How can heaven love me von Moku ================================================================================ Kapitel 1: Anfang 1 ------------------- Die Welt ein Tor Zu tausend Wüsten stumm und kalt wer das verlor, was du verlorst Macht nirgends halt Die letzten Schritte zum Schulgebäude fielen ihr schwer. Hinter ihr brauten sich einer apokalyptischen Vorahnung gleich schwarze Regenwolken zusammen und die schwüle Luft schien sie zu erdrücken. Ihr Atem ging schneller. Der Griff um die Riemen ihres Rucksacks wurde fester, der Kunststoff so fest zusammen gedrückt, dass ihre kurzen Fingernägel sich in die Handinnenflächen pressten und blutverlassene Abdrücke hinterließen. Es schien ihr, als hätten die anderen von ihrem Traum, ihrem Erlebnis erfahren. Sie war nie beliebt gewesen, hatte nie im Mittelpunkt gestanden, doch sie hatte ihre Freunde gehabt, wurde von den Klassenkameraden akzeptiert und sei es nur als unbedeutendes Anhängsel. Aber nun, wann immer sie den Raum betrat, tuschelten und kicherten ihre Klassenameraden. In den letzten zwei Wochen wurde sie immer weiter gemieden. Selbst von ihren Freunden. Es schien, als wüssten sie Bescheid. Sie stand verunsichert, ängstlich, vor der großen Glastür und starrte diese an, war dabei, einen Schritt nach hinten zu treten, als sie einen Klaps auf der Schulter spürte. Überrascht fuhr sie herum, entdeckte Paris, die mit einem breiten Lächeln hinter ihr stand. Paris war ein Spitzname. In Wirklichkeit hieß sie Antje. Sie wurde Paris genannt, weil sie Paris Hilton so sehr verachtete, was allgemein bekannt war. Anfangs war es nur ein Scherz gewesen, den Bibby gemacht hatte, doch der Name wurde schnell inner- und außerhalb der Klasse adaptiert. Selbst einige Lehrer nannten sie so. Paris war der Meinung, dass es schlimmere Spitznamen gab. Damals in der Grundschule zum Beispiel hatte man sie „fette Kuh“ und „Miss Piggy“ genannt. Als sie dann in der fünften Klasse aufs Gymnasium ging, musste sich Paris Sprüche wie „Deutsche Panzer rollen wieder“ anhören. Einige Jungs machten sich auch einen Spaß daraus, sich „Platz da“ rufend fest gegen die Wand zu drücken, wenn sie kam. Manchmal, wenn sie sich hinsetzte, simulierten sie auch ein Erdbeben nach. Alle fanden das witzig, hatte Paris ihr erzählt. In der sechsten Klasse hatte es einen Jungen gegeben, den sie gemocht hatte. Es war nicht unbemerkt an ihren damaligen Klassenkameraden vorbei gegangen und der Junge, ein Freund ihres Bruders, wurde daraufhin Kermit genannt. Er hatte sie wohl noch nie leiden können und war immer einer der ersten gewesen, die sich gegen die Wand drückten, doch aufgrund seines neu gewonnen ungeliebten Spitznamens wurde er nur noch gemeiner, bis es nicht nur bei verbalen Angriffe geblieben war. Anderthalb Jahre hatte sie diese Schikane über sich ergehen lassen. Dann zur Realschule gewechselt. Hier war sie der Streber gewesen. Auf dem Gymnasium passables Mittelmaß, schrieb sie auf der Realschule nur Einsen, und hinter ihrem Rücken wurde sie als Schleimer bezeichnet, weil sie Klassenbuchdienst freiwillig übernahm und jeden Morgen pflichtbewusst die Lehrer grüßte. Paris hatte davon nichts mitbekommen, sie hatte sich gefreut, dass niemand sich über sie und ihr Übergewicht lustig machte. Zwei Wochen in die siebte Klasse hatte Kristal, ein hübsches aber vergeblich dummes Mädchen Probleme mit ihren Matheaufgaben und Paris bot ihr ihre Hilfe an. Von da an kam jeder zu Paris, der Hilfe brauchte. Sie war nicht mehr Miss Piggy oder Streber. Mädchen wollten mit ihr befreundet sein, aber nicht so gut, dass man sich außerhalb der Schule traf. Jungs dagegen wollten sie als Kumpel, aber nie als Freundin. Sie war nun „Intelligenzbestie“ oder „Genie“, das hilfsbereite nette Mädchen, von der man die Hausaufgaben abschreiben konnte und die jederzeit bereit war, länger in der Schule zu bleiben, wenn man Hilfe brauchte und sei es beim Ausfegen des Klassenraumes oder beim Abkratzen von Kaugummis, weil man dabei erwischt wurde, wie man selbst einen auf den Boden gespuckt hatte. „Fette Sau“ und „deutscher Panzer“ und „Miss Piggy“ war ein anderes Mädchen. Elke, die im Gegensatz zu Paris die Beleidigungen nicht stumm herunterschluckte, sondern verbal ausfällig wurde, was die anderen nur noch mehr anfeuerte. Desto wütender die „fette Kuh“ wurde, desto besser. Dabei war sie nicht unbedingt dick, nicht so dick wie Paris. Sie musste nur unter dem Lied der Ärzte leiden. Elke... fette Elke... Wir haben uns getroffen allein bei ihr Zuhaus’. Sie sah noch viel, viel dicker als auf dem Foto aus. Ich schloss sie in die Arme. Das heißt, ich hab’s versucht. Ich stürzte in ihr Fettgewebe wie in eine Schlucht. Sie ist ein echter Brocken, drei Meter in Kubik. Sie sieht so aus wie Putenbrust mit Gurke in Aspik. Es war nicht so, dass die Klassenkameraden es witzig fanden, sie zu beleidigen, sie fanden nur ihre Reaktion auf die Beleidigungen unterhaltsam. Würde sie den Mund halten, hätte man sie vermutlich schon lange in Ruhe gelassen. So wie Silvia. Ein unscheinbares Mädchen, das hinter Paris saß, das bei der letzten ärztlichen Untersuchung 90 Kilo auf die Waage gebracht hatte und dies bei einer Größe von 1.60. Cindy hatte das erzählt, denn sie hatte sich heimlich die Unterlagen ihrer Mutter angesehen, eine Allgemeinmedizinerin, die die jährliche Untersuchung an der Schule durchführte. Aber Cindy durfte nicht lästern. Sie war zwar schlank, hatte aber eine Zahnspange, wegen der sie immer lispelte. Außerdem hatte sie unzählige Sommersprossen und schlimme Akne. Ihrer Meinung nach, hatten nur gutaussehende Mädchen das Recht über andere zu lästern. Mädchen wie Bianca, eine zierliche Brünette, mit kurzen Haaren, die nach der Meinung der Jungs besser den Mund halten und hübsch aussehen sollte. Denn wenn sie den Mund öffnete, kamen nur obszöne Flüche, krude Schimpfwörter und fiese Beleidigungen heraus. Oder Sabrina, ein zurückhaltendes, schüchternes Püppchen mit langen schwarzen Korkenzierlocken. Sie versteckte sich zumeist hinter ihren Freunden, wurde schnell rot und brachte bei Fremden selten ein Wort heraus. Im Unterricht, wenn ein Lehrer sie etwas fragte, sprach sie so leise, dass man sie kaum hörte. Die Jungs fanden das reizend. Wen sie noch reizend, oder eher erregend fanden, war Viagra. Viagra war natürlich nur ein Spitzname. Eine falsche Blondine, mit falschen Locken, aber echtem Busen, die sehr wohl von ihrem heimlichen Spitznamen wusste. Viagra brüstete sich damit, ihre Jungfräulichkeit mit zwölf an einen damals Achtzehnjährigen verloren zu haben. Mittlerweile war er Zwanzig und brachte sie jeden Tag zur Schule, holte sie von dort ab und chauffierte sie, wohin auch immer sie wollte. Paris wusste, dass der Zwanzigjährige Viagras Halbbruder war. Sollte Viagra die Wahrheit sagen, würde es wohl einige Familienprobleme zu klären geben, hatte Paris gemeint. Und die gab es vermutlich wirklich, denn sie bezweifelte, dass Viagras Geschichte gelogen war. Sie hatte die beiden einmal zusammen im Kino gesehen, doch mehr gehört. Sie hatten direkt hinter ihr gesessen. Wenigstens war es nicht ihr richtiger Bruder, hatte sie damals gedacht, war aufgestanden und hatte beschämt das Kino verlassen. Der Mann war nicht einmal gutaussehend. Er hatte Pockennarben im Gesicht, war blass und schmächtig, hatte schiefstehende Zähne und eine zu große Nase. Das einzig Positive musste sein Auto gewesen sein, weshalb sonst hätte Viagra sich mit ihrem Halbbruder eingelassen, wenn nicht, um einen Sklaven zu haben, den sie herumkommandieren konnte? Stephanie mit ph war auch ganz hübsch. Mit dem Zusatz ph, weil es noch eine Steffanie mit Doppel-f und eine Stefanie mit einem f gab. Stephanie mit ph schien Paris einzig wahre Freundin zu sein, denn sie trafen sich auch außerhalb der Schule. Und einmal, als Paris Geburtstag auf den ersten Schultag nach den Sommerferien im Jahr als sie in die achte Klasse kamen fiel, hatte sie zur Überraschung einen Kuchen gebacken und ihn mit vierzehn Kerzen zur Schule gebracht. Sie hatte sogar die Erlaubnis der Lehrer eingeholt, die Kerzen anzünden zu dürfen. Wie es der Zufall wollte, sollten sie an diesem Tag auch einen neuen Mitschüler bekommen. Kermit war Paris, anderthalb Jahr später, unfreiwillig nicht nur zur gleichen Schule, sondern auch in die gleiche Klasse gefolgt. Er betrat gerade den Raum als Paris, umringt von sämtlichen Klassenkameraden und auch Freunden aus anderen Klassen ein unstimmig grausiges Happy Birthday gesungen bekam und dann aufgefordert wurde, die Kerzen auszupusten. Während er diesen Moment beobachtete, ihm die Worte fette Kuh und Fettkloß auf der Zunge lagen und er sie noch gerade herunterschlucken konnte, hatte sich Viagra an ihm vorbeigedrückt und laut Paris gerufen, um die Aufmerksamkeit des Geburtstagskindes auf sich zu ziehen. Kermit hatte unverhohlen auf ihr weit ausgeschnittenes Dekolleté gestarrt. Später wurde Viagra wegen des freizügigen Oberteils zum ekelhaften Feldmann gerufen. Sie hatte erzählt, dass er ihr, während er ihr eine Predigt wegen Kleiderordnung gehalten hatte, die ganze Zeit auf den Busen gestarrt und schon zu sabbern begonnen hätte. Sie hätte ihn schon längst wegen sexueller Belästigung angezeigt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass er impotent war. Das hatte Lars herausgefunden, denn sein Vater arbeitete in der Apotheke in der Kleinstadt, in der der Feldmann wohnte. Lars’ Vater hatte nicht gewusst, dass der Herr, über den er sich vor seinem Sohn, der unter der Woche in der Apotheke aushalf, mokiert hatte, dessen Lehrer war. Hätte er es gewusst, hätte er sich vermutlich einen Kommentar verkniffen. Als Paris den Jungen entdeckte, der die Brüste ihrer Freundin gierig angaffte, legte sich ein Grinsen auf ihre Lippen und sie grüßte ihn mit den Worten „Schön dich wiederzusehen, Kermit!“ Dies war natürlich ein gefundenes Fressen für die Klasse, denn zu einer Miss Piggy gehörte ein Kermit der Frosch. Zufälligerweise befand Kermit sich auch noch im Stimmbruch, sodass Paris den Spitznamen nicht erklären brauchte und so unweigerlich auf ihre Vergangenheit auf dem Gymnasium hätte zu sprechen kommen müssen. So durfte Kermit, der, nachdem er das Gymnasium verlassen, gehofft hatte, den verhassten Namen loszuwerden, diesen doch noch ein paar Jahre länger behalten. Nur war seine Miss Piggy dieses Mal die Fette Elke. Dann gab es da noch Barbie. Barbie war schon lange keine Barbie mehr. Seit ihre Mutter sich nach der Scheidung der Backkunst verschrieben hatte und sich den Tag über als Krisenbewältigung und helfende Therapie voll und ganz dem Backen von Kuchen hingab. Aber damals hatte Barbie wirklich wie eine Barbie ausgesehen, schlanke Taille, lange echte blonde Haare – nicht wie Viagra –, blaue Augen. Sie war ein bisschen dicker geworden, lag aber vermutlich noch immer im Normalgewicht, dass sie verbissen trotz der Mästversuche ihrer Mutter versuchte zu halten. Den Kuchen, der ihr statt Schwarzbrot und Tomaten, mit zur Schule gegeben wurde, verteilte sie an ihre Klassenkameraden und nach der Schule besuchte sie unter dem Mantel einer Literatur AG, die jedes neue Schuljahr zufällig immer auf den gleichen Tag wie der Sportunterricht fiel, den Fitness Club neben der Schule. Grund dafür war ein gedankenloser Kommentar ihrer Lehrerin, als sie sich im Umkleideraum für den Sportunterricht umgezogen hatten. Die Lehrerin hatte einen kritischen Blick auf Barbies verschwundenen Waschbrettbauch geworfen und etwas wie „Ganz schön zugenommen“ gemurmelt. Daraufhin hatte Barbie sich weinend auf dem Mädchenklo eingesperrt und die Klasse sich geweigert, am Sportunterricht teilzunehmen. Die Kollegialität der Klasse war vermutlich nicht auf die Kulanz und Loyalität der Klassenkameraden untereinander und in Bezug auf Barbie zurückzuführen, sondern eher auf die Tatsache, dass sie an diesem Tag im 4000m Lauf auf Zensur getestet werden sollten. Dies war selbst für Hobby-Athleten bei einer Temperatur von 26 Grad im Schatten bei Windstille – denn Hitzefrei gab es erst ab 30 Grad im Schatten – reinste Folter. So war das respektlose Verhalten der Sportlehrerin ein willkommener Streikgrund und Barbie, die sich nach zehn Minuten eigentlich schon wieder beruhigt und wieder hatte rauskommen wollen, wurde nahegelegt, doch erst eine persönliche Entschuldigung der Lehrerin abzuwarten, schließlich war ihr Kommentar gemein und beleidigend gewesen. Aber trotz oder vielleicht auch wegen der wenigen Kilos, die Barbie zugenommen hatte, war sie eines der hübschesten Mädchen in der Klasse. Am beliebtesten war dennoch Agniezka; Fab - Nicht Faab, sondern Fäb - genannt. Ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren, und aufgeweckten blauen Augen, die vermutlich mehr ein Junge als ein Mädchen war und anscheinend deshalb bei den einen als auch den anderen überaus beliebt war. Sie war ein liebenswürdiger Wildfang, der für jeden Spaß zu haben war. Allerdings wusste man mehr über ihre Mutter als über das Mädchen selbst. Zum Beispiel welchen Typ Mann die Frau bevorzugte. Dass sie lieber zur Ostsee fuhr, als ihre in der brütenden Sonne wartende Tochter von der Schule abzuholen. Oder auch ihrer im Regen nach Hause gehende Tochter mit dem Auto entgegen zu kommen. Sie schien schlichtweg zu vergessen, dass Fab fünfzehn Kilometer nach Hause gehen musste, weil das Kaff, in dem sie wohnten, keine anständig Busverbindung hatte. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie auf dem Spielplatz des Hortes gesessen und Fabs Mutter im Auto von ständig wechselnden Männern gesehen hatten. Fab hatte nie etwas dazu gesagt, einfach zurück gewunken, wenn ihre Mutter sie im Vorbeifahren grüßte. Im Sommer ließ sie die Tochter so lange wie möglich im Hort und vergnügte sich am Ostseestrand. Im Winter war sie verschwunden – sie hatten die Rechnungen des Mittagslieferanten nicht bezahlt, auch den Hort nicht. Zwei Jahre später kam sie als neue Schülerin in die Klasse. Die, die sie erkannten, begrüßten sie erfreut, weil sie sie endlich wiedersehen konnten. Die anderen machten einfach mal mit, weil die anderen sich freuten. An dem Verhalten ihrer Mutter hatte sich nichts verändert. Wie Andreas es einmal an Fab gewandte sagte: „Die Männer, mit denen deine Mutter sich trifft, werden nur älter.“ „Meine Mutter wird auch älter.“ „Er meint damit“, erklärte Louise besserwisserisch, „dass der Altersunterschied immer größer wird.“ „Sie mag sie eben alt und passiv. Damit sie sie reiten kann“, hatte Fab erwidert. Andreas hatte daraufhin die Augen gerollt und Louise verkniff sich einen Kommentar in Richtung „Schlampe“. Schließlich redete man nicht so über die Mutter einer Freundin. Fab hatte es vermutlich ihrem liebenswürdig quirligen Wesen zu verdanken, dass sie ob des ungezügelten Verhaltens ihrer Mutter nicht von allen Seiten gehänselt und drangsaliert wurde. Vielleicht hatte es aber auch damit zu tun, dass sie, obwohl sie nicht besonders groß war, ziemlich hart zuschlagen konnte. Andreas konnte das bezeugen. Er hatte den Fehler begangen, Louise mit einem Schneeball zu bewerfen, in denen Steine waren. Dass das nicht einmal mit Absicht gewesen war, war unerheblich. Für Fab war vieles unerheblich, wenn sie wütend war. Die Jungen hätten Grund zum Lästern. Hatten sie die gut aussehenden erwischt. Zumindest Laut der Mädchen aus der Parallelklasse, die des Öfteren vorbeischauten und das bestimmt nicht, um ihre Freundinnen zu begrüßen. Sie kamen wegen Jungs wie Lars. Ein vorlauter, blond gelockter, fröhlicher und etwas schusseliger Junge. Er war immer einer der ersten in der Schule und war, wenn die restlichen Schüler eintrafen, bereits wieder mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen. Wann genau er zur Schule kam wusste keiner, aber sie wussten, dass das Gebäude um sechs aufgeschlossen wurde. Unterricht begann um acht. Dann war da noch Max. Kam stets zu spät, vergaß ständig seine Hausaufgaben, hatte vermutlich öfter nachsitzen müssen als alle anderen Schüler zusammen, stürmte ständig in den falschen Raum und störte dabei irgendeine andere Klasse. Deshalb nahmen die Mädchen ihn immer liebend gern an die Hand. Sie vermutete Vorsatz. Falko, ein hochgewachsener dunkelhaariger Junge mit leichten O-Bein-Ansatz, war schüchtern und unbeholfen, weckte allerdings mit diesem Verhalten ungewollt den Mutterinstinkt der Mädchen, die ihm alles aufhoben, was ihm runter fiel und ihm Geld liehen, wenn er nicht genug zum Mittagessen dabei hatte. Er zahlte es immer am nächsten Tag zurück, was ihn nur noch liebenswerter machte. Zwar vergaß er alles, aber nie, sich für die Freundlichkeit anderer zu revanchieren oder zu bedanken. Er war einer dieser fast ausgestorbenen Samariter, die alten Omas über die Straße halfen, umgekippte Fahrräder wieder aufstellte oder im Park Abfälle einsammelten. Wenn er jemanden entdeckte, der absichtlich Papier oder Zigaretten auf den Boden fallen ließ, forderte er sie konsequent auf, dieses aufzuheben und in den Papierkorb zu werfen – so ziemlich der einzige Moment, in dem er vergaß, dass er eigentlich schüchtern war. Dass dies noch nie zu körperlichen Verletzungen führte, lag hauptsächlich daran, dass oftmals die Klasse hinter ihm stand und ihn, wenn auch relativ unfreiwillig unterstützte. Keinen interessierte es, ob da irgendjemand seinen Müll fallen ließ, aber keiner wollte, dass Falko wegen seines umweltfreundlichen Denkens im Krankenhaus landete. Wer sich mit Falko anlegte, hatte es mit der gesamten Klasse zu tun. Auch mit der fetten Elke. Aber die war heimlich in Falko verliebt. Und der war offiziell mit Fab zusammen. Leon dagegen fiel unter die Kategorie „Große Klappe und nichts dahinter“. Eigentlich hübsch anzusehen, versuchte er sein feminines Äußeres mit allem zu verschandeln, was verhinderte, dass man ihn Mädchen ohne Brüste nannte. Kurz rasierte Haare, Sportsonnenbrille, die er trug, selbst wenn es im tiefsten Winter dicke Schneeflocken aus grauen Wolken schneite, umgedreht aufgesetztes Basecap, marinenblaue Jogginghose. Im allgemeinen sah er jeden Tag so aus, als würde er jeden Moment zum Sportunterricht gehen wollen. Dennoch war er ungemein beliebt, auch wenn er vor dem Unterricht mit der Finke darüber lästerte, wie unfair und ungerecht die wäre und dass sie ihn an seinem jungfräulichen Hintern lecken könnte, aber bei ihrem Eintreten mit einem höflichen „Guten Tag“ grüßte. Die Klasse hatte sich daran gewöhnt, auch dass das Händchenhalten mit Markus, bei dem man sie ab und an erwischte, mittlerweile kein Scherz mehr war, auch wenn beide das weiterhin standhaft behaupteten. Die Klasse tat einfach so, als würden sie von nichts wissen. War ihnen doch egal, wenn Markus das kleidungstechnisch verunstaltete Mädchen ohne Brüste daten wollte. Jeden das Seine, wie jemand mit schwarzem wasserfesten Stift oberhalb der Tafel in Großbuchstaben geschrieben hatte. Paris hatte irgendwann aus dem „n“ in Jeden ein „m“ gemacht. Wenn schon vandaliert werden musste, dann doch wenigstens grammatisch richtig. So einen Fehler konnte eigentlich nur Lol machen. Ein Mädchen mit hüftlangen, braunen Haaren, die sie nach eigenen Angaben mindestens eine Stunde kämen musste, damit diese ordentlich lagen und glänzten und die unglaublich nervende Angewohnheit hatte, nach jedem Kichern das Chatroom-Kürzel LOL anzufügen. Es muss ihr sehr schwer gefallen sein, hinter dem grammatisch falschen Satz Jeden das Seine kein LOL dahinter zu schreiben. Erst kürzlich hatte sie auch sämtliche Klassenkameraden darauf hingewiesen, dass sie von nun an ihre Sätze abkürzen würde und sie gab einen Einführungskurs in Chatroomsprache, was wirklich niemanden interessiert hatte. „IMHO“, hatte sie damals gesagt, „spart das Zeit. ROFL.“ Was auch immer IMHO oder ROFL bedeutete. Was auch immer BRB bedeutete, wenn sie einen Raum verließ oder RE, wenn sie wieder kam. Mit CU konnten sie dank Englischunterricht und des Nichtwissens, dass das CU, das sie zum Abschied benutzte, tatsächlich eine Abkürzung war, etwas anfangen. See you. Das kannte sogar Phillip. Dummer, quirliger, kleiner, aber cleverer Phillip, mit blonden Haaren. Hatte sich den passenden Namen Zappelphillip eingefangen und würde ihn vermutlich die nächsten Jahre nicht wieder loswerden. Die Mädchen fanden ihn niedlich. Er war klein. Kleiner als sie, lief immer mit kurzen Jeans-Hosen und Sneakers herum, trug ein T-Shirt mit kurzer Jeans-Weste und war immer auf dem Fußballplatz zu finden, wenn er über das Spielen das Klingelzeichen nicht bemerkt hatte und jemand losgeschickt wurde, ihn für den Unterricht abzuholen. Meistens war das Stefanies mit ie Aufgabe. Schließlich war er ihr Bruder. Innerhalb der Klasse verglich man Phillip heimlich mit einem jungen Welpen. Cindy schenkte ihm sogar einen zum Geburtstag. Ihre Hündin Cleo hatte geworfen und Phillip hatte schon immer einen Hund haben wollen. Wenn auch keinen Spitz. Aber es hatte sich schnell herausgestellt, dass Cleo ein kleines Flittchen war – wie Cindy selbst sagte – denn die Welpen waren nicht wie durch geplante Deckung mit einem männlichen Subjekt dieser Spezies angestrebt reine Spitze. Anscheinend hatte ein örtlicher Schäferhund zuerst seine Gene weitergeben dürfen. Phillip hatte seinen Spaß an dem seltsamen Schäferhund-Spitz Mischling und nahm den Hund zum Tollen mit auf das Fußballfeld, wo das clevere Tier tatsächlich lernte, den Ball mit dem Kopf voran treibend in das Tor zu schieben. Phillip und Puke – der Name des Hundes – waren bald ungeschlagen auf dem Fußballfeld. Zumindest bei einem Spiel eins zu zwei. Und es gab Michael. Ein Sitzenbleiber, der eine Vorliebe für klassische Bücher a la Goethe und Schiller hatte, aus dem Stehgreif mindestens zehn Zitate aus Romeo und Julia rezitieren konnte und eine riesige mentale Bibliothek besaß. Er konnte alle Bücher aufzählen, die er je gelesen hatte, samt Autor und Veröffentlichungsjahr. Was er nicht konnte, war Mathematikaufgaben lösen und physikalische Prozesse nachempfinden, sowie chemische Experimente durchführen und protokollieren. Oxidationsketten waren eine unüberwindbare Hürde, aber nicht sämtliche historische Daten beginnend der Bronzezeit bis zum Mauerfall in richtiger Reihenfolge herunter zu rasseln. Michael war seltsam. Sie mochte Michael. Doch auch der konnte sie wohl nicht mehr ansehen, musste sie betrübt feststellen, als sie mit Paris das Klassenzimmer betrat, während er dieses gerade verließ und, den Blick stur geradeaus, nur Paris grüßte. Von dem hintersten Fensterplatz konnte sie leises Kichern hören und die umklammerten Riemen ihres Rucksacks schnürten ihren Fingern die Blutzufuhr ab. Vor einer Woche hatte sie einen Liebesbrief von Michael bekommen. Angeblich. Für einen kurzen Moment, als sie die Nachricht mit dem Heinrich Heine Zitat auf dem Zettel, der ihr im Matheunterricht zugeworfen wurde, mit den Augen überflogen hatte, war für einen flüchtigen Augenblick etwas wie Hoffnung in ihr aufgeflackert. Bis aus dem Augenwinkel Cindys wissendes Lächeln bemerkt hatte, das ihr verriet, dass der Brief nicht von Michael gewesen war. Deshalb zeriss sie den Zettel in kleine Fetzen, die sie in ihre Federtasche warf und wandte sich wieder ihren Aufgaben zu. Sie kannte diesen Trick. Hätte sie darauf geantwortet, hätte Cindy die Nachricht laut vor der Klasse vorgelesen. Das hatten sie schon mit der fetten Kuh gemacht. ~~Fortsetzung folgt Ich weiß, dass diese Geschichte nicht jedem gefallen wird, aber ich würde gern wissen, was ihr drüber denkt. Kapitel 2: Das Monster im Schrank --------------------------------- Nachts kam ein Monster in ihr Zimmer. Sie war aufgewacht, hatte den Atem gehört, der heiß in ihrem Nacken brannte. Sie hatte still in ihrem Bett gelegen, mit dem Gesicht zur Wand, hatte die Augen fest geschlossen und gehofft, dass das Monster nicht bemerkte, dass sie wach war. Wie es in ihr Zimmer gekommen war, sie wusste es nicht. Es musste in ihrem Schrank gewartet haben, gewartet, bis sie eingeschlafen war, um sich aus dem Versteck zu schleichen und sich auf ihren Schreibtischstuhl zu setzen. Ihr Zimmer war klein. Kaum zwei Meter lagen zwischen ihrem schmalen Bett und dem gegenüberstehenden Schreibtisch, dazwischen ein Stuhl, am Bettende ein Kleiderschrank und eine kleine Kommode. Mehr Platz hatte sie nicht. Sie hatte die Luft angehalten und versucht kein Geräusch zu machen, so künstlich, dass sie sich fragte, ob das Monster es hören konnte; das gänzliche Fehlen vom rhythmischen Atem. Doch das Monster reagierte nicht. Der Schreibtischstuhl knarrte. Es musste seine Sitzposition verändert haben. Sie konnte ihren Puls wild im Kopf pochen hören. Eine Hand musste über ihrem Körper ruhen. Sie konnte ihre Präsenz erdrückend spüren, schwerer als hätte sie ihren Körper tatsächlich berührt. Sie hatte wach gelegen bis die Vögel mit ihrem Zwitschern den Morgen ankündigten, bis die ersten Sonnenstrahlen ihr Zimmer erhellten, hatte die Augen fest zusammen gepresst, bis sie das Schlurfen von Füßen über ihrem Teppich hörte, das leise Knarren ihres Schrankes, als die Tür geschlossen wurde – und dann war sie in einen kurzen verkrampften Schlaf gefallen. Unterbrochen von dem erbarmungslosen Klingeln ihres Weckers. Sie spürte noch immer seinen Atem im Nacken, als sie die letzten Schritte durch das Schultor nahm, müde, verängstigt; und wusste, das Monster würde in dieser Nacht wieder in ihr Zimmer kommen, sich auf ihren Schreibtischstuhl setzen und sie beobachten. ~Ich liebe euch, für die Kommentare Ich weiß, das Ganze hat noch nicht wirklich Hand und Fuß, aber bald, bald... erkennt ihr worum es geht. Oder auch nicht. XD Kapitel 3: Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann? ------------------------------------------------ Junge, Junge, süßes braves Söhnchen, gibst bald mehr kein Tönchen. Junge, Junge, kleiner frecher Bengel wirst ein toter Engel. „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ „Niemand! Niemand!“ „Und wenn er aber kommt?“ „Dann laufen wir davon!“ „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ „Niemand, niemand“, murmelte sie, beobachtete die kleine Gruppe Kinder, die wild kreischend über den Sportplatz fegte. Ihr Kopf lehnte gegen die eisernen Ketten der Schaukel, ihre Tasche baumelte lose zwischen ihren Beinen, halb auf dem Boden. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind das gleiche Fangspiel mit ihren Freunden gespielt hatte. Wie Markus diesen Reim kaum über die Lippen hatte bringen können, weil er sich vor den Geschichten, die sich dahinter versteckten, gefürchtet hatte. Ihre Augen wandten sich von den spielenden Kindern auf das Paar, das nicht unweit von dem Fußballtor stand, etwas versteckt von Büschen und Sträuchern. Vor Leon hatte Markus schon des öfteren im Mittelpunkt gestanden. Aber nicht, weil er mit einem anderen Jungen zusammen gewesen war. Sie hatte oft die Kratzer gesehen, die kahlen Stellen am Kopf, blaue Flecke zumeist an Stellen, die man nur in der Umkleide sehen konnte. Sie hatte die Wunden oft gesehen, doch in ihrem Alter nie realisiert, was sich dahinter verbarg. Sie hatte die Lügen, mit denen er sie damals gefüttert hatte, in ihrer kindlichen Naivität mit einem unruhigen Gewissen geglaubt. Markus war vermutlich froh, dass die meisten diese Wunden mittlerweile übersahen, weil sie nun ein anderes Thema hatten, über das sie tratschen konnten; das ihre Neugier eher fesselte als Narben von zigarettenverbrannter Haut auf seiner Schulter; etwas, das viel, viel interessanter und lustiger war als Krankschreibungen auf Grund eines von einem Fahrradsturz verursachten Schlüsselbeinbruchs. „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ „Niemand! Niemand!“ Als sie diesen Satz damals in einem Sprachgesang erwidert hatten, hatte Markus gestottert, hatte sich mit einer eigenwilligen Unruhe umgesehen, war los gestürmt und hatte sich stets bis zum anderen Ende durchgeschlagen. Sie hatte es vergessen, doch das verspielte Schreien der Kinder ließ sie erinnern, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der Markus und sie fast unzertrennlich gewesen waren. Im Kindergarten, in dem sie zusammen im Sandkasten gespielt und mit anderen Kindern um die Wippe gekämpft hatten, als sie das Doppelte-E gespielt und sich gegenseitig Kleber und Farbe in die Haare geschmiert hatten. Eine Zeit, zu der sie wusste, dass etwas nicht stimmte, aber nicht sagen konnte, was genau. Nun hatten sie schon seit langem nur wenig Kontakt. Und Markus hatte schon seit langem keine augenscheinlichen Verletzungen mehr. Sie fragte sich, wann es begonnen hatte – dass sie die Wunden übersah, als wären sie ein Merkmal seines Körpers, wann der Kontakt plötzlich so brüchig geworden war, dass sie dem anderen kaum noch Aufmerksamkeit schenken wollte, seinen Blick mied, als würde er ihr etwas verraten, das sie nicht hatte wissen wollen. Ihre Augen überflogen für einen Moment die Silhouetten des Paars, wanderten zu den Händen auf den Hüften des anderen; zwischen ihren Fingern lagen locker die rotglühenden Zigaretten, deren Qualm laut Michael mehr über die Inhaltsstoffe verriet als die gedruckte Zusammensetzung auf der Verpackung. Ob die Hitze stark genug war die Hosen der beiden in Brand zu setzen, fragte sie sich unbewusst. Es hatte begonnen, als er die Nächte bei Leon verbracht hatte. Als sie plötzlich in einem Alter waren, in dem Jungs nicht mehr allein in den Zimmern von Mädchen schlafen durften. So hatte ihre Mutter es ihr damals erklärt. Es musste gewesen sein, als sie nach Hause gekommen war; als Markus verstört neben jenem Mann auf der Couch gesessen hatte, dann plötzlich aufgesprungen und raus gerannt war und der Mann auf die Frage, was passiert wäre, nur mit einem unwissenden Achselzucken reagiert hatte. „Ich kenn das unter ‚Wer hat Angst vorm bösen Wolf’“, eröffnete Zappelphillip, der sich klangvoll auf die Schaukel neben ihre schwang, mit beiden Händen die Ketten umfasste, bevor er sich fest mit den Füßen von der weichen Erde abstieß. „Wer hat Angst vorm bösen Wolf? Niemand! Niemand! Und wenn er kommt euch zu fressen? Dann lauft!“ Die Schaukel schwebte höher und höher, während er den kurzen Kindervers kaum hörbar mit einem verspielten Lächeln auf den Lippen wieder gab. Der böse Wolf war passend, dachte sie. Der böse Wolf, der gekommen war, die Geißlein zu fressen. Mit einer bösen List erzwang er sich Einlass, schnappte sich die ängstlichen Zicklein nach und nach und verschlang sie mit Haut und Haar, bis nur noch ein Geißlein, versteckt in der Standuhr, zitternd zusammen gekugelt lag und sich leise flüsternd einredete, es wäre alles in Ordnung, ein böser Traum, aus dem es bald, bald erwachen würde. Doch weshalb schien der Traum nicht enden zu wollen? Weshalb hörte es das Knacken der Knochen seiner Geschwister so eindringlich, das selbst das Schlagen der Uhr das markerschütternde Geräusch nicht überschallen konnte? Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?, hörte sie ihre eigene Kinderstimme, sah ihre gesichtslosen Freunde von damals über die Wiese laufen, lachend, vorbei an dem schwarzen Mann, der mit zu langen Armen nach ihnen zu greifen versuchte, der breite Mund zu einem grotesken Grinsen verzogen und inmitten dieser leblosen Kinderschar lief ein kleiner blonder Junge mit grünen Augen und fest aufeinander gepressten Lippen. Er würde ans Ziel kommen. Er war bisher immer ins Ziel gekommen, so sehr sich der schwarze Mann auch nur auf ihn beschränkt hatte. Im Spiel hatte er immer gewonnen. Im Spiel hatte er den schwarzen Mann immer überlisten und austricksen können. Aber das Leben war kein Spiel. „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“, schrieen die Kinder. „Markus, Markus“, summte sie abwesend, beobachtete unbewusst die Bewegungen am Baumstamm, gegen den das Paar gedrückt war. „Und wenn er kommt euch zu fressen?“ tönte Phillip. Sie war zu alt ihn zu sehen. Den schwarzen Mann, den nur Kinder sehen konnten. Der in ein Dorf kam und ein Kind nach dem anderen entführte. Sie wusste, er war nur eine Geschichte, die Kindern damals erzählt wurde, damit sie nicht mit fremden Männern mit gingen. Eine Gruselgeschichte, eine schwarze Silhouette, die nachts um die Häuser schlich und lange Schatten durch die Fenster in die Zimmer der Kinder warf, Hände an die Glasscheibe gepresst, der Atem an der kühlen Fensterscheibe kondensiert und die Gesichter der geborgen Schlafenden betrachtete, nur darauf wartete, dass das Fenster in der Nacht offen gelassen wurde, die Eltern es vergaßen abzuschließen; ruhig, geduldig, im Schatten lautlose wartete. Sie war zu alt, ihn zu sehen. Sie war zu alt, um Angst vor ihm zu haben. Aber zu Hause würde der schwarze Mann schon auf sie warten. Langsam stand sie von der Schaukel auf und die Eisenketten zogen sich dumpf klirrend zusammen. Ihre Mutter müsste mittlerweile zu Hause sein, sie würde gerade Abendbrot machen, wenn sie nach Hause kam und während des Essens würde sie schweigen, würde nicht erzählen, dass Puke Phillip zur Schule gefolgt und dann auf dem Schulhof herum geirrt war; würde nicht erzählen, dass Barbie und Bianca sich über irgendetwas gestritten hatten und Bianca das andere Mädchen als fette Kuh bezeichnet hatte. Phillip sprang mit einem weiten Satz von der wehenden Schaukel, landete sicher auf beiden Beinen und warf ihr ein zuversichtliches Grinsen zu, fixierte sie, als erwarte er irgendwelche lobenden Worte. Mit einem flüchtigen Blick wandte sie sich ab, unsicher, was sie hätte sagen sollen, während das freudige Kreischen sie über den Sportplatz und an dem Paar vorbei verfolgte. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? hörte sie Markus leise flüstern. Niemand. Niemand. Und wenn er kommt dich zu holen? Dann schließe ich die Augen. Junge, Junge, befleckter schlechter Abschaum, dein Blut durchtränkt den hohen Raum. Junge, Junge, mieser, fauler Dreck. ... v e r r e c k . Kapitel 4: Kindlein, gute Nacht ------------------------------- Sei ganz leise, sei nicht ängstlich. Schau, er hat dich doch so gerne. Über deinem kleinen Bettchen schaukeln Sonne, Mond und Sterne. Damals war sie sechs gewesen. Sie hatte nicht gewusste, weshalb das Gesicht des Mannes im Halbdunkel ihr Angst gemacht hatte, doch sie war aus ihrem Bettchen aufgestanden und hatte diesen ihr fremden Blick in seinen Augen gesehen. Sie war an ihm vorbei gestürzt und sie wusste nicht weshalb sie schneller gewesen war, doch sie hatte es nach draußen auf den Hof geschafft. Die Schritte hinter ihr hallten befremdlich laut in ihren Ohren und sie sah sich nach einem Versteck um. Verängstigt rannte sie zu einem kleinen Holzhäuschen, eine Erinnerung an die Zeit, als es in dem alten Bauernhaus, in das sie gezogen waren, noch kein fließend Wasser und keine spülende Toilette gab. Sie schloss sich dort ein, fühlte sich dort sicher. Bis sie das Ruckeln an der Tür hörte, sah, regelrecht mit jeder Faser ihres Körpers spürte. Die Tür war nur durch einen eisernen, verrosteten Riegel zugesperrt und sie sah sich panisch nach einer Fluchtmöglichkeit um, kletterte auf das Holz, schlug in dem Moment, in dem die Tür von außen mit einem heftigen Ruck aufgerissen wurde, der verrostete Riegel mit dumpfen Klirren zu Boden fiel, die Fensterscheibe mit ihren kleinen Fäusten ein. Sie hangelte sich hoch, ungeachtet der Scheibenreste, die auf ihr Gesicht rieselten, ungeachtet der scharfen Kanten, die noch in der Halterung steckten. Sie spürte nicht, wie sie sich die Arme und Beine aufkratze, wie das Blut sickernd langsam über ihre Wangen lief, spürte wie der Mann nach ihren Füßen griff. Spürte wie alles schwarz wurde. Damals war sie sechs gewesen. Heute war sie vierzehn. Und sie wunderte sich, wie sie die Jahre über verdrängen konnte, was damals passiert war; fragte sich, weshalb es nicht so hätte bleiben können, weshalb sie sich in dunklen Träumen daran erinnern musste, weshalb sie nicht weiter in Vergessenheit hatte leben können. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine flüchtige Bewegung und sie zuckte zusammen, registrierte den verblüfften Blick des Mannes neben ihr, der nach dem Salzstreuer vor ihr greifen wollte aber ob ihrer Reaktion mitten in seiner Bewegung inne gehalten hatte. Wenn ihre Mutter nicht darauf bestehen würde, zumindest eine Mahlzeit am Tag zusammen als Familie einzunehmen, wäre sie schon längst aufgestanden und hätte sich in ihr Zimmer gesperrt. Denn diese Stille war zerschmetternd. Damals hatte sie dieses gemeinsame Abendbrot geliebt - und das darauffolgende Kartenspielen. Bridge. Mau Mau. Skat. Rommé. Sie hatten ihren Spaß und erzählten von ihrem Tag. Was ihnen Gutes oder auch Schlechtes widerfahren war. Ihre Mutter hatte zumeist nur Negatives zu berichten. Sie war Gymnasiallehrerin. Nicht an ihrer Schule. Sie besuchte die Realschule. Ihre Mutter beschwerte sich darüber, wie schwer es war, mit den Jugendlichen dieser Generation zurecht zu kommen und wie frech sie wurden. Heute zum Beispiel hatten sie ein Video von den dicken Herrn Jansen auf einen anonymen Tipp hin auf einem Videoportal gefunden. Er war gerade mitten in einer seiner langen, aufbrausenden Standpauken. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen, während die Schüler lachten und weiter unbekümmert auf den Tischen saßen und sich unterhielten und der Junge oder das Mädchen hinter der Handykamera weiterhin direkt auf den Jansen hielt, aus dessen Mund ein Faden Speichel hing. Ihre Mutter war der Meinung, dass Videoportale mehr Verantwortung übernehmen und die hochgeladenen Videos vor der Veröffentlichung überprüfen sollten. Sie erzählte von einem Lateinlehrer, der mit schwachen Würgemalen aus seinem Unterricht gekommen war, aber niemand auch nur annähernd daran gedacht hatte, ihn zu fragen, was passiert war. Der Lateinlehrer war das Lieblingsopfer der Schüler. Es war allgemein bekannt. Dass die Schüler seinen Unterricht nicht ernst nahmen, Pornos in seiner Stunde auf dem Fernseher abspielten, ihn mit Fruchtsaft übergossen und aus dem zweiten Stock auf seinen Kopf spuckten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ging, denn die Hänseleien schienen immer weiter auszuarten. Ihre Mutter gab dem Mann nur noch ein paar Monate, spätestens bis zum Ende des Schuljahres. Manchmal, eher selten, hatte sie auch etwas Gutes zu berichten. Das eine ihrer Schülerinnen sich für den Jugendschreibwettbewerb qualifiziert hätte. Ein anderer Schüler die internationale Französischsprachprüfung bestanden hatte. Dann gab es eine Schülerin, die bei einer bekannten Gerichtssendung mitgespielt hatte und das Video mit in den Unterricht brachte, um es jedem zu zeigen. Doch diese Ereignisse waren rar. Meistens hieß es nur Unterricht mit gelangweilten, verwöhnten Bälgern, die kein Interesse an Schule und Lernen hatten. Die den Tag über nur am Computer oder vor dem Fernseher hocken wollten, im Unterricht mit ihren Handys herumspielten. Tage, in den die Lustlosigkeit ihrer Schüler sie selbst mit herunter zogen, Tage, an denen sie weinend nach Hause kam, Tage, die vergingen ohne enden zu wollen. Sie fragte sich, weshalb ihre Mutter sich dennoch jeden Tag zur Schule schleppte, weshalb sie nicht schon längst gekündigt und Floristin geworden war, wie sie es schon seit langer Zeit geträumt hatte. Der Mann dagegen erzählte zumeist von positiven Erlebnissen seines Arbeitstages. Er war Kindergärtner. Er erzählte davon, wie viel Freude es machte, zu sehen, wenn Kinder ihre ersten unsicheren Schritte taten oder ihr erstes Wort lernten. Manchmal auch zum ersten Mal von allein ein Lied sangen. Er schimpfte über seine neue unfähige Kollegin, die nur eingestellt wurde, weil seine ehemalige Partnerin im Schwangerschaftsurlaub und danach zwei Jahre im Mutterschaftsurlaub sein würde, schimpfte über einen Neuzugang, ein einjähriges Mädchen, das jedes Mal spuckte, wenn es seinen Willen nicht bekam oder nicht essen wollte. Manchmal beschwerte er sich über die Eltern, die sich weigerten, mit den Erziehern im Kindergarten zusammen zu arbeiten, obwohl eine einheitliche Erziehung das Beste für die Kinder war. Er erzählte viel, wenngleich er einer Schweigepflicht unterlag, und sie hatte stets angeregt und interessiert zugehört. Doch nun vermutete sie, dass er etwas von seinem Arbeitsalltag verschwieg, woran sie nicht einmal denken wollte. Sie hatte von ihrem Schultag erzählt. Von ihren Klassenkameraden und den Lehrern. Heute hätte sie viel erzählen können, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie bekam kein Wort heraus, konnte ihrer Mutter nicht erzählen, dass Michael mittlerweile Chemikalienverbot bekommen hatte, weil er ständig alles verwechselte und sowieso kein Experiment zu Ende bringen könne. Dass Michael im Physikunterricht Dioden durchbrennen ließ und dann noch einen Stromausfall verursacht hatte. Paris hatte mit dem Lehrer argumentiert, dass es nicht Michaels Schuld wäre, dass der Physikraum keine getrennte Stromversorgung besäße. Die Lehrer konnten doch nicht davon ausgehen, dass die Schüler alles korrekt nach Schaltplan einstöpseln konnten. Der Lehrer hatte davon abgesehen, Michael aus dem Physikunterricht zu bannen, doch kaum war der Unterricht vorbei und die Schüler hatten den Raum verlassen, brach eine ungestüme Diskussion darüber aus wie Michael es wohl geschafft hatte, alles kurz zu schließen. Michael wusste es selbst nicht. Später am Tag stellte sich heraus, dass es einen Stromausfall in der gesamten Stadt gegeben hatte. Das war auch Michaels Schuld, hatte Lars daraufhin lachend gemeint. Michael, den die Nachricht über dem Stromfall im gesamten Stadtteil hatte aufatmen lassen, schien aufgrund der albernen Anschuldigung tatsächlich darüber nachzudenken, ob es wirklich seine Schuld hätte sein können. Sie hätte erzählen können, dass Viagra sich über ein Buch ausgelassen hatte, das sie niemals lesen würde. Machte Anspielungen über einzelne Passagen, erzählte, dass die Frau im Buch es erregend fand, sich die Schamhaare von einem Mann abrasieren zu lassen. Das Buch war angeblich ein Bestseller. Seit Viagras Erzählung wusste niemand so recht weshalb. Nicht, dass die Klasse besonders belesen war. Michael hätte es vielleicht gekannt. Viagra hatte ihn gefragt. Tatsächlich hatte er verächtlich zugegeben, schon davon gehört zu haben. Die Klasse wollte nicht einmal mehr etwas davon hören. Dafür wollten sie von Cindy hören, wie sie Leon und Markus knutschend am Hinterausgang unter der Steintreppe gesehen hatte. Aber in diesem Moment betrat Markus den Klassenraum und sie verschoben es auf später. Andreas beschwerte sich bei Fab, dass eine Zwanzigjährige ihn auf der Straße blöd angemacht hätte, weil er sein Papier auf den Boden hatte fallen lassen. Falko hatte es auch gesehen und sich neben die Frau gestellt, enttäuscht den Kopf geschüttelt. Andreas hätte danach ein schlechtes Gewissen gehabt und sich vorgenommen, jeden Müll, an dem er vorbei kam aufzuheben. Nach dem zehnten Tetrapack hatte er, fluchend auf die Verschmutzer aufgegeben, und sich gefragt, wo Falko die Geduld her nahm, alles aufzuheben, was ihm unter die Augen kam und danach eine alte Frau angemotzt, weshalb sie ihre Zigarette nicht im Aschenbecher neben sich ausdrücken konnte, sondern auf dem Boden austreten musste. Die Frau hatte ihn beleidigt taxiert, bis sie die Blicke der Umstehenden bemerkt hatte. Sie hätte wohl ganz schnell die Zigarette aufgehoben und weggeworfen. Andreas hatte sich danach gut gefühlt. Falko war stolz auf ihn. Andreas würde dieses Verhalten trotzdem nicht wiederholen. Sie hätte erzählen können, dass Michael und Paris eine Eins in ihrem Deutschaufsatz bekommen hatten. Sie hatte nur eine drei. Aber sie war zufrieden. Sie hätte Michael gratulieren können, aber als sie ihn ansah, hatte er sich abgewandt. Dann hatten sie ein Schuh am Hinterkopf getroffen. Zuerst hatte sie nicht einmal realisiert, was passiert war, bis sie den Schuh auf den Boden hatte prallen hören, den flüchtigen Schmerz gespürt hatte. Sie hatte sich daran erinnerte, dass es die Woche davor ein Fußball in der großen Pause gewesen war und in der selben Woche ein Volleyball im Sportunterricht. Sie hatte die Hände über ihren Hinterkopf zusammen geschlagen, als versuchte sie den dumpfen Schmerz zu mildern, hatte die Augen geschlossen und sich auf die Unterlippe gebissen, versucht verräterische Laute zu unterdrücken. Es gäbe keinen Grund zum Weinen, redete sie sich ein, es wäre ein Unfall, genauso wie der Fußball letzte Woche, genauso wie der Volleyball im Sportunterricht. Lars hatte sich entschuldigt, sie hatte es hören können. Paris hatte mit ihm geschimpft und ihre Klassenkameraden gefragt, ob alles in Ordnung wäre, ob sie sich weh getan hätte. Es waren ungünstige Zufälle, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten. Das war alles. Die Tränen hatten sich still gesammelt, tropften auf ihren aufgeschlagenen Hefter, sodass die Tinte der geschrieben Buchstaben aufquoll, sie unleserlich machten. Sie war aufgestanden und hatte sich auf der Mädchentoilette versteckt, hatte nicht gewollt, dass die anderen sie weinend sahen, hatte nicht erklären wollen, weshalb sie geweint hatte, denn der Ball hatte nicht wehgetan. Sie hätte erzählen können, wie niemand sie angesehen hatte, als sie danach zu spät zum Englischunterricht kam, verängstigt leise die Tür geöffnet hatte, weil die Finke für ihre Strenge bekannt war. Doch die hatte nichts gesagt, schien nicht zu bemerken, dass sie den Raum betrat – vermutlich hatte sie nicht einmal bemerkt, dass sie nicht im Unterricht gesessen hatte. Sie hätte ihrer Mutter sagen können, wie weh es getan hatte, als niemand in der Pause später mit ihr hatte reden wollen, dass sie nichts von dem nicht ganz so heimlichen Treffen zwischen Markus und Leon mitbekommen hatte. Sie hatte nie im Mittelpunkt gestanden, doch sie hatte dazu gehört. Nun gehörte sie nicht mehr dazu, und das Kichern der Mädchen, die an ihr vorbeigegangen waren, ließ es sie nur noch deutlicher spüren. Sie hätte all das sagen können, doch stattdessen hatte sie das fade Abendessen in drückender Stille über sich ergehen lassen. Sie hätte all das sagen können, doch stattdessen war sie nach dem Abendbrot wortlos aufgestanden, hatte den Tisch abgedeckt und sich in ihrem Zimmer eingesperrt. Hatte eine Schnur von ihrem Türgriff bis zum gegenüberliegenden Fenster gespannt, damit niemand die Tür aufbekam, hatte die Kommode vor ihren Kleiderschrank geschoben und die Griffe mit einem Strick umschlossen. Sie hatte sich auf ihr Bett gesetzt, ihren großen Teddybären, den sie letzten Monat zum Geburtstag von Cindy geschenkt bekommen hatte, fest an ihren Körper gedrückt und wachsam den Stimmen außerhalb ihres Zimmers gelauscht, bis sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Geweckt von einem heißen Atem in ihrem Nacken. Kindlein, lass dich küssen, Kindlein, gute Nacht... Ob am Morgen, ob am Abend, sei es spät auch, sei es früh ... seine Liebe schlummert nie. Kapitel 5: Eckstein, Eckstein... -------------------------------- Oh Gott! ICh habe diese Geschichte total vergessen! Ich meine, nicht im Sinne vom Schreiben - tatsächlich arbeite ich regelmäßig an ihr - aber das updaten... Ergh, ja... mein Beta hat's auch noch nicht gesehen, also... Danke an: Cokoteru, die eventuell weiterliest, auch wenn es etwas beängstigend ist (ich versuche ab und an, wenn es passt etwas Humor einzubauen, versprochen ^^°), Caliena und die treue Seele Jitzu! Ich freu mich immer, von dir zu lesen: BTW, ich weiß nicht, ob ich das schon mal gesagt habe, aber ihr müsst euch nicht ALLE Charaktere merken. Sie werden eh immernoch mehr oder weniger einzelnd vorgestellt und wenn nicht, ist es auch nicht wichtig. Es ging mir allgemein nur darum, dass man weiß, was für eine Atmosphäre in der Klasse herrscht. Oh, und achtet ab jetzt ein bisschen auf die Kapitelüberschriften. ^^° Eckstein, Eckstein Silvia hatte einen Fehler begangen. Sie war aufgefallen. Ihre Augen richteten sich auf das dicke Mädchen, das hinter Paris auf ihrem Platz saß, den Kopf gesenkt und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Ihr Deutschlehrer musste die leisen Laute, die das brünette Mädchen von sich gab hören, doch er schien die Geräusche zu ignorieren, fuhr stur nach Lehrplan fort. Silvia war vorher nie aufgefallen. Wenn sie gehänselt wurde, hatte sie selten darauf reagiert. Silvia hatte ihre eigenen Freunde in der Parallelklasse, nicht in dieser. In den Pausen verließ sie den Raum und ging zu ihren Freunden, kam zurück sobald es das erste Mal klingelte. Im Unterricht war sie weder schlecht noch herausragend. Sie meldete sich nicht, sondern antwortete nur, wenn sie direkt angesprochen wurde. Sie hatte schulterlange glatte Haare, trug kein Make-up. Sie war vorher nie aufgefallen. Weil sie nicht hatte auffallen wollen. Vermutlich hatte sie auch nicht heute auffallen wollen, doch sie war selbst Schuld. Weshalb holte sie sich auch einen Freund aus der Parallelklasse? Sie hätte wissen müssen, dass Viagra es sich nicht nehmen lassen würde ihr Ratschläge für das vermutlich erste Mal zu geben, hätte wissen müssen, dass die Jungs sich über die abstoßend detailgetreuen Bilder, die deshalb in ihren Köpfen auftauchten, das Maul zerreißen würden, dass obszöne Witze ihren Weg in den Alltag fanden. „Wie wird er diesen Berg besteigen?“ „Bekommt er bei soviel Fett überhaupt einen hoch?“ „Ich wette, er kann sie nicht einmal umarmen.“ Lars fand es witzig, die fette Elke grinste gehässig, Andreas schüttelte genervt den Kopf. Wenn man nicht in das verbreitete Muster passte, mussten man alles unternehmen nicht weiter aufzufallen, dachte sie, wandte ihren Blick auf ihr Hausaufgabenheft. Steffanie mit doppel-f wusste das auch. Sie lebte seit der siebten Klasse nach diesem Prinzip. Zumeist vergaß man, dass es sie gab. Sie wurde nicht gemieden, die Schüler redeten gelegentlich mit ihr. Wenn man zusammen in einer Gruppe mit ihr arbeiten musste, sträubte sich keiner – aber man wählte sie auch nicht freiwillig aus. Steffanie mit doppel-f war nur ein Schatten im Raum. Und einem Schatten stellte man keine Fragen. Fragen wie weshalb sie ein halbes Jahr gefehlt und deswegen die achte Klasse wiederholen musste. Wofür sie solange hatte auf Kur fahren müssen. Wie es ihrer süßen, kleine Baby-Schwester ginge, mit der man sie oft im Park spazieren sah. Was die Narbe auf ihrem Bauch war, die man vor dem Sportunterricht beim Umziehen manchmal sehen konnte. Ob sie überhaupt wüsste, wer der Vater wäre. Bibby fiel auch nicht mehr auf. Das letzte Mal, als sie Paris ihren Spitznamen gegeben hatte. Bibby mischte sich in die Menge, gehörte in jede Gruppe ohne dazu zugehören. Sie redete nicht schlecht über andere, hielt den Mund, wenn sie nichts zu sagen hatte, saß am Tisch im McDonalds, trank ihren Milchshake und lächelte unschuldig. Sie wirkte langweilig, eintönig, dumm – aber auf unaufdringliche Weise. Hinter ihrem Lächeln allerdings verbarg sich ein drogenabhängiger Bruder, eine kaputte Mutter, die nicht wusste, was sie mit ihrem Sohn machen sollte und ein erbarmungsloser Vater, der ihn auf die Straße geworfen hatte. Ihre Augen wanderten zum dunkelhaarigen Mädchen, das allein an ihrem Tisch saß und die Hausaufgaben von Paris kopierte, lächelnd aufsah, als sie von Max angerempelt wurde, der sich mit einem charmanten Grinsen entschuldigte, sie dann auf einen Fehler in ihrem Heft aufmerksam machte. Sie war sein neues Ziel. Würde sie sich auf ihn einlassen, würde sie auffallen. Aber Bibby war intelligent genug, nicht auf seine Annäherungsversuche zu reagieren. Mittlerweile gehörte sie auch zu denen, die nicht auffallen durften. Nicht, dass sie es jemals getan hatte. Sie veränderte ihre Frisur einmal im Jahr, zu etwas pflegeleichtem, zu etwas durchschnittlichem, das weder gerade in noch seit langen out war. Sie hatte keinen definierten Kleidungsstil, trug keine T-Shirts oder Hosen, die durch Zeichen ein gewisses Statement setzten. Ihr Rucksack war unverändert, wie sie ihn sich damals gekauft hatte – nicht durch Buttons oder Patchs verziert. Ihr Zimmer war nichtssagend. Sie hatte keine Poster an den Wänden, keine Fotos in Bilderrahmen. Ihre Bücher waren unter ihrem Bett versteckt, gleich neben ihren CDs und dem tragbaren CD-Player, aus dem sie durch Kopfhörer Musik hörte. Sie hatte Serien im Fernsehen gesehen, selbst wenn sie sich nicht dafür interessiert hatte, nur um mitreden zukönnen. Sie hatte immer dazugehören wollen, selbst wenn sie sich hinter einer Maske hatte verstecken müssen. ~ Fortsetzung folgt Kapitel 6: ----------- Sie wusste nicht wie lange sie nahezu reglos auf dem Gehweg gestanden hatte, bis sie sich in die Hocke gesetzt, das langsame und morbide Treiben beobachtet hatte. Sie wusste nicht, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war, seit ein Fahrradfahrer sie fast umgefahren hätte, sie wüst beschimpft hatte und dann einfach weitergefahren war. Wie lange es schon her war, dass jemand mit einem Hund an ihr vorbeigegangen war und dann ein zweites Mal der gleiche Hund an ihrer Hand geschnüffelt hatte, als er nun in die entgegengesetzte Richtung zurück lief. Wusste nicht, wie viele Menschen einen kurzen Moment inne gehalten haben, um zu fragen, ob alles in Ordnung wäre und sie nur mit einem abwesenden <:ja:> geantwortet hatte, ohne aufzusehen. Sie wusste nicht, dass Nacktschnecken Kannibalen waren. Ihre Augen waren fixiert auf unzählige schleimige Wesen, die sich auf die zerfahrenen oder zerstampften Kadaver ihrer Artgenossen stürzten, nicht einmal registrierten, dass sie dabei beobachtet wurden – vielleicht bemerkten, aber nicht beachteten. Ihr Wissen über Schnecken war begrenzt. Waren sie überhaupt intelligent genug die Anwesenheit eines Feindes zu bemerken? Aus den Büschen tauchten weitere Schnecken auf, krochen in monotonen Bewegungen über den noch vom Morgentau feuchten Teer des Gehweges. Über die Kadaver bildeten sich lebende Hügel, Schnecken die übereinander krochen, ein wüstes Knäuel bildeten, dass man nicht mehr entwirren konnte. Sie musste an Silvia denken. An die Jungs aus ihrer Klasse, während sie beobachtete, wie sich das Knäuel schon bald auflöste, die Wesen getrennte Wege gingen, einen kleinen feuchten Fleck auf dem Boden zurückließen und zur nächsten Futterstelle schlichen. Es waren zwei Stunden vergangen. Sie hätte jetzt Geschichte mit Herrn Augustine, der einzige Lehrer, der tatsächlich etwas zu taugen schien. Sie richtete sich aus der Hocke auf, sah sich einen Moment nachdenklich um, bevor sie sich umdrehte, den Spielplatz anvisierte, der mittig auf dem Weg zur Schule lag. Wäre sie mit dem Bus gefahren, wäre sie pünktlich gekommen, aber sie fuhr nicht mehr mit dem Bus, hielt die stickige Luft, das Gekreische anderer Menschen nicht mehr aus. Kapitel 7: Die es mit ihrem Hund trieb -------------------------------------- Sie hatte im Sportunterricht am Seitenrand gesessen, als sie es zum zweiten Mal hörte. Sie hätte es vielleicht unterbinden können, doch ihre Augen waren stur auf den Holzboden gerichtete, Knie fest an ihren Oberkörper gepresst. Es war auf dem Schulhof gewesen, als sie es zum dritten Mal hörte. Vielleicht hätte sie etwas sagen sollen, doch die anderen waren älter und größer und bekannter. Sie rauchten am Schultor und lachten gehässig, als sie an ihnen vorbei ging. Viagra selbst hatte es gesagt, als sie es zum vierten Mal hörte, kurz vorm Unterricht, als sie auf ihrem Stuhl gesessen hatte, mit ihrem Füller irgendetwas auf das Heftcover kritzelte ohne wirklich die Figuren entziffern zu können. Viagra hatte sich auf ihren Stuhl fallen lassen und sich darüber beschwert, wer so ein böswilliges Gerücht in die Welt setzen könnte. Sie schien nicht sonderlich wütend, eher überrascht, während sie lachend tönte, dass sie genug Auswahl an Männern hätte. Das Gerücht hielt sich verbissen lange. Sie hörte es unzählige Male; wenn sie sich Fruchtmilch kaufte, wenn sie am Essensplan stand und überlegte, ob ihr Magen an dem Tag das Kantinenessen vertrug oder nicht, wenn sie sich in der Mädchenumkleide umzog, auf Toilette die Hände wusch oder auf den Beginn einer Unterrichtsstunde wartete. Viagra ließ die verachtenden, feindseligen Worte einfach an sich abprallen, hatte augenscheinlich keinerlei Probleme mit ihrer geschmacklosen Situation, mit abartigen Zeichnungen am schwarzen Brett, die zumeist von Klassenkameraden abgerissen wurden, bevor Viagra sie überhaupt zu Gesicht bekam. Sie wandte ihren Blick von der Blondine, die nun allein im Klassenraum saß, den Blick gesenkt und mit einer Hand über das Gesicht wischte, die ungewohnte Stille in dem Raum nur durch kaum hörbare Schluchzgeräusche unterbrochen, in der freien Hand ein aus dem Müll geholtes Stück Papier. Viagra war vorlaut. Sie redete oft über Themen, die keiner hören wollte, prahlte über Nichtigkeiten. Sie spottete über die prüden Mädchen, provozierte mit Worten und Kleidung und machte sich nichts aus Autorität. Ihre bunt manikürten, harten Fingernägel takerten auf dem Schreibtisch, wenn immer sie gelangweilt war, sie flirtete mit allem, was nicht bei drei auf den Bäumen war, sie vergaß ständig ihr Handy auszuschalten und attackierte die, die sie nicht mochte mit verbaler Peitsche. Aber als Cindy beschuldigt wurde, einen I-Pod geklaut zu haben, war sie die erste, die sie verteidigte. Als ein Obdachloser auf offener Straße verprügelt wurde, war sie die einzige, die dazwischen gegangen war. Als die fette Elke von Älteren harsch beleidigt wurde, hatte sie diese sofort in Schutz genommen. Sie mochte Viagra. Weshalb sie nicht verstand, warum sie nichts unternommen hatte, als sie das Gerücht zum ersten Mal gehört hatte. Als es ohne ihr Wissen ihren eigenen Mund verlassen hatte. ~.~.~ Das nächste Kapitel wird bombe... bombe im Sinne von lang. Ich arbeite schon seit einiger Zeit daran und es ist eigentlich eines der wichtigstens, wenn nicht sogar das wichtigste Kapitel in dieser Story. Markus-Action, oder überhaupt mal action, yai! ^^v Ich schreib gern über Leon und Markus, aber Leon ist kaum wichtig für die Handlung, von daher darf man (ich)'s nicht so übertreiben... >_> Wie Yu meinte, ich sollte denen eine eigene Geschichte widmen... Ich sollte auch den anderen einen One-Shot widmen. XD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)