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Kurzgeschichten

von

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Kirschblüte

Alles begann mit einem Traum, bei dem man nicht weiter schlafen will. Ein Traum aus dem man lieber herausgerissen wird um der wesentlich erträglicheren Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Diese Wahrheit ist nicht immer schön. Dennoch wird sie besser als dieser Traum und auch besser als alle Träume dieser Art sein. Keine Mutter sollte solche Träume haben. Dies beschloß eine 35-jährige Frau und brach mit Zuversicht die Dunkelheit vor ihren Augen entzwei und öffnete ihre Augen einen Spalt breit…

Weißes grelles Licht blendete ihre Augen und sie konnte nichts erkennen. Das blendende Licht stach so sehr in ihren Augen, dass sie diese unmittelbar wieder schließen musste. ›So lange kann ich niemals geschlafen haben, dass sich meine Augen derart an das Licht gewöhnen müssen. Hoffentlich haben wir die Haltestelle nicht verpasst.

Sie riss erneut die Augen auf und setzte sich auf. ›Warum lag ich?‹ – auf die Antwort dieser Frage musste sie nicht lange warten. Sie erkannte, um sich herum allerlei Gerätschaften und einige laute Piepser drangen von der Seite in ihr Ohr. Sie war in einem Krankenhaus.

»Wo ist meine Tochter? Geht es ihr gut?« fragte sie, ohne sich umzublicken ob jemand in der Nähe war. Erneut überkam sie eine plötzliche Ohnmacht.
 

»Ich glaube sie ist wach. Überprüfen Sie ihr Befinden Schwester.« – »Ok Doktor.« Diese Stimmen kamen ihr seltsam vertraut vor. Sie schlug erneut ihre Augen auf, blieb aber diesmal liegen. »Sie scheint unversehrt zu sein, sie überkam wohl nur eine plötzliche Ohnmacht.« Sagte die Krankenschwester. »Lassen Sie uns bitte alleine und benachrichtigen Sie die Polizei über ihr Erwachen.« Der Doktor wendete sich nun seiner Patientin zu. »Sie haben mir aber einen großen Schrecken eingejagt. Selten muss ich eine meiner Krankenschwestern hier behandeln, wenn ich darüber nachdenke habe ich das noch nie getan, aber ich bin schon lange Arzt und kann mich sicher nicht an jeden einzelnen Angestellten und erst recht nicht an jeden einzelnen Patienten erinnern. Wie geht es Ihnen?« Sie erkannte ihn, er war ihr Chef. »Wo ist meine Tochter?«, mehr wollte sie im Moment nicht wissen. Es gab nichts was sie mehr interessierte. Es gab einfach niemanden der ihr wichtiger war. »Doktor! Wissen Sie es nicht oder wollen Sie mir nicht antworten?« sagte sie nun in einem strengerem Tonfall. Er holte tief Luft, schluckte und versuchte seine Worte im Kopf zurecht zu legen. »Sie wurde noch nicht gefunden. Die Rettungsmannschaften suchen weiter nach ihr.« – »Rettungsmannschaften? Erledigt das nicht normalerweise die Polizei? …Moment, welchen Tag haben wir heute? Wie lange war ich bewusstlos?« Sie setzte sich auf und wollte aus dem Bett springen. »Beruhigen Sie sich. Sie können jetzt nicht dort hin. Es ist noch alles voller Rauch und Feuer. In den Trümmern würden Sie niemanden finden, Sie würden sich nur verletzen und die Rettungsmannschaften von ihrer Arbeit abhalten.« – »Trümmer?« unterbrach sie ihn. »Sie waren nicht mehr bei Bewusstsein, als es passiert ist?« fragte der Arzt deutlich verwundert. »Als was passiert ist? Was meinen Sie damit, erzählen Sie mir bitte was los ist. Sagen Sie mir wo meine Tochter ist!« – »Ihr Zug mit dem sie gefahren sind,« er schluckte erneut, »er ist in Flammen aufgegangen und daraufhin entgleist. Sie sind bisher die Einzige die man dort gefunden hat. Nach weiteren Überlebenden wird gesucht, sowie nach den Ursachen des Feuers. Es besteht allerdings reichlich wenig Hoffnung.« Er legte seine Hand auf ihre Schulter, »Sie wurden als einzige gefunden. Damit mein ich nicht als einzige Überlebende, sondern als einzige. Es gab keine verbrannten Körper oder andere Zeichen auf die Anwesenheit weiterer Personen in diesem Zug.« Er holte tief Luft, »…und Sie haben nicht einmal einen Kratzer. Sie sind komplett unversehrt! Das hatte zunächst den Hilfskräften Hoffnung gemacht. Als sie allerdings nach weiteren Stunden ihrer Suche auf keine weiteren Anzeichen gestoßen waren und sie auch nicht das Feuer besiegen konnten wurde die Suche abgebrochen. Es suchen nun noch einige Freiwillige weiter, aber bisher auch ohne Erfolg. Es tut mir Leid, Sie sollten etwas zu sich nehmen, dann können Sie selbst entscheiden ob Sie sich dazu in der Lage fühlen sich mit den Behörden auseinander zu setzen.« Neben ihrem Bett auf einem kleinen Tisch stand ein Tablett mit ein paar hastig belegten Broten und ein Glas Orangensaft. »Darf ich die mitnehmen? Ich will gleich mit den Beamten sprechen wenn es geht. Meine Tochter muss da noch irgendwo sein. Sie saß neben mir im Zug.« – »Essen Sie es gleich hier und warten Sie einen Moment. Jemand von der Polizei wird Sie gleich abholen kommen.« Sie bedankte sich bei dem Doktor und griff nach einem der Brote. Eigentlich hatte sie keinen Hunger, da sie sich sehr um ihre Tochter sorgte. Andererseits wusste sie genau, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ein paar Bisse zu nehmen, da sie sonst sicherlich nicht lange bei Sinnen bleiben würde und auf der Suche nach ihrer Tochter somit auch keine Hilfe mehr wäre.
 

»Guten Tag, fühlen Sie sich einigermaßen?« Ein junger Polizist kam in ihr Zimmer. »Sind Sie bereit mit mir zum Präsidium zu fahren? Es gibt da einiges zu klären.« Er zwinkerte ihr freundlich zu und machte ihr einen recht sympathischen Eindruck. Sie nickte und stand auf. Ihre Glieder fühlten sich sehr erschöpft an, als hätte sie am Tag zuvor viel Sport getrieben und die Anstrengung wäre in den Muskeln und Gelenken hängen geblieben. Doch ließ sie sich nichts anmerken und fragte, »Darf ich mich vorher bitte noch umziehen? Wo sind meine Sachen?« Es war ihr Chef der antwortete. »Ihre Sachen sind ebenfalls verbrannt. Keine Anzeichen deren Existenz konnte ausgemacht werden. Ich begleite Sie noch bis Draußen, dann kann ich ihnen an der Garderobe meine Jacke geben oder haben Sie in ihrem Schließfach noch Wechselsachen?« – »Ja dort habe ich noch etwas, allerdings trug ich den Schlüssel mit an meinem Schlüsselbund und der war in meiner Handtasche.« Der Doktor versicherte ihr, dass dies kein Problem darstellen wird und sie verliessen den Raum. Als sie noch einmal zurück blickte fiel ihr Blick durch das Fenster, wo der kleine Kirschbaum zu sehen war, der gerade seine Blüten öffnete. Nachdem sie sich umgezogen und vom Doktor verabschiedet hatte ging sie mit dem Polizisten nach draußen, sie stiegen in seinen Wagen ein und fuhren eine ganze Weile bis zum Präsidium. Die vielen Blicke die auf sie geworfen wurden, als sie dem Polizisten durch das Präsidium zu seinem Büro folge, bemerkte sie garnicht. Es war ein kleiner ungemütlicher und unordentlicher Raum, wie sie es aus verschiedenen Fernsehserien kannte.

»Erzählen Sie mir bitte alles an das Sie sich erinnern können. Es ist egal wie absurd es vielleicht auch sein mag. Alles was mit ihrer Zugfahrt zu tun hat. Danach können Sie mir gerne ein paar Fragen stellen.« Seine plötzlich strenge Art erschreckte sie ein wenig, sie begann jedoch zu erzählen.

»Ich kann mich an nichts Ungewöhnliches erinnern. Wir lösten ein Ticket und stiegen ein. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, weiß ich nicht einmal mehr wohin wir eigentlich fahren wollten. Sie müssen verstehen, ich bin in Sorge wegen meiner Tochter, wie soll ich mich da richtig konzentrieren?« Er seufzte nur und sagte nach einer kleinen Weile, »Ich dachte Sie können mir vielleicht irgendwie weiterhelfen. Die ganzen Umstände sind so absurd, alles sieht danach aus, als wären Sie alleine und nackt in diesem Zug gewesen. Nicht einmal den Zugführer konnten wir entdecken oder Hinweise darauf, dass es ihn gegeben hat. Als Sie sich umgezogen haben, erzählte mir der Arzt was er ihnen bereits berichtet hatte, ich muss seine Aussagen leider bestätigen. Er hat mir auch von Ihrer Tochter erzählt und davon, dass Sie schon vor der Entzündung der Flammen bewusstlos waren.« Er kratzte sich am Kinn, grübelte eine Weile vor sich hin und schlürfte hin und wieder an dem Kaffee, den er sich aus einer Thermoskanne in einen kleinen Becher gekippt hatte. »Was kam Ihnen denn als erstes in den Sinn, als Sie ihr Bewusstsein wiedererlangt haben? Ich bin kein Psychiater, aber…« – »Ah!« unterbrach sie ihn, »Ich dachte ich wäre im Zug eingeschlafen. Ich hatte einen schlimmen Traum, den hatte ich vor Aufregung wegen meiner Tochter völlig verdrängt gehabt.« – »Worum ging es in diesem Traum?« frage er, seine Neugier sichtlich erweckt. Sie dachte einige Minuten nach. »Es ging um meine Tochter. Wir saßen im Zug, genau wie es auch wirklich war. Aber ich musste dringend auf die Toilette und habe sie gebeten kurz auf mich zu warten, da die Zugtoilette ganz in der Nähe von unserem Sitz war. Als ich, nachdem ich fertig war, die Tür wieder hinter mir schloß und mich wieder zu den Sitzplätzen begab, lief dort durch die Reihen ein Mann. Er blieb bei der Reihe wo auch meine Sachen noch zu erkennen waren und wo meine Tochter gesessen hat stehen und beugte sich über den Sitz wo ich gesessen hab zu meiner Tochter herunter. Ich konnte mich nicht rühren so sehr ich es versucht habe, so sehr ich es auch wollte. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, richtete sich danach wieder auf und kam auf mich zu. Er hat mir die ganze Zeit in die Augen gesehen, es kam mir vor, als hätte er mich mit seinem eisigem Blick an Ort und Stelle geheftet. Er ging an mir vorbei Streifte meine Schulter und verschwand hinter mir. Als er aus meinem Blickfeld verschwunden war, konnte ich mich wieder rühren, ich blickte mich nicht um, sondern ging schnellstens zu meiner Tochter. Doch sie saß nicht auf ihrem Platz. Ich wollte dem Mann hinterher doch als ich mich umgedreht hatte, stand da meine Tochter genau da, wo ich auch gestanden hatte. Doch das schlimmste war ihr Blick. Sie hatte die gleichen eisigen Blick wie der Mann… Dann bin ich aufgewacht und befand mich im Krankenhaus. Wie dumm von mir, dass mein erster Gedanke war, ob ich denn unsere Haltestelle verpasst hab und nun weiß ich nicht einmal mehr wo wir aussteigen wollten. Ich kann mich auch sonst an nichts erinnern. Ich will einfach nur meine Tochter wiederhaben!« – »Herr Inspektor,« sagte eine Frauenstimme auf einmal hinter ihr, »Sie haben endlich die Feuer gelöscht.« Die Frau verschwand wieder und der junge Polizist stand auf. »Ich muss jetzt noch einmal zum Unfallort. Sie können mich gerne begleiten, vielleicht fällt Ihnen ja dort wieder etwas ein, aber machen Sie nichts Unüberlegtes!« Sie nickte nur und stand ebenfalls auf.
 

Tränen liefen ihr aus den Augen, als sie den Unfallort sah. Sie haben schon vom Auto aus viele Trümmerteile entlang den Schienen neben der Strasse gesehen, aber der Ort wo die Einsatzkräfte hauptsächlich beschäftigt waren sah aus wie ein Schlachtfeld. Die Straße war aufgerissen und es war unmöglich mit dem Auto auf die andere Straßenseite zu kommen, ohne über Trümmerberge zu klettern. Der Zug muss nach dem entgleisen gegen den Damm gedonnert sein, auf dem die Straße verlief. Der Russ auf der Straße, auf den Schienen und überall dort wo einmal Gras war zeugte noch von dem Schlimmen Brand, der bis vor Kurzem noch tobte. Es lag jedoch kein Geruch von gebratenem Fleisch in der Luft, es stank widerlich nach verbrannter Elektronik.

Ein kleiner stämmiger Mann kam auf sie zu. Er gehörte wohl zu den Rettungstrupp der bis eben noch versucht hatte die Feuer zu löschen. »Herr Inspektor, die Spurensicherung war bereits hier und hat einige Proben mitgenommen. Wir konnten ja nicht herausfinden warum der Zug in Flammen aufgegangen ist und was dort eigentlich gebrannt hat. Es war so verdammt schwer zu löschen. Wissen Sie inzwischen was von den Vermissten? Haben Sie schon Leute auf Ihre These angesetzt?« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute den Polizisten an, »These? Was für eine These?« – »Ich würde eine Entführung nicht ausschließen.« Entgegnete ihr der Inspektor. »Wir haben keine Anzeichen auf Personen im Zug gefunden, bis auf Sie, also gehe ich davon aus, dass die Personen vorher den Zug verlassen haben. Ich glaube nicht, dass Sie allein in dem Zug waren, da Sie diesen nicht einmal hätten starten können. Augenzeugen die vorher ausgestiegen sind berichten uns, dass sich im Zug Personen befunden haben und niemanden ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Vierzig Personen, inklusive Ihnen 41 Personen können wir auf einer Liste verzeichnen, doch die Dunkelziffer wird um Einiges darüber liegen. Wir schätzen die Anzahl der Reisenden auf 120 Personen.« – »Aber Herr Inspektor,« warf der stämmige Kerl ein, »es können niemals 120 Personen auf dem Stück von der letzten Haltestelle hierher entführt worden sein. Wir wissen nicht einmal wie es möglich war den Zug so stark zu beschleunigen, dass dieser den kompletten Damm mitreißen konnte.« – »Es ist nur eine These die momentan leider noch mehr auf Hoffnung, als auf Fakten beruht. Bei einer Entführung können wir immerhin noch auf Überlebende hoffen. Vielleicht sind auch alle unversehrt. Wie Sie überleben konnten wird uns wohl weiterhin ein Rätsel bleiben.« Den letzten Satz wendete er an die Frau, der wieder die Tränen in den Augen standen. »Sie können uns jetzt nicht weiter helfen. Ich bringe Sie nach Hause und lasse Sie es als Erste wissen, wenn wir Neuigkeiten über Ihre Tochter haben. Seien es nun gute oder schlechte.« Der Inspektor begleitete sie zurück zum Wagen und öffnete ihr die Beifahrertür. Im Wagen nahm er ihre Personalien auf und sie ließ sich seine Handynummer geben, falls ihr doch noch etwas einfallen sollte.
 

Er ließ sie direkt vor ihrer Haustür aussteigen. Es war noch Nachmittag, trotz dass so viel an diesem Tag geschehen war, ist die Zeit nicht schnell vergangen. Die Treppe hinauf zur Eingangstür war übersäht mit Kirschblüten die von dem Baum nahe der Strasse herabfielen wie Schnee. Zum Glück hatte sie ihren Ersatzschlüssel in ihrem Schließfach im Krankenhaus. Sie wusste, dass man sie im Notfall dort auch ohne ihren Schlüssel hereinlassen würde. Doch nie hätte sie gedacht es unter solchen Umständen zu brauchen. Während sie die vielen Treppen nach oben stieg kam ihr die Welt so unwirklich, ja sogar sinnlos vor. ›Wo ist meine Tochter? Was soll ich nur ohne sie machen?‹ Immer wieder dachte sie über diese beiden Fragen nach, auf die sie keine Antwort fand. Der Weg die Treppen rauf zu ihrer Wohnung kam ihr so unendlich lang vor, dass sie sich zwischendurch auf die Treppe setzen musste um eine Pause einzulegen.

Oben angekommen steckte sie ihren Wohnungsschlüssel in die Tür und drehte ihn. Sie drehte ihn ganz langsam aus Angst davor in eine leere Wohnung zu treten wo normalerweise ihre Tochter auf sie wartet. Wo sie darauf wartet, dass ihre Mutter heim kommt um ihr bei dem Rest ihrer Hausaufgaben zu helfen, die sie nicht verstanden hat… Tränen schossen ihr erneut aus den Augen und sie öffnete die Tür.

Dort stand sie. Im Rahmen der Küchentür, genau gegenüber der Wohnungstür. Ihre Tochter. Die Kleine hatte noch immer den eisigen Blick, den sie auf ihre Mutter richtete. Diese jedoch fiel vor ihrer Tochter auf die Knie und nahm sie in den Arm. »Wo hast du nur gesteckt? Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt - weißt du das?« Doch die Tochter sagte nichts und rührte sich auch nicht. Nach ein paar Minuten ließ die Mutter ihre Umarmung locker, blieb jedoch auf dem Boden vor ihrer Tochter gekniet. »Was ist los mit dir?«

Beide blickten sich direkt in die Augen. Die Kleine wendete ohne ihren nichtssagenden Gesichtsausdruck zu verändern den Blick ab, ging an ihrer Mutter vorbei und setzte sich an den Esstisch im Wohnzimmer. ›Vielleicht steht sie unter Schock, aber wie ist sie hier her gekommen? War es doch kein Traum, hat der Kerl im Zug sie hergebracht? War er der Entführer? Ist derjenige vielleicht noch in der Wohnung?‹ Sie stellte sich viele Fragen auf einmal. Eine seltsamer als die andere. Es waren keine Einbruchsspuren zu entdecken, ebensowenig ein Entführer, so sehr sie die ganze Wohnung auch untersuchte. »Hast du Hunger meine Kleine?« fragte sie, doch wieder zeigte ihre Tochter keinerlei Reaktion. »Ich mach dir etwas schnelles, wir sollten uns heute zeitig ins Bett legen, es war ein harter Tag.« Sie ging in die Küche und setzte einen Topf mit Wasser auf. Währendessen ging sie zum Telefon und wählte die Nummer des Inspektors. Als dieser keuchend abnahm hörte man Schreie im Hintergrund. »Herr Inspektor,« brach aus ihr direkt heraus ohne abzuwarten wer sich meldet »meine Tochter ist hier. Sie war hier bei mir in der Wohnung.« – »Gott sei dank. Wie geht es ihr?« fragte der Inspektor, »Ihr geht es gut, ich kann keine Verletzungen finden. Selbst ihr rosa Kleid ist sauber und es scheint ganz zu sein. Sie benimmt sich nur etwas komisch, aber ich denke das es wird morgen wieder besser sein. Was sind das für Schreie im Hintergrund? Ist bei Ihnen alles in Ordnung, haben Sie Neuigkeiten?« – »Ich wollte Sie eben anrufen. Wir haben etwas Schreckliches erhalten. Über dem Zug flog ein Hubschrauber der Presse, die den Vorfall aufgenommen hatten. Sie wollen es heute Abend noch in den Nachrichten bringen. Deswegen haben sie die Bänder erst so spät rausgerückt. Es ist grauenvoll. Alle sind verbrannt. Komplett! Es ist nichts von ihnen übrig geblieben. Wir haben die Videos noch nicht komplett durchgearbeitet, sie sind sehr unscharf. Leider können wir nichts dagegen unternehmen und sie werden heute Abend auf Sendung sein. Wahrscheinlich die darauf folgende Woche ebenfalls.« Vor Schreck ließ sie das Telefon fallen und sie atmete ganz flach. Im Hintergrund hörte sie das Wasser aus der Küche kochen. Sie hob den Hörer auf, »Herr Inspektor, danke für Ihre Hilfe, ich denke ich werde mich morgen noch einmal melden, aber ich brauch jetzt erst einmal meine Ruhe, vielleicht brauchen Sie meine Hilfe bei den Videoband. Vielleicht erinnere ich mich ja wieder an etwas. Ich werde jetzt mit meiner Tochter noch etwas essen und dann legen wir uns schlafen, dann habe ich morgen hoffentlich einen klaren Kopf.« – »Ok, das klingt vernünftig. Melden Sie sich morgen, wenn Sie sich dazu bereit fühlen. Ihre Hilfe ist uns sehr willkommen.« Sie beendete das Gespräch und ging in die Küche und schüttete den Inhalt einer Tüte in den Topf. Fertignudelsuppe, nichts besonderes, aber für Tage wie heute einfach unentbehrlich. Als die Suppe fertig war, setzte sie sich mit zwei vollen Tellern und zwei Löffeln zu ihrer Tochter. Sie schien die ganze Zeit regungslos dort gesessen zu haben. Stillschweigend, machten sich beide über die Suppe her, gingen ins Bad und dann zu Bett.
 

Zusammen, Hand in Hand mit ihrer Tochter, rannten sie durch einen Park. Die Sonne prasselt auf die Erde herab und erwärmt jeden Fleck auf den sie trifft. Sie hält kurz an um eine Pause zu machen, doch ihre Tochter rennt weiter. Circa Zehn Meter vor ihr bleibt sie unter einem Kirschbaum stehen. Die Blüten schneien um sie herum, regnen auf sie herab, bilden einen Teppich unter ihr und um sie herum. Die Szene war einer Prinzessin würdig, jedoch war der Blick der Kleinen vernichtend und traf ihre Mutter direkt in die Augen.
 

Sie wachte auf. Schon wieder so ein seltsamer schrecklicher Traum. Warum hatte ihre Tochter diesen kalten Blick? Am Abend zuvor war das auch so, aber ihre Tochter war am Leben und unversehrt. Das war alles was zählt. Sie stieg aus ihrem Bett, öffnete die Vorhänge und ging zur Tür. Normalerweise steht die Tür über Nacht offen, wahrscheinlich hatte sie diese letzte Nacht in ihrer Verwirrung geschlossen. Sie öffnete die Tür und vor ihr, mitten im Flur, stand ihre Tochter. Sie hielt eines der Küchenmesser in ihren Händen und Blut bedeckte den Fussboden. Hinter ihrer Kleinen stand der Mann aus dem Zug und machte sie mit seinem Blick bewegungsunfähig. Es war sein Blut auf dem Boden, seine Sachen waren damit durchweicht und in der Magengegend hatte er eine stark blutende Verletzung. Er sagte mit einer Stimme, die der Frau ins Mark ging: »Warum erntet man die Kirsche, wenn die Blüten doch viel schöner sind?« dann sackte er zusammen. Ihre Tochter hatte ihn einen tödlichen Stich versetzt.

Vom Mond Berührt

"Weißt du wie weit es dieses Mal ist?", fragte mich seine bekannte Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte. "So weit wie es immer ist." antwortete ich ihm. Meine Stimme klang mir seltsam fremd, doch fand ich nicht das geringste daran anders, als sonst.

Leise ächzte der Schnee unter unseren Schritten. Das Gewicht unserer Körper, konzentriert auf unsere Füße machte unsere stabilen Winterstiefel so schwer, dass der frisch gefallene Schnee stöhnend nachgeben musste. Unsere Spuren blieben wohl noch eine kleine Weile hinter uns erhalten, doch das kümmerte uns nicht.
 

Ich war auf den Weg in die Schule. Begleitet von meinem besten Freund.

Ich kenne ihn nicht. Er kennt mich nicht.

Doch wir liefen gemeinsam durch unsere Heimatstadt. Es war eindeutig unsere Heimatstadt, nicht erkennbar als solche, da sie ihr keineswegs ähnelte.

Aber ich bin mir da ganz sicher, es ist unsere Heimatstadt.

Wir gingen dieses Mal in eine andere Richtung als sonst, aber wieder den gleichen Weg wie immer. Wir sind ihn schon oft zusammen gegangen, doch jedes Mal sind wir allein unterwegs gewesen. Wir kannten unseren Weg, wir wussten wo es lang ging; wie immer direkt durch den großen Torbogen neben dem Rathaus, welchen wir nie zuvor gesehen hatten, auf den Marktplatz.

Trotz des mürrischen Wetters und des vielen Schnees, der die glatten Pflastersteine, welche den Boden des Marktplatzes ausmachten, in eine rutschige Oberfläche verwandelte - ohne Chance, sich darauf aufrecht zu halten, machte.

Es ist Markttag, wie jeden Sonntag in der Woche.

In der Mitte des Platzes war der große verzierte Brunnen gefroren. Sie hatten ihn dieses Jahr nicht abgelassen, so sah es aus, als würde die Skulptur darauf schmelzen und mit dem Marktplatz eins werden. Die Stände für den Wochenmarkt nahmen nach und nach mehr Gestalt an. Wenn wir aus der Schule kommen würden, so könnten wir durch die kleinen Gassen schlendern, die sich zwischen den Ständen gebildet hatten, wie jedes Mal.
 

"Irgendwie kommt es mir heute so weit vor." - "Das sagst du doch jeden Tag, wir sind nicht jeden Tag ein Stück länger unterwegs. Wenn es mir nicht auch so vorkommen würde, würde ich meinen du seist Paranoid."

Heißer Sand glitt durch unsere Zehen und massierte beim Gehen unsere nackten Füße. Wir waren nun endlich am Strand - an dem Strand ohne Meer.

"Autsch!"

Etwas traf ihn heftig am Kopf und er brach vor mir zusammen. Er war schwer verwundet und würde es nicht überleben. So wie jeden Tag. Ich sah, wie sein grünes dickes Blut aus der kleinen Schnittwunde quoll, die das Geschoss an seinem Arm hinterlassen hatte.

Ich wendete meinen Blick von ihm ab und wusste dass ich den Rest des Weges von nun an allein gehen musste.
 

"Ich muss mir das mit dieser Religion nicht länger anhören. Was Sie da erzählen ist doch der reinste Unsinn!" Die Lehrerin sah mich schweigend an. Der Wasserhahn, welcher das kleine Waschbecken vorne in der Ecke des Klassenzimmers zierte, tropfte monoton vor sich hin und schien seine Aufmerksamkeit von jedem im Raum zu erhalten. Er stand im Rampenlicht. Ich stand nur in seinem Schatten, obwohl ich derjenige war, der es gewagt hatte, unserer strengen Lehrerin zu widersprechen. Dabei war ich ein klein wenig laut geworden, hatte meinen Kopf gesenkt. Jetzt saß ich da mit erhobenem Kopf und schaute erzürnt auf den Hinterkopf dieser Person die es gewagt hat von Dingen zu reden, die keinen Sinn ergaben und damit auch noch alle in ihren Bann zu ziehen. Sie blickte vermutlich auf ihre lang einstudierten Zeichnungen, die sie vor Kurzem erst, kunstvoll den ganzen Körper schwungvoll bewegend, als sei es das Kernstück ihres kompletten bedeutungsvollen Lebens, auf die Tafel projizierte. Diese waren wohl so bedeutend, dass es unmöglich war, sie zu deuten und wohl nur ihr der Sinn dahinter vorbehalten blieb. Es war immer noch still, bis auf den Ohren-malträtierenden Ton der aus dem Aufprall der Wassertropfen, welche von dem Hahn auf die dreckige Keramik geschossen wurden, resultierte. Ich blickte mich etwas um, die Lehrerin immer in Sichtweite behaltend. An den Gesichtern meiner Mitschüler, die ich nie zuvor gesehen hatte, konnte ich erkennen, dass viele versuchten, etwas aus ihren Zeichnungen zu lesen, die anderen taten so als ob - um dem peinlichen Schweigen eine tiefere Bedeutung zu verleihen. Wieder andere schauten auf ihre Tische und jagten mit ihren Augen die feinen Linien auf ihren Blättern entlang, die sie brav abgezeichnet hatten, deren Sinn sie doch niemals ergründen würden. Die Lehrerin zuckte ein wenig. Sie überlegte wie sie reagieren sollte. Sie wusste bereits, dass ich es gerne auf eine Diskussion heraus laufen lies, in welcher ich ihre Argumente zu Boden ringen würde und in der ihre letzten Aussagen schon an der Glaubhaftigkeit zerschmettert würden, bevor sie überhaupt ihre Lippen erreicht hatten. Stupides Lautwerden, um mich leise zu kriegen, handelte ihr selbst mehr Ärger ein, als zu Schweigen.

Angriff ist die beste Verteidigung? Nicht für mich. Des Gegners Verteidigung ist mein bester Angriff. Also dachte sie nach wie sie dies umgehen konnte.

Kein Schüler traute sich einen einzigen Ton in den Raum zu schicken, der das monotone Tropfen übertönte und die Stille zum Bersten bringen könnte. So saßen alle still da und taten genau das, womit sie aufgehört hatten. Ein paar Mutige unter ihnen wagten Blicke zu anderen Mitschülern oder auf die Unterlagen des Sitznachbarn; die Mutigsten unter ihnen schickten sogar kurze Blicke zur Lehrerin selbst, die noch immer mit dem Rücken zur Klasse stand und nun mit erhöhtem Blutdruck eine Drehung auf ihren Absätzen machte und es wohl für das Beste hielt meine Anmerkung zu ignorieren. "Wo war ich stehen geblieben? Ich habe gerade den roten Faden verloren…".

Ich hatte mich bei ihrer Bewegung wieder ihr zugewandt und suchte nach einer Lücke in ihrer neuen Strategie und wurde sehr schnell fündig. Ihr Blick strich für einen kurzen Augenblick meinen und es war sofort klar, dass sie sich unsicher war ob sie es nun geschafft hatte mir auszuweichen oder ob sie damit gescheitert war. Sie fürchtete meine Reaktion. Ich unterbrach sie in ihrem Satz mit dem sie versuchte die Aufmerksamkeit der Klasse wieder auf sich und vor allem dem Unterrichtsstoff zu ziehen.

"Der rote Faden ist ein Strick. Der Strick der vielen Menschen wegen einer Sache um den Hals gelegt wurde, die Sie hier, wie viele andere Menschen auch, zelebrieren und gutheißen." Ich war aufgestanden. Die Blicke der Mitschüler wanderten langsam zwischen mir und der Lehrerin hin und her. Sie war erneut sprachlos und scheinbar nicht einmal in der Lage ihren Mund zu schließen.

Ich nahm meine Tasche, hängte sie mir um und spazierte vor der erstarrten Lehrerin aus dem Zimmer. 'Mit so einem Unsinn vergeude ich meine Zeit…', dachte ich mir und machte mich auf den Heimweg.
 

Der verschneite Weihnachtsmarkt war menschenleer. Die Verkäufer an den Ständen riefen ihre auswendig gelernten Parolen und priesen ihre Waren an. Jedoch war kein einziger Besucher weit und breit zu sehen.

An den Straßen, die zum Marktplatz und davon weg führten waren Straßensperren aufgebaut. Bewaffnete Soldaten standen um jeden Stand, als würden sie den jeweiligen bewachen. Panzer fuhren durch die großen Gassen zwischen den Ständen. Ich blickte auf ihre schweren Ketten, die auf den Pflastersteinen schepperten und Einzelne davon zerquetschten und lauschte den lauten Motoren, die diesen unheimlichen Gefährten ihre Bewegungen verliehen. Riesige Lastwagen mit noch viel größeren Raketen versehen standen hinter den Straßensperren. Schutzwälle wurden dort aufgerichtet und mit Stacheldraht versehen.

Die Einwohner in ihren Häusern beobachteten gespannt ein Fußballspiel welches vor ein paar Minuten begonnen haben musste.

Die Soldaten mit ihren Maschinenpistolen, welche die Barrikaden an den Strassen bewachten, schien es nicht zu stören, dass ich an ihnen vorbei ging. Ich kletterte auf einen kleinen Truppentransporter, der neben einer dieser Schutzwälle stand, um daran vorbei zu kommen. Ich balancierte über den glatten Boden des Marktplatzes und war ganz froh darüber, dass einige der Pflastersteine zerbrochen waren. An einem Stand hielt ich an, kaufte mir ein kleines Stück Käse und an einem anderem ein paar Scheiben Wurst; an einem Dritten kaufte ich noch ein halbes Brot.

Mein Kumpel hielt mir eine Waffe hin, die er sich gerade von einem der Trucks geklaut hatte. Ich verstaute meine Einkäufe in meinem Rucksack und nahm mir die Granate. Wir machten beide unsere Granaten scharf und warfen sie auf zwei verschiedene Straßensperren, die dicht beieinander lagen und gemeinsam flüchteten wir eine enge Gasse entlang und traten am Ende durch eine Tür.
 

"Guten Appetit", wünschte ich allen und biss ein Stück von meiner Scheibe Brot ab. Ich mochte es am liebsten, wenn es frisch war und auf diesem lag eine Scheibe Wurst - köstlich. Ich legte eine Hand auf das linke Knie meiner Freundin, die zur Zeit bei mir zu Besuch war. Ich hatte sie eben erst meinen Eltern vorgestellt. Diese saßen auf der anderen Seite des Tisches mit der Fensterfront im Rücken.

Meine Freundin schenkte mir ein Lächeln, als sie meine Hand bemerkte.

Ich blickte an dem Kopf meiner kleinen Schwester vorbei durch das Fenster vor mir und sah die Dächer unserer Nachbarschaft. Es war noch hell, doch der Mond war schon am Himmel zu sehen.

Immer schneller werdend kam er dem Horizont immer näher und er zog einen immer dicker werdenden schmalen senkrechten Streifen hinter sich her, wie der Kondensstreifen von einem Flugzeug, welches damit den Himmel teilte. Der Himmel war wolkenlos, das Wetter schön.

Ich starrte darauf, das Brot noch in meiner Hand, den Mund geöffnet, zum Abbeißen bereit. Die Kugel verschwand hinter dem Horizont. Nicht realisierend, was ich da gerade gesehen hatte, blickte ich weiter auf den nun, bis auf den Streifen, der ihn teilte, komplett leeren Himmel - azurblau.

Auf einmal wuchs ein Pilz aus Feuer auf der Stelle, wo der Mond verschwunden war. Bewegungsunfähig schaute ich dem Schauspiel zu, wohl wissend, dass dies unser aller Ende war.
 

Dennoch fragte ich mich danach, warum starb ich ohne die Gelegenheit für meinen Abschied zu nutzen?

Die Brücke

"Entschuldigen Sie, es soll hier in diesem Wald eine sehr schöne alte Brücke geben, die meine Freundin und ich uns gerne anschauen möchten - wissen Sie vielleicht, wie wir dort hin gelangen?" fragte ich eine ältere Dame, die einzige Person, der wir seit einer Weile begegneten.
 

"Schöne alte Brücke? Na ich weiß ja nicht, ob Sie sich das überlegt haben junger Herr. Diesen Weg entlang gibt es eine Brücke…", sie deutete mit einem Kopfnicken auf den Weg, den wir wählen sollten, "aber ich an eurer Stelle wäre da vorsichtig, die Brücke ist sehr baufällig und es geht da ziemlich tief nach unten… Aber was rede ich - Sie werden es ja selbst sehen." - die alte Frau kratzte sich kurz am Kinn und überlegte wohl, ob sie noch etwas dazu sagen wollte, ging dann aber in die Richtung aus der wir kamen. Ich rief ihr noch ein "Dankeschön! Einen guten Tag noch" hinterher, umschloss mit meiner linken Hand die Rechte meiner Liebsten und rückte mir mit der Anderen die Tasche mit dem Fotoapparat zurecht, da mich diese sonst beim Laufen stören würde und ich um den Zustand meiner Kamera fürchtete.
 

Hand in Hand schlenderten wir den Weg, den uns die alte Frau empfohlen hatte, entlang. Hier und da blieben wir stehen, da es ein paar Dinge gab, die unserer Aufmerksamkeit nicht entgehen wollten. So war es eine grosse Raupe mit schwarzem, sehr stacheligem Haar oder ein großer Pilz, dessen Farbe so aussah, als könne man diesen nicht mehr als einmal versehentlich in seinem Abendschmaus verarbeiten. Viele andere Kleinigkeiten fielen uns in die Augen und ich versuchte die Schönheit von einigen von diesen auf dem ein oder anderem Foto festzuhalten.

Meine Freundin drängelte jedes Mal, dass sie gerne weitergehen möchte oder sie schaute sich ein wenig an der Stelle um, wo wir gerade halt machten. Ich wusste aber, dass sie es liebte, wenn wir uns daheim auf das Sofa setzen und gemeinsam die Fotos anschauen, wenn sie endlich entwickelt waren, also legte ich ihre kleinen Drängeleien nicht auf die Goldwaage und ließ mir die Zeit, die ich brauchte um ein Abbild festzuhalten.
 

"Sicher, dass hier noch eine Brücke sein soll? Irgendwie habe ich mehr das Gefühl, dass hier schon lange kein Mensch mehr war.", fragte sie nach einer ganzen Weile.

Sie hatte Recht. Wir waren nun schon ziemlich lange unterwegs und der Weg war kaum noch zu erkennen. Die Bäume und Sträucher wuchsen zu beiden Seiten immer dichter, je weiter wir gegangen sind, so dass man nicht mehr weit in den Wald hinein schauen konnte. Auch der Weg schien schmaler zu werden und das Gras, so wie junge Bäumchen die sich ihren Weg durch den Boden kämpften.

"Bist du dir sicher, dass die alte Frau uns den richtigen Weg gezeigt hat? Vielleicht ist sie ja etwas senil und hat uns den falschen Weg gezeigt oder sie meinte einen Anderen", hakte sie noch einmal nach.

"Woher soll ich das wissen? Ich bin hier doch auch noch nie gewesen, sonst hätte ich ja die Frau gar nicht erst fragen müssen. Wenn wir die Brücke nicht finden ist das doch auch nicht schlimm - dann gehen wir einfach zurück. Ich finde den Wald hier echt schön." - und das fand ich in der Tat. Der Wald wurde hier nicht am Wachsen gehindert. Das Gebüsch konnte sich in alle Richtungen ausbreiten ohne, dass irgendwelche Menschen daherkommen würden und diesen Pflanzen eine Form aufdrängen würden, wie es an dem Waldrand der Fall war. Es müsse Platz für die Pilzsammler sein und die Förster wollen den Wald auch betreten und sich darin bewegen können.

"Lass uns einfach noch ein Stück gehen, noch bevor es Dunkel wird kehren wir dann einfach um und gehen zurück zu unserem Auto." - sie nickte und wir gingen weiter.
 

"Da ist sie ja!" - rief meine Freundin, die gerade ein Stück vor mir war, da ich gerade wieder mit meinem Fotoapparat beschäftigt war. Sie hatte Recht - da war sie, die Brücke. Der Wald war auch nicht mehr so dicht wie eben.

"So baufällig sieht die doch gar nicht aus - die alte Frau ist wohl doch senil" - "Sie hat uns doch aber den richtigen Weg gezeigt, vielleicht ist sie selbst noch nie hier gewesen. Wir sollten trotzdem vorsichtig sein." - entgegnete ich ihr.

Die Brücke übertraf meine Erwartungen. Links und Rechts vor der Brücke standen zwei große Buchen. Sie waren bestimmt sehr alt und wirkten wie ein Portal, durch das man gehen musste um über die Brücke auf die andere Seite zu gelangen. Wie meine Freundin bereits gesagt hatte, sah die Brücke alles andere als baufällig aus. Sie machte einen sehr stabilen Eindruck, das Holz zeigte zwar ein paar Spuren der Benutzung - aber es war keinesfalls morsch oder brüchig.
 

Nachdem ich ein paar Fotos von den Buchen und auch ein paar gemacht hatte, wo meine Freundin zwischen den Bäumen stand, wagte ich mich vorsichtig bis zur Mitte der Brücke, winkte meine Freundin zu mir, da ich keinerlei Gefahr sah, dass wir einstürzen könnten und blickte nach unten.

Die alte Frau hatte uns nicht nur den richtigen Weg gezeigt - in dem Punkt, dass der Abgrund tief ist, hat sie keinesfalls übertrieben. Er war sehr tief.

"Wunderschön!" hauchte meine Freundin in die Stille. Sie hatte sich auf den Bauch gelegt um besser über den Rand schauen zu können ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Sie hatte Recht - es war wunderschön. Die Brücke war leicht nach oben Gewölbt und es war, als würde der Weg schon beide Seiten verbinden und jemand hätte Holz darauf gelegt. Unter dem Holz war Erde und diese spannte einen Bogen über die tiefe Schlucht. Als hätte diesen Bogen jemand verziert wuchs das Wurzelwerk der beiden Bäume an diesem entlang und räkelte sich über die Schlucht hinweg zu zwei weiteren Buchen, die an der anderen Seite den Übergang markierten. Es sah so aus, als wären alle vier Buchen ein einziger Baum, sie schienen sich das komplette Wurzelwerk zu teilen. Sie verzierten und hielten wohl diese Brücke. Ich machte viele Fotos, leider gelangen mir nicht viele, da ich mich dafür sehr weit über den Rand hätte lehnen müssen um das Wurzelwerk in all seiner Pracht festzuhalten.
 

Tatsächlich war direkt hinter der Brücke eine riesige Lichtung und der Boden war anders. Es war überall Sand und die Sonne prasselte durch die offene Krone auf den sandigen Boden. Ich zog meine Schuhe aus und genoss das Gefühl, wie ich in den weichen Boden einsackte und die feinen Körner meine Füße massierten. Nachdem wir eine kleine Weile auf der Lichtung entspannt und noch eine weitere Weile herumgealbert hatten fiel uns auf, dass ein ebenso sandiger Weg einen kleinen Hügel hinauf führte, wo der Wald wieder dichter wurde und wir beschlossen diesen Weg entlang unsere Wanderung noch etwas fortzuführen.
 

Der Weg wurde langsam immer steiler und steiniger und wir zogen unsere Schuhe wieder an. Als der Wald sich wieder etwas lichtete, erkannten wir in der Ferne ein ziemlich großes Haus. Der Weg schien zu diesem Haus zu führen und wir beschlossen zu schauen, ob es bewohnt war oder wer sich denn so mitten im Wald niedergelassen hat.

Das Haus war wie in Stein gehauen und sah gepflegt und bewohnt aus. Die Türen standen offen aber es war niemand zu sehen und es reagierte auch niemand auf unser Rufen. Von einem plötzlichem Regenschauer und Müdigkeit übermannt beschlossen wir uns in dem Haus unterzustellen und etwas auszuruhen.
 

***
 

Die Augen reibend fragte ich mich wo ich bin. Ich erinnerte mich daran, dass ich durch den Wald gegangen bin. Ich erinnerte mich an eine wunderschöne Brücke, an warmen Sand unter meinen Füßen und zwischen meinen Zehen und an einem plötzlichem Schauer… Ich muss wohl eingeschlafen sein - und das in einem fremden Haus. Aber ich lag in einem Bett - ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich mich in ein Bett gelegt habe. Vielleicht war ich dafür zu müde.

Ich stand auf und wollte mich bei den Bewohnern entschuldigen, sollten diese unterdessen zurückgekommen sein - aber das mussten sie ja, wer hätte mich denn sonst in ein Bett legen sollen?
 

Auf dem Weg durch den Flur, traf ich auf ein Mädchen mit einem großen Tablett in ihren Händen, sie versuchte damit die Tür nach Draußen zu öffnen. Auf dem Tablett befanden sich ein lecker aussehender Kuchen und einige randvoll gefüllte Gläser, weswegen das Mädchen, Schwierigkeiten hatte das Tablett abzustellen um die schwere Tür zu öffnen. Noch etwas benebelt vom Schlaf, eilte ich ihr zu Hilfe und öffnete ihr die Tür und bot ihr auch an, ihr das Tablett abzunehmen, was sie dankend ablehnte. Der Geruch, welcher von dem Tablett ausging, entlockte meinem Magen ein lautes Grummeln.

"Komm setz dich zu uns Fremder" rief eine weibliche Stimme von draußen. Ich ging durch die Tür und als hätte sie den Hilferuf meines Magens erhört, winkte mich eine Frau an den Tisch, wo das Mädchen von eben, gerade dabei war das Tablett abzustellen und den Kuchen auf kleine Teller zu verteilen. Unterdessen strahlte auch die Sonne wieder von Oben auf das Geschehen.

An dem Tisch saßen 2 Frauen. Eine etwas jüngere, die seltsam schrill gekleidet war und schrill war auch ihr Haar, was exakt den gleichen Farbton wie ihr Kleid hatte und ziemlich zerzaust in alle Richtungen wucherte. Die Andere, die mich eben zu Tisch gewunken hatte, war etwas älter, ziemlich altmodisch gekleidet und machte einen strengen Eindruck. Das Mädchen war unterdessen fertig mit austeilen und setzte sich.
 

"Zu Tisch!" sagte sie erneut zu mir und zeigte mit den Finger auf den noch verbliebenen freien Platz neben dem Mädchen, gegenüber der zwei seltsamen Damen. Ich tat wie mir geheissen und setzte mich dazu. Ich war noch etwas benommen und kriegte kein Wort über meine Lippen, jedoch schien das die zwei Damen nicht weiter zu stören. Das Mädchen hielt ihren Blick gesenkt und machte auf mich einen schüchternen Eindruck und murmelte auch nur ganz leise vor sich hin, als die Schrille einen guten Appetit wünschte. Wir begannen zu essen und der Kuchen, sowie die Getränke schmeckten prima.

Die zwei Damen tratschten ein bisschen über dies und das. Ich schenkte dem nicht sonderlich viel Beachtung, da es ohnehin nicht an mich gerichtet war und nahm nicht auf, worum es in ihren Gesprächen ging. Mein Blick wurde ziemlich häufig zu dem Mädchen gelenkt, welches weiterhin mit gesenktem Blick auf den Tisch blickte und konnte sich nur schwer wieder von ihr lösen. Sie war unbeschreiblich hübsch. Doch als ich nach ihren Namen Fragte, mischte sich die Dame mit der schrillen Frisur ein:

"Mit der brauchst du nicht reden, sie empfängt deine Worte nicht und wird sie erst recht nicht erwidern."

"Ist sie stumm?" - doch sie war schon wieder in einem Gespräch mit der Anderen verwickelt und antwortete nicht auf meine Frage. Wenn das Mädchen stumm ist, hätte mir die Schrille ruhig den Namen von dem Mädchen verraten können… seltsame Leute leben hier.
 

Als ich eine Weile schweigend dagesessen hatte, beschloss ich, dass es an der Zeit war langsam wieder Heim zu gehen. Ich musste immerhin einige Kilometer durch den Wald zurück zu meinem Wagen laufen und hatte dann noch eine lange Fahrt vor mir - wer weiß wie lange ich geschlafen hatte und wann ich wieder daheim sein würde.

"Der Kuchen war Prima! Aber ich muss mich jetzt verabschieden, ich habe einen langen Weg vor mir und möchte eigentlich heute Abend wieder zu Hause sein." sagte ich in die Runde. Die beiden Damen unterbrachen ihr Gespräch, blickten mich an und verabschiedeten sich mit einem Kopfnicken. Ich spürte, wie mir das Mädchen einen kurzen Blick zuwarf und sofort wieder den Punkt auf dem Tisch fixierte, den sie die ganze Zeit schon angeschaut hatte. Ich konnte fühlen, dass ich etwas aufgeregt war und mein Puls sich leicht erhöhte. Ich lächelte ihr zu und verabschiedete mich auch mit einem Kopfnicken. Eins in Richtung der beiden Damen und eins zu dem Mädchen.
 

Ich ging den steinigen Weg entlang. Abwärts lief er sich irgendwie etwas schwieriger, da einige Steine unter den Füßen davon rutschten und ich dadurch einige Male fast das Gleichgewicht verlor. Seltsamerweise wurde und wurde der Weg nicht sandiger.

Als ich zu der Lichtung kam, war immer noch kein Sand in Sicht. Alles war erdig, hatte ich mir das etwa nur eingebildet? Und wo waren die Buchen, die den Durchgang zur Brücke zierten? Ich konnte sie nicht entdecken. Ich ging die Lichtung entlang und fand keine Buchen und keine Brücke. Sie muss doch hier irgendwo sein, dachte ich mir und ging etwas in den Wald hinein, an der Stelle wo ich die Brücke in Erinnerung hatte.
 

Da war sie - die Brücke. Aber nicht vor mir. Ich befand mich am Boden der Schlucht welche die Brücke überspannte. Ich erkannte sie, es war auf jeden Fall die Brücke, über die ich hergekommen war, die Verzierungen durch das Wurzelwerk - genau so hatte ich sie in Erinnerung. Aber ich befand mich dieses Mal nicht auf ihr, sondern unter ihr.

Ich war verwundert, aber dachte mir, dass ich mich wohl geirrt hatte und beschloss geradeaus weiter zu gehen, denn da müsste ich ja wieder auf dem Weg rauskommen, der mir von der alten Frau empfohlen wurde, welche ich am Waldrand nach den richtigen Weg gefragt hatte.

Der Wald lichtete sich etwas, aber überall waren große Spitze Felsen und gebrochene Baumstämme.
 

"Das ist der falsche Weg, Süßer" hörte ich eine Stimme hinter mir. Es war die Frau mit der komischen Frisur. Die Farbe war anders - auch die ihrer Kleidung. Allerdings waren die Farben, wie vorher auch, zueinander passend.

"Wären Sie so nett, mir den richtigen Weg zu zeigen? Ich fürchte meine Orientierung hat mich verlassen." fragte ich sie freundlich.

"Den gibt es nicht - und nun begleite mich, wir gehen gemeinsam zurück zum Anwesen" - sagte sie, nahm meine Hand und zog mich zu sich ran. Ich befreite mich aus ihrem Griff, blieb aber stehen:

"Okay, gehen Sie voran. Sie wissen hoffentlich wo es lang geht." - sie schaute etwas verbittert, drehte sich und ging langsam zwischen den Bäumen hindurch.

"Warum sie? Obwohl sie kein Wort mit dir gewechselt hat. Sie ist nicht einmal gut gekleidet." - sie sprach wohl von dem Mädchen, auch wenn ich ihren Kleidungsgeschmack nicht nachvollziehen konnte, erwiderte ich lieber nichts. Ich wollte sie schliesslich auch nicht kränken - zumal ich ja auch sie angewiesen war, da ich mittlerweile nicht mehr wusste, wo ich mich in diesem Wald befand. Aber was sollte das jetzt? Wollte sie etwas von mir? Wann ja, warum? Mir schossen jede Menge Fragen durch den Kopf.

"Du stellst dir die falschen Fragen, Süßer. So findet man keine Antworten." - sagte sie, richtete ihren Blick wieder nach vorne und ging weiter.

War das jetzt Zufall? War das erraten? Konnte sie Gedanken lesen? Oder verstand ich sie einfach nur nicht oder falsch und bezog das auf die ganzen Fragen, die mir eben durch den Kopf geschossen waren. Doch wieder hielt sie kurz an und drehte sich in meine Richtung:

"So wird das nichts…"
 

Auf einmal hatte ich begriffen, was sie gemeint hat. Es gab keinen Weg zurück. Es war ein Weg, der nur in eine Richtung ging. Ich hatte die Brücke überschritten. Jetzt wurde mir auch klar, warum die Alte gesagt hatte, dass die Brücke baufällig sei.

"Du bist ganz schön schwer von Begriff - und du hast mich abgelehnt. Das wird dich etwas kosten." - ihre Stimme war von einem gehässigem Unterton durchsetzt.
 

Nach einem kleinen Fussmarsch durch das Geäst, kamen wir wieder auf dem steinigen Weg an. Auf dem Weg fuhr gerade ein Auto entlang. Ich versuchte den Fahrer zu erkennen - es war mein Großvater. Er hatte wohl ebenfalls die Brücke überquert und ich rannte hinter dem Auto her und fuchtelte mit den Armen um ihn mitzuteilen, dass er nicht weiter fahren dürfe. Er schien mich nicht zu bemerken.

Die schrille Dame grinste mich hämisch an:

"Los, weiter!" - sie packte mich wieder an der Hand und ich trottete lustlos hinter ihr her, wieder bergauf in die Richtung, wo das Haus stand.
 

In der Ferne konnte ich das Haus erkennen und auf der Lichtung vor dem Haus standen sehr viele Personen. Alle trugen schwarze Kutten. Als wir näher an sie heran kamen erkannte ich sie. Ich kannte jeden Einzelnen: meinen Grossvater, der mich eben überholte, meinen Onkel, meinen Cousin, meinen Vater… alle waren sie hier, meine ganze Familie.

Die Schrille grinste mich weiter hämisch an und sie hatten Alle das gleiche Grinsen in ihren Gesichtern.

Im Sommer sahen wir noch glücklich aus

Hallo, ich bin Sophie. Ich bin zehn Jahre alt und heute ist ein ausgesprochen schöner Herbsttag. Die Sonne scheint in unsere Wohnküche und ich sitze mit meinen Eltern am Küchentisch. Es gibt Kuchen.

Ich bin eben von der Schule nach Hause gekommen und erzähle meinen Eltern davon, wie mein Tag dort war. Wir reden immer viel. In unserer Familie verstehen sich alle sehr gut und deswegen reden wir vermutlich auch alle viel miteinander. Lügen ist bei uns tabu. Ich habe es einmal getan - danach habe ich mich furchtbar gefühlt.
 

Mein Vater regt sich oft darüber auf, was Politiker von sich geben - auch wenn ich das alles noch nicht verstehe, aber ich denke er hat Recht mit dem was er sagt. Er regt sich auch immer wieder über meine Lehrer und die Schule auf.

Heute hatten wir jemanden von der Feuerwehr da und der hat uns erzählt wie man zu handeln hat, falls es anfangen sollte zu brennen. Mein Vater sagt immer »Hauptsache man verliert in einer schwierigen Situation nicht den Kopf. Den Fehler machen die meisten Menschen. Sie geraten in Panik und machen alles nur viel schlimmer.« Doch das sagt sich vermutlich leichter als es letztendlich ist.
 

Das Telefon klingelt. Mein Vater schaut über den Rand der Zeitung meine Mutter an und das bedeutet wohl, dass er gerade keine Lust hat ans Telefon zu gehen. Sie steht auf. Er liest weiter. Ich schiebe mir noch einen Bissen in den Mund, da ich mich nach dem Essen gleich an meine Hausaufgaben setzen muss. Mathe.

Plötzlich gibt meine Mutter einen seltsamen Laut von sich und ich sehe gerade noch wie sie zu Boden geht. Mein Vater senkt die Zeitung und schaut zu ihr. Tränen strömen ihr aus den Augen. Sie lässt den Telefonhörer fallen und vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen. Mein Vater steht auf und geht zu ihr. Nein. Er geht zum Telefon und nimmt den Hörer in die Hand. Ich springe auf und renne zu Mutti. Warum geht er ans Telefon - sieht er nicht, dass Mutti ihn jetzt braucht? Irgendetwas Schlimmes ist passiert. Ich lege meinen Arm um ihren Hals und versuche für sie da zu sein. Vermutlich handelt Papa richtig. Er bewahrt einen kühlen Kopf um die Situation nicht noch schlimmer zu machen. Meine Mutter schluchzt und es wirkt so als will sie etwas zu sagen. Ich versuche es zu verstehen.

»Dein Bruder… ist tot…«

Tot. Das bedeutete ich werde ihn nie wieder sehen.
 

***
 

Ich bin gerade aufgewacht. Ich fühle mich schrecklich und mag meine Augen nicht öffnen. Was ist passiert?

Vermutlich liege ich in meinem Bett. Ich kann mein Lieblingskuscheltier spüren. Mein Bruder hat es mir geschenkt… Mein Bruder!

Er ist weg.
 

Ich steige aus dem Bett und gehe in unsere Wohnküche. Mutti sitzt wie ein Häufchen Elend am Tisch und weint noch immer. Papa sieht sehr traurig aus. Seine Hand liegt auf ihren Schultern.

Ich stehe hier und weiß nicht was ich tun soll. Immer wenn ich Kummer hatte waren meine Mutter oder mein Bruder für mich da. Nun weiß ich nicht wohin mit meinem Kummer. Also stehe ich einfach nur hier - und kann mich nicht rühren.
 

***
 

Heute ist ein Mann bei uns. Ich glaube er ist von der Polizei - auch wenn er gar nicht aussieht wie ein Polizist.

Ich sitze bei Mama auf dem Schoß. Er sitzt uns gegenüber. Papa schenkt ihm gerade etwas Kaffee ein. Er hatte vorher gesagt, dass es dem Mann auch nicht leicht fällt uns darüber zu erzählen und wir sollen es ihm deswegen nicht unnötig schwieriger machen und unsere Gastfreundlichkeit bewahren.

Der Mann sieht immer wieder kurz zu mir, als ob es ihm nicht lieb ist, dass ich anwesend bin. Vermutlich weil ich noch ein Kind bin. Er denkt bestimmt, dass ich noch zu jung bin. Er hatte auch kurz mit meinem Vater getuschelt und dabei zu mir gesehen.
 

»Wir schliessen einen Unfall aus. Wir sind uns ziemlich sicher, dass es sich um Selbstmord handelt. Er hatte es vermutlich längerfristig schon geplant. Seine ganzen Dinge waren in Umzugskartons gepackt - es sah aus als würde er ausziehen. Er hatte das ganze Zimmer mit Tüten und Folien ausgelegt, bevor er sich…«, er sieht mich an. Danach wendet er seinen Blick zu meinem Vater: »Sind Sie sich sicher?« Mein Vater nickte. »Bevor er sich selbst… erstochen hat.«

Er ist einen Moment ruhig. Nach einem kurzem Räuspern fährt er fort: »Eine gefundene Nachricht bestätigte unsere Vermutung, dass er seinem Vermieter keine größeren Umstände machen wollte. Beim Durchsuchen seiner Sachen haben wir auch weitere Hinweise gefunden. Briefe - und an seinen Besitztümern klebten Zettel mit Namen und kleinen Notizen. Eine ungewöhnliche Art für ein Testament aber der Notar hat die Gültigkeit bereits bestätigt. Die Sachen werden Ihnen dann ausgehändigt, sobald wir unsere Untersuchungen fertiggestellt haben…«
 

Was fällt dem Kerl eigentlich ein!? Durchsucht der einfach so die Sachen von meinem Bruder. Ich kann ihn nicht ausstehen.
 

»Eine Sache wäre noch ungeklärt. Wir haben versucht auf seinem Laptop nach möglichen Hintergründen seiner Tat zu suchen. Doch die Daten sind alle verschlüsselt und wir waren nicht in der Lage diese zu entschlüsseln und naja… Auf dem Laptop war auch ein Zettel angeheftet. Er hinterließ diesen Ihrer Tochter mit einer Notiz, welche darauf schliessen lässt, dass Ihre Tochter das Passwort kennt…«
 

Ich springe von dem Schoß meiner Mutter, renne in mein Zimmer und vergrabe mich im Bett. Ich will dem Mistkerl nicht weiter zuhören. Von mir kriegt er das Passwort nicht. An den Laptop von meinem Bruder kommt er nicht - aber das sieht meinem Bruder ähnlich. Er kannte sich mit Computern sehr gut aus - wenn er es verschlüsselt hat, dann hat das sicher seinen guten Grund. Mein Bruder hat nie etwas grundlos getan - auch wenn ich viele Dinge, die er getan hat, nicht verstehe. Aber ich bin mir sicher, dass ich das eines Tages werde. Ich bin ein schlaues Mädchen. Das hat mein Bruder auch immer zu mir gesagt.
 

***
 

Nun ist es schon eine Weile her, seit der Mann von der Polizei hier war. Heute sind die Sachen von meinem Bruder angekommen. Sein Laptop liegt auf meinem Schreibtisch. Seine Notiz darauf.
 

»Für Sophie. Du weißt, wie der Kerl heißt, der dich in der Schule geärgert hat.«
 

Als der Mann da war, hatte er sie mir bereits vorgelesen und mich gefragt, ob ich etwas damit anfangen kann. Ich sagte ihm, dass ich nicht weiß, was mein Bruder mir mit dieser Notiz sagen wollte - und ich fühlte mich nicht schlecht, dass ich gelogen hatte.
 

Jetzt muss ich daran denken, wie ich damals in der Schule immer wieder geärgert wurde und ich habe mit meinem Bruder darüber gesprochen. Er hat ihn als »schleimscheissende Bambusschildkröte« bezeichnet, was mich zum lachen brachte. Danach wischte er die Tränen aus meinem Gesicht und sagte, dass ich so bleiben soll wie ich bin, dass er mich lieb hat und das der andere Kerl einfach doof ist, wenn er »eine Dame« so behandelt.
 

Ich klappe den Laptop auf und schalte ihn ein. Der Benutzername lautet »Sophie«. Ich gebe das Passwort ein. Als Hintergrundbild ist ein Foto von uns beiden, was wir geschossen haben, als ich ihn in den Sommerferien besuchen war. Auf dem Bild sehen wir beide sehr glücklich aus.

Worte

»Heute werde ich dir etwas erzählen, mein Sohn. Dabei werde ich viel reden. Ich denke auch, dass ich dabei durchaus etwas sagen werde. Du wirst lauschen, doch ob du etwas hörst liegt ganz an dir.«
 

So saß er mir gegenüber und hielt kurz inne.
 

»Es gibt Worte, mein Sohn. Es gibt viele davon. Viele benutzen sie um damit etwas zu sagen. Man kann allerdings auch etwas sagen, wenn man keine Worte benutzt. Mehr Worte zu nutzen, heißt also auch nicht automatisch mehr zu sagen. Man kann auch Worte nutzen und nichts sagen, so wie man Worte nutzen kann um nichts zu sagen. Leere Worte.«
 

Er nahm einen Schluck Tee, damit ich das Gesagte in mich aufnehmen konnte.
 

»Leere Worte, mein Sohn, leere Worte allerdings sagen auch Dinge. Sie sagen Dinge und bringen einem Erfolg. Sie sagen Dinge die nicht sind und geben einem das Gefühl, dass es richtig war sie zu benutzen, so dass man regelrecht darauf versessen wird diese zu benutzen. Sie täuschen. Sie blenden Andere. Am meisten täuschen sie jedoch ihren Sprecher.«
 

»Sie kämpfen auch gegen andere Worte. Oft gewinnen sie den Kampf und sperren die Verlierer in tiefe Verliese. Ihre ärgsten Gegner sind sehr mächtig. Wahre Worte.«
 

Sein Hände machten sich daran ihm nachzugießen.
 

»Wahre Worte zu benutzen ist nicht so einfach, mein Sohn. Man muss sie erst aus den tiefen Kerkern befreien, wo sie in schweren Ketten liegen. Doch wahre Worte geben nie nach. Sie stehen jegliche Gefangenschaft durch. Es gelingt sogar ab und zu einem die Flucht und schleicht sich leise vorbei an den leeren Worten über die Lippen des Sprechers hinaus ins Freie.«
 

»Doch was sagen wahre Worte? Sagen sie die Wahrheit?«
 

Dampf floh aus seiner Schale.
 

»Wahre Worte sagen nicht die Wahrheit, mein Sohn. Auch sie täuschen. Sie sagen eine Wahrheit. Die Wahrheit des Sprechers. Manchmal sagen sie mehr und manchmal sagen sie weniger, aber beides nicht dem Sprecher selbst.«
 

»Auch haben sie Einfluss auf das Verhältnis des Sprechers zu den leeren Worten. Sie bringen Reue. Reue über bereits gesagte leere Worte oder Reue über die gesagten wahren Worte selbst. Sie schwächen den Drang leere Worte zu verwenden, oder stärken diesen. Manchmal bringen sie Erleichterung.«
 

Er musterte kurz ein vorbeifliegendes Insekt.
 

»Es gibt auch andere Worte, welche eine Wahrheit sagen, mein Sohn. Eine falsche Wahrheit. Worte die viel schwerer wiegen als leere Worte. Falsche Worte.«
 

Damit entließ er mich.

Ich weiß nicht ob ich verstanden habe, was der alte Mann mir sagen wollte. Aber in einem war ich mir sicher: Da die Worte von ihm stammten, waren es weise Worte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Ehleanora
2010-06-13T16:56:53+00:00 13.06.2010 18:56
insgesamt muss ich sagen, dass ich es verdammt toll finde, wie du auf einzelne details in der umgebung deiner charaktere achtest. allerdings ist hierbei wieder das problem, dass dir das talent für "wortspiele" fehlt. damit ist gemeint, dass bestimmte szenarien, wie z.b. "die sonne brasselte auf die erde nieder" viel besser mit "erbarmungslos brannte die sonne auf die erde nieder"...so, oder so ähnlich beschrieben werden kann. aber das kann mit lesen und viel schreiberei trainiert werden. desweiteren, und was mich immer wieder zum lachen gebracht hat, bestand die tatsache, dass du verschiedene zeitformen miteinander kombiniert hast. an manchen stellen passte es oder stimmte es gar mit dem geschehen wenig überein.
wenn ich eine geschichte schreibe, die passiert ist, ich allerdings schreiberisch revue passieren lassen möchte, entscheide ich mich meist für eine bis zwei zeitformen. dabei ist zu entscheiden, ob du es aus der sicht eines anderen schreibst, oder aus deiner eigenen (als wäre es dir selbst passiert) verfasst. dein fehler war, alles miteinander zu kombinieren. verstehst du, was ich meine?

allerdings muss ich insgesamt sagen, dass dein ideenreichtum wirklich beeindruckend ist. vllt. lässt du dir meine kritk, die keineswegs böse gemeint ist, durch den kopf gehen. solltest du doch mal hilfe gebrauchen, frag mich jederzeit x3
Von:  Ehleanora
2010-06-10T21:30:10+00:00 10.06.2010 23:30
...sagsch dir, wenn ichs gelesen hab :DD *knuff*
Von:  LittleLuzifer
2009-05-27T18:39:50+00:00 27.05.2009 20:39
Boah :D
Hat mir echt gut gefallen x3
Aber ich hab das alles i-wie nicht so richtig verstanden :O
Ich schließ mich dem gefrage von kawaii-girly an x3
Warum war die Tochter in der Wohnung und wo kam der Mann her?
Nyu :D Wenigstens ist klar, was mit den anderen passiert ist, was ziemlich heftig war >o<
Verbrannt... omg
nyu, aber da stellt sich weiterhin die Frage, warum die Frau nichts anhatte und so weiter x3
Hoffentlich schreibst du bald mal wieder was :D
*knuddelflausch* ^o^

Von:  KaChan
2009-05-08T19:05:22+00:00 08.05.2009 21:05
wahrscheinlich schreib ich eh weniger, als mir vorhin eingefallen is... aber ok xD

fro, ich hab was von dir gelesen! etwas, das mehr als nur paar zeilen hat *_* und ich war begeistert!
xD ich hab mir das ganze hier mal ausgedruckt und im deutschunterricht gelesen, und fein gebetat x""""D manchma bissl unstimmig und auf die masse gesehen relativ wenige kommafehler, aber mir fällt sowas auf xD

ich mag vor allen dingen, dass wirklich keiner in dieser geschichte nen namen hat! ich hab meinen zettel verschmissen, auf den ich alle meine kritiken schrieb x"D mal sehen, ob ichs trotzdem ncoh zusammen krieg.
was ich süß fand, is die sache mit den nudeln <3 "aber für solche momente wie diesen sind sie unersetzlich" oder so... das is das einzige mal, dass in der geschichte was normal-menschliches-dummes-bah vorkam x3

die geschichte spricht echt für dich ... die is so ... typisch ... fro in ihrer logik.
und .... ey xD
ich will wissen, was mit dem zug is! und wieso die nackt war! und das kind weg! und warum das kind plötzlich in der wohnung war! und der mann auch! Und warum das kind den mann erstoch! und wieso um alles in der welt keiner in dem zug war!

Aber so wie ich dich kenne ... lässt du mir interpretationsspielraum ..... xD oder du weißt es selbst ne.

Den spruch von dem typen ganz am ende mit den kischen und den blüten find ich toll!

=) alles in allem ne sehr schicke sache das ganze ... nur die vielen offenen fragen am ende x""""D
aber war zu erwarten, dassus dem leser ne zuckerleicht machst ;)

hab dich lieb!




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