steht immer noch irgendwo an der Zimmertür rum. Ich frage mich, ob er Distanz zu mir aufbauen will. Mein Magen dreht sich um. Aber diesmal fühlt es sich alles andere als angenehm an. „Danke, gut...,“ sagt Charlie, „Und dir?“ Als ich mich vorsichtig zu ihm umdrehe, fällt mir auf, dass er ein Schokoladenpapier am Boden anschaut, als könne er es in ein Shetlandpony verwandeln, wenn er nur intensiv genug starrt. Offenbar kann er mich auch nicht ansehen... Gott, langsam mache ich mir selbst Angst. Es wird Zeit, dass ich verschwinde. Aber durch die Zimmertür kann ich nicht. Charlie versperrt den Weg. Es gibt nur eine Möglichkeit. Wieder mal. Welch Ironie. Hahaha. Gott, ich hasse mein Leben. „N...Nein, du...störst nicht...,“ Mein Inneres verkrampft sich ein bisschen und bevor ich weiß, was passiert ist, stehe ich schon. Ich spüre, wie Charlie den Kopf hebt und mich endlich ansieht, aber ich erwidere seinen Blick nicht. Ich gehe zum Fenster und öffne es. Mechanisch, als hätte mein Körper sich entschlossen, ab heute genug von der Bevormundung meines Geistes zu haben. „Äh...,“ macht Charlie hinter mir und klingt abgelenkt, „Ich sitze in meinem Zimmer und...höre Musik... Und...du?“ Ich beginne Rapunzels Haar abzuseilen. Das Sonnenlicht färbt den weißen Stoff orangerot. Mein Herz pocht. Ich darf mich nicht zu sehr beeilen, sonst stürze ich noch ab. Und diesmal wird Charlie mich nicht fest halten. Dieser Gedanke tut weh. „H...Hör mal, Schatz...,“ sagt Charlie und beim Klang des letzten Wortes möchte ich mich aus dem Fenster beugen und kotzen, „K...Kann ich dich zurückrufen? N...Nein, aber ich...muss noch kurz was...erledigen...,“ Ich klettere auf die Fensterbank, packe das Seil und lasse meine Beine hinab baumeln. Ich habe Angst. Angst um mein Leben. Angst, dass Charlie auflegt und mich zurückhält. Aber gleichzeitig wünsche ich mir nichts mehr als das. Vielleicht werde ich langsam schizophren. „O...Okay, dann bis später. Ich...Ich dich auch...,“ Bevor ich noch großartig würgen kann, höre ich es piepsen. „Momo, warte!“, ruft Charlie und steht einen Moment später am Fenster. Ich spüre seine Finger, wie sie sich um meinen Arm schließen, sehe aber nicht hin. Ich starre in die untergehende Sonne, bis ich fast blind bin. Meine Haut prickelt an der Stelle, wo Charlie mich berührt. Ich möchte ihn wegschubsen, tue es aber nicht. „Was...?“, zische ich. Meine Stimme hört sich mehr angriffslustig als schwach an. Obwohl ich mich viel eher schwach als angriffslustig fühle. „W...Wo willst du denn hin?“, fragt Charlie und irgendwie klingt er nervös. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich Vollidiot! „Nach Hause,“ erwidere ich matt, „Es ist schon spät und sie...warten sicher auf mich... Mit dem Essen... Gemeinsames Abendbrot...und so...,“ Es ist mir selbst schleierhaft, was ich hier vor mich hin labere. Von wegen gemeinsames Abendbrot. Seit zwei Wochen rennt jeder von uns allein in die Küche, wenn er sich unbeobachtet fühlt und schnappt sich, was gerade rumliegt. „Du kannst mit uns essen,“ sagt Charlie und ich glaube, einen flehentlichen Unterton in seiner Stimme zu hören. Ich schlucke. Irgendetwas sticht in meiner Brust. „N...Nein...,“ höre ich mich sagen und mein Arm macht eine zuckende Bewegung, worauf Charlie mich endlich loslässt, „Ich...sollte wirklich langsam gehen...,“ Und außerdem musst du noch deine Freundin zurückrufen. Und nett mit ihr plaudern. Und ihr Liebesschwüre ins Ohr säuseln. Ich beiße die Zähne zusammen und Charlie seufzt hinter mir. „Okay...,“ murmelt er und irgendwas in seiner Stimme lässt mich den Kopf nach ihm umwenden. Er sieht ein wenig verloren aus, wie er da mit hängenden Schultern am Fenster steht. Gegen meinen Willen spüre ich, wie die Wut aus mir verschwindet. Als er meinen Blick erwidert, muss ich einfach lächeln. Und er – lächelt zurück. „Du...kommst doch wieder, oder?“, fragt er und klingt so hoffnungsvoll, dass mir wieder etwas wärmer wird. Ich zucke leicht mit den Schultern und kratze verlegen über meine Mütze, ohne dass ich es schaffe, mein Lächeln zu verkleinern. „Wenn du...willst...,“ nuschle ich und mein Herz klopft weiter. „Ja,“ sagt Charlie ohne zu zögern. Wir sehen uns an. Und grinsen. „Na gut,“ antworte ich. Er strahlt mich an und greift nach meinem Handgelenk. „Okay, komm. Ich halte dich fest.“ Mein Magen hüpft. Jetzt wieder angenehm. Manchmal grusle ich mich vor mir selbst. Der Abstieg ist leichter als der Aufstieg. Das Schwierigste ist von der Fensterbank zu gleiten und sich dabei so am Lakenseil fest zu krallen, dass die Erdanziehungskraft einen nicht abwärts reißt. Aber sobald ich das überstanden habe, kann ich mich einfach am Seil hinab rutschen lassen. Von Knoten zu Knoten. Wie ein nasser Sack. Und Charlie hält mich fest, so lange er kann, ohne mir hinterher zu fallen. Als ich endlich mit beiden Füßen fest auf meiner Fensterbank stehe, durchströmt mich die Erleichterung so wunderbar warm und entspannend, dass meine Beine fast einknicken. „Boah...,“ mache ich erschöpft, klammere mich an meinem Fensterrahmen fest und nehme tiefe, beruhigende Atemzüge, „Jetzt brauch ich erst mal ein Bier... Soll ich dir auch eins hochschicken?“ „Da sag ich nicht nein,“ antwortet Charlie und strahlt zu mir herunter. „Okay, dann bis gleich,“ grinse ich zurück und klettere vorsichtig in mein Zimmer hinein. Es sieht genauso aus, wie ich es verlassen habe. Mein Rucksack liegt in der Ecke, in die ich ihn heute Mittag geschmissen hab. Schuhe und Socken knüllen sich unterm Fenster herum. Offenbar war keins meiner Familienmitglieder hier drin, während ich weg war. Puh. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass zumindest meine Eltern von der Idee, an einem Bettlaken in den dritten Stock hochzuklettern, nicht sonderlich begeistert wären. Ich durchquere das Zimmer und lege mein Ohr an die Tür, um zu lauschen. Aber auf der anderen Seite herrscht Grabesstille. Vermutlich haben sich nach dem erneuten Streit alle in ihre Höhlen verkrochen. Das kommt mir ganz gelegen. Ich habe keine Lust auf komische Fragen oder traurige Gespräche. Ich möchte jetzt in Ruhe mein Bier trinken und Charlie beim Saxophonspielen zuhören. Schließlich geht die Sonne gerade unter, er müsste also bald loslegen. Vorausgesetzt...das Telefonat dauert nicht zu lange. Ich ziehe eine Grimasse, die niemand sieht, öffne meine Tür einen Spalt breit und husche dann barfuß in den dunklen Flur hinein. Ich habe die Küche fast erreicht, als Jasmins Zimmertür plötzlich aufgerissen wird. Ich erstarre mitten in der Bewegung zur Salzsäule. Meine Schwester steht im erleuchteten Türrahmen und sieht mich an. Langsam hebe ich eine grüßende Hand, während mein Herz vor Schreck auf und ab hüpft. „Hi,“ sage ich stumpfsinnig, lächle matt und stelle mich betont lässig in Pose, „Na? Alles–,“ „Wo warst du denn?“, unterbricht Jasmin mich vorwurfsvoll und furcht die Stirn, „Und wo kommst du auf einmal her? Wir haben die Wohnungstür gar nicht gehen hören.“ Ich schlucke. Lenny erscheint neben ihr und mustert mich ebenfalls. Mir fällt am Rande auf, dass beide ziemlich erschöpft und bedrückt aussehen. Aber darauf kann ich im Augenblick nicht reagieren. Meine Gedanken schwirren auf der Suche nach einer Antwort hektisch hin und her. „Ich... Ich... war...war bei...,“ stammle ich dümmlich und stopfe meine Hände schuldbewusst in meine Hosentaschen, „...bei Maik... Ja, genau. Bei Maik.“ Meine Schwester verengt die Augen zu brennenden Schlitzen. Mir wird ziemlich warm im Gesicht und auch im Rest meines Körpers. Mir fällt schlagartig ein, dass Jasmin auch damals, als ich ihre Lieblingstasse zerbrochen habe, meine Notlüge sofort erkannt hat. „Ohne Schuhe?“, fragt sie auch prompt und mit eisiger Stimme. Ich öffne den Mund. Dann klappe ich ihn wieder zu. So eine Scheiße. Was nun? Den kurzen Impuls, ihr einfach die Wahrheit zu sagen, unterdrücke ich noch in der gleichen Sekunde, in der er auftaucht. Im Gegensatz zu Charlie habe ich nicht– Verflucht! Jetzt habe ich schon wieder vergessen, den Mistkerl zu fragen, wieso seine ganze Familie über mich Bescheid weiß. Das werde ich bei Gelegenheit nachholen. Warte nur, Charlie! Bevor ich dazu komme, mir eine geeignete Erwiderung auf die Frage meiner Schwester aus den Fingern zu saugen, setzt sie sich plötzlich in Bewegung, schreitet an mir vorbei und verschwindet in meinem Zimmer. „Hey!“, rufe ich erschrocken, sobald ich den Schock überwunden habe und laufe ihr nach, „Hey! Was soll das? Was willst–,“ Der Rest des Satzes bleibt mir im Halse stecken. Jasmin ist in meiner offenen Tür stehen geblieben, sodass ich sie fast über den Haufen renne. Mit offenem Mund starrt sie zum nach wie vor geöffneten Fenster hin. Ich folge ihrem Blick und sehe zu, wie das Lakenseil Stück für Stück nach oben wandert. Ich höre, wie Lenny neben mich tritt. Schweigend schauen wir drei Rapunzels Haar nach, bis es verschwunden ist. Die Angel weht daneben leicht im Wind und die Sonne steht blutrot am Himmel. „Momo...,“ sagt Jasmin langsam und fast sehe ich, wie in ihrem Kopf alle Fakten beginnen Sinn zu ergeben, „Was hat das...,“ Ihre Stimme erstirbt. Dann dreht sie sich zu mir um und ihre Augen verdunkeln sich. Ihre Haut wird rot und fleckig und siedend heiß wird mir klar, dass sie die Tochter meiner Mutter ist. Mir wird angst und bange. „SAG MAL, HAST DU NOCH ALLE TASSEN IM SCHRANK?!“, schreit sie mit Urgewalt los, sodass Lenny und ich unwillkürlich zurück schrecken, „Du bist doch nicht etwa da hochgeklettert?!“ Ich starre sie an. Meine Lippen bewegen sich lautlos. Das Herz rutscht mir in die Hose. Mir ist bewusst, dass das doch überdeutlich in mein Gesicht geschrieben steht. Und Jasmin explodiert. Herzlich Willkommen, Hulk junior. „BIST DU BESCHEUERT?! DU HÄTTEST DIR DEN HALS BRECHEN KÖNNEN!“ Ich öffne den Mund, um mich zu verteidigen, aber mir fällt absolut nichts ein, was ich sagen könnte. Meine Schwester scheint vor meinen Augen anzuschwellen. Oh mein Gott. „WENN DU DA RUNTER GEFALLEN WÄRST! DU VOLLIDIOT! WIE KANN MAN NUR SO DÄMLICH SEIN?! WAS HAT DICH DA GERITTEN, VERDAMMT?!“ „Ich wollte doch nur–,“ beginne ich zaghaft, aber sie lässt mich nicht ausreden. „WENN DU DAS NOCH EINMAL MACHST, KANNST DU WAS ERLEBEN, VERSTANDEN?!“, kreischt sie so laut, dass mir die Ohren klingeln, „Glaub mir, wenn Mam wiederkommt, dann werde ich–,“ Es ist dieser eine Satz, der mich durchfährt wie ein Stromstoß. Mir stockt der Atem, als ich mich mit einem Mal wieder daran erinnere, dass dieses schreiende Etwas vor mir nicht meine Mutter ist und ich darum keine Angst zu haben brauche. Das ist nur meine Schwester. Meine blöde, große Schwester. Ich vergesse, dass das Fenster noch immer offen ist und Charlie mich vielleicht hören kann. Ich vergesse, dass mein Dad möglicherweise irgendwo in der Nähe ist. Ich vergesse Lenny, der noch immer neben mir steht. Bevor ich auch nur ein bisschen nachdenken kann, habe ich die Fäuste geballt und brülle Jasmin so unvermittelt an, dass sie auf der Stelle verstummt: „HALT DIE KLAPPE!“ Mit vor Schreck geweiteten Augen starrt sie mich an, aber das ist mir im Moment absolut scheißegal. Die Wut rauscht durch meine Venen und gibt mir Kraft. „WIESO BLAFFST DU MICH SO AN, HE?! DU BIST NICHT MEINE MUTTER, DU HAST KEIN RECHT MIR IRGENDETWAS ZU VERBIETEN! VERSTANDEN?!“ Diesmal ist es an Jasmin, eingeschüchtert den Mund zu öffnen, aber ich lasse sie nicht zu Wort kommen. Meine donnernde Stimme zu hören, klärt meine Gedanken. „WENN ICH LUST HABE, DIESES SCHEIßSEIL HOCHZUKLETTERN, DANN TUE ICH DAS! DU WIRST MICH NICHT VON CHARLIE FERNHALTEN, KLAR?!“ Woher der letzte Satz gekommen ist, ist mir selbst ein Rätsel. Ich höre, wie ich ihn ausrufe, begreife aber nicht, wie ich dazu gekommen bin. Doch diese Tatsache bewegt mich dazu, mit dem Brüllen aufzuhören. Ich schnappe nach Luft und funkle Jasmin an. Ich sehe, wie ihre Unterlippe verräterisch zittert, doch ich achte nicht darauf. Es ist mir egal. Sie ist mir egal. Genauso wie Lenny und meine verdammten Eltern. Und Charlie. Und seine hübsche Freundin. Scheiße. „Du bist manchmal so eine dermaßen dumme Kuh, weißt du das?!“, fauche ich giftig und beiße die Zähne zusammen, „Blas dich gefälligst nicht so auf.“ Ich schlucke. Die Stille, die schlagartig in meinem Zimmer herrscht, ist so laut, dass sie in meinen Trommelfellen dröhnt. Jasmin wendet den Blick von mir ab und presst sich die Faust auf den Mund. Einen Moment halte ich den Atem an, als könne ich damit das Unvermeidbare vermeiden. Dann laufen meiner Schwester Tränen über die Wangen. Unaufhaltsam und in rascher Folge. Ich schließe die Augen, als das schlechte Gewissen wie eine eiskalte Hand nach meinem Inneren greift und mir die Lunge abdrückt. Scheiße. Das habe ich nicht gewollt. Was ist denn nur los mit mir? Wieso drehe ich so durch? So habe ich meine Schwester noch nie angeschrien. Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich ihr alles an den Kopf geworfen habe... „Es tut mir Leid...,“ schluchzt Jasmin und verbirgt ihr Gesicht in den Händen, „Ich wollte nicht–,“ „Nein!“, stoße ich hervor und mit einem Mal klingt meine Stimme nicht mehr laut und stark, sondern leise und gebrechlich, „Nein, mir tut es Leid. Entschuldige bitte, ich...habe das nicht so gemeint...,“ Das ist die Wahrheit. Das ist sie wirklich. Ich wollte ihr nicht weh tun. Meiner großen Schwester. Meiner einzigen Schwester, die in der Grundschule mal Carsten Reibach so gegen das Schienbein getreten hat, dass er wochenlang nicht am Schulsport teilnehmen konnte. Weil er mir mein Pausenbrot geklaut hatte. „Es tut mir Leid, Jasmin...,“ wiederhole ich matt, „Bitte nicht weinen...,“ Aber jetzt, wo sie erst mal damit angefangen hat, scheint es kein Halten mehr zu geben. Sie weint so sehr, wie ich sie schon lange, lange Zeit nicht mehr habe weinen gesehen. Jedenfalls nicht echt und ungekünstelt. Es ist, als würde ihre Trauer in mich übergehen. Plötzlich fühle ich mich nicht nur schlecht, sondern...sondern einfach nur grauenhaft. „Jasmin...,“ „E...Es...tut mir...L...Leid...,“ wimmert sie durch ihre Hände hindurch und ihr Körper schüttelt sich wie unter Krämpfen, „E...Es...ist...n...nur alles...so f...furchtbar im A...Augenblick... Mam und D...Dad haben s...so lange gestritten und...,“ sie schnieft und wischt sich mit dem Handrücken über das verheulte Gesicht, „...und...d...dann sind sie...einfach...w...weg gegangen und...dann...w...warst du...n...nicht da und...w...wir wussten...nicht, was...wir...t...tun sollten...,“ Ihre Stimme wird immer leiser. Dann fährt sie sich mit dem Unterarm über die nassen Wangen und blickt hoch, in mein Gesicht. „M...Mam und Dad w...wollen sich bestimmt...sch...scheiden lassen...,“ fährt sie schluchzend fort und schaut mich mit ihren vor Tränen glitzernden Augen so verzweifelt an, dass ich es in meinem Inneren spüre, „Und...du...du warst nicht da...,“ Schweigend sehe ich sie an. Ihre Stimme ist frei von jedem Vorwurf. Es klingt eher wie eine erstaunte Feststellung. Dennoch oder vielleicht auch deswegen treffen mich ihre Worte wie ein Rammbock in die Magenkuhle. Ich fühle mich wie der letzte Arsch auf Erden. „Ich...weiß...,“ flüsterte ich und versuche krampfhaft, den harten Kloß in meinem Hals runterzuschlucken, „Ich weiß, es...es tut mir Leid...,“ Meine Eltern wollen sich scheiden lassen. Sie haben sich stundenlang gestritten und sind dann einfach fortgegangen. Und als meine Geschwister in mein Zimmer kamen, wie sie es immer tun und immer getan haben, war ich nicht da. Ich war nicht da. Ich habe die Trauer nicht mit ihnen geteilt, wie ich es sonst immer tue und immer getan habe. Ich war nicht da, um ihnen Trost zu spenden. Ich habe sie allein gelassen und mich aus dem Staub gemacht, als sie mich brauchten. Ich habe mich zu Charlie geflüchtet. Nur, um zu erfahren, dass er...eine Freundin hat und... Plötzlich fühle ich mich so schwach und alt wie nie zuvor in meinem Leben. Charlie. Charlie hat eine Freundin. Eine Freundin. Verdammt. Gott, wieso stört mich das nur so sehr? Wieso macht mich das so an? Und wieso...wieso spielt er nicht? Die Sonne ist schon fast ganz untergegangen. Ich schlucke. Einen Augenblick lang stocke ich, dann ziehe ich Jasmin in meine Arme. Ich spüre, wie sie sich vor Überraschung kurz versteift. Doch dann schmiegt sie sich an mich, schlingt die Arme um meine Taille und vergräbt ihr Gesicht an meiner Brust. Ihre Schluchzer und ihre Tränen, die ihrem Kummer über die vermeintliche Trennung ihrer Eltern Ausdruck verleihen, dringen durch meine Mütze und mein T-Shirt. „Momo...?“ Die leise, zittrige Stimme lässt mich erschrocken den Kopf drehen. Lenny. Er steht noch immer an der gleichen Stelle wie vorhin. Seine Augen flackern – und er drückt den rechten Handrücken gegen seinen Mund. So wie früher, wenn er mit aller Kraft die Tränen zurück gehalten hat. Dieser Anblick sticht mir so ins Herz, dass ich unwillkürlich zusammen zucke. Eine Sekunde lang starren mein Bruder und ich uns schweigend an. Dann – und ohne zu zögern – löse ich den linken Arm von Jasmins Schulter, greife nach Lennys T-Shirt und ziehe auch ihn zu mir. Ich rechne eigentlich damit, dass er sich sträubt und die Flucht ergreift, doch nichts dergleichen passiert. Widerstandslos lässt er zu, dass ich und Jasmin unsere Arme um ihn legen und ihn in unsere Umarmung eingliedern. Hier stehen wir also. Ich. Und Jasmin. Meine emotionale und zart besaitete Schwester. Mamis und Daddys großes, pflichtbewusstes Mädchen. Und Lenny. Mein kleiner, frecher Bruder. Unser selbstbewusstes, starkes Nesthäkchen, das sich keine Schwächen erlaubt. Gott, ich hätte wissen müssen, dass die ganze Scheiße die beiden so mitnimmt. Ich bin ein lausiger Bruder. Ich hätte auf sie aufpassen sollen, anstatt zu Charlie abzuhauen. Ich hätte da sein müssen. Ich Mistkerl...! „Es tut mir Leid...,“ wispere ich ein weiteres Mal mit erstickter Stimme und drücke meine Geschwistern an mich, „Es tut mir Leid...,“ Und in diesem Moment beginnt irgendwo draußen ein Saxophon zu spielen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)