Mila Superstar - Wiedersehen in Fujimigahara von lachende_goettin (Reuinion 2000) ================================================================================ Kapitel 6: Das, was du nicht erwartet hättest --------------------------------------------- Das erste, was Mila auffiel, waren die Beine. Noch nie hatte sie solche schier endlosen Beine gesehen, abgesehen vielleicht von Illustrierten westlicher Modelabels, die sie auf ihren Reisen bei Auslandsturnieren eher beiläufig wahrgenommen hatte. Die schönen Beine waren bekleidet mit knöchellangen Hosen, die den Blick auf dünne, elfenhafte Knöchel freigaben. Getragen wurden sie von schwarzroten Louboutins, die noch mörderischer aussahen, als die Pumps, die Midori gerne zu tragen pflegte. Aber an jener Dame, die sich jetzt aus dem Taxi schälte, wirkten sie authentisch, sie beherrschte es routiniert, damit eilig durch den Regen über den Schulhof zu tippeln. Der geschwungene Gang verriet Ballettstunden. Vielleicht auch Tanz, dachte Mila. Der Rest, der an den Beinen mit dran war, verschlug ihr den Atem. Es handelte sich um eine sehr hochgewachsene Frau, es mussten mindestens 1,87 sein, die sie in den Himmel ragte – allerdings taten dazu auch die Schuhe ihr nötigstes. Sie trug ein langes, cremefarbenes Mantelkleid, in der Taille gegürtelt, was ihre Schlankheit unterstützte. Das Auffälligste an ihr war trotzdem ihr Haar, ein Flachsblond, wie man es in Japan unter natürlichen Umständen nicht sah, mit Goldschimmer. Obwohl sie eine Kurzhaarfrisur trug, war jedes Härchen gelegt, sicher war hier vorher ein Frisör zum Einsatz gekommen. Sie trug goldene Ohrringe, dezent zwar, aber zur Haarfaarbe passend. Ihr Gesicht war makellos, mit großen, blauen Augen und dunkelrotem Lippenstift, der ihre wunderhübsch geschwungenen Lippen bis zur Perfektion bewegte. Die Frau strahlte über das ganze Gesicht, als sie mit in den Jackentaschen vergrabenen Händen und angezogenen Schultern durch den Regen auf sie zutänzelte, direkt an der sprachlosen Mila vorbei, der vor lauter Hochachtung der Mund offen stand, in die Arme von Midori, die – wie nun auch die anderen – vor Freude ursprudelten, wie junge Mädchen, die auf ihr Idol trafen. - „Schlenina“, rief Midori und drückte sie sofort fest, eine ungewöhnliche Geste für diese Breiten. Auch die anderen Damen waren im wahrsten Sinne völlig aus dem Häuschen, sie riefen alle durcheinander. - „Wo warst du so lange?“ - „Wie war dein Flug?“ - „Hast du deine Familie mitgebracht?“ Die Frau mit der rauchigen Stimme antwortete – wie schon damals – in akzentfreiem Japanisch: - „Es tut mir sehr leid, dass ich so spät bin. Ich hoffe, ihr habt schon ohne mich angefangen, meine Lieben.“ Mila stand wie angewurzelt da. Das war Schlenina. War es die Schlenina? DIE unbesiegbare Schlenina Andreievna, der ehemalige Stern am Himmel des russischen Volleyballs, gegen den jahrelang kein Kraut gewachsen schien? Nein, natürlich nicht, sie trug mittlerweile einen anderen Nachnamen. Das war kein Wunder, denn sie hatte schnell geheiratet, nachdem sie damals ihren Rücktritt vom Volleyball bekanntgegeben hatte und immerhin bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion Talente trainiert hatte. Mila hatte ihren neuen Nachnamen einmal aufgeschnappt, um ehrlich zu sein aber nie ganz aussprechen können und damit auch vergessen. Nein, das war auch nicht die Schlenina mit dem bestimmten Gesichtsausdruck, die gleichzeitig jovial, versöhnlich und diplomatisch war, aber im nächsten Moment bitterernst; die eine beste Freundin und ein erbitterter Gegner zugleich gewesen war. Schlenina, die sich niemals verdreht und niemals zurückgenommen hatte und vermutlich genau deswegen immer eine Spur besser war als alle anderen. Außer das eine mal, 1971 in Bulgarien. Das letzte Mal, als Mila sie gesehen hatte. Ihre Koryphäe, die ihr nie aus dem Kopf gegangen war. Nun stand sie hier, vor ihr. Und erkannte sie nicht einmal. Schlenina wurde hineingezogen in den Kreis. Sie überragte alle anderen um gut einen Kopf, konnte sich aber trotzdem gegen den Andrang der Freude nicht erwehren. Ishimatsu löste ihr sofort den Mantel vom Körper und hängte ihn zum Trocknen über den Ofen. Sie trug einen mintgrünen Hosenanzug im supermodernen Schnitt, der ihre fabelhafte Figur betonte. Ihr Parfüm duftete nach Veilchen, Vanille und entfernt nach regennassem Moos. Gänzlich anders als die Düfte der anderen Damen. - „Es ist so schön, wieder bei euch zu sein. Auch wenn ich bisher fast immer da war; ich komme mir jedes Mal wieder vor, als würde ich zu meiner Familie zurückkehren.“, stellte Schlenina fest. Auch in ihrer Stimme lag etwas Temperamentvolles, unterdrückt Leidenschaftliches, wie schon damals. Mila stellte fest, dass sie plötzlich anfing, sich zu genieren. Sie schämte sich zutiefst für alles; für ihre klobigen Sportschuhe, die vorhin im Regen schmutzig geworden waren, ihren Sportanzug, den albernen Pferdeschwanz, den sie sich eigentlich nur aus nostalgischen Gründen frisiert hatte, das fehlende Make Up und ihr billiges Parfüm, das nicht mal ihr eigenes war. Ich will hier weg, dachte Mila mit einem Mal, sie, die es nicht hatte aushalten können, auf Schlenina, die unfehlbare Schlenina zu treffen, wäre nun am liebsten am weitesten weg von ihr. Doch es gab kein Entkommen, und die Russin hatte sie bereits wahrgenommen. Sie hatte sich kokett auf den Absätzen umgedreht und sich nach der Person umgeschaut, die bisher nur still in der Ecke gestanden hatte. Für ein bis zwei Sekunden ruhte ihr Blick auf Mila, und ihre riesigen Augen verrieten zunächst Ratlosigkeit. Dann aber schien sie ihre alte Gegnerin zuordnen zu können, und es war, als wäre in ihrem Gesicht die Sonne aufgegangen. - „Mila?“ rief sie mit ihrer überaus lauten Stimme. – „Bist du Mila Ayuhara?“ Mila schluckte und nickte zögerlich. Sie wäre gerne so fröhlich und ausgelassen vor Wiedersehensfreude in ihre Arme gesprungen wie ihre Freundinnen. Warum nur war ihr das nicht möglich? Warum konnte sie ihre Freude nicht aus außen leben? Doch da kam dieses bezaubernde Geschöpf schon auf sie zu und umarmte sie innig. Mila war sich nicht sicher, wie sie die Umarmung erwidern sollte – wo sollte sie ihr großen, muskulösen Hände ablegen, die angeblich zu hart zugriffen? Der Anzug ist bestimmt ein Designerstück, dachte sie sich. - „Oh Mila“, sagte sie leise und drückte sie sehr fest. Mila spürte, wie ihre Halsseite, an der Schleninas Wange lag, feucht wurde. Die Russin umgriff ihre Schultern und sah sie nun aus nächster Nähe an. Freudentränen glänzten in ihrem makellosen Gesicht auf, das aus der Nähe nur noch perfekter war. Ja, man erkannte noch das Mädchen von damals, irgendwo war sie jung geblieben. Sie sah nicht so alt aus, wie sie im Endeffekt sein sollte, keine einzige Falte zeichnete sich auf ihrer samtartigen hellen Haut ab, außer unter den Augen, dort wo viel gelacht wurde. Schlenina schüttelte sie sanft, und ihre laute Stimme versetzte sie ein wenig in Schrecken. -„Mila, Mila!“ rief sie außer sich. –„Aber ich bin auch sehr böse auf dich. SEHR böse. Wie kannst du es wagen, dich nicht ein einziges Mal bei mir zu melden.“ - „Äh, also ich…“, setzte Mila an, aber ihr unsicheres Gestammel ging in Schleninas Donnerstimme unter, die jetzt mit dem Finger auf die anderen Mädchen zeigte. – „Mit IHNEN habe ich nie den Kontakt verloren! Wir waren all die Jahre füreinander da. Nur DU hast nicht reagiert, nicht ein einmal!“ - „Das tut mir sehr leid, ich war so beschäftigt“, sagte Mila etwas überrumpelt. - „Naja. Wie dem auch sei, ich bin froh bis zum Mond, dich endlich zu sehen!“, sagte Schlenina und drückte Mila gleich ein Weiteres mal. Als hätte sie Angst, dass ihre ehemalige Gegnerin versuchte zu flüchten, legte sie einen Arm um ihre Hüften und schob sie auf einen Sitzplatz neben sich. Der Rest des Abends wurde sehr heiter. Auch Schlenina trank einen Sake nach dem anderen, hatte aber zur Feier eine Flasche echt sibirischen Wodka mitgebracht, von dem sich jeder ein Schlückchen einschenkte – nur Mila verzichtete. Es dauerte nicht lange, bis das harte Wässerchen seine Wirkung zeigte, und alle wurden lauter, ausgiebiger oder vergaßen sogar ihre guten Manieren. Die Stimmung war ausgelassen, nachdem Schlenina gekommen war, ihre gänzlich offene Art steckte die anderen regelrecht an, wie Mila feststellte. Schlenina ließ hauptsächlich Erinnerungen aus Treffen der letzten Jahre Revue passieren, zu denen Mila selbst kaum etwas beitragen konnte. Sie gab sich größte Mühe, zumindest mitzulachen. Dabei stellte sie immer wieder fest, wie andersartig Schlenina als Kaliber war; sie war lauter, gegenwärtiger, versprühte Lebensfreude – sie war echt, und sie war universell: Sie verstand sich mit jedem, sie war fähig, sich auf jeden einzulassen. Wie öde, dass niemand über Volleyball sprechen will, dachte Mila betrübt. Es war inzwischen weit nach Mitternacht, die Nacht war sternenklar, die Regenwolken hatten sich verzogen. - „Schlenina hat die dunklen Wolklen weggezogen“, lallte Ishimatsu, bevor die Ärmste endgültig zusammenklappte. Midori und Kaori rollten ihre Schlafmatte vor dem Ofen aus und verpackten sie darin. Alle lachten über das anschließende Schnarchen Ishimatsus, was ihnen noch von damals gut bekannt war. Mila bemühte sich zu lächeln. Sie war betreten und gekränkt. Ich kann nicht Teil der Stimmung hier werden, schlussfolgerte sie nach einer gewissen Zeit und war traurig und wütend zugleich über diese Erkenntnis. Aber Volleyball spielte im Leben aller hier keine Rolle mehr, nicht mal in Schleninas, und diese Einsicht schmerzte sie am meisten. Andererseits war es undankbar und rücksichtslos, so zu denken, dachte sie. Warum sollten sich die anderen nicht freuen darüber, dass sie ihren Platz im Leben gefunden haben? Es war doch nicht der Volleyball alleine, der sie damals so nah zusammengebracht hatte – oder doch? - „Ich gehe mal ein bisschen raus“, sagte Mila, als der Zeitpunkt gut war, denn auch Kaori rollte allmählich ihre Schlafmatte aus, Midori und Schlenina sowie Sanyo und Kakinouchi hatten sich zu Einzelgesprächen zusammengetan und würden sie sicher nicht vermissen. Draußen war es kühl durch das vorangegangene Unwetter, aber die Frische umfing Mila wohltuend. Der Geruch nach Regen und den Zedern streifte sie und brachte ihr für einen Moment lang eine kurze Erinnerung an damals zurück, als sie hier in den 60ern zur Schule gegangen war. Natürlich hatte sich seitdem viel verändert, wie sie feststellte, als sie sich vom Clubhaus wegbewegte. Ein Gebäudeflügel war angebaut worden, es gab nun einen botanischen Garten für die Biologen und weiterhin fehlte anscheinend das kleine Wäldchen, indem Mila in ihren allerersten Schultagen zu westlicher Rockmusik mit Nakazawa und anderen Freundinnen getanzt hatte – damals, ja, da nannten sie sich noch die Rebellen und pfiffen auf Schulordnungen. Das war noch vor dem Volleyball. Doch diese Stelle gab es nicht mehr, hier stand jetzt ein Gewächshaus und dort, wo sich früher ein Wald angeschlossen hatte, machte sich heute eine Reihenhaussiedlung breit. Mila seufzte und nahm auf einer Schaukel Platz. Sie zuckte zusammen, als sie feststellte, dass eine zweite Gestalt aus der Dunkelheit auftauchte. Sie entspannte sich wieder, als es nur Schlenina war. - „Mila, darf ich mich zu dir setzen?“ fragte sie und nahm auf der Schaukel neben ihr Platz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)