Götterdämmerung von 35M3R0D ================================================================================ Kapitel 5: Workhouse -------------------- Ciel POV Ciel schleppte mit einem Gesichtsausdruck, der Abscheu nicht bloss ausdrückte, sondern regelrecht personifizierte, einen grossen Mehlsack durch die dreckige Küche. Vom Rest des Personals war keine Hilfe zu erwarten, denn das machte schon seit Beginn seines Aufenthalts hier einen grossen Bogen um ihn - nicht, dass das relevant gewesen wäre, er war schliesslich nicht hier um Freunde zu finden. Folglich schaute er bewusst nicht auf, als er ihr verhaltenes Getuschel vernahm. Wahrscheinlich machten sie sich nur wieder lustig über ihn, weil ihm dieser einzelne Sack so viel Mühe bereitete. Stoisch schleifte er ihn weiter in Richtung Vorratskammer. Neben den hämischen Blicken des Küchenpersonals ruhte aber auch noch einer auf ihn, dessen Ausdruck nur als mitleidig beschrieben werden konnte. Agni stand am Herd vor seinen dampfenden, zischenden Töpfen und versuchte nicht allzu auffällig in seine Richtung zu linsen. Ciel verzog den Mund und wischte sich mit einer fahrigen Geste über die verschwitzte Stirn. Es ärgerte ihn, wenn der Inder ihm dabei zusah, wie er sich hier abmühte. Nicht, dass er erwartete, dass Agni eingriff. Nein! Aber es widerstrebte ihm, dass überhaupt jemand, der ihn als Earl Ciel Phantomhive kannte, so zu sehen bekam. In gewisser Weise war es schon ironisch, dass Agni jetzt sein Vorgesetzter war, denn als Koch stand es ihm natürlich zu, dem Küchenpersonal Anweisungen jeglicher Art zu geben. Selbstverständlich bemühte er sich, sie Ciel gegenüber so neutral wie möglich zu halten, aber das war nicht immer einfach, wenn sie nicht noch mehr anecken wollten. Und genau das war der Grund, warum Ciel sich mit dem Workhouse von Anfang an schwerer getan hatte als mit dem Hafen. Als Hafenarbeiter waren sie gleichgestellt gewesen und es war auch nicht so aufgefallen, wenn Agni ihm immer mal wieder die eine oder andere Sache abgenommen hatte, aber hier auf so engem Raum, sah jeder alles. Es war beinah unmöglich, den neugierigen und alles-beurteilenden Blicken des Personals auszuweichen oder zu verbergen, was man wirklich fühlte. Besonders den Ekel zu überspielen war schwierig… Ein Räuspern durchbrach seine Gedanken. Hinter ihm stand Agni, der mit leicht betretenem Gesichtsausdruck auf den Mehlsack schaute. Ciel durchbohrte ihn mit seinem Blick, unterliess es aber etwas dazu zu sagen, als der Inder sich bückte, den Sack auf seine Schulter lud und schliesslich mit langen Schritten die Vorratskammer ansteuerte. Ciel ging ihm hinterher und beobachtete dabei ganz genau, wie Agni die Last des Sackes mit nur einer Seite ausbalancierte. Zudem hing der Arm, den er nicht zum Tragen gebrauchte, völlig regungslos an seiner Seite herunter. Es war offensichtlich, dass die Verletzung, die Bull ihm beigebracht hatte, immer noch schmerzen musste - was sonst würde diese einseitige Belastung erklären -, aber Ciel hatte beschlossen, sich nicht weiter mit dem Thema auseinander zu setzen. Agni hatte nach jener Nacht, als sie bei Lau aufgeschlagen waren, nie mehr etwas verlauten lassen oder sich gar beklagt. Also würde Ciel ihn auch nicht darauf ansprechen. Es war nicht seine Art. Mit einem dumpfen Geräusch landete der schwere Sack auf einem seiner Artgenossen. Die aufgestobene Mehlwolke umhüllte Agni, der vergeblich versuchte sich das weisse Pulver aus seiner Kleidung zu klopfen. Ciel entging nicht, dass er auch dazu bloss eine Hand benutzte. „Herr, wenn es Euch nicht zu viele Umstände bereitet, möchte ich Euch bitten nachher auf den Markt zu gehen und ein paar Dinge zu besorgen.“ Er zog einen kleinen Zettel aus seiner Hosentausche und hielt ihn sorgfältig gefaltet Ciel entgegen. Dieser nahm ihn und warf einen flüchtigen Blick auf die Liste, bevor er schliesslich nickte. Er wusste, dass dies wieder einer jener Momente war, wo er Agni hätte sagen sollen, dass es nicht nötig war, ihn derart höflich um etwas zu bitten. Aber er tat es nicht, stattdessen steckte er den Zettel einfach ein und nickte noch einmal. „Ich werde gleich gehen. Ich bin sowieso froh, wenn ich hier rauskomme.“ ~~~ Ciel liess seinen Blick kritisch über die aufgereihten Waren gleiten. Das meiste davon sah nur noch so mässig frisch aus und widersprach sowieso grundsätzlich seiner Vorstellung von dem, was zu einem richtigen Dinner gehörte. Wenn ihm Sebastian Zuhause so was angeschleppt hätte, dann… Ciel biss sich auf die Zunge. Jetzt hatte er schon wieder Vergleiche mit dem Butler gezogen. Er wusste, er sollte es nicht. Und vor allem wollte er es nicht! Er wollte nicht mehr Gedanken an seinen dämonischen Butler verschwenden als unbedingt nötig. Unbewusst griff er nach einem Apfel und begann ihn in seinen Fingern herumzudrehen. Die alte Verkäuferin des Obststandes lächelte ihm freundlich entgegen, konnte damit aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich wohl dringlichst erhoffte, etwas zu verkaufen. Ciel legte ihr kommentarlos ein paar Pence hin und ging dann weiter. Den Apfel steckte er in seine Hosentasche. Agni hatte keine Äpfel auf seiner Liste gehabt, also hatte er gerade Geld ausgegeben, das nicht seines war. Aber er wusste, dass der Inder es ihm verzeihen würde; genauso wie er ihm auch alle anderen Eigenheiten verzieh. Er war schliesslich der Herr. Ciel holte den Zettel wieder hervor und liess seinen Blick noch mal über die Liste schweifen. Eigentlich hatte er jetzt schon fast alles zusammen, einzig Ingwer fehlte ihm noch. Um ehrlich zu sein, bezweifelte er, dass man auf einem solchen Markt Ingwer finden konnte. Es war nicht der Ort dafür. Die Leute, die hier einkauften, aber auch verkauften, waren zu arm, um sich Gedanken über Gewürze zu machen. Seufzend liess er seinen Blick über die Marktstände gleiten. Dort am anderen Ende war die Fischabteilung, deren Geruch ihn selbst an seinem momentanen Standort beinah zu erschlagen drohte. Sie war zu einem weiteren Ort geworden, um den Ciel einen grossen Bogen machte, wenn es sich denn irgendwie einrichten liess. Hier im Teil für Früchte und Gemüse hielt er es gerade noch knapp aus, aber der Markt war ihm gesamtheitlich fast so unangenehm wie das Workhouse. Es fiel ihm schwer einzukaufen, weil ihm nichts von den angebotenen Waren als wirklich gut genug erschien. Zudem störte er sich an den drängelnden und schubsenden Menschenmassen, dem Lärm und an den bereits erwähnten Gerüchen. Stetig verfolgte ihn das Gefühl beobachtet zu werden. Es war eine nagende Angst, die sich im Bild eines Paares von Augen manifestierte, welches, verborgen in der anonymen Masse, ihm auf Schritt und Tritt folgte. Ciel hatte es lang schon aufgegeben sich umzudrehen und nach dem Beobachter zu suchen. Er fand ihn sowieso nie. Aber das Gefühl war da, immerzu. Es verfolgte ihn. Er schlenderte weiter. Eigentlich hatte er den Ingwer mental schon aufgegeben, aber er wollte wenigstens so tun, als bemühte er sich darum. Seine Schritte leiteten ihn unbewusst zum anderen Ende des Marktes – dasjenige, das am weitesten entfernt vom Fischmarkt war – wo die Auswahl der Waren weniger Richtung Lebensmittel ging, sondern vielmehr als „wahllos zusammengewürfelter Ramsch“ zu bezeichnen war. Ciel verzog das Gesicht, als ein übereifriger Verkäufer ihm ein Paar uralte Schuhe entgegenstreckte, die angeblich noch in tadellosem Zustand seien und ihm gewiss perfekt passen würden. Er ging kommentarlos weiter. Die Anzahl der Stände hier war, verglichen mit der Lebensmittelabteilung, eher gering, dafür wirkten sie aber umso überladener. Kleider, Stoffe, Hüte, alles erregte den Anschein als sei es vor langer Zeit einmal in keinem so schlechten Zustand gewesen, doch jetzt, am Ende ihrer Laufbahn angekommen, lagen sie alle aufgestapelt und übereinander geworfen auf einem Marktstand am Londoner East End und erhofften sich noch ein letztes Mal für den Bruchteil ihres ursprünglichen Preises verkauft zu werden… Wie erbärmlich. Wirklich. Es war der Moment, in dem Ciel befand, dass dieser Teil des Markes noch schlimmer war als die anderen. Und er wäre auch in der Tat kurz davor gewesen sich umzudrehen und den Markt dieses Mal endgültig zu verlassen, hätte er nicht aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen. Ein Junge war an den Schuhverkäufer herangetreten. Er legte ihm ein paar Münzen in die Hand und kaufte das Paar Schuhe, das dieser vorhin noch Ciel hatte andrehen wollen. Eigentlich eine ganz normale Begebenheit, wäre da nicht die kleine Sache gewesen, dass der Junge Ciel unangenehm bekannt vorkam. Eine magere Erscheinung, heruntergekommene Kleidung, struppiges, aschblondes Haar, das von einer Mütze halb verdeckt wurde, eigentlich war er sich fast sicher…. Der Junge bedankte sich bei dem Verkäufer und schlug dann den Weg in die andere Richtung ein. Ciels Blick klebte noch immer an ihm, und dann, ohne es wirklich zu bemerken, begannen seine Füsse sich in Bewegung zu setzen und ihm zu folgen. Die Schritte des Jungen waren gleichmässig, aber trotzdem relativ zügig. Er wich den vielen Menschen geschickt aus und bewegte sich dabei so behände durch die schmalen Gassen, dass es Ciel fast ein wenig schwer fiel mit ihm mitzuhalten. Erst als ihre Umgebung wieder etwas ruhiger wurde, verlangsamte sich sein Tempo. Seine Schritte strebten zwar nach wie vor vorwärts, aber seine Aufmerksamkeit hatte sich jetzt auf das alte Paar Schuhe gerichtet. Im Laufen fingerte er an den Schnürsenkeln herum und wäre dabei beinah über irgendwelchen am Boden herumliegenden Unrat gestolpert. Ciel hob kritisch die Augenbraue, doch den Jungen schien der Strauchler kaum zu kümmern, denn er ging, immer noch voll auf seine Fingerarbeit konzentriert, weiter. Schliesslich warf er sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck die Schuhe über die Schulter. Sie waren jetzt an den Schnürsenkeln verknotet und baumelten bei jedem Schritt hin und her. Sein Tempo beschleunigte sich wieder. Während Ciel den Rücken des Jungen musterte, kam ihm kurz der Gedanke, dass die Schuhe doch eigentlich viel zu gross für ihn sein mussten. Sie sahen aus, als wären sie für einen erwachsenen Mann gemacht, der Junge war aber gewiss nicht älter als Ciel, wahrscheinlich sogar eher jünger. Diese riesigen Treter sahen eher so aus als würden sie vielleicht jemandem wie Sebastian passen…. Kaum hatte Ciel den Namen gedacht, hätte er sich auch schon wieder dafür ohrfeigen können. Warum konnte er sich einfach nicht daran halten, seinen elenden Butler zu ignorieren?! Es konnte ihm schliesslich egal sein, wenn der dumme Strichjunge Schuhe kaufte, die ihm sowieso zu gross waren… Beinah als hätte jener das gehört, hielt er an und drehte sich um. Er musterte Ciel kurz und begann dann zu grinsen. „Du! Und ich hatte schon befürchtet, sie hätten euch doch noch gekriegt. Wo ist dein indischer Freund?“ Ciel kam sich einen Moment lang ertappt vor. Eigentlich wusste er selbst nicht so recht, warum er dem Strichjungen überhaupt hinterher gegangen war. Er war einfach diesem seltsamen Impuls gefolgt. Dass dieser ihn ebenfalls gleich auf den ersten Blick wiedererkannt hatte, warf ihn jetzt leicht aus der Bahn. Er gab also keine Antwort, sondern zuckte stattdessen bloss mit den Schultern. Der Junge nickte. „Willst du mit mir kommen?“ Ciel schloss zu ihm auf, blieb aber bei etwa einem Meter Abstand stehen. „Wohin gehst du denn?“ „Zu meinen Freunden.“ Damit drehte er sich um und begann sich wieder in Bewegung zu setzen, dieses Mal jedoch mit deutlich langsamerem Schritt. Die Umgebung war ruhiger geworden, so dass ihre Fussschritte auf den verlassenen Gassen regelrecht nachhallten. Als der Strichjunge schliesslich in einen Hof einbog, verlor Ciel ihn für einen kurzen Moment aus den Augen. Sofort nahm er einen Satz, um aufzuschliessen, doch der Junge wartete gleich hinter der Biegung auf ihn und lächelte ihm bloss wissend entgegen. Ohne auf Ciels Verhalten einzugehen, machte er eine ausladende Geste und deutete auf den Hof hinter sich. Dieser war genau wie der Rest der Strassen heruntergekommen und von Unrat übersät, doch das war es nicht, was Ciels Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf dem kleinen Hof, an den wegen der hohen Mauern der benachbarten Häuser kaum direktes Licht drang, türmten sich Holzkisten. Sie formten lange, labyrinthartige Linien, deren Zwischenräume fast gänzlich im Dunkeln lagen. Für einen Moment kam Ciel sogar der Gedanke, dass die Kisten ihn an jene aus dem Lager am Hafen erinnerten. Aber er verdrängte den Gedanken schnell wieder, stattdessen fiel sein Blick auf die Schatten, die vorsichtig zwischen den Kisten hervorspähten. Misstrauisch beäugten sie den Neuankömmling, nur um dann zögerlich hervor zu kommen. Ciel erkannte ein paar der Jungen, die er schon am Hafen gesehen hatte. Sie mussten wohl so was wie eine Gang sein, die sich zusammengerottet hatte und jetzt hier herumtrieb. Eigentlich hätte ihm der Sinn danach gestanden abschätzig das Gesicht zu verziehen, aber er wusste, dass das keine gute Idee war. Sie waren zu viele, um ihren Unmut auf sich zu ziehen. Ausserdem zeigte schon die Mimik des vordersten der Jungen – er war ein stämmiger Kerl mit rundem Gesicht und knolliger Nase – dass man Ciels letzten Auftritt noch nicht vergessen hatte. Er steuerte direkt auf dem Strichjungen zu, der ihn geführt hatte. „Ian, was soll das? Warum ist er hier?“ Er deutete auf Ciel, ignorierte diesen ansonsten aber vollständig. Der Strichjunge – offensichtlich Ian – lächelte sein Gegenüber bloss milde an. „Ich hab ihn auf dem Markt getroffen...“ Der Rest des Satzes blieb offen, stattdessen nahm Ian die zusammengebundenen Schuhe von seiner Schulter und reichte sie dem grösseren Jungen. „Hier, ich hoffe, sie passen dir.“ Dieser schien hin- und hergerissen zwischen der Tatsache, dass er gerade beschenkt worden war und den bösen Blicken, die er Ciel zuwerfen wollte. Auch der Rest der Gruppe, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, näherte sich jetzt und schaute dem Neuankömmling skeptisch an. „Du hättest ihn nicht herbringen sollen“, meinte ein grosser, dürrer Rothaariger. „Ja“, stimmte ein weiterer mit ein, den Ciel nicht sehen konnte, weil es ihm zu auffällig erschien den Kopf nach dem Sprecher umzuwenden, „schliesslich ist er der Grund, warum wir nicht weiter am Hafen arbeiten können.“ Der Rest der Gruppe nickte bestätigend. Doch Ian schien sich davon nicht im Geringsten beeindrucken zu lassen, stattdessen ergriff er Ciels Unterarm. „Seid doch nicht so! Ich bin sicher …“, er schaute ihn auffordernd an, aber erst als die Pause auffallend lang geworden war, begriff Ciel, dass Ian seinen Namen wissen wollte. Für einen ganz kurzen Moment überkam ihn Panik. Bisher hatte ihn noch niemand hier nach seinem Namen gefragt, er war immer nur der Junge gewesen. „Vincent“, murmelte er ohne grossartig darüber nachzudenken und verwünschte gleich darauf was ihm über die Lippen gekommen war. „Vincent…“, wiederholte Ian. „Das klingt irgendwie unpassend, wie wär’s mit Vinny?!“ Er grinste und fuhr fort: „Also, ich bin sicher, dass Vinny keine bösen Absichten hatte. Wir wissen schliesslich alle, was für eine Missgeburt Bull ist. Vinny…“ Der Rest von Ians Gerede ging in Ciels Wahrnehmung unter. Er befand sich immer noch in einem leichten Schockzustand, dass er einfach den Namen seines Vaters missbraucht hatte. Er konnte selbst nicht verstehen, was ihn da überkommen hatte. Und sowieso, wieso war dieser Ian plötzlich so nett zu ihm? Es hatte schliesslich in der Lagerhalle eher so geklungen, als würde er Konkurrenz fürchten. Erfreute er sich jetzt vielleicht an der Tatsache, dass Ciel gescheitert war? Die Gesichtsausdrücke von Ians Freunden entsprachen nämlich viel eher dem, was er von einer Truppe herumstreunender, obdachloser Strassenjungs erwartet hätte. „Weißt du, Vinny, nachdem du und dein indischer Freund aus dem Hafen verschwunden seid, gab es einen ziemlichen Aufruhr. Es war die Rede davon, dass ihr Bull attackiert hättet und dass wir alle…“, er machte eine Geste, die sich und den Rest der Gang miteinschloss, „… mit euch unter einer Decke stecken würden. Es war also nicht mehr sicher für uns dort, wir musste den Hafen verlassen.“ Ciel verstand. Die vorwurfsvollen Gesichter schienen ihm plötzlich gar nicht mehr so unangebracht. Dabei war ihm aber immer noch nicht klar, warum Ian es ihm nicht so sehr nachzutragen schien wie die anderen… obwohl er versucht hatte ihn zu warnen. Wenn Ciel ganz ehrlich mit sich selbst war, hätte er eigentlich viel eher mit einem Hatte ich dich nicht gewarnt gerechnet, doch stattdessen verteidigte er ihn. Es war seltsam, da musste noch irgendetwas anderes dahinter stecken… „Deswegen würde mich interessieren, was wirklich passiert ist“, schloss Ian seine kleine Erzählung. Durch die Reihen der Jungen ging ein zustimmendes Nicken. Ciel musste schlucken. Er wusste nicht, was er ihnen erzählen sollte. Die Wahrheit schloss er von vornherein aus, aber sie im Glauben zu lassen, er hätte mit Bull dieselben Absichten gehabt hatte wie sie, widerstrebte ihm beinah noch mehr. Er war keiner von ihnen. Er war kein Strichjunge, selbst wenn ein paar schmierige Individuen dazu neigten, das anzunehmen. Unruhig verlagerte er sein Gewicht vom einen auf den anderen Fuss. Die Jungen schauten ihn immer noch abwartend an. „Ich…“, er druckste herum. „Bull ist das Temperament durchgegangen, nicht?“, half Ian nach. Ciel nickte. „Ich habe nach Hilfe gerufen und A…Agni ist gekommen…“ Es schien unnötig zu erläutern, dass Agni der Inder war. Aber vielleicht hätte er seinen Namen auch lieber verschweigen sollen… „Und weiter?“ „Sie haben gekämpft, und schlussendlich sind wir geflohen…“, endete er, dabei allerdings immer ausweichend die Holzkisten anstarrend. Ciel war wohl nicht der einzige, dem bewusst war, wie oberflächlich seine Erklärung war, denn aus der Reihe der Jungen ertönte plötzlich eine Stimme, die vorwurfsvoll nachhakte: „Was wolltest du denn überhaupt von Bull?“ „Ja“, stimmten die anderen mit ein und nickten. Es war die Frage, die Ciel gefürchtet hatte. Betreten wich er ihren Blicken aus, bis Ian schliesslich abwinkte. „Na, Leute, jetzt lasst Vinny doch mal in Frieden. Er hat ja schon gesagt, dass er nichts Böses im Sinn hatte.“ Hatte er eigentlich nicht, trotzdem kam Ciel nicht umhin, aufzusehen und mit Ians grinsendem Gesicht konfrontiert zu werden. „Ich sollte langsam wieder gehen“, meinte er kleinlaut. Ian nickte und durch die Reihe der Strassenjungen ging ein ärgerliches Grummeln. Sie waren nicht zufrieden mit dem, was Ciel erzählt hatte. Aber das wäre er an ihrer Stelle auch nicht gewesen. Er wandte sich zum Gehen. „Du kannst jederzeit wieder herkommen“, meinte Ian, der ihm zum Abschied freundlich winkte. Ciel glaubte nicht, dass die anderen seine Meinung teilten. ~~~ Agni POV Schwerfällig nahm er die Hand von seiner Schulter. Sie tat weh. Eigentlich tat sie immer weh, aber gegen Abend war es tendenziell schlimmer. Er warf einen Blick aus dem verdreckten, kleinen Fenster. Der junge Earl war spät und das liess Agni konsterniert die Stirn in Falten legen. Er wusste, er hätte ihn nicht allein einkaufen schicken sollen. Der Markt war zwar nicht weit entfernt, aber er hätte es trotzdem nicht tun sollen. Nachdem er ihn die ersten paar Male noch begleitet hatte, hatte der Earl irgendwann darauf bestanden, allein zu gehen. Es würde zu viel Aufmerksamkeit erregen, wenn der Koch extra mit dem Küchenjungen zum Markt ging, hatte er gesagt. Natürlich hatte er recht gehabt, aber es widerstrebte Agni seinen jungen Herrn allein den Gefahren von Londons East End auszusetzen. Mit einem Seufzen auf den Lippen wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der köchelnden Brühe in dem grossen Topf vor sich zu. Er rührte um und probierte dann etwas. Das Essen, das er hier im Workhouse auftischte, war keine geniale indische Küche, nein, es war viel eher behelfsmässig und simpel. Für seinen Prinzen hätte es nie genügt, aber da er hier hauptsächlich für das Workhouse Personal kochte, war es ausreichend. Sie lobten sein Essen sogar. Und Ciel sagte sowieso nie etwas. Dieser Gedanke allein genügte, um Agni einen kleinen Stich in die Magengegend zu versetzen. Manchmal wünschte er sich, der junge Earl würde ihn dazu anhalten sich mehr Mühe zu geben… Noch während er umrührte, glitt sein Blick wieder zum Fenster. Auch wenn er es für eine schlechte Idee hielt, den Earl allein zu lassen, hatten die Zeiten, in denen dieser abwesend war, auch ihre Vorteile. Agni nutzte sie nämlich mehrheitlich dazu, sich um seine verletzte Schulter zu kümmern. Er wollte nicht, dass Ciel mitbekam, wie er die Verbände wechselte oder Salbe auftrug. Der Junge hielt ihn sowieso schon für schwach, da musste er diese Schwäche nicht auch noch vorgeführt bekommen. Obwohl der Earl damit nicht falsch lag. Denn wenn Agni ehrlich mit sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er die Schwäche jeden einzelnen Tag verspürte… denn jeden einzelnen Tag sehnte er sich nach Erlösung. Er schämte sich dafür, aber er wünschte sich, diesen wüsten Teil Londons endlich wieder verlassen zu können, die Schmerzen in seiner Seele und seiner Schulter zu lindern und in die heile Welt, deren Kern- und Angelpunkt sein Prinz war, zurückzukehren. Er seufzte noch einmal tief, während sein Blick auf der blubbernden Brühe haftete. Noch immer keine Spur von Ciel. Es besorgte ihn, wenn der junge Earl so lang ausblieb. Gleichzeitig flüsterte die kleine Stimme in seinem Hinterkopf, dass, wenn er von vornherein gewusst hätte, dass er solange allein sein würde, er die Zeit hätte nutzen können… Obwohl, tagsüber ging er ja eigentlich nie dahin. Ein weiterer beschämender Gedanke, es überhaupt in Erwägung zu ziehen, denn normalerweise ging er nur nachts, wenn sein neuer Herr schlief. Er tat es nicht regelmässig, nur wenn die Schmerzen besonders schlimm waren. Und wenn er sicher war, dass Ciel nichts davon mitkriegte. Es schmerzte ihn zutiefst sich wieder einem solchen Laster hingegen zu haben. Denn nachdem er seinem Prinzen begegnet war, hatte er sich eigentlich von allen irdischen Versuchungen losgesagt. Jetzt wieder einem anheim zu fallen, bewies bloss wie verdorben seine Seele war. Und dennoch war jener Ort der einzige, der ihm Linderung verschaffte. Er hasste ihn! Hasste den Geruch, der immerzu in der Luft lag, und die kleinen Chinesinnen, die sich tröstend neben einem setzten, wenn man bereits zu gefangen war in ihrem Netz. Er wollte es nicht und trotzdem liess er ein jedes Mal zu, wenn sie ihm die kalten Mundstücke an die willigen Lippen setzten. Es war das einzige, das half zu vergessen… Hinter ihm klapperte etwas. Die Tür ging auf und Ciel trat herein. Agni war für einen Moment erschrocken darüber, so in Gedanken versunken gewesen zu sein, dass er den jungen Earl nicht hatte kommen sehen. Er musste sich wirklich zusammenreissen. „Willkommen zurück, junger Herr. Gab es irgendwelche Unannehmlichkeiten?“ Ciel schüttelte leicht den Kopf. „Nein, alles in Ordnung. Aber ich konnte keinen Ingwer finden.“ Agni nickte nur. „Es wird auch ohne gehen.“ Damit wandte er sich wieder seinen Töpfen zu, während Ciel hinter ihm die Einkäufe auspackte. „Gab es sonst irgendetwas Interessantes auf dem Markt? Ihr habt etwas länger benötigt als sonst üblich.“ Für einen Moment schien Ciel mit der Antwort zu zögern, doch dann entgegnete er bestimmt: „Nein, ich hab bloss sehr viel Zeit damit verplempert nach deinem Ingwer zu suchen.“ TBC A/N: Eine kleine Anmerkung zur Situation, besonders zum Thema Workhouse: Workhouses waren Einrichtungen, in denen Leute, die sich nicht selbst versorgen konnten, unterkommen konnten. Also Armenhäuser, wenn man so will. Wie der Name schon sagt, sollten die Workhouses für die Betroffenen aber nicht nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf bieten, sondern sie sollten dort auch arbeiten. Sie wurden allerdings oft als gefängnisähnliche Institutionen betrachtet, weil die Workhouses auch den persönlichen Lebenswandel kontrollierte. Es gab strenge Regeln und (körperliche) Strafen bei Verstoss gegen diese, die Art der verrichteten Arbeit wurde kontrolliert, zudem lebten Männer, Frauen und Kinder meist in voneinander getrennten Bereichen. Ciel und Agni sind allerdings nicht Insassen eines solchen Workhouses, sondern sie haben einen Job beim Personal ergattert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)