Die Super Nanny in Japan von JinShin ================================================================================ Kapitel 3: Beobachtungsphase ---------------------------- Später, als ich allein in meinem Zimmer war und mit meinem Mann telefonierte, ließ ich die Ereignisse noch einmal Revue passieren. Ich hatte die ausdrückliche Erlaubnis, vom hauseigenen Telefon so lange nach Europa zu telefonieren wie ich wollte. Ich war unglaublich müde, und es tat einfach nur gut, seine Stimme zu hören. Wie anders war doch mein Mann im Vergleich zu Kaorukos! Ich hätte nicht mit ihr tauschen wollen. Als Hirose den Raum betreten hatte, veränderte sich schlagartig die Atmosphäre, die ja bis dahin dank Akihitos rüpelhaftem Benehmen recht formlos gewesen war. Die herbeieilenden Dienstboten mit dem Essen verscheuchte er mit einer einzigen Handbewegung. Dieser Mann war gewohnt, zu bestimmen, das sah ich auf den ersten Blick. Unterstrichen wurde seine gebieterische Haltung noch durch seine für einen Asiaten ungewöhnliche Körpergröße. Er war mindestens einen Meter achtzig groß, mit einer stattlichen, muskulösen Figur. Klar, er machte seit frühester Kindheit Kampfsport. Ansonsten sah er eher nach Geschäftsmann als nach Samurai aus, selbst die randlose Brille fehlte nicht, was seinem Erscheinungsbild jedoch keinesfalls schadete. Kaoruko konnte sich glücklich schätzen, so einen vorzeigbaren Ehemann zu haben. Sein Verhalten, und auch ihres, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie keine gleichberechtigte Beziehung führten. Ich fragte mich, ob sie aus Liebe geheiratet hatten. Noch nie hatte ich eine Frau ihren Mann ernsthaft mit „mein Gemahl“ ansprechen hören. Außer in Filmen aus alten Zeiten. Überhaupt sprach sie sehr ehrerbietig zu ihm. Hinter seinen Namen setzte sie das obligatorische –sama. Aber gut! Ich hatte auch nicht erwartet, hier alles wie zu Hause vorzufinden. Ich sah die Verletzung in Akihitos Augen, als sein Bruder ihn hinaus schickte, um mit uns allein zu reden. Und Kaorukos Nervosität konnte ich fast körperlich spüren. Genauso deutlich war, dass Hirose mit meiner Anwesenheit in seinem Haus überhaupt nicht einverstanden war, obwohl er formvollendet höflich zu mir war. So würde er mich formvollendet höflich vor die Tür setzen, dachte ich. Ich sah mich schon wieder meine Koffer packen. Doch Kaoruko überraschte mich – und wohl noch mehr ihn – indem sie sich einfach durchsetzte. Die entscheidenden Sätze sagte sie allerdings auf Japanisch, so dass ich nur sein grimmiges Nachgeben sah. Später fragte ich sie, und sie erzählte mir, sie hätte ihn in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass ihre Familie durchaus auch über die nötigen finanziellen Mittel für gute Anwälte verfüge. Nur für den Fall einer Scheidung. Und in Tatsuomis momentaner Verfassung seien ihre Chancen sicherlich nicht schlecht, das Sorgerecht zugesprochen zu bekommen. Vor allem, wenn sein Vater sich weiterhin weigerte, sich angemessen um den Jungen zu kümmern. So durfte ich bleiben. Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Hirose-sama. Das Schlimmste aber kam erst noch. Danach hatte ich nämlich das zweifelhafte Vergnügen, Hirose dabei zuzusehen, wie er dafür sorgte, dass seinem Sprössling die dringend benötigte Körperhygiene zukam. Was in der Praxis so aussah, dass ein kräftiger, riesiger Mann (der garantiert noch größer als Hirose war) den schreienden Jungen gewaltsam festhielt, während der Vater ihn mit Wasser übergoss und von Kopf bis Fuß einseifte. Zimperlich gingen die beiden dabei nicht zu Werk. War wohl auf diese Art auch nicht anders möglich, wenn ich so an den gelben Gürtel in Karate und die etlichen anderen vorhandenen Gürtel dachte. Ich hasste solche Gewaltszenen. Besonders in der Anfangsphase, wenn ich nur beobachtete, und bei allem Unwohlsein mich ständig fragen musste, ob ich nicht doch lieber schon einschreiten sollte. Mit Mühe entschied ich mich dagegen. Dies war der Alltag für das Kind, seit Wochen geschah genau das immer wieder, und ich zwang mich, es ein einziges Mal auszuhalten und dabei zuzusehen. Normalerweise kannte ich solche Szenen nur von wesentlich jüngeren Kindern. Ich verstand noch nicht, was mit dem Jungen los war. Ein verstorbener Großvater und ein daraufhin veränderter und ihn womöglich vernachlässigender Vater erklärten mir nicht dieses extreme Verhalten, auch wenn Aktihito das behauptet hatte. Für mich war es noch zu früh, das zu beurteilen. Tatsuomi sah aus, als kämpfe er um sein Leben. In seinem Gesicht las ich nackte Angst. Der Mann, der ihn so eisern festhielt, hatte eine derart versteinerte Miene, dass ich keine Ahnung hatte, was er dabei empfand. Aber wenigstens Hirose sah so aus, als würde er das nicht gern tun, wenn ihn auch gleichzeitig Tatsuomis unverständliches Benehmen sichtlich wütend machte. Das war der übliche Teufelskreis, den man nur mit Einfühlungsvermögen und Zuwendung durchbrechen konnte. Ich blickte zu Midorikawa, die wie ich der Szene zusah. In ihren Augen spiegelten sich exakt meine Gefühle wider, und ich war dankbar für ihre Anwesenheit und den dadurch zustande kommenden stillen Beistand. Zum Glück war das Waschen schnell beendet. Der aufgelöste Junge stürzte in Handtücher gewickelt zu Midorikawa und drückte sich an sie. Sie legte eine Hand an seinen Hinterkopf, und er schob seinen Daumen in den Mund und beruhigte sich zum Glück augenblicklich. „Bringen Sie ihn jetzt schlafen“, sagte Hirose genervt. „Und sorgen Sie dafür, dass er den Finger aus dem Mund nimmt!“ Zu mir gewandt fügte er noch hinzu: „Er ist schließlich kein Baby mehr! Damit hat er eigentlich schon lange aufgehört.“ Ich brauchte nicht fragen, wann er wieder mit Daumenlutschen angefangen hatte. Die Antwort war mir klar. „Verstanden.“ Midorikawa verneigte sich und machte sich sofort auf den Weg. Ich ging mit ihr. Dass sie keinerlei Anstalten machte, der zweiten Anweisung zu folgen und den Jungen am Daumenlutschen zu hindern, machte sie mir gleich noch sympathischer. Tatsuomi sagte zwar, er wolle nicht schlafen, aber die Gegenwehr blieb aus. Die junge Frau sang leise vor sich hin, während sie ihn bettfertig machte, und dann las sie ihm vor, bis Kaoruko kam, um ihm seinen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Alles jetzt wie in jeder normalen Familie, wenn nicht sein Zimmer so karg eingerichtet gewesen wäre. Eigentlich war es leer bis auf das Futon, auf dem er schlief, und einem niedrigen Tischchen mit Sitzkissen daneben. Ach, und in der Ecke stand eine Stehlampe, und an der einen Wand hing ein Bild im klassischen japanischen Stil, eine Szene mit spielenden Kindern vor einer Hügellandschaft. Ich hoffte, dies war nur sein Schlafzimmer. Nur einmal noch flackerte kurz die Angst auf, als Kaoruko von seinem Schlafplatz aufstand: „Aber das Licht bleibt an!“ forderte er, und ich fand, er hatte den Befehlston seines Vaters schon ganz gut drauf. „Ja, natürlich, das Licht bleibt an“, sagte Kaoruko besänftigend und ließ auch die Tür einen Spalt offen. „Er träumt oft schlecht“, erklärte sie mir auf dem Flur leise. Die Information war neu. Warum bekam ich die Informationen nur so häppchenweise? Ich fragte mich, wovor er sich so fürchtete. Und ich begann zu zweifeln, dass es sich hier um ein rein pädagogisches Problem handelte. „Morgen möchte ich mich mit ihm einmal allein unterhalten“, antwortete ich. „Danach besprechen wir, wie wir weiter vorgehen werden.“ „Einverstanden. Und vielen Dank. Schlafen Sie gut!“ Das hatte ich auch vor, sobald ich das Telefonat mit meinem Mann beendet hätte. Doch dann hörte ich ein Geräusch vor der Tür. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)