Die Super Nanny in Japan von JinShin ================================================================================ Kapitel 16: Die entspannende Wirkung von Alkohol ------------------------------------------------ Ich erhob mich und folgte Hirose, der mich den Flur entlang und um eine Ecke führte in einen Raum, der einen wunderschönen Blick in den halbdunklen Garten eröffnete. Dafür ließ er auch die kühle Abendluft herein. Kurauchi war anscheinend schon vor uns angekommen, ich hatte gar nicht bemerkt, dass er uns vorausgegangen war. Er nahm einen kleinen Gegenstand von dem niedrigen Tisch, der an der Seite vor einem Rollbild mit Vogelmotiv stand, gerade als wir den Raum betraten, und ließ ihn in seine Tasche gleiten. Vor dem Tisch lagen drei große dunkle Sitzkissen, und auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine Flasche, die aussah als würde sie Whisky enthalten. Daneben lag eine angebrochene Schachtel Zigaretten, Streichhölzer und ein Aschenbecher. Hirose saß hier mit seinem Bodyguard und trank Whisky, während seine Frau nebenan vor Kummer weinte? Ich legte fröstelnd meine Arme um mich. „Setzen Sie sich“, lud Hirose mich ein. „Trinken Sie einen Sake mit mir. Das wärmt von innen.“ Ich setzte mich, aber schüttelte den Kopf. „Haben Sie vielleicht einen Tee für mich?“ „Natürlich“, entgegnete er. „Aber haben Sie denn unseren Sake schon gekostet?“ „Nein. Ich trinke eigentlich keinen Alkohol.“ Zumindest nicht während der Arbeit, dachte ich, und wusste sofort, dass die Wörtchen vielleicht und eigentlich ein Fehler gewesen waren. „Sie können Japan nicht verlassen, ohne wenigstens einmal Sake getrunken zu haben“, ließ er denn auch nicht locker und gab Kurauchi eines ihrer unauffälligen Handzeichen. Kurauchi verneigte sich, nahm die Gläser mit der Flasche vom Tisch und entfernte sich. In Hiroses Privatgemächern schien sich der Leibwächter in eine Art Butler zu verwandeln. Oder in einen Freund? Ich gab nach. Hilfe für Tatsuomi führte an Hirose vorbei, und der schien in einer gelösten Stimmung zu sein, die ich so von ihm noch nicht kannte. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. „Sind Sie denn als Kind nie zu Ihren Eltern ins Bett gekrochen, wenn sie sich nachts gefürchtet haben?“ nahm ich gleich das Gespräch in Angriff. Er schüttelte den Kopf und lächelte. „Sie geben wohl nie auf“, sagte er. Ich erwiderte das Lächeln. „Ich habe ja nur begrenzte Zeit hier. Und ich kann immer noch nicht verstehen, warum Sie sich so dagegen sperren, Tatsuomi zu einem Spezialisten zu schicken.“ „Und warum drängen Sie so darauf?“ „Mr. Nanjo, meine Einschätzung ist ganz klar, dass hier traumatische Dinge passiert sind“, behauptete ich einfach mal mutig und sehr ernst. „Da brauchen Sie gezielte Unterstützung.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mich nicht aus den Augen, aber sprach in diesem gelassenen Tonfall weiter, den er heute Abend drauf hatte. Wie viel mochte er wohl schon getrunken haben? „Ich hatte keine Alpträume als Kind.“ Aha. Da sprach er dann doch lieber über sich als über seinen Sohn. Das war mir nur Recht. Mir war es immer wichtig, so viel wie möglich auch über die Vergangenheit der Eltern zu erfahren, denn nur so konnte ich ihre Verhaltensweisen wirklich verstehen und Ansätze für meine Arbeit mit ihnen finden. „Und wenn ich welche gehabt hätte, wäre niemand da gewesen, zu dem ich hätte kriechen können. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater hätte so ein Verhalten nicht geduldet. Und Vaters neue Frau, die Mutter von Akihito und Nadeshiko, hat sich schon um ihre eigenen Kinder kaum gekümmert. Ich habe auch keinen Wert darauf gelegt. Als sie ging, ließ sie die beiden einfach zurück. Akihito hat tagelang geheult, Nadeshiko war damals noch zu klein, um zu begreifen.“ Hirose hatte wirklich großes Talent, geschickt vom Thema abzulenken, und konnte nun unbeschwert von Akihitos Schwierigkeiten in der Kindheit erzählen. Nami hatte mir ja auch schon davon erzählt, aber jetzt wurde noch mal deutlich, wie sehr Hirose sich um seinen jüngeren Bruder gekümmert hatte. Akihito musste sehr an ihm hängen, denn Hirose schien seine wichtigste Bezugsperson gewesen zu sein, und dann war auch verständlich, weswegen er so genervt auf Tatsuomi reagierte. Ich nahm an, er war eifersüchtig, einfach weil Tatsuomi Hiroses Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Koji erwähnte er mit keinem Wort, als existiere der jüngste Bruder gar nicht. Eine ältere Frau brachte den Reiswein und rutschte auf Knien durch das Zimmer. Ich kannte das aus Filmen, und es brachte mir wieder ins Bewusstsein, wie viel Wert hier in diesem Haus auf Traditionen gelegt wurde. Sie stellte eine zierliche Porzellankaraffe mit einer schlichten Blütenzweigbemalung zwischen uns auf den Tisch und dazu zwei winzige Becher, die mich an die Eierbecher von zu Hause erinnerten. Dann verschwand sie so wortlos, wie sie erschienen war. Hirose schenkte uns ein und nickte mir zu: „Kampai.“ „Zum Wohl“, antwortete ich auf Deutsch und kostete den Reiswein. Zu meiner Überraschung wurde er warm serviert. Da Hirose keine Anstalten machte, das Fenster zu schließen, kam mir das sehr entgegen. Nachdem wir uns eine Weile über Wein im Allgemeinen und deutsche und japanische Weinanbaugebiete im Speziellen unterhalten hatten und Hirose uns schon zweimal nachgeschenkt hatte, nahm ich den Faden noch einmal auf. „Tatsuomi hat mir von den festen moralischen Grundsätzen der Samurai erzählt. Unerschrockenheit, Ehre, Pflichtgefühl. Nie lügen, nie Schmerz äußern. Sind das die Werte, die Sie an Ihren Sohn weitergeben wollen? Ist es das, was Ihnen Ihr Vater vermittelt hat?“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ fragte er misstrauisch und nahm sich eine Zigarette. Ohne sie anzuzünden drehte er sie zwischen den Fingern. „Was ich von Ihrer Kindheit erfahren habe, hört sich nicht gerade sehr unbeschwert an. Heute Vormittag sagten Sie, Sie wurden hart gedrillt. Es war ein ungeheurer Druck. Akihito wurde buchstäblich zum Kendo geprügelt. Sie haben quasi für ihn die Elternfunktion übernommen, waren für ihn da, wenn er weinte. Wer war für Sie da? Wer hat Sie unterstützt, wenn Sie Kummer hatten?“ Er zündete sich seine Zigarette an. Dabei rutschte der weite Ärmel seines Kimono zum Ellenbogen hinab. Auf seinem Unterarm bemerkte ich rote Striemen und an seinem Hals auch, jetzt wo ich darauf achtete. Natürlich, dachte ich. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin! „Weiter“, forderte er mich auf und sog an der Zigarette. „Nur weil Sie als Kind einsam waren und keine Unterstützung erfahren haben, muss sich das für Ihren Sohn nicht wiederholen. Sie leben nicht mehr in einem Feudalstaat, Sie sind keine Samurai, soweit ich das beurteilen kann, und Tatsuomi ist kein Krieger! Er ist ein kleiner achtjähriger Junge, der völlig überfordert ist mit seinen Ängsten, seinen Schmerzen und den Erwartungen, die Sie in ihn setzen, und die er im Augenblick unmöglich erfüllen kann.“ „Ich weiß sehr gut, was er durchmacht. Besser als jeder andere, und darum weiß ich auch, dass er damit fertig werden wird. Ich habe es schließlich auch geschafft. Mit der Zeit verblasst die Erinnerung daran…“ Doch die Zigarette in seiner Hand zitterte leicht während dieser Worte. „Ist das so? Dann sagen Sie mir, wenn Sie es wirklich geschafft haben, was versuchen Sie dann so krampfhaft, von sich abzuwaschen? So sehr, dass Ihre Haut davon wund wird?“ Er lächelte mild. „Sie haben eine gute Beobachtungsgabe. Aber darüber möchte ich wirklich nicht mit Ihnen sprechen.“ „Das müssen Sie auch nicht. Ich bitte Sie nur, sich das mit der therapeutischen Hilfe noch einmal zu überlegen. Es könnte gut sein, dass Tatsuomi sich von dieser seelischen Verletzung nicht alleine erholen wird. Und dann wird ihn das den Rest seines Lebens beeinträchtigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich das für ihn wünschen.“ „Ich werde es mir überlegen.“ Gut, dass ich da noch nicht wusste, dass das in Japan meist kein Versprechen, sondern eine diplomatische Absage war. So gab ich mich erstmal damit zufrieden. Es war wirklich nicht leicht, an Hiroses Emotionen heran zu kommen. Aber so, wie ich ihn diesen Abend erlebt hatte, begann ich mir nun auch Sorgen um ihn zu machen. Er wirkte irgendwie resigniert. Er schien einige unverarbeitete Erlebnisse mit sich herum zu tragen, doch er war unfähig, seine Gefühle auszudrücken und betäubte sie stattdessen mit Alkohol und versuchte, die unangenehmen Erinnerungen von sich abzuwaschen. Er hatte mir erzählt, sein Lebensziel sei es gewesen, seinem Vater gerecht zu werden. Und der hatte ihn zurück gewiesen und den jüngsten Sohn als Erben eingesetzt. Was war jetzt sein Lebensziel? Hatte er noch eins? Eltern dieser Welt, warum könnt ihr nicht achtsamer mit euren Kindern umgehen? Ohne Liebe und Zuwendung werden eure eigenen unerfüllten Sehnsüchte von Generation zu Generation weiter gegeben… Mit diesen Gedanken ging ich auf mein Zimmer und war froh, jetzt noch mit meiner eigenen Familie telefonieren zu können. Wie sehr ich sie vermisste! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)