Die Super Nanny in Japan von JinShin ================================================================================ Kapitel 1: Eine fremde Welt --------------------------- Es war mein letzter Vortrag innerhalb eines großen Kongresses in Tokyo zum Thema „Pädagogik an japanischen öffentlichen Schulen“. Anlass meiner Einladung als Gastrednerin war die Erscheinung der japanischen Übersetzung meines Buches „Glückliche Kinder brauchen starke Eltern“. Ich hätte nie gedacht, dass das Interesse an Erziehungsfragen hier auf der anderen Seite der Welt so groß sein würde. Japan und die anderen ostasiatischen Länder waren mir eher bekannt für ihre folgsamen, fleißigen Kinder. Dafür hatten sie hier andere Probleme, wie ich leider erfahren musste. Die Selbstmordrate an den Schulen war so hoch wie sonst nirgends. Und genau darum ging es auch bei diesem fachlichen Treffen. Die junge Frau, die sofort auf mich zusteuerte, als ich das Podium verließ, kannte ich schon von meinem ersten Auftritt vor zwei Wochen. Einige der Vorträge waren öffentlich, damit auch die Eltern Gelegenheit hatten, teilzunehmen, und meine zählten dazu, da mein Spezialgebiet ja die Pädagogik innerhalb der Familien war. Sie war kleiner als ich, eine zierliche Person mit einem kinnlangen Pagenschnitt, sportlich gekleidet und dennoch elegant in einem dunklen Hosenanzug. Ihr Gesicht war von einer Ebenmäßigkeit, die ich nur als schön bezeichnen konnte, und ich mochte jede Wette eingehen, dass sie jünger aussah als sie tatsächlich war. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie hatte unzählige Fragen gestellt zu ihrem achtjährigen Sohn, der ihr anscheinend große Schwierigkeiten machte. Soweit ich mich erinnerte, benahm er sich trotzig, wusch sich nicht, schlug andere Kinder in der Schule und weigerte sich sowohl an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen als auch abends schlafen zu gehen. Obwohl ich ihr schon damals erklärt hatte, dass ich keine Patentlösungen aufweisen konnte, erwartete ich nun ein erneutes Fragenbombardement. Doch sie überraschte mich, indem sie nach einer höflichen Verbeugung lediglich drei Sätze sagte: „Mein Name ist Midorikawa Nami. Vielleicht erinnern Sie sich noch an mich vom letzten Mal. Ich würde Sie gerne mit jemandem bekannt machen.“ Ihr Englisch war ausgezeichnet, und sie überreichte mir eine Visitenkarte mit japanischen Schriftzeichen, die ich natürlich nicht entziffern konnte. Kurz befürchtete ich, sie hätte ihren Sohn mit her gebracht, doch sie deutete auf eine Dame, die in einigem Abstand von uns neben dem Ausgang stand und zu uns herüber schaute. Sie trug einen dieser fantastischen Kimonos, die ein Vermögen wert waren, und auch ihr Haar war kunstvoll in traditioneller Art hochgesteckt. Sie neigte leicht den Kopf, als ich zu ihr hinüber sah, auf eine durch und durch elegante Weise, fast majestätisch. Auch sie war sehr gut aussehend, wenn auch mehr auf eine klassische Art, nicht so grazil wie die junge Frau, die mich angesprochen hatte. Mein Dolmetscher und ständiger Begleiter, der ebenfalls neben mir stand, entschuldigte sich etwas überstürzt nach einem Blick auf die Visitenkarte, und damit verschwand meine einzig mögliche Ausrede, mich nicht auf ein erneutes Gespräch mit dieser aufdringlichen Mido-wie-auch-immer einzulassen. Ein Nein war sowieso eine heikle Angelegenheit hier im Land des Lächelns, soviel wusste ich schon. Unschlüssig drehte ich das kleine Kärtchen in meiner Hand, soviel wusste ich ebenfalls. Auf der Rückseite standen die Angaben in Romanji, also lateinischen Buchstaben. „Nanjo Kaoruko“ stand da als Name. Mir sagte das nichts. Ein weiterer Blick zum Ausgang sagte mir, dass die vornehme Dame nicht mehr zu sehen war. „Kommen Sie bitte“, sagte Mido-und-so-weiter-san. „Nanjo-sama möchte unter vier Augen mit Ihnen sprechen.“ Und sie wandte sich schon zum Gehen, anscheinend in der festen Überzeugung, dass ich folgen würde. Sama also, soso. Das war eine Anrede, die es in Deutschland gar nicht gab, so etwas wie "Sehr verehrte Frau". Daher wahrscheinlich die Sicherheit, dass ich als Normalsterbliche mich nicht verweigern würde. Ich warf einen fragenden Blick zu meinem Dolmetscher, doch der nickte mir nur aus sicherer Entfernung aufmunternd zu. Was blieb mir also anderes übrig? Ich folgte der jungen Japanerin. Zu meiner eigenen Überraschung sagte ich zu. Ich saß in einer Limousine der Extraklasse, ein Mercedes mit abgedunkelten Scheiben und Minibar. Trotz der sommerlichen Temperaturen war es angenehm kühl im Inneren des Wagens. Mir gegenüber saß Frau Nanjo, und ich fühlte mich wie in ein modernes, japanisches Märchen versetzt, während sie mir von dreizehn Generationen Schwertkämpfern in der Familie und der Joto-Konzern-Gruppe, dem Familienbetrieb, erzählte. Obwohl ihr Englisch bis auf einen kleinen Akzent nahezu perfekt war, minderte das ihre exotische Wirkung auf mich nicht im Geringsten. Für mich sah sie in ihrem geblümten Kimono aus wie eine dieser Frauenfiguren auf asiatischem Teegeschirr. Mein Flug ging in vier Stunden, und ich hatte Sehnsucht nach meinen Kindern und meinem Mann, die sich schon in Berlin auf mich freuten. Doch ich konnte mich aus diesem zauberbehafteten Szenario nicht lösen. Dies konnte mein exotischster Fall werden. Würde ich jemals wieder die Gelegenheit haben, einen so privaten Einblick in diese fremde Welt zu bekommen? Ich war jetzt seit zwei Wochen in Japan und hatte außer Hotels in westlichem Stil und jeder Menge Stadtrundfahrten noch nicht viel von Japan mitbekommen. Mir war natürlich klar, dass eine Familie wie die Nanjos nicht gerade einer typischen japanischen Familie entsprach. Vielleicht aber auch doch. Immerhin waren ihre Vorfahren vor nicht allzu langer Zeit noch waschechte Samurai gewesen, und eine romantische Vorstellung von Samurai verband ich spätestens seit der Fernsehserie „Shogun“ aus meiner Kindheit untrennbar mit diesem Land. Ich rechnete auch nicht mit einem langen Aufenthalt. Was Frau Nanjo über ihren Sohn erzählte, hörte sich nach einem verzogenen Achtjährigen an, der seine Grenzen austestete, und einem Ehepaar, das dem ungewohnten Verhalten und dem plötzlichen Ungehorsam hilflos gegenüber stand. Ein paar gute Ratschläge, mehr brauchten sie dann nicht. Bevor ich jedoch endgültig ja sagte, wollte ich noch eines wissen: „Weswegen fragen Sie mich? Ich bin sicher, es gibt hier in Tokyo durchaus kompetente Kollegen von mir, die sich auch besser in Ihrer Kultur auskennen als ich…“ Irgendwie hatte ich den Eindruck, als zögere sie mit der Antwort. Zum ersten Mal bröckelte ein wenig von ihrer Selbstsicherheit, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. „Nun, mir ist es so lieber. Sie haben keine Verbindungen zu unserer Familie oder zu Geschäftspartnern meines Mannes. Ich möchte diese Angelegenheit so diskret wie möglich behandeln.“ Ihr Blick schwirrte hinaus in die Welt außerhalb des Autos. Menschen liefen auf dem Gehsteig an uns vorbei, ohne zur Seite zu sehen. Mido-san stand mit dem Rücken zu uns neben der Beifahrertür, als wolle sie uns bewachen. Ich fragte mich, warum sie an dem Gespräch nicht teilnahm. Schließlich war sie es gewesen, die mich angesprochen hatte. In welchem Verhältnis standen die beiden Frauen eigentlich zueinander? Waren sie Freundinnen oder verwandt? Oder war sie das Kindermädchen? „Ihr Mann ist aber damit einverstanden, dass sie mich einladen?“ fragte ich aus meinem Gefühl heraus. Und genau – da war er wieder, der kurze Moment der Unsicherheit. „Er hätte nein gesagt, wenn ich gefragt hätte.“ Doch dann bekam ihre Stimme einen dezent harten Klang, und ihr Kinn schob sich trotzig vor. „Er ist sowieso kaum zu Hause. Es ist mein Sohn genauso wie seiner.“ „Ich werde mitkommen“, sagte ich, bevor sie anfangen konnte, das Thema Geld anzusprechen. Ich wollte nicht, dass es aussah, als würde ich nur deswegen zusagen. Denn das tat ich nicht, und ich hatte auch meinen Stolz. Auf der Fahrt zu ihr erzählte ich ein wenig von meiner Arbeit. Wir hatten mein Gepäck aus dem Hotel geholt, und die Stornierung des Fluges wollte Frau Nanjo übernehmen, sowie alle mir entstehenden Unkosten. Normalerweise ging ich nur in Familien, wenn alle Familienmitglieder inklusive der Kinder von meinem Kommen informiert und damit einverstanden waren. Dann hatte ich allerdings auch immer ein ganzes Kamerateam dabei. Ich erklärte ihr, dass ich am Anfang erstmal nur beobachten würde. Ich wollte mir erst ein Bild von der familiären Situation machen. So konnten wir dann ganz individuell an den Schwierigkeiten arbeiten. Mido-san saß vorne hinter dem Steuer und schien sich ganz auf den Verkehr zu konzentrieren, ohne uns zuzuhören. Also war sie die Chauffeurin. Dann fand ich dem Umstand, dass sie ihre Chefin dazu bewegt hatte, meinen Vortrag zu besuchen, erstaunlich. Vielleicht waren sie ja noch außerberuflich miteinander befreundet. Dieser Gedanke bestätigte sich bei unserer Ankunft im Hause Nanjo allerdings nicht. Im Gegenteil. Kaum durchfuhren wir das große hölzerne Tor und gelangten auf das von einer hohen Steinmauer umgebene Anwesen, wurde ihr Verhalten Frau Nanjo gegenüber noch distanzierter und förmlicher, falls das überhaupt möglich war. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, als ich mich umblickte. Es war, als hätten wir das Japan des einundzwanzigsten Jahrhunderts verlassen und nun eine Welt betreten, in der die Zeit still stand. Ich wusste noch nicht genau, wie ich diesen ersten Eindruck deuten sollte, aber zunächst bewunderte ich die perfekte Harmonie des japanischen Gartens, der uns auf einem geschwungenen schmalen Pfad durch das riesige Grundstück geleitete. Kleine kunstvolle Bodenlaternen aus Stein säumten den Weg. Das ganze Anwesen wirkte wie ein Palast und war komponiert aus mehreren freistehenden Bauwerken in typisch asiatischem Stil. Die Dächer neigten sich an ihrem Rand dem Himmel entgegen und schützten die um die Häuser führenden Holzveranden vor Sonne und Regen. „Wohnen Sie hier allein?“ fragte ich, während ich mich staunend umsah. Nanjo-sama nickte. „Außer meinem Mann und unserem Sohn leben hier nur mein Schwager, meine Schwägerin und das Personal.“ Ihre Worte waren begleitet mit zeigenden Armbewegungen. „Dort drüben befindet sich das Dôjô, der Stolz der Familie.“ „Was ist Dôjô?“ fragte ich. „Die Schwertkampfschule.“ Beeindruckt betrachtete ich das flache Gebäude, das von der Abendsonne angestrahlt wurde. Dennoch erschien es mir irgendwie bedrohlich. Vielleicht nur, weil ich wusste, dass dort früher echte Kämpfer darin ausgebildet worden waren, wie man Menschen am effektivsten töten konnte. Bevor ich diese Gedanken vertiefen konnte, waren wir schon am Eingang des Hauptgebäudes angelangt. Mido-san wachte sorgfältig darüber, dass ich zur rechten Zeit die Schuhe auszog und gab mir die berühmten Besuchshausschuhe, die ich aus meinen Reiseführern kannte. Sie trug auch mein Gepäck, ohne dass es einer Aufforderung bedurft hätte und bevor ich nach meinen Koffern greifen konnte, und brachte mich zu meinem Zimmer. „Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an mich“, sagte sie, nachdem sie die rechte Zimmerwand zur Seite geschoben hatte. Dahinter erschien eine Art historisches Badezimmer. „Alles ist vorbereitet. Es ist Tradition, vor dem Abendessen ein entspannendes Bad zu nehmen. Bitte sehr.“ Sie hatte die Wassertemperatur geprüft und stand schon halb auf dem Flur. „Wenn Sie soweit sind, führe ich Sie in das Esszimmer.“ „Ja, vielen Dank.“ „Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Sie schien mein Zögern zu bemerken und wartete aufmerksam, während ich kurz nach den passenden Worten suchte. „Können Sie mir bitte noch einmal Ihren Namen sagen, ich habe ihn leider wieder vergessen, tut mir leid“, sagte ich etwas verlegen. Doch sie lächelte nur freundlich. „Natürlich. Midorikawa Nami“, sagte sie langsam und wiederholte den Namen noch einmal. Ich sprach ihn laut nach. Sobald sie die Tür hinter sich zuschob, nahm ich mein Notizbuch und schrieb mir den Namen in Lautschrift auf. Midorikawa. Midorikawa-san. Frau Midorikawa. Das war vielleicht alles förmlich hier! Dafür war das Bad herrlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)