Fishing for You von abgemeldet ================================================================================ Prolog: Die Kufiya ------------------ Wenn meine Mutter wütend ist, dann ist sie mir echt unheimlich. Sie wird nämlich knallrot und bekommt weiße Flecken im Gesicht wie ein Fliegenpilz – und jeder weiß, dass die verdammt giftig sind. Ihre Stimme zittert und ihre Augen werden dunkler und ihr ganzer Körper scheint anzuschwellen vor Zorn. Sie ist dann die weibliche Reinkarnation von Hulk. Echt gruselig. Damals sah sie auch so aus. An dem Tag, an den ich mich genau erinnern kann. Sie rannte im Wohnzimmer auf und ab, fuchtelte mit den Armen und schimpfte. Der größte Teil davon war an mich gerichtet, aber ich hörte ihr ehrlich gesagt nicht zu. Denn das meiste ihrer Predigt kannte ich schon auswendig, weil es sich sowieso immer um das Gleiche dreht. Ich starrte lieber auf die Teppichfussel zu meinen Füßen, kraulte die Strickmütze auf meinem Kopf und versuchte nicht über meinen Vater zu lachen, der neben ihr stand und ziemlich bedröppelt drein schaute. Er ist nicht so der Typ fürs Schimpfen. War er noch nie. Deshalb übernimmt das immer meine Mam. Die kann das nämlich ganz ausgezeichnet. „Ich...Ich bin sprachlos. Wirklich. Dass ihr unsere Bitte so einfach ignoriert und übergeht, als wären unsere Worte unwichtig. Das hatte ich wirklich nicht von euch gedacht! Vor allem nicht von dir, Momo. Dass du so verantwortungslos bist, schockiert mich wirklich. Wolfgang! Jetzt sag doch auch mal was!“ „Äh... Ich? Oh, ähm... Ich...ich bin...ich bin wirklich sehr enttäuscht von euch, Jungs. Wirklich sehr –,“ „Ich hätte wirklich mehr von euch erwartet. Vor allem von dir, Momo. Wirklich mehr. Du bist bereits erwachsen und als solcher, solltest du dich gefälligst auch benehmen. Haben wir euch nicht schon hundertmal darum gebeten, euren kindischen Wettkampf woanders auszutragen?! Haben wir?! Momo?“ „Ja...,“ „Sprich nicht in diesem respektlosen Ton mit mir–,“ „Wirklich sehr enttäuscht...!“ „–oder wir reden mal ein ernstes Wörtchen unter vier Augen!“ Also darauf war ich absolut nicht scharf. Darum hielt ich auch meine Klappe und nickte und bereute brav, wie es sich gehörte. Aber ich verstand wirklich nicht, wieso sie so einen Aufstand machte. Dieses bisschen Unordnung ließ sich doch leicht beheben. Und diesmal hatten wir noch nicht einmal den Teppich versaut oder eins von ihren wertvollen Kristallgläsern zerdeppert. Und diese paar Flecken auf dem Parkettboden konnte man doch im Nu wegwischen. Wozu also diese Aufregung? Über uns rumpelte es. Lenny saß mit gesenktem Kopf neben mir auf der Wohnzimmercouch und biss sich auf der Unterlippe herum. Ich bin mir immer noch sicher, dass er lächelte. Schließlich hatte er eben gerade seinen Rekord gebrochen und die Standpauke kriegte ich ja überwiegend ab. Weil ich der Ältere bin und so. Ungerecht. Der Kirschkern, der ihm im dritten Jahr in Folge den Kirschkern-Weit-Spuck-Meisterschaftstitel einbrachte, lag jetzt vergessen im Türrahmen zur Küche. Gerade war er noch der Mittelpunkt des Interesses gewesen. Lenny und ich hatten nämlich gerade mit Dads Zollstock seine Fluglänge gemessen. Da waren Mam und Dad und Jasmin nach Hause gekommen. Diese blöde Kuh stand übrigens die ganze Zeit mit verschränkten Armen im Hintergrund und schwieg. Man könnte meinen, sie würde ihren Brüdern mal zur Seite stehen, aber Pustekuchen. Dafür ist sie ja viel zu anständig. Die Verräterin. Sie findet Kirschkernspucken sowieso eklig, wie sie uns jedes Jahr ungebeten wieder mitteilt. Und es interessierte sie auch damals nicht die Bohne, dass Lennys letzter Kern zehn Meter und zweiundneunzig geflogen war. Zehn Meter und zweiundneunzig! Ich kann es immer noch nicht fassen. Wenn ich mich anstrenge, dann schaffe ich grad mal die Hälfte davon. Über uns polterte es schon wieder. „Ihr werdet diese Sauerei hier auf der Stelle beseitigen. Habt ihr mich verstanden?“, keifte meine Mutter uns an. „Ja,“ brummte ich. „Du auch, Lenny?“ „Ja,“ murmelte er. „Und wenn ihr noch einmal die Wohnung als Spielplatz benutzt, dann setzt es was. Verstanden?!“ „Ja,“ grollten wir im Chor. „Gut...,“ murrte sie und räusperte sich, während ihr Körper langsam abschwoll, „Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee.“ Ich hörte meine Mutter davon stöckeln und sorgsam darauf achten, auf keinen der herum liegenden Kirschkerne zu treten. Über uns rumpelte und scharrte es immer noch. Ich wusste, dass da grad jemand Neues einzog. Hoffentlich keine Rentner, die bei jedem nächtlichen Mucks im Bademantel an der Tür klingeln, dachte ich noch. Langsam hob ich den Kopf. Dad starrte orientierungslos in der Gegend herum und fühlte sich offenbar nicht besonders wohl in seiner Haut. Mit einer Handbewegung, die mit einem Automatismus kommt, der sich nur durch jahrelanges Training entwickelt, und dennoch immer nervös wirkt, schob er sich die Brille höher auf die Nase. Ich sah an ihm vorbei, zu Jasmin. Sie zog die Augenbrauen hoch, als ich ihren Blick erwiderte. Ich streckte ihr die Zunge heraus und wenn mich nicht alles täuscht, dann zuckten ihre Mundwinkel verdächtig. Aber bevor ich mir sicher war, hatte sie sich auch schon umgedreht und war beschwingten Schrittes in ihrem Zimmer verschwunden. Frauen sind komisch. Na ja, nicht alle. Aber die in meiner Familie definitiv. Lenny und ich brauchten jedenfalls keine fünf Minuten, um alle siebenundzwanzig Kerne, die überall verstreut herum lagen, aufzusammeln und ihre Flecken zu entfernen. Trotz dem Anschiss, den wir bekommen hatten, war er glänzender Laune. Kein Wunder. Immer wenn sich unsere Augen begegneten, grinste er wie ein Honigkuchenpferd und formte mit den Lippen zehn Meter zweiundneunzig. Und ich schnitt ihm eifrig eine Grimasse nach der nächsten, während ich gehorsam Kerne auflas und auf dem Boden rumwischte. Mam beobachtete uns dabei, wie ein Adler eine Feldmaus beobachtet. Dabei nippte sie an ihrer schwarzen Kaffeetasse. Sie hatte irgendwie was von einer Profikillerin, wie sie da am Kühlschrank lehnte, in dem hellen Hosenanzug und der Sonnenbrille im dunkelbraunen Haar. Fehlte nur noch die Knarre an ihrem Gürtel und die Zigarette im Mundwinkel. Aber zu dem Zeitpunkt hatte sie das Rauchen vor sechs Monaten aufgegeben. Inzwischen...hat sie leider wieder damit angefangen... „Seid ihr fertig?“, fragte meine Mutter bissig, nachdem Lenny den letzten Kern in den Müll geworfen hatte. Wir nickten demütig und drückten uns an der Wand herum, während sie auf unserem inzwischen leeren Schlachtfeld auf und ab ging und unsere Arbeit überprüfte. Es schepperte schon wieder von oben. „Na ja... Einigermaßen...,“ urteilte sie schließlich mit Kennermiene, stemmte die Arme in die Hüften und guckte böse von Lenny zu mir und wieder zurück, „Das mir das nicht noch einmal passiert. Wenn ihr zwei zuviel Energie habt, dann tut gefälligst etwas Nützliches. Ihr könntet zum Beispiel nach oben gehen und unseren neuen Nachbarn beim Einziehen helfen.“ Lenny und ich tauschten entsetzte Blicke. „Ich muss noch Hausaufgaben machen,“ erklärte ich laut. „Ich auch,“ stimmte Lenny mir hastig zu. Meine Mutter schnaubte, sagte aber nichts weiter dazu. Ich beeilte mich, in mein Zimmer zu flüchten. Hinter mir schloss ich umsichtig die Tür. Ich seufzte. Zehn Meter und zweiundneunzig. So eine Schweinerei. Auch über meinem Zimmer rumorte es. Ich sah gelangweilt zur Decke hinauf und beschloss, dass ich bei dem Krach unmöglich Hausaufgaben machen konnte. Dieser Gedanke befriedigte mich zutiefst. Ich schlenderte zu meinem einzigen Fenster hinüber, öffnete es weit und lehnte mich auf der Fensterbank nach vorne. Draußen war der Himmel blau und die Sonne schien, so wie es an einem Julisamstag sein sollte. Die Luft war warm und duftete nach Blüten und Blättern. Alle Bäume an unserer Straße waren grün und die Autos, die am Rand parkten, sahen selbst von hier oben staubig aus. Von irgendwoher klangen unverständliche Stimmen zu mir herunter, aber ich achtete nicht darauf. Ich atmete tief ein und dann – fiel mir etwas in den Nacken. Vor Schreck fuhr ich zusammen und fasste unwillkürlich nach oben. In etwas Stoffartiges. Verdutzt zog ich es mir vom Kopf. Es war eine Kufiya oder auch ein Palischal. Eins von diesen arabischen Tüchern, die die Alternativen oft tragen. Die meisten Kufiyas sind schwarz-weiß, aber diese hier war violett. Sie fühlte sich weich und gleichzeitig ein wenig rau in meinen Händen an. Ein starker Geruch ging davon aus. Herb und berauschend, so wie die klassischen, männlichen Deos und Düfte halt riechen. Aber es war noch etwas Anderes dabei. Eine besondere, eigene Note. Es roch verdammt angenehm und es stieg mir zu Kopf. Es benebelte mich. Wo kam das Teil nur her? Ich verdrehte mir den Hals und blickte nach oben. Direkt über meinem Fenster war ein anderes Fenster. Ebenfalls offen. Ich fragte mich gerade dumpf, ob die Kufiya da heraus geflogen war, als ich plötzlich einen Fluch aus dem Fenster heraus wehen hörte. Einen Moment später steckte jemand seinen Kopf nach draußen, sah nach unten und mich an. Mich mit der Kufiya in der Hand. Der Jemand war ungefähr in meinem Alter und hatte ein schmales Gesicht und sehr dunkle Augen und Brauen. Sein Haar schimmerte in der Sonne und war irgendwie so dunkelblond-hellbraun-grau, wie mindestens die Hälfte aller Haare auf der ganzen Welt. Er sah leicht erschrocken aus. Wir starrten uns an. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. Dann grinste ich und er – grinste zurück. Er hatte ein verschmitztes, freundliches Grinsen, voller weißer Zähne. Und das, obwohl sein Gesicht auf den ersten Blick so wirkte, als würde es nicht besonders oft grinsen. Aber gerade tat er es. Für mich. „Hey ho...,“ rief ich zu ihm hoch und hob die Kufiya, „Gehört die dir?“ „Ja...,“ antwortete er und lachte erleichtert, „Mein Dad hat mich gerufen und da habe ich Trottel sie einfach auf die Fensterbank geschmissen. Der Wind hat sie wohl rausgepustet. Danke, dass du sie aufgefangen hast.“ „Kein Ding. Willst du sie wieder haben?“ „Gern, warte...,“ Wir streckten uns einander entgegen. Doch natürlich lagen zwischen unseren Händen noch mehrere unüberbrückbare Meter. Und da wir beide nicht aus unseren Fenstern fallen wollten, zogen wir uns eilig wieder zurück. „So klappt das nicht...,“ meinte ich und kratzte meine Mütze. Langsam bekam ich Genickstarre vom Hochglotzen. „Ich hab ne Idee, einen Moment...,“ rief er mir zu und zog den Kopf ein. Es verging nur eine knappe Minute, dann erschien er schon wieder im Fenster. Gemeinsam mit einer Schnur. „Das ist die alte Angelschnur meines Dads,“ informierte er mich und begann sie zu schwingen wie ein Cowboy sein Lasso, „Achtung, Achtung!“ Ich lachte und blinzelte nach oben. Wie eine Angel warf er die Schnur aus und nach drei Fangversuchen hielt ich sie tatsächlich in der Hand. Sie war zwar dünn, fühlte sich aber sehr reißfest an. Vermutlich mussten Angelschnüre das sein, damit sie nicht bei jedem dicken Karpfen nachgaben. Mit ein paar Handgriffen knotete ich die Kufiya an die Schnur. „Kannst hochziehen!“, rief ich dann und er zog. Wie ein violetter Vogel entfernte sie sich von mir, kroch an der Mauer entlang und über die Fensterbank, direkt in seine Arme. Er seufzte erleichtert, als hätte er sein Ein und Alles nach einem grässlichen Kampf endlich zurück, band sie ab und wickelte sie sich um den Hals. Mir war sofort klar, dass das ihr Stammplatz war. Genauso wie mir klar war, dass der Stammplatz meiner Mütze immer mein Kopf sein würde. „Vielen Dank!“, rief er zu mir hinunter, grinste und warf die Schnur wieder herunter, wo sie vor meiner Nase baumelnd inne hielt. Instinktiv griff ich danach und winkte ab. „Kein Problem.“ Ich lächelte und mein Nacken protestierte etwas. Aber ich kümmerte mich nicht darum. „Hast du eigentlich nen Namen?“, fragte er dann. „Nein,“ entgegnete ich und spielte mit der Schnur in meiner Hand, „Man nennt mich nur den, Der-Die-Schnur-Knotet.“ Er lachte auf. „Ah, ein sehr passender Name.“ „Nicht wahr?“, ich grinste zu ihm hoch, „Ich heiße Momo.“ „Momo?“, wiederholte er und ich hörte die Skepsis in seiner Stimme, die ich immer höre, wenn ich jemandem den Namen nenne, den die zweijährige Jasmin mir einen Tag nach meiner Geburt gegeben hat. Aber sei’s drum. Solche kindlichen Spitznamen halten sich ewig. Ich höre sowieso auf nix Anderes. Auch nicht auf den Namen, der auf meiner Geburtsurkunde und meinem Perso steht. Den benutzt sowieso niemand. Noch nicht mal die Lehrer in der Schule. „Momo...,“ sagte er erneut, als wolle er den Klang testen. Es hörte sich herrlich aus seinem Mund an. So, als wäre er der Erste, der es vollkommen richtig ausspricht. „Ich hoffe, du hast nichts gegen Saxophone.“ „Spielst du etwa?“ „Allerdings und am Liebsten um sechs Uhr morgens.“ „Na, toll...,“ knurrte ich. Er lachte mich an und plötzlich war ich mir sicher, dass sein ernstes Gesicht absichtlich über seine Frohnatur hinweg täuscht. Warum auch immer. „Bist du wenigstens gut?“ „Warte...,“ Er verschwand. Allerdings nur einen Augenblick. Dann tauchte er wieder auf, in der Hand ein poliertes Saxophon, das in der Sonne golden glänzte. Er nahm das Mundstück zwischen die Lippen und blies hinein. Ein heller und glasklarer Ton entstand, der die Sommerluft zerschnitt und vibrierend in ihr inne hielt wie ein Schwur. Seine Finger huschten über die rätselhaften Knöpfe des Instruments und die Töne verbanden sich zu einer Melodie, die ich irgendwoher kannte. Ich lauschte andächtig. Eine Gruppe Menschen, die unter unseren Fenstern die Straße entlang schritt, hob den Kopf, um zu sehen, woher die Musik kam. Es klang wirklich wunderschön und ich bekam unvermittelt eine Gänsehaut. „Gut, du hast mich überzeugt!“, rief ich empor und rieb mir hastig über die Arme. Er hörte auf zu spielen und lachte. „Das freut mich.“ „Du bist echt gut! Wie lange spielst du schon?“ „Seit ich fünf bin,“ antwortete er und grinste, „Ich werde der neue Charlie Parker.“ Ehrlich gesagt, hatte ich zu jener Zeit noch keine Ahnung, wer das gewesen ist. Aber ich war mir schon damals sicher, dass er ein guter Saxophonist gewesen sein musste. Doch bevor ich darauf irgendeinen Kommentar erwidern konnte, hörte ich eine andere, entferntere Stimme und er drehte er den Kopf ins Innere des Zimmers. „Ja, gleich,“ sagte er laut. Offenbar hatte ihn jemand gerufen. Er blickte wieder zu mir hinab und grinste. „Dann bis später, Momo. Ich werde beim Schleppen gebraucht.“ „Okay, mach’s gut!“ Er grinste erneut und verschwand zum dritten Mal. Da fiel mir noch was ein. „Hey! Charlie!“ Er erschien wieder am Fenster. Breit lächelnd angesichts des Namens. „Ja?“ „Willkommen.“ Er strahlte mich an und schien sich ehrlich zu freuen. „Danke.“ Die Angelschnur hielt ich immer noch in der Hand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)