Die Super Nanny in Japan von JinShin ================================================================================ Kapitel 21: Emotionen --------------------- Als wir wieder auf der Straße waren, sagte Nami nach ein paar schweigsamen Schritten: „Das haben Sie wirklich toll gemacht, wie Sie mit ihm gesprochen haben…“ Sie stockte und plötzlich brach sie in Tränen aus. Wir blieben stehen. „Was ist denn los?“ fragte ich besorgt. „Nichts, schon gut.“ Sie versuchte vergeblich, die Tränen fortzuwischen, denn es kamen noch immer neue hinterher. Trotzdem lächelte sie. „Das sind nur die Nerven… die ganze Anspannung… ich weiß auch nicht, aber es geht gleich wieder, verzeihen Sie.“ „Das macht doch nichts“, sagte ich und fühlte mich hilflos, weil ich nicht wusste, wie ich sie trösten sollte. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, aber ich wollte nichts falsch machen, war unsicher, was sie jetzt brauchte. Ich spürte einmal mehr, wie fremd mir diese Kultur mit ihren Menschen eigentlich war. „Doch, das macht was“, widersprach sie mir heftig. „Ich habe mich falsch verhalten, das ist unentschuldbar, und ich schäme mich so, dass ich so wütend war. Wenn Sie nicht dabei gewesen wären, Katia-san…“ Sie drehte sich von mir weg, und ich sah am Beben ihrer Schultern, dass sie jetzt erst richtig zu schluchzen anfing. Ach, fremde Kultur hin oder her, Mensch ist Mensch, dachte ich, und kurz entschlossen trat ich einfach einen Schritt auf sie zu und schloss sie in meine Arme. Sie versteifte sich kurz, doch dann gab sie nach, drehte sich zu mir und lehnte ihren Kopf an meine Schulter, überließ sich der tröstenden Umarmung. Wie dünn und zierlich sie doch war, und dennoch merkte ich eine Spannkraft in ihrem Körper, die von hartem Training herrühren musste. Ihr Haar kitzelte mich an der Wange und war im Gegensatz dazu so weich wie ein Rosenblütenblatt. Ihr Duft erinnerte mich an den Wind der See. Schweigend ließ ich ihr die Zeit, die sie brauchte, um sich wieder zu fassen. Ich hatte sie die ganze Zeit nicht so emotional erlebt wie in den letzten Stunden, bisher hatte sie ganz gut ihre Gefühle kontrollieren können, auf bewundernswerte Art und Weise. Dennoch mochte ich sie durch ihre momentane Emotionalität nur umso lieber. Menschen sind keine Maschinen. Es dauerte nicht lange, und sie löste sich von mir. Verlegen wandte sie mir den Rücken zu, um sich die Nase zu schnäuzen und die Tränenspuren fortzuwischen. „Es ist unerträglich, diese Geschichten zu hören und nichts tun zu können“, sagte sie. „Es macht mich wahnsinnig, dass Tatsuomi-sama ganz alleine war, und niemand hat ihm geholfen…“ In ihren Augen war schon wieder ein verdächtiges Glitzern. Sie knüllte das Taschentuch als könnte es ihr Halt geben. „Ich verstehe, was Sie meinen“, sagte ich. „Aber es stimmt nicht, dass wir nichts tun können. Wir sind doch schon dabei. Wir können ihm jetzt helfen.“ „Ach, können wir das? Nichts können wir! Es war ganz umsonst, Sie um Hilfe zu bitten! Ich dachte, Sie könnten Kaoruko-sama raten, was sie tun kann, damit Tatsuomi wieder glücklicher wird. Ich habe ja nicht geahnt, dass so etwas dahinter steckt! Hirose-sama wird Sie noch heute hinaus werfen, und wissen Sie auch, warum? Nicht nur, weil Sie eine Fremde sind, die hinter ein Familiengeheimnis gekommen ist, sondern einfach weil Sie eine Frau sind, und sich ein Mann wie Hirose von einer Frau nicht sagen lässt, was er zu tun hat! Und darum wird er auch genauso wenig auf seine Ehefrau hören! Es ist alles umsonst!“ Sie ließ ihre Frustration an einem Kieselstein aus, der auf dem Gehweg lag, indem sie mit Wucht gegen ihn trat. Mit einem hellen metallenen Klang prallte er von einem der Autos ab, die am Straßenrand parkten. „Oh“, machte sie erschrocken. „Lassen Sie uns weiter gehen, bitte…“ Langsam gingen wir weiter. Ein unauffälliger Seitenblick ließ keinen großen Blechschaden an dem Wagen erkennen. Höchstens eine kleine Beule. „Nichts war umsonst“, widersprach ich ihr freundlich. „Es ist gut, dass Sie und Kaoruko jetzt wissen, was die Ursache für Tatsuomis Verhalten ist. Das ist schon viel wert. Und Hirose… nun, erstmal abwarten, wie er reagiert.“ Ich weigerte mich, mich von Namis plötzlichem Pessimismus anstecken zu lassen, das war nicht sehr hilfreich als Gesprächsvorbereitung. So kannte ich sie auch gar nicht. Ich lächelte ihr aufmunternd zu. „Selbst wenn er mich rausschmeißen sollte – und das wollte er, glaube ich, schon öfter, aber er hat es nicht getan – aber selbst, wenn doch, dann habe ich Sie bisher immer so erlebt, dass Sie aus irgendeinem Ärmel plötzlich noch ein Ass zaubern konnten.“ „Dieses Mal nicht“, murmelte sie finster. „Was werden Sie zu Hirose-sama sagen?“ Ich seufzte innerlich bei dem Gedanken an das mir bevorstehende Gespräch mit Hirose. „Erstmal werde ich ihn fragen müssen, ob es stimmt, was Hotsuma uns erzählt hat.“ „Das kann er nicht zugeben, selbst wenn es stimmt.“ „Ich gehe erstmal davon aus, dass es stimmt. Keine Sorge, er wird mir zuhören. Er ist nicht dumm, und er liebt seinen Sohn. Selbst wenn er mich fortschickt, Tatsuomis Probleme wird er nicht so leicht los, und das müsste ihm auch klar sein.“ Zumindest hoffte ich das. Leider war ich nicht halb so zuversichtlich wie ich tat, auch wenn ich mir Mühe gab, es zu sein. Ich verstand jetzt besser, warum Hirose sich so sträubte, einen Psychologen in die Familie zu lassen. Ob mir das helfen würde, ihn doch noch zu überzeugen, war die entscheidende Frage. Und Namis Zweifel waren bedauerlicherweise durchaus berechtigt. „Nur für den Fall, dass Sie recht behalten“, sagte ich, als wir im Auto saßen und zurück fuhren. „Ich bin sicher, dass Tatsuomi therapeutische Hilfe braucht. Er hat eine posttraumatische Störung, und die vergeht nicht wieder von alleine. Wenn das jetzt nicht richtig verarbeitet wird, hat er den Rest seines Lebens daran zu knabbern. Sollte Hirose wirklich nicht einlenken heute Abend, müssen Sie weiter daran arbeiten, dass Tatsuomi die nötige Unterstützung zukommt.“ Nami schnaufte leise durch die Nase. „Wie stellen Sie sich das vor? Ich bin nur ein Teil des Personals. Ich habe gar nichts zu sagen.“ „Aber Kaoruko hört auf Sie! Bestärken Sie sie!“ „Wir sind hier nicht in Europa“, sagte Nami bitter. „Kaoruko ist nur seine Frau. Sie hat keinen Einfluss.“ „Das sehe ich ein wenig anders. Hirose hat ihr durchaus schon nachgegeben, als sie mit Scheidung gedroht hat.“ Nami schüttelte den Kopf. „Nur, weil ihm dadurch klar wurde, dass es ihr tatsächlich ernst ist, und er selbst keine bessere Möglichkeit sah. Er hat niemals wirklich geglaubt, dass sie das durchzieht.“ „Das wird sie aber“, beharrte ich. „Hm“, machte Nami nur zweifelnd. Leider kannte sie die Nanjos viel besser als ich. „Es muss doch jemanden geben, auf den Hirose hört. Jemand, dessen Meinung ihm wichtig ist…“, überlegte ich laut. „Kurauchi vielleicht“, sagte Nami nachdenklich, dann hieb sie plötzlich mit der Faust auf das Lenkrad. „Natürlich, Kurauchi! Er ist der einzige Mensch auf diesem Planeten, von dem er sich vielleicht etwas sagen lässt. Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin, wie blöd! Ich werde mit ihm sprechen, bestimmt kann ich ihn überzeugen, wie dringend Tatsuomi Unterstützung braucht…“ Geht doch, dachte ich zufrieden. Ich hatte gewusst, dass ihr etwas einfallen würde. „Aber erst möchte ich mit Hirose sprechen. Wenn das schief geht, können wir zusammen zu Kurauchi gehen, einverstanden?“ Sie nickte, und endlich sah sie wieder zuversichtlicher aus. Auch mir war jetzt deutlich wohler zumute mit einem Plan B in der Tasche. Ich wollte ungern abreisen, ohne sicher zu sein, dass Tatsuomi gut versorgt sein würde. Die Idee von Nami war gut, wie alle ihre Ideen bisher. So vertraut, wie Hiroses mit seinem Leibwächter umging, konnte ich mir gut vorstellen, dass er einen Rat von ihm würde annehmen können. Und sollte wirklich der schlimmste Fall eintreten, und ich würde nichts erreichen, hätte Hirose die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren und nach meiner Abreise eine reine Männerentscheidung daraus zu machen. Hauptsache, er würde nachgeben. Warum und durch wen und ob ich dann noch dabei war, war mir egal. Noch nie war ich vor einem Elterngespräch so nervös gewesen. „Vielleicht sollten Sie nach Hotsuma sehen“, schlug ich vor, als wir das Anwesen der Nanjos erreicht hatten. „Das war für ihn sicherlich auch nicht leicht vorhin, das alles mit anzuhören.“ „Das stimmt“, sagte Nami, und wir gingen getrennte Wege. Kaum hatte ich das Haus betreten, kam Tatsuomi schon auf mich zugelaufen, mit einem weißen Gebilde in den Händen. Kaoruko folgte ihm. Sie sah noch immer etwas blass aus, hatte sich jedoch schon wieder gut gefasst und begrüßte mich lächelnd. „Ich habe ein Geschenk für Sie gemacht“, verkündete Tatsuomi und streckte mir stolz das Gebilde entgegen. Es war ein schlanker, aus Papier gefalteter Vogel. Ich nahm ihn vorsichtig und betrachtete das filigrane Geschöpf. Es war sorgfältig und gleichmäßig gefaltet worden. „Das ist aber schön“, sagte ich, ehrlich erfreut. „Vielen Dank.“ „Das ist Origami“, erklärte er eifrig und sah dann Hilfe suchend zu seiner Mutter. „Ein…“ „Das ist ein Kranich“, sagte sie. „Er ist in Japan ein Symbol für ein langes, glückliches Leben.“ „Das ist lieb von dir, Tatsuomi. Da freue ich mich sehr.“ Er strahlte mich glücklich an, weil mir das Geschenk so offensichtlich gut gefiel. Er schien einen schönen entspannten Nachmittag mit seiner Mutter verbracht zu haben. Dann allerdings erlosch das Strahlen schnell wieder, als Kaoruko weiter sprach. „Es ist schon spät. Zeit, schlafen zu gehen.“ Sie sah mich an. „Mein Mann ist noch nicht da, und wir waren noch nicht im Bad…“ „Ich kann Ihnen gerne helfen“, bot ich an, obwohl ich hundemüde war. Aber meine Zeit hier wollte ich auch so effektiv nutzen wie möglich. Also ließ ich mir nichts anmerken. „Ne, Tatsuomi, wir machen das so wie gestern.“ Er sah ängstlich aus, aber nickte tapfer. „Ich danke Ihnen.“ Kaoruko war erleichtert. „Aber Sie müssen hungrig sein. Ihr Abendessen steht für Sie bereit.“ „Ich kann auch hinterher essen“, beruhigte ich sie. Ich hatte sowieso keinen Hunger. „Hat Ihr Mann gesagt, wann er kommt? Ich möchte noch mit ihm sprechen.“ „Er hat nur gesagt, dass er in der Firma zu tun hat. Zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr kann das werden. Wo waren Sie den ganzen Nachmittag?“ „Wir haben einiges herausgefunden. Ich erzähle Ihnen später davon.“ Wir brachten die anstrengende Wasch- und Einschlafprozedur hinter uns. Kaoruko machte das sehr gut. Trotzdem ging es natürlich noch nicht ohne Tränen vonstatten, dazu saßen die Ängste zu tief. Aber durch unser neu erworbenes Hintergrundwissen fiel es Kaoruko deutlich leichter, geduldig und einfühlsam mit Tatsuomi umzugehen. Sie hatte die Raumaufteilung verändert. Das war sehr praktisch an dieser alten japanischen Architektur: Man konnte die Innenwände nach Belieben verschieben oder entfernen. Sie hatte sich neben Tatsuomis Zimmer eingerichtet und ließ die Trennwand einen großen Spalt weit offen. „Es ist vielleicht albern“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Aber ich möchte ihn jetzt keinen Augenblick allein lassen.“ „Das ist überhaupt nicht albern“, fand ich. Ich berichtete ihr von Yugo und seinen Eltern. Dass der Junge noch nicht strafmündig war, ich aber den Eindruck hatte, die Eltern würden sich Tat und Schuld angemessen verhalten. Ich erwähnte auch, dass es Yugo inzwischen sehr leid tat, was er getan hatte. „Alles weitere“, wehrte ich ihre Fragen ab, „wird Ihnen Ihr Mann selbst erklären.“ Hoffte ich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)