Die Super Nanny in Japan von JinShin ================================================================================ Kapitel 4: Nachtschicht ----------------------- Das einzige Licht fiel von den Straßenlaternen durch die Fenster hinein. Ich glaubte, es war Tatsuomis Silhouette, die den Gang entlang huschte, und die ich eben noch um die nächste Ecke biegen sah. Mein Zimmer lag auf derselben Etage wie die Wohnräume der Nanjos, nur etwas abseits. In der Richtung, in der er verschwunden war, lag die Treppe für die Dienstboten, wenn ich mich recht erinnerte. So wie ich war, barfuß und im Nachthemd, beschloss ich, ihm zu folgen. Durch den Vorsprung, den er hatte, bemerkte er mich nicht, und ich sah ihn gerade noch die Treppe hinab verschwinden. Vorsichtig tastete ich mich treppabwärts, und stand dann etwas unschlüssig in dem nächsten dunklen Flur, bis ich wieder ein Geräusch hörte. Ich ging in diese Richtung und hoffte nur, auch wieder zurück zu finden in diesem palastartigen Haus. Einen kurzen Moment stellte ich die ganze Aktion in Frage, was machte ich hier eigentlich? Im Hemdchen nachts durch das Haus meiner Klienten zu schleichen, war sonst wirklich nicht meine Art. Ich stellte mir das mit dem Kamerateam von RTL vor, und wie ich von dem gestrengen Hausherrn erwischt wurde, und wäre fast wieder umgedreht. Doch dann sah ich einen Lichtstrahl durch einen Türspalt auf den Gang fallen. Ich schlich mich möglichst lautlos heran und linste in den Raum. Es sah aus wie eine Küche, aber ich konnte niemanden sehen. Vorsichtig schob ich die Tür weiter auf. Zum Glück stand da tatsächlich nur Tatsuomi, vor einem riesigen Kühlschrank, der sein Licht auf ihn warf, und stopfte eine weiße, klebrige Masse in sich hinein. Er bemerkte mich und fuhr erschrocken herum, bereit, das Schälchen mit Reis in seiner Hand auf mich zu schleudern. Ich hob beruhigend die Hände, aber mein Herz schlug bis zum Hals, wie er da in Angriffshaltung vor mir stand. Sein Gesicht war tränennass, er hatte offensichtlich geweint. „Tatsuomi, ich bin es nur. Katia.“ Ich sprach extra langsam und deutlich und ging erst näher, als ich sah, wie er sich wieder entspannte. „Was ist denn los?“ fragte ich vorsichtig. Seine Antwort zu verstehen war eine Herausforderung, denn er schniefte und schluchzte, und sein Mund war voller Reis und sein Englisch voller Japanisch. Aber ich meinte etwas wie „Ich will nicht essen, aber ich habe Hunger“ heraus zu hören. Es war ein rührender Anblick wie er da so verzweifelt vor dem vollen Kühlschrank stand. Seine Haare waren vom Schlaf zerzaust. Ich hockte mich vor ihn hin, damit wir auf gleicher Augenhöhe waren, und versuchte, ob ich ihm eine Hand auf die Schulter legen durfte. Er ließ es geschehen. Sein Körper bebte. „Das ist doch nicht schlimm“, sagte ich. Offensichtlich verstand ich das Problem nicht. „Warum willst du denn nicht essen?“ „Weil es so weh tut.“ Das Schluchzen wurde heftiger, und der Reis tropfte aus seinem Mund. „Was tut dir weh?“ fragte ich erschrocken. Er schüttelte den Kopf. „Hast du Schmerzen beim Essen?“ Kopfschütteln. So kam ich nicht weiter. „Wenn dir was weh tut, müssen wir deinen Eltern Bescheid sagen“, sagte ich. „Nein!“ Das Kopfschütteln wurde verzweifelter, und er griff in mein Nachthemd, um mich am Aufstehen zu hindern. „Okay“, sagte ich und setzte mich jetzt richtig auf den Boden. „Ich sag ihnen nichts, wenn du das nicht möchtest. Versprochen.“ Das beruhigte ihn ein bisschen. „Aber mir kannst du das ruhig sagen. Weißt du, ich bin nämlich hier, um dir zu helfen. Deswegen hat deine Mutter mich her gebracht. Und das möchte ich auch gerne, dir helfen.“ Ich dachte an meinen ersten Vortrag in Tokyo, als Midorikawa mich angesprochen hatte, und ich noch dachte, es ginge um ihren eigenen Sohn. „Weißt du, eigentlich hat Mrs. Midorikawa mich zu dir gebracht.“ Anscheinend war das genau das Richtige, denn jetzt wurde er deutlich ruhiger. „Mi-san“, sagte er mit leuchtenden Augen. „Du hast sie gern, nicht wahr? Ich auch.“ Und ich freute mich, nicht die einzige zu sein, die ihren Nachnamen zu lang fand. „Aber sie macht sich Sorgen um dich. Wir wollen nämlich, dass es dir gut geht, verstehst du? Vielleicht kannst du ihr sagen, wo es dir weh tut?“ Seine Augen verdunkelten sich wieder, und er schüttelte erneut den Kopf. „Ich darf nicht reden“, antwortete er leise. „Wer sagt denn das?“ „Mein Vater.“ „Aha…“ Ich verstand einen Moment gar nichts mehr. „Da hast du bestimmt was falsch verstanden.“ „Nein!“ sagte er eindringlich. „Bitte! Nicht ihm sagen! Ich darf nicht reden!“ „Das verspreche ich dir. Nichts gegen deinen Willen, das sind die Regeln“, beruhigte ich ihn und ließ mir nicht anmerken, dass ich wütend wurde. Was immer auch hier los war – ich war mir jetzt sicher, dass wahrscheinlich ein Großteil von Tatsuomis Not damit zu tun hatte, über irgendetwas nicht reden zu dürfen. Etwas, womit er als Achtjähriger aber alleine nicht fertig wurde. Und es hatte irgendwie mit seinem Vater zu tun. Und vielleicht irgendwie mit dessen Vater. Vielleicht hatte Akihito also doch gar nicht so Unrecht gehabt. „Sie nehmen Ihre Aufgabe aber sehr ernst“, sagte eine freundliche Stimme. Desorientiert schlug ich die Augen auf, und sah Kaoruko neben mir stehen. Was machte denn Frau Nanjo in meinem Hotelzimmer, fragte ich mich verschlafen. Doch dann fiebte neben meinem Ohr eine Kinderstimme: „Ohayo gozai-mazu, okâ-sama!“ Da fiel mir die vergangene Nacht wieder ein. Tatsuomi hatte in der Küche noch ein wenig gegessen, nachdem er sich beruhigt hatte, und dann hatte ich ihn zurück gebracht in sein Zimmer. Dort hatte er mir gleich mit ernsthaftem Eifer seine gesammelten Werke irgendeiner Comic-Reihe gezeigt, Hefte, DVDs und dazugehörige Hartgummi-Figuren. Ich hatte ihn eine Weile gewähren lassen, obwohl es schon nach Mitternacht gewesen sein musste, denn so ruhig und entspannt hatte ich ihn bisher noch nicht erlebt. Ich war sehr erleichtert, dass er nur eine vermeintliche Seitenwand verschieben musste, um sein leeres Zimmer im Handumdrehen in ein ganz normales Kinderzimmer zu verwandeln. Dahinter befand sich nämlich ein riesiger begehbarer Wandschrank mit Computer, Spielzeug und all dem Kram, den Achtjährige eben horteten. Er war so süß, ich konnte gar nicht anders, als ihn in dieser Nacht in mein Herz zu schließen. Ich hatte ihm versprechen müssen, zu bleiben bis er eingeschlafen war, und während seine kleinen Finger meine Hand umklammert hielten, und ich beobachtete, wie er daumenlutschend einschlief, schwor ich mir, dieses Land erst zu verlassen, wenn ich sicher sein konnte, dass es ihm besser gehen würde! Darüber musste ich wohl eingeschlafen sein. Ich fand es etwas peinlich, von meiner Gast- und Auftraggeberin im Bett ihres Sohnes vorgefunden zu werden, auch wenn der Sohn erst acht war. Aber Tatsuomi beendete diesen Moment der Verlegenheit sofort, indem er munter drauflos plapperte. „Ich hatte letzte Nacht wieder Angst“, erklärte er seiner Mutter. „Aber Katia-san war da, und ich hab ihr meine Samurai-Figuren gezeigt“, wie man unschwer sehen konnte, denn sie lagen noch überall verstreut herum, „und dann sind wir eingeschlafen, und ich hab gar nicht schlecht geträumt“, verkündete er stolz. „Frühstückt Vater mit uns?“ Kaoruko warf mir einen Blick zu, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Der Junge schien wie ausgewechselt zu gestern. Ich erinnerte mich jedoch nur zu gut an unser Gespräch in der nächtlichen Küche und nahm mir vor, von nun an ganz besonders auf mögliche Anzeichen von Schmerzen zu achten. Kaoruko nickte ihm zu. „Er ist in seinem Arbeitszimmer. Wenn du dich schnell anziehst, kannst du ihn abholen.“ „Ja, das will ich!“ Begeistert sprang er unter der Decke hervor. „Danke, dass sie sich um ihn gekümmert haben“, sagte Kaoruko zu mir, und dann beeilte ich mich auch, mich anzuziehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)