Finera - New Adventures von Kalliope ================================================================================ Kapitel 98: 400 Kommentare Special: Milena ------------------------------------------ In Milenas Gesicht spiegelten sich tiefe Trauer, Bestürzung, Wut, Hass, noch mehr Trauer und Verzweiflung. Die vielen Tränen, die sie vergossen hatte, waren längst getrocknet, aber der Schmerz fraß noch immer an ihrem Herzen. Ob es jemals aufhören würde, dieses entsetzliche Gefühl der Machtlosigkeit? Das Gefühl der Ohnmacht? Wie konnte man ihr nur zwei Tage nach dem schrecklichen Tod ihres Vaters verkünden, dass sie mit ihren jungen neunzehn Jahren die Leitung von Mai Pharmaceutics übernehmen musste, wenn sie nicht wollte, dass der Familienkonzern, den ihr Vater einst aus dem Boden gestampft hatte, an die Konkurrenz verkauft wurde? Sicher, sie war tapfer, sie würde sich ihre innere Verletzlichkeit nicht anmerken lassen. Dennoch verachtete sie die provisorische Konzernleitung für ihr Handeln. Ihr Vater war noch nicht einmal unter der Erde und sie arbeiteten, als wäre niemals etwas gewesen. Als würde die Erde sich einfach weiterdrehen. Ha! War es nicht ein brutaler Wink des Schicksals? Es war nicht fair, ihr Vater war ein Genie, er hätte nicht sterben dürfen. „Ich hasse euch, Entei und Raikou.“ Milena starrte in ihr eigenes Spiegelbild, fühlte sich jedoch vollkommen fremd in ihrem eigenen Körper. Die Frau, die ihr gegenüberstand, war nicht länger die unschuldige Milena Mai. Seit zwei Tagen war die Naivität in ihr tot, so wie ihr Vater, Professor Mai. Neben ihr lag das persönliche Tagebuch, das ihr Vater während seines letzten Forschungsjahres angelegt hatte. Wie oft sie es wohl in den vergangenen Stunden gelesen hatte? Ihr Vater war kein Mörder und auch kein Pokémonquäler. Er hatte die beiden Legendären gefangen genommen, ihnen eine Blutprobe entnommen und hätte sie noch am selben Abend wieder frei gelassen, doch dazu war es nie gekommen. Die Legendären sind mächtige Wesen, Milena. Wir müssen sie ehren, sie und ihre unglaublichen Fähigkeiten. Aber Demut und Ehrfurcht alleine können uns und die vielen Pokémon dort draußen nicht schützen. Wenn ich die Eigenschaften der Legendären in ihrer DNA entschlüsselt habe, sind wir womöglich in der Lage die Pokémon von allen Krankheiten zu befreien. Wir können die Welt zu einem besseren Ort machen, Milena. Wäre das nicht wundervoll? Eine Welt ohne Krankheiten, Qualen und Leid. Schau, Milena, wie schön die Sterne heute Nacht am Himmel leuchten. Die Worte ihres geliebten Vaters klangen so deutlich in ihren Ohren, als würde er direkt neben ihr stehen und es noch einmal sagen. Aber das war natürlich unmöglich, er war tot, wie sie wieder einmal feststellte. Entei und Raikou hatten ihn getötet. Es war erstaunlich, wie wenig Menschen letztendlich zu der Beerdigung gekommen waren. Milena hatte darum gebeten, dass der Tod ihres Vaters vorerst geheim gehalten wurde – die offizielle Stellungnahme behauptete nun, dass Professor Mai während einer Expedition verschollen war. Die Rede des Priesters ging an Milena vorüber, diese Worte waren nur Schall und Rauch, wie schon einst ein berühmter Dichter gesagt hatte. Sie änderten weder etwas an der Sterblichkeit noch an der jetzigen Situation. Doch Milena konnte etwas ändern, da war sie sich absolut sicher. Beim Lesen der Forschungsprotokolle ihres Vaters war ein Funke in ihr entzündet worden, der sich von Tag zu Tag vergrößert hatte, bis er nun ein loderndes Feuer in ihrem Herzen war. Das Wissen, dass sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten konnte, verdrängte Trauer und Einsamkeit aus ihrem Herzen. Sie besaß genug Wissen und Verstand, um sich in die komplizierten Experimente einzuarbeiten, auch wenn es vermutlich Jahre dauern würde, bis sie wirklich an dem Punkt stand, an dem ihr Vater aufgehört hatte. Wie würde es erst sein, wenn man den mächtigen Legendären ihre DNA entnahm, sie beliebig veränderte und den normalsterblichen Pokémon einpflanzte? Sie würden stärker, robuster und gesünder werden. Es würde keine Erbkrankheiten mehr geben, kein Leid mehr. In der Zukunft konnte jedes Pokémon ein bisschen legendär sein, dann würden die wahren Legendären keine Vormachtstellung mehr haben. Wie man die Welt mit diesen Möglichkeiten doch zum Besseren verändern konnte! Als Zapdos betäubt vor ihr lag, atmete Milena tief durch. Sie wusste nicht, ob sie vor Erleichterung lachen oder weinen sollte, daher tat sie beides auf einmal und fühlte sich seltsam befreit. Sie hatte es tatsächlich geschafft mit Hilfe von ein bisschen Technik ein Legendäres zu fangen. Zusammen mit den alten DNA-Proben von Entei und Raikou konnte sie endlich Fortschritte machen, da war sie sich sicher. „Vater, ich werde es schaffen.“ Noch immer lachend wischte sie sich die Tränen aus den Augen, trat um das Legendäre herum und ließ eigenhändig die Fesseln des Elektropokémon einrasten. Bald, bald würde die Welt verstehen, was sie hier tat. Noch sah es grausam aus, aber Milena arbeitete für ein höheres Ziel. War es nicht ein höheres Gut als die Unversehrtheit einiger Pokémon, wenn sie dafür allen anderen helfen konnte? Ein Leben gegen das von tausenden? Ihr Absol, das neben ihr stand, rieb seinen Kopf an ihrem Bein, woraufhin die Forscherin den Kopf ihres Pokémon tätschelte. „Hab keine Angst, Absol. Ich habe endlich ein gutes Gefühl bei der Sache. Immerhin ist es mir kürzlich gelungen einem Pokémon im Ei DNA von Raikou einzupflanzen. Es gab keine Schäden am Pokémon, es hat sich normal entwickelt und ist unbeschadet geschlüpft. Absol, ich bin mir sicher, dass ich kurz vor dem Durchbruch stehe.“ Lächelnd kraute sie das Unlichtpokémon, zog es aber schließlich in den Pokéball zurück. Es war für sie alle eine lange Nacht gewesen, da hatten sie sich Ruhe verdient. Glurak, Absol, Mamutel und Impergator hatten allesamt tapfer gegen Zapdos gekämpft. Milena saß am Fenster ihres Schlafzimmers hoch oben im Penthouse vom Gebäude von Mai Pharmaceutics. Sie hatte bereits eine halbe Flasche Wein geleert, ihre Stirn drückte sie gegen die kühle Fensterscheibe und seufzte. Die Anspannung fiel von ihr ab und zum ersten Mal seit Jahren spürte sie in jener Nacht nichts von dem Feuer in ihrem Herzen, das sie unerbittlich auf ihrem Weg antrieb. Was in ihr übrig blieb, waren Leere, Einsamkeit und Trauer. Leere, weil sie sich schon lange selbst verloren hatte. Einsamkeit, weil sie nicht einmal ihre eigene Gesellschaft wollte. Trauer, weil sie wusste, dass sie den Legendären und Pokémon schlimme Dinge antun musste, auch wenn es für einen höheren Zweck war. In dieser Nacht weinte Milena sich in den Schlaf, denn zum ersten Mal seit so langer Zeit war es nicht die Wissenschaftlerin, die in ihr die Oberhand hatte. Es war das kleine Mädchen, das doch nichts wollte außer ihren Vater stolz zu machen und ihn so sehr vermisste. „Daddy, ich hab dich lieb…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)