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Midnight Sun

von

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Auf den ersten Blick

Es schien, als wäre ihre Ankunft schon seit Ewigkeiten vor Schuljahresbeginn bekannt, obwohl ich mir mehr als nur sicher war, dass Chief Swan während der letzten Tage des letzten Schuljahres nicht ein einziges Mal daran dachte oder gar davon träumte, dass seine einzige Tochter zu ihm nach Forks ziehen könnte.

Vermutlich dachte er an nichts anderes als an den kommenden Sommer, den er mit ihr verbringen würde.

Aus ihrer Sichtweise war ein Sommer in Forks, Washington, sicherlich nicht einmal im Ansatz das, was sie unter Sommer auch wirklich verstand.

Die Tochter von Chief Swan lebte bisher in Phoenix, einem sonnigen Staat, in dem Regen an eine Seltenheit und Schnee an eine Sensation grenzte – ob sie überhaupt schon einmal welchen gesehen hatte?

Und nun wurde sie oder war sie verdammt, nicht nur den Sommer, sondern den Rest der Zeit, den sie im Haus ihres Vaters leben wollte, in Forks zu verbringen.

Regen, Regen und Regen.

Wenn ich mich recht erinnere, und es war seit über 100 Jahren nicht mehr geschehen, dass ich falsch lag, dann gab es in dieser kleinen Stadt nur insgesamt 20 sonnige Tage, derer sie sich erfreuen konnte.

Na, wenn das für sie nicht wirklich glückliche Aussichten sind …

Dem ein oder anderen, der bereits frühzeitig zum Schulgebäude gefahren und damit in meiner „Reichweite“ war, stellte sich ähnliche Fragen, nebenbei verzweifelnd versuchen, sich an das Mädchen zu erinnern, das heute seinen ersten Tag an dieser Schule haben sollte.

Wenn sie bisher jeden Sommer in Forks war, vielleicht hatte der ein oder andere sie bereits gesehen?

Möglich wäre es sicherlich.

Unterschiedliche Bilder entstanden in den Köpfen von Schülern, die von dem Neuankömmling vollkommen besessen zu sein schienen; erstaunlicherweise bildeten diese Besessenen die deutliche Mehrheit aller Schüler, die bereits da waren oder langsam dazukamen.

Und immer mehr Bilder entstanden von diesem fremden Mädchen, die ungleicher nicht hätten sein können. Von hellblond, braungebrannt und verwöhnt bis hin zu einem kleinen schwarzhaarigen Mauerblümchen, das in Phoenix wahrscheinlich äußerlich kaum weiter aufgefallen ist, dafür aber in einer Kleinstadt wie der diesen einen Riesentumult verursachte.

Welch sonderbares Verhalten der Menschen …

Die Zeit bis Unterrichtsbeginn verstrich und noch immer wuchs die Spannung und in den Gedanken all der Schüler war immer noch kein eindeutiges Bild.

Nicht, dass es mich interessieren würde, aber bei dieser Anzahl von Gedanken, die mit seltener Eindringlichkeit auf mich einstürmten, war es schwer, all diese Stimmen auszublocken.

Was sollte mich auch schon ein einfaches Menschenmädchen, das nur auf Grund der geringen Einwohneranzahl und der Tatsache, dass in einer Kleinstadt nie lange etwas verborgen blieb, einen solchen Wirbel erregte, interessieren?

Sie kam heute, ging in ein paar Jahren und war dann aus meinem Leben verschwunden bis sie schlussendlich starb.

Mehr nicht.

Mit einem neckenden Grinsen warf ich einen Blick zu meinem älteren Bruder Jasper, der natürlich sofort bemerkte, dass ich ihn ansah und seufzend genervt die Augen verdrehte.

Danke auch.

Mein anderer Bruder Emmet hörte Jaspers Seufzen und schaute sofort nach dem Grund dafür, sah mich grinsen und lachte selbst darüber.

Jaspers Fähigkeit, Gefühle zu manipulieren, die ihn sowohl die Gefühle von anderen verändern als auch eben jene Gefühle Einfluss auf ihn nehmen lassen konnte, ließ ihn die Spannung all der Schüler spüren und ich hörte in seinen Gedanken, wie sehr er selbst davon beeinflusst wurde.

Lauschte ich ihnen länger, fühlte ich mich sicherlich innerhalb der nächsten Minute so, als hätte ich ein Buch an der spannendsten Stelle weggelegt und könnte es gar nicht erwarten, es wieder in der Hand zu nehmen.

Und in diesem Fall war die Hauptperson noch immer nicht angekommen, das Buch konnte noch nicht wieder in die Hand genommen werden, damit man das Ende erfuhr und die Spannung nachließ.

Wie man für einen Menschen nur so einen Aufwand machen kann.

Der Gedanke kam von Rosalie, meiner jüngeren Schwester, die kopfschüttelnd an mir und dem Rest unserer Geschwister Richtung Schulgebäude vorbeistolzierte.

Im Gegensatz zu Jasper, Alice – meiner anderen Schwester – und mir besaß Rosalie keine besonderen Fähigkeiten, wie sie manche Vampire besaßen, aber sie hatte doch Alice und meiner Unterhaltung zugehört, in der wir mehr nebenbei als beabsichtigt über die Ankunft Swans sprachen.

Alice sah die Zukunft, sobald sich jemand zu einer Tat entschied und kaum hatte das Großstadtmädchen die Entscheidung getroffen, sah Alice sie bereits zur selben Schule wie sie gehen.

Sie hatte nicht auf eine solche Vision gewartet, doch es hatte sie nicht überrascht.

Wir lebten in Forks bereits seit zwei Jahren und vielleicht würde dieses Mädchen ein wenig Abwechslung für die anderen Menschen in diese Stadt bringen. Und eben weil es um diese Stadt ging, hatte Alice die Vision gehabt.

Fertig.

Mehr Mühe diesen Umstand zu erklären machte sich keiner von uns.

Alice hatte das Bild des Mädchens schnell wieder verdrängt und bisher auch nicht wieder dran gedacht; so blieb auch ich völlig ahnungslos über sein Erscheinungsbild.

Kaum war Rosalie auch nur drei Schritte voraus, hatte sich Emmet, ihr Freund und Ehemann – von letzterem jedoch (und vor allen Dingen von der Anzahl ihrer Hochzeiten) war es besser, wenn es keiner wusste – von unserer Gruppe gelöst und sich ihr angeschlossen. Sobald er mit ihr auf gleicher Höhe war, ergriff sie seine große Hand und verschlang ihre Finger miteinander.

Auch Jasper und Alice, für die seit vielen Jahren ebenfalls die Bezeichnung „verheiratet“ passend war, blickten kurz zu mir, nickten und gingen ihren Geschwistern hinterher.

Und ich begab mich nun zu dem Haus, in dem für dieses Schuljahr meine erste Unterrichtstunde beginnen würde.
 

Ich wusste natürlich, dass es notwendig war, dieses Theater jedes Jahr aufs Neue aufzuführen, wenn meine Familie und ich ein einigermaßen normales Leben unter Menschen führen wollten.

Wie könnte ich das je vergessen?

An das alltägliche Brennen in meinem Hals, das nie nachließ, selbst wenn ich an dem Tag zuvor erst jagen war, hatte ich mich zwar bereits stark gewöhnt und ihm zu widerstehen, es zu unterdrücken oder sonst was mit ihm zu machen, um es zu vergessen, wurde mit jedem Tag des Übens einfacher, auch wenn wir nie ein Risiko eingingen, doch es erinnerte mich daran, dass dies der einzige Preis dafür war, den es für dieses normales Leben zu bezahlen galt.

Lieber dieses Brennen als jedes Jahr nur Nacht auf Nacht auf Nacht.

Kein Vampir fürchtet sich im Dunkel, wie denn auch, wenn es für ihn keinen Unterschied macht, ob die Sonne hell scheint oder nicht einmal das Licht des Mondes die Nacht erhellt?

Doch eben dieses Dunkel fängt nach gewisser Zeit an zu nerven.

Ein Leben während des Tages, und regnete es noch so sehr, ist eine willkommene Abwechslung.

Keiner meiner Familie hatte seit Jahrzehnten trotz dieses steten Brennens einen einzigen Menschen verletzt; ihn weder zu fest angefasst, weil es nicht einfach ist, unsere Kraft perfekt einzuschätzen, noch gar sein Blut getrunken.

Die goldenen Augen, die unsere Familie zu etwas außergewöhnlichen machten, waren der Beweis dafür.

Doch obwohl ich um diesen Preis wusste, verbunden mit meiner Bereitwilligkeit ihn zu zahlen, konnte ich nicht umhin, mich dennoch wie ein ganz normaler junger Mensch von 17 Jahren zu verhalten und die Zeit in der Schule als unglaublich langweilig zu empfinden.

Einschläfernd wäre ein treffenderes Wort.

Zumindest für all die anderen Schüler; ich und meine Geschwister mussten uns damit zufrieden geben, wirklich einfach nur unendlich gelangweilt zu sein.

Schlafen war uns seit dem Moment unserer Verwandlung in die toten Wesen, die wir jetzt sind, nicht mehr gestattet.

Und obwohl ich jenes Buch von vorhin, dessen Spannung vor Schulbeginn an den Nerven aller zu zehren schien, wieder in die Hand nehmen konnte, war ich einfach nur enttäuscht vom weiteren Verlauf der Geschichte.

Das Mädchen, das alle so ungeduldig erwarteten, war weder eine blonde, gut aussehende Strandschönheit noch ein kleines, hässliches Entlein.

In keinem der beiden Fälle hätte sie mehr interessiert als sie es jetzt tut.

Sowohl ihre Augen als auch ihre langen Haare waren von einem warmen, angenehmen Braunton, ihre Haut von einem zu blassen Teint für ihre lange Zeit in der Sonne, der die Schüler auf eine entfernte Verwandtschaft mit den Cullens, meiner Familie, schließen ließ.

Ich hatte dieses Mädchen noch nie zuvor gesehen und nun, nachdem sie so viele erblickt hatten und ich mit ihnen und das aus fast jedem erdenklichen Winkel, hatte ich bereits mehr als genug von ihr.

Scheinbar eine richtige Sensation.

Wie ein ununterbrochenes Summen hörte ich nun Stimmen, die sie lobpreisten, ihr Aussehen anhimmelten oder ebenso wie meine Schwester den Aufruhr um sie einfach nicht verstanden.

Sie stellte sich denjenigen, die sie ansprachen, als Bella Swan vor und verbesserte jeden von ihnen, der sie bei ihrem vollständigen Namen ansprach.

Ihre Stimme stach nicht sonderlich aus denen der anderen hervor.

Aus purer Langeweile hätte ich einfach versuchen können, ihren Gedanken zu lauschen, versuchen, für mich selbst ein wenig Abwechslung zu kreieren, auch wenn ich nicht das Gefühl hatte, dass ich irgendetwas Neues hören würde.

Menschen im Allgemeinen und von denen besonders die, die ihr ganzes Leben in solchen Kleinstädten wie Forks verbrachten, hatten keine allzu unterschiedlichen Gedanken, sie ähnelten sich alle in der ein oder anderen Weise.

Die Gedanken des neuen Mädchens würden sicherlich keine neuen Erkenntnisse bringen.

Ebenso wenig wie ich irgendwas Neues im Unterricht lernen konnte.

Ich wollte gar nicht so genau wissen, wie oft ich bereits das gehört hatte, was Lehrer Schüler beizubringen gedachten und wie sehr es sich hin und wieder voneinander unterschied.

Die Gedanken meiner Familie waren da ein wenig abwechslungsreicher, aber durch ihre Vertrautheit auch nicht wirklich etwas völlig neues.

Je länger das eigene Leben währte, desto weniger konnte man überrascht werden.

Ich fragte mich bereits des Öfteren, wie mein Vater, Carlisle, wohl das menschliche Leben sehen würde, besäße er meine Gabe.

Ob er immer noch so versessen auf seine Arbeit im Krankenhaus wäre oder ob sie seine Zuneigung für Menschen noch stärken würde?

Wer wusste das schon?

Ich nicht.

Und jetzt, da die ersten Stunden vorbei waren und sich die Schüler in der Cafeteria versammelten, interessierte es mich nicht mehr allzu brennend.

Ich würde für den Rest des Tages ein anderes Thema brauchen, über das ich mir den Kopf zerbrechen konnte.

Hier in der Cafeteria wurde das stetige Hintergrundsummen der Gedanken von dem Gerede exakt derselben Schüler in seiner Lautstärke noch mal deutlich hervorgehoben; ich hörte nicht genau hin, aber die Unterschiede zwischen dem Gedachten und Gesagten waren so gravierend offensichtlich, dass ich nicht einmal genau hinhören musste.

Edward Cullen.

Mehr unbewusst als alles andere drehe ich meinen Kopf in die Richtung, aus der ich meinen Namen hörte. Egal, ob gedacht oder gesagt.

Obwohl ich mich über die Zeit mit meinem Namen angefreundet habe und er mir nicht mehr so missfiel wie als kleines Kind, bin ich froh darüber, dass „Edward“ für die meisten Eltern nicht mehr als Name für ihr Kind in Frage kam. Gott sei Dank auch für keines der Elternpaare der Schüler.

Meine reflexartige Bewegung führte meinen Blick zu Jessica Stanley, die neben der neuen Schülerin saß; sie erwiderte meinen Blick, doch ich sah sofort wieder weg.

Nichts Interessantes.

Nichts Neues.

Doch wir waren für sie alle interessanter als für sie gut war.

Ein Raubtier, das seine Beute so sehr durch die eigene unnatürliche Schönheit aus der Fassung bringt, dass die Jagd zu einem Kinderspiel wurde.

Ich musste mich nicht einmal genau auf Jessica konzentrieren, um zu hören, was sie antwortete, obwohl sie flüsterte.

„Das sind Emmet und Edward Cullen, und Rosalie und Jasper Hale. Das Mädchen, das gegangen ist, war Alice Cullen; sie leben alle bei Doktor Cullen und seiner Frau.“

Das übliche.

Die normale Vorstellung und gleich würde sie sicherlich den ganzen Rest der Cullen-Geschichte vor der neuen Schülerin ausbreiten, die für die meisten männlichen Schüler immer schöner zu werden schien.

Na dann.

Ich hörte ihr nicht weiter zu – zumindest versuchte ich, ihr penetrantes Gerede auszublenden –, dennoch erzählte ich meinen Geschwistern von Jessicas Vorhaben.

Emmet lachte leise und für Menschen unhörbar, doch er sah mich nicht an, murmelte eine Antwort vor sich hin und auch das für Menschen unhörbar.

„Und? Was denkt die Neue so von uns? Irgendwelche lustigen Theorien?“

Ein Punkt, auf den ich später erst geachtet hätte.

Noch nicht jetzt.

Sie war erst neu hier und sie würde vermutlich an nichts anderes denken als an die übernatürliche Schönheit, mit der unsere Familie gesegnet zu sein schien.

So wie jeder andere auch.

Aber da mein Bruder eine Antwort haben wollte, tat ich ihm den Gefallen und konzentrierte mich auf die Stelle neben Jessica.

Doch nichts.

Stille.

Sollte sie etwa weggegangen sein ohne, dass ich es hörte?

Nein. Unmöglich.

Ich drehte den Kopf in ihre Richtung und sie saß immer noch da, genau wie vorher.

Und als ich zu ihr sah, da waren ihre Augen auf mich gerichtet und für einen kurzen Moment waren unsere Blicke miteinander verbunden, dann schaute sie weg.

„Wer ist der Junge mit den rötlichbraunen Haaren?“, fragte der Neuling seine Nachbarin und ich fühlte mich nicht im Geringsten geehrt durch ihr Interesse an mir.

Das erste Mal, dass ich bewusst auf ihre Stimme achtete und sie entsprach keiner der psychischen Stimmen, die ich überall aus dem Raum hören konnte.

Nichts.

Leise, schüchtern. Vollkommen fremd.

Ich konzentrierte mich noch mehr auf ihren Platz, wandte den Blick nicht von ihr ab.

Es änderte nichts.

Ihre Gedanken blieben stumm für mich. Und es ärgerte mich.

Noch nie während meines gesamten Lebens und das dauerte insgesamt nun bereits seit mehr als 100 Jahren waren die Gedanken einer Person unlesbar für mich. Natürlich war diese Gabe zu meiner Zeit als Mensch nicht so gut ausgebildet wie sie es jetzt ist – damals musste ich eine Person mindestens sehen, um ihre Gedanken lesen zu können (und in manchen Fällen war es auch nur ein Erahnen, aber in mehr als 90 Prozent aller Fälle lag ich richtig). Deswegen waren diese unhörbaren Gedanken umso deprimierender für mich.

Denn alle anderen Personen, die mit ihr am Tisch saßen, hörte ich genauso gut wie sonst auch.

Nur sie bildete die Ausnahme, was sie letzten Endes dann auch für mich außergewöhnlich machte und es gefiel mir nicht im Geringsten.

Ich sah weg und blickte wieder irgendwo ins Nichts, auf keinen bestimmten Punkt, obwohl meine Augen so viel mehr entdeckten als sich ein Mensch je zu träumen erwagte.

So viele Stimmen, die ich hörte, und doch stach die Jessicas deutlich hervor, als sie auf die Antwort Swans antwortete.

„Das ist Edward. Er ist supersüß, klar, aber mach dir keine Hoffnungen. Er ist an Mädchen nicht interessiert, zumindest nicht an den Mädchen hier. Scheinbar ist ihm keines hübsch genug.“

Dieser Idiot. Dabei hätte er doch schon längst eine Freundin haben können – mich!

Die Bitterkeit, die in ihrer gedanklichen Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. Sie erinnerte sich an den Moment, in dem ich ihr höflich (es fiel mir schwer, höflich zu sein, hatte sie mich doch vorher mit ihrem Gelaber stundenlang genervt), aber deutlich verständlich machte, dass ich keinerlei Interesse an einer Beziehung und noch weniger an einer mit ihr hatte.

Wochenlang danach durfte ich mir ihre deprimierten Gedanken anhören, wenn ich die Stimmen nicht alle ausblendete und zu spät darauf achtete, dass sie in der Nähe war.

Jetzt schien sie sich einfach damit zufrieden zu geben, dass noch keine andere den Platz an meiner Seite bekommen hatte, den sie nur sich selbst zuschrieb.

Diese besitzergreifende Seite von ihr wegen einer Person – und „Person“ setzte ich nicht gleich mit „Mensch“ –, vor der sie fliehen und die schlimmsten Albträume haben würde, wüsste sie die Wahrheit über sie.

Sie kann sich glücklich schätzen, unwissend zu sein.

Ebenso wie das neue Mädchen an ihrer Seite, doch ihre Neugier uns bezüglich schien noch lange nicht befriedigt. Ich sah in ihren Augen, dass dort noch unbeantwortete Fragen brannten, wenn auch nicht deutlich sichtbar; wahrscheinlich wollte sie nicht zu aufdringlich wirken und hielt sich deshalb zurück.
 

Wir verließen die Cafeteria, während sie immer noch dort saß, den Blick auf ihre Mitschüler gerichtet, wenn auch nicht an den Gesprächen beteiligt.

Ich hatte Emmets Frage nicht beantwortet und ich weiß, er hatte sie auch nicht vergessen, doch er wiederholte sie nicht, schien auch nicht wirklich an der Antwort interessiert.

Wortlos trennten sich unsere Wege, dennoch blieb meine Aufmerksamkeit weiter bei ihnen.

Es war bei Weitem interessanter, ihren Gedanken zu lauschen als denen der Menschen um mich herum – sie wiederholten sich nur und drehten sich immer noch nur um Swan.

Zumindest fast interessanter.

Rosalies Gedanken drehten sich ausschließlich um ihr neues „Baby“, einen Wagen, den sie erst vor kurzem neu erworben hatte, während Em ebenfalls an sein „Baby“ dachte – Rose.

Jasper versuchte sich mit irgendetwas abzulenken, schwelgte in Erinnerungen, die nicht im Entferntesten irgendetwas mit Menschen oder ihrem Geruch zu tun hatten, und landete deswegen bei den Nächten, die er mit Alice verbrachte. Eindeutig unmenschlich.

Schnell verschwand ich wieder aus seinem Kopf und lauschte Alice, die um Jaspers Zustand besorgt war und deswegen auf jeden möglichen Weg seiner Zukunft achtete.

Und auch wenn kein einziger davon einen toten Menschen, umgebraucht und ausgesaugt von ihrem geliebten Gefährten, als Ergebnis hatte, wurde ihre Sorge nicht geringer.

Im Gegenteil.

Wir mussten heute Abend jagen gehen – ein Risiko einzugehen war etwas, das wir uns nicht leisten konnten. Wenn Jasper es nicht mehr aushielt, dem Drang, der Versuchung zu widerstehen, dann musste Abhilfe geleistet werden.

Wir durften uns nicht den geringsten Fehler erlauben, wenn es darum ging, uns vor unserer Offenbahrung als das, was wir wirklich waren, zu offenbaren.

Als blutsaugende Monster.

Und dass wir selbst uns als „Vegetarier“ sahen, da menschliches Blut nicht auf unserem Speiseplan stand, machte im Fall eines Fehlers keinen Unterschied.

Bei einem solchen Fehler waren wir eins mit all den anderen Vampiren, die dieses Land durchstreiften und genau das wollten wir und besonders Carlisle, unser Vater, so viel älter als wir alle, seit unserer Entscheidung für diese Lebensweise verhindern.

Noch immer lauschte ich ihren Gedanken, als ich bereits in dem Raum saß, in dem meine nächste Unterrichtsstunde stattfinden würde und nur die Tatsache, dass die Gedanken der anderen Schüler im selben Raum sich plötzlich wieder um die Neue drehten, lenkte mich ein wenig ab.

Sie betrat den Raum und ging direkt zum Lehrer.

Die Arme.

Neben mir war der einzig freie Platz im Raum und ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als für den Rest des Schuljahres in Biologie neben mir zu sitzen, einem Wesen, das Menschen, vertrauten sie ihren Instinkten mehr als ihrem Verstand, fürchten sollten.

Ein Schuljahr voller Angst.

Und jetzt ärgerte es mich wieder, dass ich ihre Gedanken nicht hören konnte, ich nur auf ihren Atem und ihren Herzschlag achten konnte, der mir ungefähr verriet, was sie empfand.

Sie ging durch die Tischreihen und in den Gedanken der anderen sah ich, wie ihr Blick auf mir hing; ich konnte ihn förmlich spüren.

Nichts besonderes, immer noch.

Nur …

Als sie direkt neben meinem Tisch war und nachdem sie ihre Unterschrift abgeholt hat, auch ihrem Tisch, erfüllte ihr Geruch den Gang und danach den ganzen Raum.

Er traf mich unerwartet und ich zuckte zusammen.

Diese Macht, die von ihm ausging – nein, vielmehr die Verführung – war unbeschreiblich.

Seine Süße, sein Zauber war beispiellos, unrealistisch und in meiner Kehle entfachte ein unglaubliches Feuer.

Mein Hals brannte vor Schmerz. Vor Verlangen nach seinem Ursprung.

Dem Blut des Mädchens, das jetzt stolperte und sich an einem Tisch klammerte um nicht zu fallen.

Ich hatte ihre Augen auf meine gerichtet gesehen und ihre weiteten sich vor Angst, vor was auch immer sie in meinen gesehen hatte.

Ich versteifte und verkrampfte mich geradezu, wollte mich nicht bewegen und diesem Verlangen nachgeben.

Aber das Brennen war so unerträglich!

Ich müsste doch nur ein bisschen geduldig sein … nur bis zum Ende der Stunde … und dann ein paar kurze, nette Worte – das war alles, was nötig war. Ich bin ein Raubtier, das seine Beute ohne Gewalt verzaubern kann. Widerstandslos und ohne Ängste würde sie mir folgen, wohin auch immer … in eine kleine, dunkle Ecke. Irgendwohin, wo uns niemand sehen könnte … vollständig um den Verstand gebracht von meinen süßen Worten, meinem für sie alle schönen Aussehen, von der Tatsache, dass ich allein ihr meine Aufmerksamkeit schenkte, würde sie nichts von meiner Absicht merken.

Wenn meine Lippen die ihren berührten, nur ein schwacher Hauch, würde sie meinen Namen murmeln, zu mehr nicht fähig, und dann würden mein Mund ihre Lippen verlassen, ihren Kiefer und ihren Hals verwöhnen und dann, wenn er schlussendlich bei ihrer Halsbeuge angekommen ist, sich öffnen und …

Leise und bei der momentanen Lautstärke für den Lehrer nicht hörbar vibriert mein Handy in meiner Hosentasche und die kleine Ablenkung reißt mich aus meinen Träumereien heraus, macht den brennenden Schmerz in meinem Hals auf einmal wieder unerträglich realistisch.

Ich musste nicht auf das Display schauen, um zu wissen, dass es meine Schwester Alice war, die mich rettete – ihre Gedanken konnte ich bis hierhin hören, vorwurfs- und zugleich verständnisvoll.

Mein Blick löst sich nicht von diesem fremden Mädchen, während sie sich wieder umdreht und zu meinem Tisch kommt.

So weit, wie es der Tisch erlaubte, rückte ich von ihr weg, hielt den Atem an – ich brauchte ihn nicht. Und schon gar nicht, wenn die reine Versuchung nun für den Rest des Schuljahres in Biologie neben mir saß und dieses unglaubliche Brennen sich immer und immer wieder wiederholen würde.

Der Schmerz wurde schlimmer, ich konnte ihren Geruch um mich herum geradezu spüren, wie er die Luft erfüllte, scheinbar mit jeder Sekunde erschwerender werdend, nur um mich zu foltern.

Diese persönliche Pein wurde mit jeder weiteren ewigen Minute unerträglicher und dann bewegte sie auch noch ihre Hand, richtete ihre Haare so, dass sie ihr Gesicht verdeckten und wehte die mit ihrem Duft geschwängerte Luft zu mir rüber.

Das Feuer in meinem Hals brachte mich um.

Selbst der Schmerz meiner Verwandlung vor Jahrzehnten verblasste auf einmal verglichen mit dem, was dieses Mädchen mit mir tat.

Dabei reichten doch nur ein paar Worte – das war alles … oder noch nicht einmal das. Es war genug, wenn ich ihr nach Schulschluss nach Hause folgte. Ihr Vater würde dann noch nicht da sein und von ihr unbemerkt würde ich mich ins Haus schleichen und wenn sie mir den Rücken zuwendet ihren Oberkörper mit meinen Armen umfassen und nahezu sanft und liebevoll meine Zähne in ihr sanftes Fleisch drücken und dann – oh Gott – welch zuckersüße Erlösung würde mich durchrieseln!

Welch angenehm kühles Wasser würde das Feuer in meiner Kehle löschen und mich vor dem Feuertod erretten!

Das Mädchen würde nichts merken, nicht viel und bevor es überhaupt nur daran denken konnte, was genau mit ihr geschieht, wäre sie bereits tot.

Wie Schade, dass ich ihre Gedanken nicht lesen konnte …

Und wieder vibrierte das Telefon in meiner Hosentasche. Das stetig gleiche Summen schien genauso empört wie Alices Gedanken, die mich nahezu anschrieen. Die Sorge um Jasper war verschwindend gering verglichen mit dem, was ich tun könnte und würde, nur um das Blut dieses einen Mädchens zu kosten.

Ich würde unzählige Menschen töten, wie ich es bereits vor vielen Jahren tat – die Kinder hier im Klassenzimmer waren kein Hindernis. Sie wären schnell tot. Einem geübten Jäger wie mir entkommt keiner.

Edward! Hör auf!

Innerlich seufzte ich und die Luft schien fürchterlich in meiner Luftröhre zu kratzen, als ich sie aus meinem Körper entweichen ließ, schien dieses zerstörerische Feuer nur noch mehr anzustacheln.

Meine Hand ballte ich zur Faust über dem Handy, nahm den minimalen Widerstand, den ich spürte, als Erinnerung an das, was ich fast getan hätte.

Vielleicht war es ja genug, mich von einem fatalen Fehler abzuhalten.

Vor einer Minute erst dachte ich darüber nach, dass wir heute jagen müssten, Jasper zuliebe.

Und nun war ich derjenige, der eine Jagd, eine Ablenkung von dieser Versuchung, am nötigsten hatte – dieses Mädchen, Isabella Swan, war mein Untergang.

Ein Dämon aus meiner eigenen Hölle, um meine Existenz zu verraten und zu vernichten.

Jede einzelne Sekunde, jede weitere Minute tat ich nichts anderes, als einfach nur durchzuhalten.

Nichts anderes zu tun als das.

Nur noch bis zum Ende der Stunde.

Dann war ich frei von ihr.

Mehr brauchte ich nicht zu schaffen.

Und das schaffte ich.

Sicherlich.

Das wusste ich.

Nahm ich zumindest an.

Verdammt!

Zischend atmete ich durch die Zähne ein, wollte meinem Zorn Luft machen und bereute es sofort.

Nein, nicht nur ein Dämon aus meiner Hölle – der Teufel persönlich und er war gekommen, um mich zu vernichten. Und dazu brauchte es nicht mehr als seine pure Anwesenheit.

Ein bösartiger Teufel mit glänzenden roten Augen, der –

Ich schreckte geradezu zurück vor der Vorstellung, die sich nun in meinen Gedanken breit machte.

In ihr sah ich mich selbst und mir gegenüber meinen Vater Carlisle; in seinen goldenen Augen konnte ich mein Spiegelbild deutlich sehen: Schuldig und beschämt erwiderte ich seinen Blick aus eben jenen roten Augen eines Teufels.

Meine Augen sollten genauso golden sein.

Von derselben Angst, das Monster, das wir waren, wirklich zu sein, zeugen.

Doch mit diesem furchterregenden Rot taten sie das nicht. Das Rot war ein eindeutiger Beweis dafür, dass ich nicht anders war als all die anderen Vampire, von denen wir uns so deutlich distanzierten und worauf wir so unglaublich stolz waren.

Ich wollte meinen Vater nicht so dermaßen enttäuschen.
 

Kaum klingelte es zum Ende der Stunde, hatte ich das Zimmer nur Sekunden danach verlassen.

Es war mir egal, wen auch immer meine Geschwindigkeit nun verschreckt haben mochte – sie war noch menschenmöglich und das war das einzige, was zählte.

Ich hatte seit meinem letzten kleinen Fehler nicht mehr geatmet, hatte die Stunde über einfach nur still dagesessen und das Bild von mir und Carlisle in meinem Kopf gesehen.

Meine Schuld, meine Scham und seine unglaubliche Enttäuschung von seinem eigenen Sohn.

Und mit noch immer demselben Bild ging ich so schnell wie möglich ohne von meinen Vampirkräften Gebrauch zu machen zum Sekretariat.

Ich würde alles daran setzen, dieser Versuchung zu entkommen.

Doch ich wurde bitter enttäuscht und es wurde auch nicht im geringsten besser, als jenes Mädchen dann auch noch in den kleinen warmen Raum kam, der ihren Duft schnell und bis in die letzte Ecke erfüllte, als eine weitere Person die Tür öffnete und einen Windstoß hereinließ.

Ich drehte mich um, sah sie, Gänsehaut auf ihrer Haut und erfüllt von Angst.

Genau wie in meiner Vision von Carlisle und mir sah ich auch jetzt mein Spiegelbild in ihren braunen Augen und die meinen waren pechschwarz; wie mein verzweifelter Gesichtsausdruck wohl für sie aussah?

Für nur eine Sekunde verlor ich mich in ihren Augen, in meinem eigenen Spiegelbild und wurde an den Teufel mit den roten Augen erinnert.

Ich wandte mich von dem Teufel mit den braunen Augen ab und blickte wieder zur Sekretärin.

„Okay. Ich verstehe, dass es unmöglich ist. Haben Sie vielen Dank für ihre Mühe.“

Das klang höflicher und meine Stimme samtener, als ich mich wirklich fühlte.

Das Herz der Sekretärin, das ich zum Rasen brachte, ihr Blut, das schneller durch ihren Körper gepumpt wurde, wirkte geradezu ranzig und ungenießbar im Vergleich mit dem, was ich hinter mir vernaschen könnte und es wäre nur eine weitere Zeugin zu beseitigen – keine sonderlich große Schwierigkeit.

Die Frau nickte, beendete das Gespräch somit und ich verließ fluchtartig den kleinen Raum, sah das Mädchen nicht an, drehte mich nicht um, ging einfach direkt auf mein Auto zu, mit dem meine Geschwister und ich jeden Morgen zur Schule fuhren.

Noch war keiner von ihnen da und jede Sekunde schien sich ewig hinzuziehen, bis sie endlich überhaupt mein Sichtfeld betraten.

Hier in meinem Volvo roch nichts nach ihr, nur der Gedanke an ihren Geruch raubte mir den Verstand; ich atmete tief ein – nichts.

Nur mein Geruch, der den meiner Geschwister nur schwach überlagerte.

Dennoch beruhigte ich mich nur ein wenig, ungeduldig auf sie wartend, bis sie endlich kamen. Die letzte Tür war noch nicht einmal geschlossen, da trat ich bereits aufs Gaspedal und brachte und den Wagen herzloser als sonst aus der Parklücke und fuhr los, schneller als sonst.

Das Tempo beunruhigte keinen; einen Unfall würden wir im Gegensatz zu meinem Volvo unbeschadet überstehen, doch in ihren Gedanken hörte ich eindeutig ihre Sorge um mich.

Besonders bei Jasper.

„Du gehst?“

„Tue ich das?“

Meine Worte waren nicht mehr als ein Gemurmel, erfüllt von Zorn, der sich gegen diesen Dämon mit den roten Augen richtete. Gegen mich selbst.

„Wann kommst du wieder?“

Wann hatte ich denn gesagt, dass ich gehe?

Mit diesen Augen voller Zorn, der ihr nicht galt, sah ich meine Schwester Alice an, die sich auf den Beifahrersitz gesetzt hatte, ihre Augenbrauen in einer sorgenvollen Linie zusammengezogen.

In ihren Gedanken erinnerte sie sich an die Visionen von vorhin, in denen ich das Mädchen Isabella in eine dunkle Ecke lockte, sie verführte mit Stimme und Aussehen, um an ihr gottgleiches Blut heranzukommen.

„Hör auf!“

Meine Worte waren begleitet von einem leisen, aber doch deutlichen Knurren. Es jagte ihr keine Angst ein, aber dennoch wandte sie den Blick ab und entschuldigte sich in ihren Gedanken.

„Was ist los? Edward?“

Ich ignorierte Emmet.

„Edward!“

Und auch Rose beachtete ich nicht weiter.

Wenn du es nicht aushältst, solltest du wirklich gehen …

Das waren Jaspers Gedanken und wäre ich nicht so von meiner Wut auf mich selbst besessen, von dem Brennen in meinem Hals, das nur langsam abnahm, hätte ich Dankbarkeit gegenüber seinem Verständnis empfunden.

Doch jetzt achtete ich nicht drauf, als hätte ich es nicht gehört.

„Ich werde dich vermissen, Bruder …komm bitte schnell zurück …“

Es war nur ein Flüstern und noch immer sah sie mich nicht an.

Wir waren nur noch wenige Kilometer von unserem Haus entfernt.

Ich hielt den Wagen an der Seite an, riss die Tür auf, und rannte davon, ohne mich auch nur ein einziges Mal nach meinen Geschwistern umzudrehen.

Wie ein offenes Buch

Eigentlich grenzte es fast schon an ein Ding der Unmöglichkeit – und in meinen Augen war weitaus weniger unmöglich als für den Rest der Welt, – dass ich hier im Schnee saß, Stimmen hörte, die ich seit wenigen Jahren nicht mehr auf solch kurzer Distanz gehört hatte und genau genommen auch für die nächsten drei Jahre nicht hätte hören sollen.

Drei Jahre bis zum nächsten offiziellen „Familientreffen“.

Doch beim letzten Abschied von diesem Teil meiner Familie hätte ich nicht gedacht, dass ich sie so schnell wieder sehen würde.

Und noch weniger, dass ich ihre offenen Arme als Zufluchtsort gebrauchen würde.

Ich.

Geflohen.

Vor einem Menschen.

Ha. Guter Witz.

Je mehr ich die Luft, angereichert nur mit dem Düften des Waldes, frei von dem giftigsüßen Geruch von menschlichem Blut und das ihre nur in meiner Erinnerung, einatmete, desto mehr erschien es mir geradezu lächerlich.

Selten geschah es, dass ich mein Handeln als dermaßen ‚banal’ empfand wie dieses Mal. Ich schämte mich fast dafür.

Meine Gedanken drehten sich noch immer um sie und es brannte noch immer in meinem Hals, doch dieses Brennen begleitete mich seit 90 Jahren, dem Augenblick meiner Geburt. Und solange ich es spürte, wusste ich, ich handelte so, dass ich es nicht bereuen konnte.

Mit der Ausnahme, dass ich mein Handeln dieses Mal wirklich bereute, ohne gegen Carlisles Denken und Philosophie verstoßen zu haben.

Je öfter ich daran dachte, an sie, dieses Menschenkind, desto mehr könnte ich über mich selber lachen.

Ich lief weg.

Vor ihr und ihrem Duft.

Es klang so lächerlich.
 

Ich war nicht in ihrem Haus, saß davor im kalten Schnee und starrte in den schwarzen Himmel. Ich hatte gehofft, die Anwesenheit meiner Familie lenkte mich ab, doch stattdessen dachte ich weiterhin an sie. Natürlich war ich mir jetzt sicher, ihr „Zauber“ hätte nicht mehr die geringste Wirkung – oder immerhin nicht so eine starke – auf mich und das würde ich mir auch beweisen, aber es war dennoch irgendwie …

Meine Gedanken schweiften ab und lauschten, für eine Weile der Unterhaltung meiner Cousinen und meines Cousins. Sicherlich wussten sie alle, dass ich vor dem Haus saß, aber dennoch unterhielten sie sich über dieses Phänomen.

Sie hatten es selbst noch nicht erlebt und deshalb erschien ihnen diese Verführung umso überraschender und unverständlicher.

Nicht sonderlich hilfreich, aber ich glaubte sie verstehen zu können.

Ich war ihnen dankbar dafür, dass sie mich aufgenommen hatten und die klare Luft meinen Verstand reinigte. Mich von dem Glauben an eine Schwäche befreite, die ich nicht besaß.

Tanzend im Wind fielen die Schneeflocken vom Himmel, anmutig in ihren Bewegungen erinnerten sie mich an meine Schwester in Forks. Der Wind, der Flocken Partner, an meinen Bruder Jasper.

Seit einer Woche habe ich sie alleine gelassen, in Sorge verkümmern lassen, weil ich nicht angerufen hatte. Sie sollten sich nicht melden.

Esme würde es mir wahrscheinlich nicht so leicht verzeihen, dass ich ohne ein Wort gegangen bin.

Das Handy in meiner Tasche klingelte und sein Vibrieren an meinem Bein klang so, als läge es auf einem Stein.

Mit einer quälend langsamen Bewegung holte ich es aus meiner Hosentasche und starrte scheinbar endlos lang auf das Display.

Warum rief sie an? Sie wusste genau, dass ich nicht angerufen werden wollte.

Trotzdem klappte ich es auf und hielt mein Handy unnötigerweise ans Ohr, um meiner Schwester zuzuhören.

„Ich komme auf jeden Fall mit dir jagen! Hauptsache, du kommst endlich wieder!“

Ihre Stimme war nicht gerade leise und ich konnte mir geradezu lebhaft vorstellen, wie sie in ihrem Zimmer oder im Wohnzimmer oder wo auch immer sie war freudig auf- und abhüpfte und übers ganze Gesicht strahlte.

Ja, das war realistisch.

„Ich werde dann nachher auf dich warten.“

Nachher?
 

Ah, natürlich.

Ich hatte noch nicht daran gedacht, aber selbstverständlich.

Meiner Schwester entging nichts.

Sie wartete nicht auf meine Antwort, sondern legte einfach auf. Und als ich aufblickte, sah ich meiner Familie vor mir stehen, die gerade noch im Haus hinter mir war. Auf ihren Gesichtern ein bittersüßes Lächeln.

Ich versuchte Tanyas Gedanken nicht zuzuhören, all das, was sie eigentlich mit mir zu tun gedachte in ihren kühnsten Träumen. Sie wusste sehr wohl, dass ich sie hören konnte und dass ich gerade deswegen die Distanz zwischen uns auf dieser Ebene erweitern wollte, aber es fiel ihr schwer, sich zu beherrschen.

„Du gehst wieder?“

„Scheint so“, antwortete ich ihr mit demselben Lächeln, doch ich blickte sie nicht an, stand auf und sah immer noch weg.

„Komm bald wieder“, murmelte Tanya, ihre goldenen Augen auf mich gerichtet.

Ich erwiderte ihre Umarmung und auch die von Irina, Carmen und Kate. Eleazar klopfte mir einmal kameradschaftlich auf die Schulter, nickte mir zu, doch auch zu ihm schaute ich nicht, hielt meinen Blick weiter auf den Waldrand gerichtet. Die Richtung, in die ich gleich nach Hause laufen würde.

Ein letztes Danke für all die Gastfreundlichkeit und die bildliche Wärme ihrer kalten Arme und dann lief ich los.
 

Wie er sich nur so in ein Menschenmädchen verlieben konnte.
 

„Edward!“

Stürmisch wie meine kleine Schwester nun mal war, rannte sie auf mich zu, kaum, dass sie mich riechen konnte und umarmte mich.

Eine Geste, die sie bei ihrem geliebten Jasper nur selten gebrauchte, doch sie hatten auch andere Methoden, ihre Liebe füreinander auszudrücken.

Bei mir jedoch war das das etwas vollkommen anderes.

„Ich hab dich vermisst“, murmelte sie an meiner Brust und verharrte dort für mehrere Sekunden, dann, nachdem ich ihre Umarmung erwidert hatte, ließ sie mich los und strahlte mich mit ihren goldenen Augen an.

Ich sagte nichts, bemerkte nur mit Misstrauen den hellen Farbton.

„Alice.“

Es klang vorwarnend und eigentlich sollte die verstecke Aufforderung in ihrem Namen mehr als nur deutlich erkennbar für sie sein, aber Alice überging sie getrost und tanzte in ihrer leichten Art in Richtung Abendessen.

Und als sie stehen blieb und sich umdrehte, um auf mich zu warten, wusste ich, dass sie etwas vor mir verbergen wollte.

Vielleicht erahnte oder wusste sie sogar, dass ich ihr Verhalten bereits durchschaut hatte – und das ohne meine besondere Fähigkeit, – aber weder sie noch ich ließen uns etwas anmerken, sondern genossen einfach unser Abendmahl.
 

Ich glaubte, es war wirklich lange her, so viele unterschiedlichen Gedanken zu diesem Wetterumschwung gehört zu haben, doch leider die, die ich am liebsten gehört hätte – allein der Abwechslung wegen, – blieben natürlich still.

Kaum hatten wir meinen silbernen Volvo verlassen, verbalisierte meine Schwester ihre Gedanken über dieses Wetter, meckerte darüber, wie der Schnee ihre Haare ruinieren würde.

Natürlich wusste sie, dass ihre Haare durch das feuchte Wetter garantiert nicht ruiniert werden könnten – sobald sie getrocknet wären, hätten sie wieder dasselbe Volumen und denselben goldenen Schein, den ihre Augen nach der Jagd hatten.

„Verdammter Schnee!“, murmelte sie und entsprach damit vollkommen dem typischen Klischee von einer blonden (in ihrem Fall leider nicht blauäugigen) Schönheit. Und in ihren Gedanken hörte ich, dass sie sich nicht im Geringsten daran störte.

In den Gedanken eines meiner anderen Geschwister sah ich, wie sich in blassen Händen, übersäht mit halbmondförmigen Narben, ein perfekter weißer Schneeball formte.

Und dann sein Ziel nicht verfehlte.

„Jasper!“, keifte Rosalie lautstark und einige unserer Mitschüler drehten sich neugierig nach uns um und lachten, fast schon erfreut darüber, dass auch die berühmtberüchtigten Cullens nur Menschen waren.

Ich stimmte in Jaspers Lachen ein, allerdings lachte ich nicht nur über Rosalie, sondern auch über unsere „menschliche“ Seite.

Obwohl sie es nicht ernst meinte, denn Alice konnte ihrem Jasper nie wütend sein, blickte sie ihren Geliebten böse an und eilte zu ihrer Schwester um mit kleinen Fingern geschickt die Reste des Schneeballs aus ihren Haaren zu fischen.

Als wäre er dazu verpflichtet – und in gewisser Weise war er das auch,– griff Emmet zu dem Schnee zu seinen Füßen und erwiderte den Angriff. Normalerweise hielten sie mich aus diesen Spielereien raus.

Ich „schummelte“ ja immerhin.

Doch es überraschte mich nicht wirklich, als Emmet es dennoch versuchte. Ich sah den Schneeball aus sieben verschiedenen Perspektiven auf mich zufliegen und eine davon kannte ich bereits, da Alice es nicht für nötig hielt, diese Vision vor mir verborgen zu halten.

Ausweichen war absolut kein Kunstwerk.

Grinsend fing ich den Schneeball auf und warf ich in einer quälend langsamen Bewegung zurück zu meinem Bruder, der sich mit voller Absicht von ihm treffen ließ und laut darüber lachte.

Die Schneebälle flogen weiter, bis wir das Schulgebäude erreichten, dass unsere beiden Schwestern in ihrer Flucht schon längst betreten hatten.

Sie unterhielten sich leise erst über Rosalies Haare und dann über Mode an sich. Wie üblich.

Das Lieblingsthema der beiden, wenn sie uns auszuschließen gedachten.

Stolz und majestätisch schritten sie voran, ohne dabei auch nur ein bisschen ihrer Eleganz einzubüßen.

Emmet und ich folgten grinsend, fast schon lachend über Jaspers Versuch, sich bei seiner Schwester für den Schneeball zu entschuldigen.

Ich hörte in den Gedanken der vorbeigehenden Schüler, wie sie Jaspers kleines Theater, sein Bemühen um die Aufmerksamkeit seiner stolzen Zwillingsschwester mühelos glaubten, während Rosalie hingegen sehr wohl um das Spiel wusste, aber wirklich wütend war sie nicht.

Das spürte Jazz auch, beendete seinen kleinen Spaß aber nicht, bevor wir an unserem üblichen Platz in der Cafeteria saßen.

Dort angekommen grinste er nur noch breit und hörte auf, seine Schwester mit seinen halbherzigen Entschuldigungen zu nerven. Sie war immer noch nicht wirklich sauer und schüttelte nur den Kopf, der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit Alice zugewandt, doch nur für einen Augenblick.

Fast schon angeekelt lehnte sie sich zurück und von ihrem geliebten Emmet weg, als der seine nassen Haare in die Richtung der beiden Frauen schüttelte und den Tisch mit Wassertropfen übersähte.

Obwohl ich keinen weiteren Schneeball direkt abbekommen hatte (wie denn auch? Der Gedanke daran, dass ich mir wirklich nie ernsthaft Sorgen um Emmets Späße und Streiche machen musste, brachte mich immer wieder zum Schmunzeln – größtenteils deshalb, weil es ihn umso mehr aufregte), waren auch meine Haare voll von nun schmelzendem Schnee und fast vollständig durchnässt.

„Emmet – lass das“, murmelte Rosalie mit deutlichem Missfallen, doch als Antwort erhielt sie nur ein leises Lachen. Sie liebte Ems lockere Art, sie würde deswegen nie wirklich sauer auf ihn sein.

Schon wieder Edward.

Ich hatte nicht ernsthaft versucht, auf sie zu achten – warum der Versuchung früher in die Arme laufen als notwendig? – doch nun, als ich mein Namen hörte, blickte ich auf, sah zu der neuen Schülerin, die ebenso wie Jessica neben ihr mich ansah.

Aber natürlich. Jessica. Ihre Stimme in ihren Gedanken hatte einen leicht genervten Klang, als sie meinen Namen dachte. Ich beachtete sie nicht, sondern schaute sofort in die braunen Augen, die mich verfolgten, seit ich sie das erste Mal persönlich sah.

Es wäre zu schön gewesen, wenn diese eine Woche etwas geändert hätte, doch nichts.

Von ihrem Platz, obwohl ich sie direkt ansah und mir so vollkommen sicher war, dass sie nicht weggegangen sein konnte, hörte ich keinerlei Gedanken, nur ihren Atem und ihren Herzschlag. Nichts anderes.

Schüchtern, wie sie zu sein schien, wandte sie den Blick sofort wieder ab und ließ ihre Haare über ihr Gesicht verfallen, versteckte sich hinter einer Wand aus dunklem, braunem Haar.

Ich war froh, dass die Cafeteria voll war mit anderen Menschen und ich sie nur hören und nicht riechen konnte. Ich musste die nächste Konfrontation mit ihrem Geruch nicht wirklich früher erleben als es sein musste, auch wenn ich mir sicher war, widerstehen zu können.

Jessica beugte sich leicht zu ihr herunter, so dass ihr Mund nahe an dem unverdeckten Ohr Bellas war.

„Edward Cullen starrt dich an“, flüsterte sie und kicherte dabei.

Aber denk dir nichts dabei, meine Liebe. Er interessiert sich nicht für die Mädchen hier. Du bist sicherlich auch nicht lang interessant genug für ihn.

Wie wunderbar nett Menschen doch sein können, wenn sie eifersüchtig waren …

„Er sieht aber nicht sauer aus, oder?“, fragte Bella sie ebenso leise zurück und es sah so aus, als widerstrebte ihr es ein wenig, diese Frage zu stellen.

Ich hatte letzte Woche wohl einen schlechten Eindruck hinterlassen, den es zu bereinigen galt.

„Nein. Wieso sollte er?“

Er kennt dich nicht. Du kennst ihn nicht. Warum sollte er sauer sein?

„Ich glaub, er kann mich nicht leiden.“

Oh. Ich hatte wohl einen schlechteren Eindruck hinterlassen, als ich dachte.

Aber ich war mir sicher, dass ich es trotzdem schaffen würde. Ich wollte wissen, was in diesem Menschen vorging, wenn ich es nicht hören konnte. Vielleicht würde es schwer werden, schwerer als ich es mir ausmalte, aber ich glaubte trotzdem an meinem Sieg. Ohne ihren verführerischen Duft konnte ich sie sehr wahrscheinlich so behandeln wie jeden anderen Menschen auch.

„Die Cullens können niemanden leiden. Na ja, eigentlich beachten sie niemanden genug, um ihn leiden zu können. Obwohl – er schaut dich immer noch.“

Erstaunlich … sollte er doch wirklich ernsthaftes Interesse haben?

„Hör auf, ihn anzugucken“, zischte sie und Jessica gehorchte mit leisem Kichern, ich selbst jedoch beobachtete sie noch für eine Weile, schaute ihrem dunklem Haar dabei zu, wie es bei jeder leichten Bewegung in der Luft tanzte, wie sie ihre braunen Augen auf ihre Schulkollegen um sie herum richtete, je nachdem, wer gerade sprach, und am liebsten im Boden versunken wäre, als Mike Newton eine Schneeballschlacht nach dem Unterricht plante.

Sie mochte den Schnee nicht, sagte aber nichts zu Newtons Plänen, ihre Freundin Jessica hingegen war vollkommen begeistert … so wie von fast allem, was Newton vorschlug. Um ihre Schwärmerei für ihn zu erkennen musste man keine empathischen Fähigkeiten besitzen wie mein Bruder; dass Newton das nicht sah, ließ ihn in meinen Augen als geradezu blind erscheinen.

Und taub ebenso.

Konnte er nicht hören, wie sich die Schneeflocken bereits in Regentropfen verwandelten und als solche auch am Fenster landeten? Es war so laut. Aber vielleicht waren es für seine Ohren auch einfach zu feine Geräusche. Umso besser.

Für die restliche Pause über hatte ich sie immer im Blickfeld, wenn auch größtenteils nur aus den Augenwinkeln und widmete den Rest meiner Aufmerksamkeit meinen Geschwistern; Rosalie und Alice sichtbar erleichtert, dass es für heute genug geschneit hatte und Em und Jazz ebenso sichtbar enttäuscht, dass sie zu Hause keine vernünftige Schneeballschlacht haben konnten, ohne sich dabei zu verstellen und das sein konnten, was sie waren: Hoffnungslos verspielte Vampire.

Wäre ich nicht geradezu besessen von der Idee, mir selbst meine Stärke zu beweisen gegenüber dieser Verführerin, hätte ich mich vielleicht von ihrer Enttäuschung anstecken lassen können.

Als die Pause zu Ende war, blieben wir noch sitzen, während der Rest sich mehr oder weniger hektisch erhob und zu den entsprechenden Häusern ging.

Edward.

Ich blickte nicht zu meiner Schwester, sondern sah weiter auf Ems Gesicht, der Jasper gerade irgendetwas erzählte – ich hatte nicht zugehört.

Doch auch ebenso wenig hatte ich Alices Visionen gelauscht, obwohl diese meistens Priorität hatten. Wie unaufmerksam dieses Mädchen mich doch machte.

Innerlich schüttelte ich den Kopf, wartete aber geduldig darauf, dass Alice in ihren Gedanken weiter sprach.

Es wird funktionieren. Du wirst ihr nichts tun.

Das sagte sie jetzt.

Aber ob das nachher immer noch so war?

Dann, wenn die Versuchung doch zu groß für mich war?

Nein. Ich war stark genug. Ich schaffte das. Auch wenn ihr Duft in meiner Erinnerung meinen Hals verbrannte und ich genau wusste, dass meine Erinnerungen mich seit Jahrzehnten nicht mehr trügen konnten, glaubte ich ihnen nicht. So verführerisch kann sie nicht gewesen sein.

Ich schaute Alice direkt ins Gesicht und nickte, die Kiefer fest aufeinander gepresst.

„Ich hoffe es. Ich hatte nicht vor, meine Meinung zu ändern.“

Ich sprach dieses Gedanken laut aus und bekam so auch die Aufmerksamkeit meiner Geschwister und es dauerte keinen einzigen Augenblick und sie wussten, was sie nicht mitbekommen hatten.

Rosalie sagte nichts, sie wandte sich ab und ging vor; sie hätte sich nicht weniger um das Schicksal von diesem neuen Mädchen kümmern können. Sie glaubte nicht daran, dass ich nachgeben könnte. Sie vertraute Alices Visionen, obwohl sie wusste, wie schnell sie sich ändern konnten. Doch sie war sich sicher, wenn ich doch nachgab, doch Schwäche zeigte, dann wüsste ich trotzdem, es so anzustellen, dass wir nicht gefährdet waren.

Welch wunderbares Vertrauen in Fähigkeiten, die ich nicht testen wollte.

Emmet und Jasper sagten nichts, obwohl ich in ihren Gedanken hörte, ich solle es lieber lassen. Wieder nach Hause fahren. Der Versuchung nicht noch mehr Chancen geben – das, was ich bereits gedacht hatte.

Mitfühlend klopfte Emmet mir auf die Schulter, seine Gedanken leider in dieselbe Richtung gehend wie die von Rosalie, obwohl er wenigstens Mitgefühl für dieses Mädchen zeigte.

„Ich schaffe das. Ich werde sie nicht umbringen. Ich kann widerstehen.“

Ich sagte es mehr zu mir selbst als zu Jasper und Alice, doch sie nickten und ich ging mit ihnen das bisschen an gemeinsamen Weg, bevor wir unterschiedliche Wege gehen mussten um zu unseren Unterrichtsräumen zu kommen.

Nur eine Stunde Biologie mit ihr.

Das konnte ich schaffen.
 

Natürlich kam ich nach ihr im Biologieraum an. Sie saß bereits auf ihrem Platz, lag halb auf dem Tisch und malte auf ihrem Heftumschlag. Der abwesende Ausdruck in ihren Augen verriet, dass sie der Malerei nicht viel Aufmerksamkeit schenkte, ich konnte aber dennoch ein System in ihr erkennen.

Und natürlich erkannte ich auch sofort in ihren Duft und spürte im gleichen Moment auch wieder dieses fürchterliche Brennen in meinem Hals, doch es war erträglich, abgeschwächt durch die Mischung mit den anderen Gerüchen, die den ihren minimal überlagerten.

Das Mädchen blickte nicht auf, als ich meinen Stuhl geräuschvoll – für mich zumindest, für sie und den Rest der Menschen im Raum ziemlich leise – über den Boden zog, meine Sachen auf den Tisch fallen ließ und mich hinsetzte.

Intensiver als ich es in meiner unfehlbaren Erinnerung gerochen hatte, verbrannte ihr Duft die Luft und damit meinen Hals; mein ganzer Körper loderte in jedem Bruchteil einer Sekunde, in dem ich dieser Versuchung, dieser Verführung unterlag.

Wie, verdammt, hatte ich mich so irren können!?

Meine Erinnerung als der Vampir, der ich nun einmal seit fast einem Jahrhundert war, hätte perfekt, mir ihre Macht in derselben Stärke zeigen müssen, wie ich es in jenem Moment erlebte, doch das hier, die Wirklichkeit, war Ewigkeiten schlimmer. Nie hätte ich gedacht, dass ich von meinem eigenen Stolz und meiner eigenen Arroganz dermaßen hätte geblendet werden können.

Für einen Augenblick schloss ich die Augen, atmete tief durch und spürte, wie das Feuer jeden Bereich meines Körpers erfüllte und mich gnadenlos in Asche verwandelte. Doch als ich die Augen öffnete – und es war geradezu lächerlich, – war ich ernsthaft erstaunt darüber, mich nicht als Haufen Asche wieder zu finden.

Ich sah meinen persönlichen Teufel an.

„Hallo“, grüßte ich ihn und versuchte, jegliche Anstrengung aus meiner Stimme zu verbannen.

Ich war nicht durstig. Ich war das Wochenende über mit meiner Schwester jagen gewesen und es war genug. Ich würde ihr nichts antun, dessen war ich mir sicher, obwohl ich das Monster in mir bei dieser Entscheidung laut knurren hörte. Ich war stark genug.

Überrascht, dass ich sie angesprochen hatte, blickte sie auf, sie setzte sich gerader auf ihren Stuhl, doch ihre Hand ruhte noch immer über ihrem Heft, der Stift genau über den Punkt, wo sie ihn zuletzt abgesetzt hatte.

Mit derselben Höflichkeit, mit der ich dieses Teufelsspiel begonnen hatte, sprach ich weiter: „Ich heiße Edward Cullen. Ich bin letzte Woche nicht dazu gekommen, mich vorzustellen. Du musst Bella Swan sein.“

Mein ganzes Augenmerk galt ihr und ihren Reaktionen und doch sah ich in einem momentan untergeordneten Teil meines Gehirns mich selbst und Bella aus einer anderen Perspektive; ein bitterer Geschmack bei diesen Gedanken war unübersehbar. Ich musste mich nicht darauf konzentrieren, um zu wissen, dass Newton derjenige war, der Eifersucht bei diesem Anblick empfand. Er schien ziemlich besessen von dem neuen Mädchen zu sein, das mich wie gebannt ansah und nicht antworten konnte.

Geduldig wartete ich.

„W-woher weißt du, dass ich Bella heiße?“, stotterte sie schließlich, völlig aus dem Konzept gebracht durch meine Vorstellung, die anscheinend überhaupt nicht zu ihren vorherigen Gedanken passte.

Ich lachte leise über ihre Reaktion.

„Oh, ich würde sagen, alle hier wissen, wie du heißt. Die ganze Stadt hat auf deine Ankunft gewartet.“

Und es war noch nicht mal übertrieben. Kaum hatte ich meinen Mund wieder geschlossen, verzog sie das Gesicht. Allein der Gedanke schien ihr zu missfallen und gleichzeitig schien sie genau das vorhergesehen zu haben. Der ganze Rummel um sie selber, den ich am ersten Tag in den Gedanken fast aller hatte erleben müssen, hätte ihr kaum mehr zuwider sein können.

Doch sie ging nicht weiter darauf ein: „Nein, ich meine, warum hast mich Bella genannt, nicht Isabella?“

Was? Hatte sie nicht absolut und ausnahmslos jeden verbessert, der sie bei ihrem vollen Namen nannte? Dieses Mal war ich mir bei meinen Erinnerungen absolut sicher. Niemand sollte sie Isabella nennen. Warum ich?

„Ist dir Isabella lieber?“

Unmöglich.

„Nein, ich mag Bella. Nur dass Charlie, also mein Dad, mich anscheinend hinter meinen Rücken Isabella nennt, jedenfalls scheint mich jeder hier unter diesem Namen zu kennen“, erklärte sie und ich erinnerte mich an den ersten Tag. Es hieß wirklich immer nur Isabella.

„Ah.“

Ich sagte nichts weiter, da in diesem Moment unser Lehrer hinein kam und den Ablauf der Stunde bekannt gab. Er sagte mir nichts neues, ich hörte nicht zu, sondern blickte lieber auf das Mädchen neben mir, dessen Gedanken ich nicht hören konnte. Ich versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, was ich nicht hören konnte, doch es ergab keinen Sinn. Dass ich selbst in ihrem Gesicht nicht lesen konnte, war fast frustrierender als ihre stummen Gedanken oder die unendliche Versuchung ihres Geruchs.

Mr Banner gab das Zeichen, damit wir mit der Übung fangen sollten, die er gerade erklärt hatte.

Ich lächelte sie an: „Ladies first?“

Sie reagierte nicht, sah mich nur an und schien in ihrer Bewegung erfroren zu sein.

Ihre braunen Augen starrten mich an, ihre Lippen gaben keine Antwort.

Ich verstand es nicht.

„Ich kann auch anfangen, wenn du willst“, bot ich ihr an und holte sie damit aus ihrer Bewegungslosigkeit. Sie schüttelte den Kopf und griff nach dem Mikroskop. Ihre Wangen färbten sich rot und obwohl es mich schmerzlich an ihr so göttlich riechendes Blut erinnerte, verschönerte es ihr Gesicht auf absurde Weise.

Selbstsicherer als ich es nach ihrer Reaktion erwartet hatte, legte sie den ersten Objektträger unter die Linse und betrachtete im Vergleich mit ihren Mitschülern recht kurz das Objekt. Ebenso sicher klang ihre Stimme, als sie „Prophase“ sagte – auch sehr viel sicherer, als ich gedacht hatte.

„Lässt du mich auch einen Blick drauf werfen?“, fragte ich sie, als sie den Objektträger bereits wechseln wollte. Ich griff nach ihrer Hand mit einer federleichten Berührung, trotzdem zuckte sie zusammen und zog ihre Hand zurück.

Ah ja, die Kälte …

Mit einer langsamen Bewegung zog ich das Mikroskop zu mir herüber und blickte kurz durch das Okular; der Objektträger war bereits ein wenig verrutscht und ein Mensch hätte durch das die Linse nichts mehr erkennen können. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie mich die ganze Zeit über ansah. Gelinde überrascht bestätigte ich ihre Aussage und notierte sie auf unserem Protokoll.

Ich wechselte den Objektträger gegen den nächsten und begann bereits mit dem Schreiben, als ich noch hineinschaute, blickte aber für den letzten Buchstaben auf das Papier. Die übliche Schauspielerei.

„Darf ich?“, fragte sie und ihre Stimme hatte kaum etwas von ihrer vorherigen Sicherheit verloren, sie wirkte nicht eingeschüchtert durch meine selbstverständliche Annahme, im Recht zu sein. Derselbe Ausdruck in ihren Augen wankte ein wenig, als sie sah, dass ich tatsächlich Recht hatte.

Mit demselben Prinzip verfuhren wir bei den letzten Präparaten, doch ich achtete genau darauf, ihre Haut nicht zu berühren, als sie nach dem dritten fragte, und es dabei gleichzeitig doch natürlich aussehen zu lassen.

Wie erwartet hatten wir die aufgetragene Arbeit schneller als schneller als andere anderen erledigt und ich sah, wie sie den Blick ein wenig schweifen ließ. An was sie wohl dachte? Ihr Gesicht verriet nichts.

Es dauerte nicht lange und auch sie sah mich an; weil sie meinen Blick auf sich gespürt hatte, einfach nur so – ich wusste es nicht.

Dafür war es umso offensichtlicher, dass ihr gerade etwas auf- oder eingefallen zu sein schien.

„Hast du Kontaktlinsen bekommen?“

Wieder: Was? Dieses Mädchen war nicht nur anders in einer undefinierbaren Weise, es war auch noch aufmerksamer als die ganze restliche Schule zusammen.

Doch natürlich ging ich nicht darauf ein. Ich verneinte ihre Frage und sah weg.

„Oh“, sagte sie undeutlicher als zuvor. „Ich hatte das Gefühl, dass deine Augen irgendwie anders sind.“

Ich seufzte innerlich. Natürlich waren sie anders. Mein eigenes Spiegelbild, das ich in ihren Augen gesehen hatte, hatte mich mit pechschwarzen Augen angestarrt, in ihnen deutlich meine Schwäche zu erkennen. Nie hätte ich ihr zugetraut, so …

Meine Gedanken unterbrachen sich, als das furchtbare Brennen in meinem Hals, das die Neugier auf dieses Mädchen etwas unterdrückt hatte, wieder Überhand nahm.

Das Verlangen war groß, riesig, unerträglich, aber nicht unwiderstehlich. Ich war stark genug ihr nichts anzutun. Ich wollte ihr nichts antun. Es war nahezu eine ungemeine Erleichterung, als Mr Banner bei seiner Runde durch den Klassenraum zu uns kaum und eine Welle frischer Luft mit sich brachte.

„Edward, meinst du nicht, Isabella hätte auch ein wenig mit dem Mikroskop üben sollen?“, fragte er, als er einen Blick auf unser Protokoll warf und seinen Verdacht, ich hätte die ganze Arbeit übernommen, sofort in etwas freundlichere Worte eingehüllt verbalisierte.

„Bella“, verbesserte ich ihn mehr unbewusst als wirklich entschieden. „Um ehrlich zu sein, drei der fünf hat sie identifiziert.“

Er sah sie mit einem Ausdruck in den Augen an, der seine Gedanken deutlich verriet: Nach seinem ersten Eindruck von ihr hatte er ihr solches Wissen nicht zugetraut.

„Hast du die Übung schon mal gemacht?“

Auf ihren Lippen erschien ein verlegenes Lächeln: „Nicht mit Zwiebelwurzeln.“

„Mit Fisch-Blastula?“

„Hm-mhh.“

„Warst du in Phoenix in einem College-Vorbereitungskurs?“

„Ja.“

Das schien ihn mehr zu überraschen als mich. Ich hatte sie nicht für dumm gehalten (und nie im Leben so dumm wie Newton, der mir genauso wie unserer Lehrer stumm vorwarf, ihr keinerlei Möglichkeit gegeben zu haben, sich selbst zu beweisen), genau genommen hatte ich mir überhaupt kein Bild bezüglich ihrer Intelligenz gemacht und das vorliegende Ergebnis war angenehm positiv.

Ein schlaues Mädchen also, das mit dem Bestehen eines Vorbereitungskurses die meisten Schüler dieses Kurses in den Schatten stellte.

„Na ja. Vielleicht ist es ganz gut, dass ihr zusammensitzt“, meinte er, bevor er seine Runde fortsetzte und im Weggehen etwas für sie sicherlich unverständliches murmelte: „Damit die anderen Kinder auch was lernen können.“ Doch sie sah auch nicht so aus, als hätte sie es verstehen wollen; sie malte bereits wieder auf ihrem Heft herum, das Muster fortsetzend, das sie vor der Stunde angefangen hatte.

„Schade mit dem Schnee, nicht wahr?“, fragte ich sie, um das Gespräch aufrecht zu halten. Ich fand es nicht wirklich schade, aber es war eine Frage, die ich heute oft genug gehört hatte und außerdem ein einfaches Thema. Mit dem Wetter konnte man selten etwas falsch machen.

„Ehrlich gesagt, nein“, antwortete sie und fiel damit vollkommen aus dem typischen Frage-Antwort-Spiel des Tages heraus. „Nein“ war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte. Der Ausdruck in ihren Augen war zweifelnd, als würde sie diese Worte nie im Leben ehrlich aussprechen können.

„Du magst die Kälte nicht“, vermutete ich und fühlte mich unangenehm an unsere unabsichtliche Berührung erinnert. Wie sie zurückgezuckt war, als ihre warme Hand meine eiskalte berührte.

„Genauso wenig wie die Nässe“, ergänzte sie.

„Dann ist Forks wohl nicht gerade ein angenehmer Ort für dich.“

„Wenn du wüsstest“, murmelte sie leise und fast schon genervt, doch weniger von mir als von dem Wetter draußen. Ich sah sie weiter an, neugierig darauf, was in ihrem Kopf vorging. Nichts von dem, was sie gesagt hatte, passte in das typische Schema, an dem ich mich zu Anfang orientieren wollte. Sie war anders als die restlichen Menschen, für die ich doch sonst ein überdurchschnittlich gutes Verständnis hatte.

„Warum bist du dann hergezogen?“

Für einen winzigen Augenblick schien sie überrascht, doch dann antwortete sie knapp: „Komplizierte Geschichte.“

„Ich bin mir sicher, dass ich folgen kann.“ Aber nicht so sicher, dass ich es wirklich wissen sollte. Doch wenn die Neugier das Brennen nahm, war ich gerne bereit, weiterzufragen – zumal zwischen sollte und wollte so oder so ein riesiger Unterschied bestehen konnte.

Doch sie antworte lange Zeit nicht, sah auf ihre Hände und verwehrte mir den Blick in ihr Gesicht, in ihre Augen, wo ich doch zuvor ihre Gedanken zu lesen versucht hatte. Nichts verriet mir, wann sie wieder etwas sagen würde und die Ungeduld, die in mir wuchs, war grauenhaft.

Am liebsten hätte ich ihr mit einer weiteren, noch leichteren Berührung als vorhin das Kinn sanft nach oben gedrückt, damit sie mich ansehen musste, doch ich scheute davor zurück, erneut in dem Brennen unterzugehen, das mittlerweile mehr als nur erträglich war.

„Meine Mutter hat wieder geheiratet“, sagte sie plötzlich und sah mich wieder an. Erleichterung durchströmte mich, als ich endlich wieder in ihre braunen Augen sehen konnte, die bei ihrem Worten einen traurigen Ausdruck bekamen.

„Das klingt doch gar nicht so kompliziert“, erwiderte ich und hörte den weichen Ton in meiner Stimme, auf den ich es nicht einmal absichtlich angelegt hatte. Ich wollte diesen traurigen Schatten in ihren Augen verscheuchen, er störte dieses durchaus schöne Gesicht. „Wie lange ist das her?“

„Letzten September.“

„Und du kannst ihn nicht ausstehen“, riet ich und hoffte, egal, ob ich richtig oder falsch lag, weitere Antworten aus ihr zu bekommen.

„Nein, Phil ist schon okay. Zu jung vielleicht, aber eigentlich nett.“

Doch dann wiederum verstand ich nicht, was sie dagegen haben sollte, dass ihre Mutter wieder geheiratet hatte. Es passte nicht.

„Phil ist viel unterwegs. Er ist Baseballprofi“, fügte sie hinzu und ihre Lippen umspielte ein schwaches Lächeln.

Glücklich darüber, dass dieser bedrückte Ausdruck in ihren Augen verblasste, erwiderte ich ihr Lächeln und hoffte, es damit zu festigen und gleichzeitig war es fast so was wie eine automatische Reaktion auf ihr Lächeln.

„Kenne ich ihn?“

In meinem Kopf ging ich alle Baseballspieler durch, die mir einfielen und fragte mich, welcher davon wohl ihr Phil war.

„Würde mich wundern. Er ist kein guter Baseballprofi. Nur Minor League. Er spielt, wo er kann.“

Kaum hatte sie ausgesprochen, verschwanden auch schon all die Bilder der Sportler aus meinem Kopf und ich beschäftigte mich wieder mit den Möglichkeiten, die sie bewogen haben könnten, herzuziehen.

„Und deine Mutter hat dich hergeschickt, damit sie mit ihm mitreisen kann“, riet ich weiter – das war die nächste Möglichkeit, die meiner Meinung nach am wahrscheinlichsten war.

Doch ich lag wieder daneben. Sie schob ihr Kinn nach vorne, schien sich plötzlich über meine Bemerkung aufzuregen.

„Sie hat mich nicht hergeschickt. Ich hab mich selbst geschickt.“

Doch warum sie sich darüber aufzuregen schien, blieb mir unverständlich. Ebenso wie ihre Aussage, dass sie sich selbst hergeschickt haben sollte. Es ergab keinen Sinn. Warum hätte sie etwas dergleichen tun sollen, wenn sie die Kälte und Nässe nicht ausstehen konnte? Hier gab es nichts anderes. Und weiterhin warum, wenn sie nichts gegen den Mann hatte, den ihre Mutter geheiratet hatte?

Ich verstand sie nicht und ich hasste es, das zugeben zu müssen.

„Ich verstehe nicht.“

Sie seufzte, erklärte dann die Situation: „Zuerst blieb sie bei mir in Phoenix, aber sie vermisste ihn. Sie war unglücklich … Also dachte ich mir, es wäre eine gute Idee, meine Beziehung zu Charlie ein wenig aufzufrischen.“

Das erklärte ihren Grund, aber nicht, warum sie es wirklich getan hatte. Es blieb immer noch ihr Hass gegenüber dem Klima übrig – war ein solch starkes Gefühl der Abneigung für die meisten Menschen nicht Grund genug, etwas nicht zu tun? Warum tat sie es dann doch? Vor allen Dingen, wenn sie jetzt so niedergeschlagen deswegen war?

„Aber jetzt bist du unglücklich.“

Ich sagte das, was ich klar und deutlich in ihrem Gesicht sehen konnte.

„Und?“

Was und? Es ging doch immerhin um sie.

„Ist das gerecht?“, fragte ich sie, versuchte zu lesen, was ich nicht hören konnte und dabei gleichzeitig, mir den Frust über mein Scheitern beim Lesen nicht anhören zu lassen. Ich wurde aus ihr einfach nicht schlau.

Sie lachte kurz auf.

„Seit wann ist das Leben denn gerecht?“

„Jetzt, wo du’s sagst – stimmt, seit wann?“

Das Leben war noch nie gerecht. In keiner einzigen Sekunde seit Anbeginn des Seins. Leben war ein Kampf, in dem Schummeln erlaubt, geradezu Regel, war. Das Wesen wie ich existierten war der beste Beweis.

„Das ist die ganze Geschichte“, sagte sie und es klang, als wollte sie das Thema damit abschließen und nichts weiter sagen. Sie hatte zu Anfang gesagt, ihre Geschichte sei kompliziert und in ihrer besonderen Weise hatte sie sogar Recht damit gehabt.

Fast musste ich darüber lachen.

Sie zu lesen, sie zu verstehen war kompliziert, sie selbst war kompliziert, das Ergebnis jedoch war einfach: Das Mädchen, von dem so viele ausnahmslos begeistert waren, von dem viele so hingerissen waren – und das bezog sich leider größtenteils auf den männlichen Teil der Schüler, – war selbstlos. Ihre eigenen Bedürfnisse standen für sie nicht an erster Stelle.

Eine Eigenschaft, die ich selten zu sehen bekam. Nur sehr wenige Menschen hier dachten so wie sie.

„Du verstellst dich ausgezeichnet. Aber ich wette, dass es dir viel mehr ausmacht, als du irgendjemanden zeigst.“

Vielleicht war es mehr geraten als gewusst. Ich konnte es nicht wissen.

Ich wusste nicht, was für eine Antwort, oder besser, was für eine Reaktion, ich erwartet hatte, aber dennoch glaubte ich, im Recht zu sein. Glauben konnte nicht schaden. Kostete nichts.

Wie vorhin schon einmal verzog sie ihr Gesicht und blickte danach weg. Trotzig und dickköpfig wie ein kleines Kind.

„Hab ich Unrecht?“

Es wirkte nicht so. Sie schaute weiterhin irgendwo anders hin, nur nicht auf mich, und tat so, als würde sie meine Frage einfach nicht hören.

Wirklich wie ein kleines Kind. Dieses Mal lachte ich innerlich wirklich.

„Dachte ich’s mir doch“, murmelte ich und war zufrieden mit der Bestätigung meines Glaubens, was ihre Reaktion betraf.

„Was interessiert dich das denn?“, fragte sie und ich konnte den verärgerten Ton aus ihrer Stimme deutlich raushören. Aber sie hatte Recht.

„Das ist eine sehr gute Frage“, antwortete ich leise und ich war mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt für sie bestimmt war. Was interessierte sie mich? Was interessierte es mich, ob sie sich verstellte, weil niemand sehen sollte, wie schwer sie es mit dem Umzug nach Forks hatte?

Auch wenn ich darauf keine Antwort geben konnte, wusste ich, es interessierte mich mehr, als gut für mich war.

Sekunden verstrichen, in denen ich meinen Blick nicht von ihr lösen konnte, sie aber auf Mr Banner starrte, wie er durch den Raum ging und mit wem auch immer sprach. Niemand anders außer diesem Mädchen zählte gerade für mich.

Sie seufzte und ihr Ärgernis war von ihrer Stimme in ihrem Blick gewandert; die Augenbrauen zusammengezogen schaute sie nun genervt zur Tafel.

War es wegen mir?

„Nerve ich dich?“

Ich hatte nicht einmal darüber nachgedacht, diese Frage zu stellen. Mein Mund sprach einfach aus, was mein Kopf zuvor gedacht hatte.

Ich rechnete eindeutig mit einem Ja. Ich befragte sie zu ihrem Leben, obwohl es mich nichts anging und weder sie mich noch ich sie kannte. Ich hatte kein Recht dazu, so forsch in ihr Leben einzudringen und es wäre nur recht und billig, sagte sie Ja.

Und doch … würde sie meine Frage bejahen, dann entspräche sie überhaupt nicht dem Konzept der restlichen Schülern hier, die so vollständig von unserer Schönheit gefangen waren, dass sie nie im Leben auf die Idee kämen, etwas zu sagen, das ihnen unsere Aufmerksamkeit entziehen könnte.

Wie sie wohl reagieren würde?

Ich wagte nicht einmal zu raten, obwohl ersteres so offensichtlich, fast schon natürlich schien.

Endlich sah sie mich wieder an.

„Nicht du, ich nerve mich.“ Knapp daneben ist auch vorbei. „Ich bin so leicht zu durchschauen – man kann mir alles vom Gesicht ablesen. Meine Mutter nennt mich immer ihr offenes Buch“, sagte sie und runzelte ihre Stirn.

Wie gerne würde ich die Denkweise ihrer Mutter haben.

Dieses Mädchen und einfach zu lesen? Was tat ich, der ich schon seit fast 100 Jahren die Gedanken von Menschen lesen konnte, bei ihm falsch?

„Im Gegenteil, ich finde es außerordentlich schwer, dich zu durchschauen.“

Außerordentlich schwer bis hin zu unmöglich.

„Dann bist du wohl besonders gut darin.“

„Normalerweise schon.“

Ich konnte nicht widerstehen und grinste sie breit an. Wenn sie wüsste. Menschen zu durchschauen gehörte zu meiner Natur.

Unser Gespräch fand ein abruptes Ende, als Mr Banner die Aufgabe für beendet erklärte und nun mit der Aufklärung plus Erklärung begann, für die er schon seit geraumer Zeit einen perfekten Anfang überlegte. Bestimmte Redewendungen, die vorhin schon in seinem Kopf kursierten, wiederholten sich und es fühlte sich an wie ein Déjà-vu, das auf das nächste folgt.

Die Klasse war ruhig und es wäre ein fürchterlicher Fehler gewesen, jetzt zu versuchen, das Gespräch mit Bella fortzusetzen. Mr Banner war so oder so der Meinung, wir hätten genug und sogar viel zu viel Zeit gehabt, uns mit unwichtigeren Dingen zu beschäftigen, die nichts mit dem Unterricht zu tun hatten. Er hatte nicht gelauscht, dafür war er zwischenzeitlich zu sehr auf die restlichen Schüler konzentriert, aber er hatte doch sehen können, dass es nichts mit Mitose zu tun hatte.

Ich wollte weiter reden, wollte mehr von ihr und über sie wissen, weiter ihre Stimme hören und raten wollen, was ihr Gesicht mir zu sagen schien, ich aber doch nie ganz entschlüsseln konnte. Noch nicht. Wollte von meiner Neugier ganz beherrscht werden, das Brennen zwar spüren, ihm aber nicht nachgeben, nicht einmal das Verlangen spüren, nachgeben zu müssen.

Doch jetzt, während wir schweigen mussten, brannte die Neugier immer schlimmer, konkurrierte mit der Begierde nach ihrem Blut. Beide wuchsen ins Unerträgliche.

Es blieben nur noch ein paar Minuten, die es zu überstehen galt.

Das würde ich schaffen. Ich sagte mir doch, ich sei stark genug. Ich hatte es bis hierher geschafft,

Warum nicht auch noch den Rest?

Doch ihrGeruch – wie fürchterlich seine Macht auf einmal stieg und stieg. Es nahm kein Ende.

So sehr dieses Mädchen meine Neugier auch geweckt haben mochte und so sehr ich sie auch besser kennen lernen wollte, im Moment war sie wieder mein eigener persönlicher Teufel aus meinem eigenen persönlichen Teil der Hölle, all die Folterwerkzeuge und –methoden perfekt auf mich abgestimmt.

Nichts schien schlimmer als ihr Duft.

Als es klingelte, verließ ich nahezu fluchtartig den Raum, beinahe schneller als ich durfte – sprinten wäre die entsprechende menschliche Bezeichnung für mein momentanes Schritttempo – rettete mich in die frische Luft auf dem Flur und genoss, atmen zu können, ohne dabei vollkommen in Flammen zu stehen.

Verglichen mit ihr war jeder andere Geruch in dieser Schule uninteressant, nahezu unappetitlich.

Fast schon glücklich ging ich weiter zur nächsten Unterrichtsstunde.

Obwohl die Trennung von ihr, die wachsende Unbefriedigung meiner Neugier zurückblieb, war es pure Erleichterung, die mich erfüllte.

Ich hatte es wirklich geschafft, dem Teufel selbst zu widerstehen. Und ich hatte nicht einmal die Hilfe meiner Schwester gebraucht, die mich an das erinnerte, was ich nicht tun durfte. Glaubte ich zumindest. Während der gesamten Stunde hatte ich auf nichts anderes geachtet als dieses Mädchen, dessen Gedanken für mich unlesbar waren.

Vielleicht hatte sie ja … aber so unaufmerksam konnte ich gar nicht gewesen sein. Niemand meiner Art konnte unaufmerksam sein, selbst wenn wir es versuchten. Das sprach gegen unsere Natur.

Zum Teil zumindest.
 

In der folgenden Unterrichtsstunde hätte ich kaum abgelenkter sein können.

Mich auf die Worte zu konzentrieren, die die Lehrerin von sich gab, war unmöglich. Ich verstand sie perfekt, verstand den Inhalt der Worte, aber momentan ergaben sie keinen Sinn. Mein Verstand war noch vergiftet von dem Duft meines Teufels, auch wenn die Luft bereits rein war. Ich konnte sie nicht mehr sehen und riechen, zumindest mit meinen eigenen Augen, aber es grenzte nahezu an einen Zwang, sie durch die Augen all derer zu verfolgen, die in ihrer Nähe waren.

Zu meinem Pech jedoch war der erste, mit dem sie sich nach der Biostunde unterhielt, Mike Newton, jemand, durch dessen Gedanken ich sie lieber nicht sehen wollte.

„War das schrecklich“, hörte ich ihn sagen, während er die Augen verdrehte, das Mädchen aber nicht aus den Augen ließ. „Die sahen alle gleich aus. Ein Glück für dich, dass du mit Cullen zusammensitzt.“

„Ich hatte keine Probleme“, antwortete sie und klang ein wenig eingeschnappt über die selbstverständliche Annahme von ihm, sie wäre an der Aufgabe ebenso verzweifelt wie er. Doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht währte nicht lange; auf jeden Fall nicht lange genug um von ihm registriert zu werden. Vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen?

„Ich hab die Übung aber schon mal gemacht“, fügte sie noch im besänftigenden Ton hinzu. Das hatte sie in der Tat, aber für die meisten Schüler hieß das nicht, dass sie deswegen auch noch alles wussten. Für Mike war es allerdings Erklärung genug.

„Cullen schien ja heute ganz freundlich zu sein“, meinte er, versuchte, beifällig zu klingen, obwohl in seinen Gedanken eine Parade an Beleidigungen anfing, die meiner Freundlichkeit in der Biologiestunde ziemlich gemeine Gedanken unterstellte, die eher seinen eigenen Fantasien entsprachen. Ich versuchte, sie ausblenden, nur auf das Visuelle zu achten, auf Bellas Reaktion, doch ich wusste nicht im Geringsten, was ich erwarten sollte. Mal wieder.

„Wer weiß, was er letzte Woche hatte“, sagte sie und ich glaubte, dass sie versuchte, gleichgültig zu klingen, so zu tun, als würde es sie nicht interessieren.

Ich war mir nicht einmal im Ansatz sicher, ob es wirklich etwas ausmachte.

Warum sollte es?

Sie kannte mich doch nicht und das bisschen an gutem Eindruck, dass ich vorhin geschaffen hatte, war sicherlich auf seinen schwachen Stützen zusammengebrochen, als ich fluchtartig den Raum verließ. Ich hatte ihr keinerlei Grund gegeben, mich zu mögen oder überhaupt Interesse daran zu finden, mich kennen lernen zu wollen.
 

Nach dem Unterricht wartete ich draußen auf meine Geschwister, erstaunlicherweise schneller als jeder andere, obwohl es nicht einmal wirklich darauf anlegte, es wirklich zu sein.

Ich lehnte an der Vordertür meines Volvos, meines Lieblingsgegenstandes direkt nach meinem Klavier in unserem Haus.

Der Regen hatte bereits aufgehört und ich hörte nur noch vereinzelt leichte Beschwerden über den Wetterwechsel, der bei den meisten doch Hoffnungen geweckt hatte, den Nachmittag mit kleinen Kinderspielereien zu verbringen.

Ich hatte nach dem Gespräch mit Newton nicht mehr auf Bella geachtet. Sie war zusammen mit Newton zur Sporthalle gelaufen und so sehr es auch das Monster in mir erfreut hätte, noch mehr freie Haut, unter welcher ihr warmes und ach so süßes Blut floss, durch die Augen der anderen Mädchen zu sehen, war ich doch noch Gentleman genug, genau das nicht zu tun. Ein solches Verhalten widersprach sich vollkommen mit meinem Charakter.

Deswegen ließ ich sie von da ab in Ruhe, verfolgte sie nicht mehr durch die Gedanken anderer. Doch jetzt musste ich das nicht mehr.

Mit meinen eigenen Augen, die so viel besser waren als die aller anderen Schüler hier, sah ich sie über den Parkplatz zu ihrem im Vergleich mit allen anderen Wagen hier steinalten Transporter laufen und ich meinte ihre Erleichterung darüber, endlich wieder im warmen und trockenen zu sein, selbst bis hierher spüren zu können. Ich stand nur wenige Wagen von ihr entfernt.

Ich sah, wie sie die Heizung anstellte und ihre feuchten Haare mit den Fingern durchkämmte.

Sie startete den Motor und kontrollierte über den Rückspiegel, ob der Weg hinter ihr frei war und endlich traf ihr Blick auf meinen. Doch sie sah nur überrascht aus, weswegen auch immer, schaute innerhalb weniger Augenblicke wieder weg und schien es auf einmal eiliger zu haben als zuvor. Beim Rückwärtsausparken schien sie fast schon überfordert mit der Situation, als für sie plötzlich ein Toyota in ihrem Sichtfeld auftauchte und sie gerade so eben noch einen Zusammenstoß verhinderte.

Jetzt wieder langsamer und sicherer, all die blinden Punkte kontrollierend, fuhr sie aus der Parklücke heraus und die Behutsamkeit, mit der sie das tat, ließ mich fast glauben, dass sie annahm, sie könnte mit ihrem verrostetem, alten Truck für irgendjemanden gefährlich sein.

Allein die Vorstellung brachte mich zum Lachen.

Bella sah nicht mehr zu mir und fuhr an mir vorbei.

Frostiges Klima

Selbst bis zum Abend dieses Tages, der für mich von so unglaublichem Erfolg gekrönt war, hatte ich es geschafft, den Fragen meiner Geschwister auszuweichen. Ich wollte nicht darüber reden und vor allen Dingen nicht dann, wenn sie mich davon überzeugen wollten, dass ich all dieses Leiden nicht ertragen musste. Ein kleiner Mord wäre nicht der Weltuntergang - aus ihrer Sicht.

Um all das zu erfahren, musste ich nicht direkt mit ihnen reden, musste ihnen kein Stück meiner Aufmerksamkeit schenken. All das konnte ich auch problemlos so hören.

Sie schrieen mich in ihren Gedanken geradezu an.

Ich seufzte.

In Momenten wie diesen wünschte ich mir, ich könnte meine Gabe einfach ausstellen, müsste nichts von all dem mitbekommen, dass sie mir zwar sagen, ich aber nicht hören wollte. Ich ignorierte ihr Drängen, endlich den Mund aufzumachen, auf dieselbe Weise, wenn sie versuchten, mich aus ihren Gedanken raus zu halten. Sie schienen sich wohl nie entscheiden zu können, ob sie meine Gabe als Fluch oder Segen sehen sollten.

Aber dennoch.

Mist, verdammter.

Was dieses kleine Menschenmädchen (mit diesem unglaublich und fürchterlich süßen Blut) für ein Chaos in mir anrichten konnte, das ich meine Geschwister dermaßen zu ignorieren versuchte – ein Gedanke, der in meinem Kopf in der Repeatschleife zu laufen schien.

Ich war fast schon erleichtert, nahezu höchsterfreut darüber, dass meine Gedanken immer nur allein mir gehörten. Gäbe es noch einen anderen Gedankenleser in der Familie – oh, was wäre er doch genervt von mir. Ständig und immer nur sie in meinem Kopf, das unerträgliche Brennen in meinem Hals und der Klang ihrer honigsüßen Stimme im Ohr, ihr Gesicht, so schön in seiner Form und seinen Proportionen, vor meinen Augen.

Und wie schön sie war, wenn ihre Wangen von ihrem Blut rot angehaucht waren.

Wie hatte ich es genannt?

Genau.

Absurd schön.

Das passte perfekt.

Ihre Schönheit schwankte in Bereichen, für die ich keine Worte mehr finden konnte; geblendet durch ihr Aussehen und ihrem Duft, mit dem sie die Luft in Brand setzte. Unbeschreiblich in jeder erdenklichen Form.

Bezaubernd. Fesselnd.

Und wie fesselnd!

Egal, wie sehr ich mich zu Anfang auf etwas anderes zu konzentrieren versuchte, ich scheiterte mit jedem neuen Versuch auf ganzer Linie. Immer nur sie, sie sie. Und jetzt ließ ich es zu, bestaunte ihr Wesen in meinen Gedanken und versuchte mehr zu sehen, als ich es vorhin gekonnt hatte, zu abgelenkt durch die Versuchung. Versuchte mehr zu lesen, doch es war hoffnungslos. Wie sollte ich es schaffen, objektiv zu bleiben, wenn ich auf meine subjektive Deutung zurückgreifen musste, mit der ich doch so oder so danebenlag? Das hatte sie mir bewiesen. Sehr deutlich sogar. Immer und immer wieder tat sie nur das, was ich nicht erwartet hatte. So viel zu einem guten Menschenverständnis.

Bei ihr kam ich mir vor wie ein kleiner, unwissender Junge, völlig auf sich selbst gestellt und ohne die übernatürlichen Fähigkeiten, die sein Leben seit über einem Jahrhundert sowohl erleichtern als auch erschwerten.

Unheimlich erschwerten.

Es grenzte fast ein Wunder, dass dieser kleine, unwissende Junge es geschafft hatte, sich nicht seinen Trieben hinzugeben, von denen ein Teil in ihm sich kontrollieren lassen wollte, und das Schulgebäude verlassen zu haben, ohne irgendjemanden – ohne sie – umgebracht zu haben.

Nein.

Es war ein Wunder. Ein Wunder, dass selbst der schlimmste Teufel aus seiner Hölle seinen Willen nicht bezwingen konnte.

Ich schüttelte den Kopf bei diesen Gedanken. Sie war kein Teufel mehr. Bella war an diesem einen Tag zu einem Menschen geworden. Jemand, der meine Neugier geweckt hatte und den ich zu verstehen versuchte, den ich verstehen musste, weil die Neugier genauso unerträglich brannte wie der Durst.

Doch blieb die Frage übrig, ob ich jeden Tag aufs Neue so stark sein konnte wie ich heute war. War es wirklich das Risiko wert, immer und immer wieder herauszufinden, wie stark ich war? Eine Stimme in mir schrie laut „Ja“. Alles war es wert, diesen Menschen näher kennen zu lernen. Dennoch könnte ich mich im selben Augenblick für diesen Gedanken selbst beißen – ich würde meine Familie nicht riskieren wollen.

Nichts war es wert, meine Familie, besonders meine Eltern, so zu enttäuschen, wenn ich versagte.

„Edward, verdammt! Beherrsch dich endlich! Deine Gefühle treiben mich noch in den Wahnsinn!“

Ich blinzelte, schüttelte abermals den Kopf, als könnte es meine Gedanken vertreiben. Wie angenommen blieb diese Aktion erfolglos, doch ich schaffte es zumindest, meine Umwelt deutlicher wahrzunehmen. Ich hatte erstaunlicherweise nicht das Alleinsein gesucht, als wir nach Hause kamen, sondern saß unten im Esszimmer, einem Raum, den meine Mutter Esme größtenteils für ihre Arbeiten gebrauchte, wenn Jazz und Em es mit ihren Spielereien im Wohnzimmer übertrieben, sie aber dennoch nicht eingreifen wollte. So wie jetzt. Aber vielleicht war sie auch einfach nur besorgt um mich und wollte deswegen in meiner Nähe sein. Liebevoll, wie sie war, wartete sie geduldig darauf, dass ich anfing zu reden, wenn ich etwas sagen wollte. Tat ich aber nicht. Ich las ein Buch, doch ich glaube, ich war nicht über eine Seite hinausgekommen – worum ging es doch gleich noch mal? Zu sehr war ich stundenlang versunken und beinahe ertrunken in den Gedanken an jenes Mädchen, das mich mit seinem ganzen Wesen zu kontrollieren schien. Auf so unterschiedliche Weisen.

„Edward!“

Jazz knurrte jetzt, wütend darüber, dass ich nicht einmal versuchte, meine Gefühle im Zaun zu halten. Ein Empath als Bruder war vielleicht genauso nervig wie ein Gedankenleser.

Von Neugier zum Blutdurst. Vom Blutdurst zur Neugier und immer wieder hin und her. Nervst du mich mit Absicht? Dieses Mal machte er sich nicht die Mühe, seine Gedanken laut auszusprechen, aber auf diese Weise waren seine Worte fast schon überzeugender.

Leise lachend schlug ich das Buch zu, ließ es auf dem Tisch liegen und ging aus dem Haus.
 

Die Straßen waren mit Glatteis überzogen, als meine Geschwister und ich am nächsten Morgen in meinem Auto zur Schule fuhren. Vielleicht aus Langeweile, vielleicht, weil Em es wollte, vielleicht auch einfach grundlos, fuhr ich extravaganter als sonst, ließ den Wagen über das Eis schlittern ohne auch nur im Ansatz es möglich zu machen, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Es war nichts besonderes, aber Em freute sich trotzdem ungemein wie ein kleines Kind, wie ich einerseits in seinen eigenen als auch in Jaspers Gedanken hören konnte, der die Gefühle unseres Bruders aus erster Hand erfuhr.

Doch hätte ich es trotz übermenschlicher Sinne und Kraft es geschafft, meinem Wagen auch nur einen einzigen Kratzer zuzufügen, hätte die Lautstärke von Ems Lachen uns noch mehr verraten als ich es jemals gekonnt hätte, wäre ich auf Bella an ihrem ersten Tag hier losgegangen. Allerdings hätte ich es mir selbst auch nie verzeihen können, würde ich selbst meinem Auto dermaßen schaden – selbst wenn Rosalie es innerhalb weniger Stunden wieder repariert hätte (innerhalb von Stunden, weil sie es liebte, an Autos in menschlicher Geschwindigkeit rumzubasteln).

Als ich in viel zu hohem Tempo über den Parkplatz fuhr und den Wagen problemlos zum Stehen brachte, konnte ich mein für diese Stadt viel zu außergewöhnliches Fahrmanöver aus so vielen unterschiedlichen Perspektiven sehen. Beeindruckt und genervt.

„Danke, Bruder – genau das, was ich wollte. Schau dir diese langen Gesichter an. Wer von ihnen ist neidisch?“

Ich verdrehte die Augen. Kleinkind.

„Alle, Em. Und ganz besonders neidisch sind sie auf dein gutes Aussehen.“

Er lachte laut und stieg dann aus, blieb aber genauso wie wir alle beim Auto stehen. Warum sich beeilen, wenn man Ewigkeiten vor sich hatte? Das war sein Motto, wenn es um Schule ging. Bei allen anderen Aktivitäten, besonders die, an denen Rose beteiligt war, konnte er gar nicht schnell genug sein, wenn es darum ging, sie erst einmal anzufangen.

Doch ich selbst hatte es auch nicht eilig.

Sie war noch nicht da.

In genug Gedanken konnte ich lesen, wie ungeduldig ihre Ankunft erwartet wurde und dazu konnte ich ihren alten Transporter nirgends entdecken und meinen Augen wäre er sicherlich nicht entgangen.

Und wieder einmal schweiften meine Gedanken weg von meinem kindischen Bruder, weg von dem, was wir waren, und zurück zu ihr, die sie nicht da war. Noch nicht. Doch lange würde es nicht mehr dauern. Über all die Geräusche hinweg konnte ich bereits ihren alten und viel zu lauten Motor hören. Bei ihrer Kilometeranzahl pro Stunde dauerte es sicherlich noch Ewigkeiten für mich, bis sie endlich da war. Ich sie wieder sehen und in der Luft verbrennen konnte, die sie mit ihrem Geruch anzündete, ich sie mehr fragen und in ihrem Gesicht lesen konnte, was mir zu hören nicht vergönnt war.

Ich wollte lernen, sie zu verstehen, mit jedem Herzschlag von ihr ein wenig mehr.

Doch dafür müsste sie erst einmal ankommen und jede Sekunde, die sie nicht hier war, wuchs meine Ungeduld. Wie konnte nur innerhalb eines meine ganze Welt plötzlich sie als Mittelpunkt haben? So sehr wie ich jetzt auf sie fixiert war, war ich nicht einmal während meiner „rebellischen Phase“ auf …

Ich ließ den Gedanken sein, nur ungern daran erinnert, und konzentrierte mich auf das näher kommende Geräusch ihres nahezu brüllenden Motors.

In seinen Gedanken hörte ich, wie wütend Jasper schon wieder auf mich war, weil ich meine Gefühle offensichtlich nicht beherrschen konnte. Ich merkte gar nicht, wie schnell meine Stimmung zu schwanken schien, aber Jaspers Talent zeugte eindeutig von der Wirklichkeit.

Er log mich nicht an, hoffte er doch, ich käme zur Vernunft, wenn ich die Wahrheit wüsste, über die ich anscheinend seit unserer Ankunft ganz bewusst hinweg sah. Ich versuchte ihm zuliebe meine Gefühle ein wenig zu beherrschen, auch für ihn eine Art Pokerface aufzulegen, war er doch mein Bruder, aber ich war nicht sonderlich erfolgreich.

Seufzend und mit einem entschuldigenden Lächeln blickte ich kurz zu ihm, doch er schüttelte nur den Kopf und verdrehte die Augen.

Du bist hoffnungslos, Edward.

Ich lachte fast über seinen Kommentar. Wenn es um sie ging, war ich wirklich hoffnungslos, auf der einen Ebene mehr als auf der anderen.

Doch das sagte ich nicht.

Langsam gingen Rosalie und Emmet Richtung Schulgebäude, als sie ihren Transporter besonders vorsichtig auf den Parkplatz fuhr, an mir vorbei zu einer Parklücke auf der gegenüberliegenden Seite. Hat sie mich gesehen? Hat sie mich nicht gesehen? Ignorierte sie mich? Warum sollte sie? Warum sollte sie nicht? Ich glaubte es nicht. Unwahrscheinlich.

Sie hielt ihren Wagen an, das laute Geräusch verstummte und der Motor erstarb.

Es dauerte noch einige wenige kurze Augenblicke, bevor sie endlich ihren Wagen verließ, noch einmal auf den Sitz griff und ihre Tasche herausholte, sie über ihre Schulter hing und die Tür zustieß, sich aber dennoch weiter an ihr festhielt. War der Boden unter ihren Füßen gefroren? Niemand außer ihr schien besonders große Probleme zu haben. Stand sie an einer besonders glatten Stelle?

Ihr Blick ruhte auf einem der vorderen Reifen, in ihm ein seltsam gerührter Ausdruck, als hätte die Schneekette auf eben jenem Reifen eine besondere Bedeutung für sie oder als führte sie gar eine Beziehung mit ihr. Ihre Augen so liebevoll und voller Zuneigung – an was sie wohl gerade dachte? Es war unmöglich zu erraten. Ich wollte es nicht versuchen, würde ich doch eh nur scheitern, aber dennoch gingen mir unzählige Möglichkeiten durch den Kopf, eine unwahrscheinlicher als die andere. Nichts ergab Sinn. Wie gerne würde ich jetzt ihre Gedanken lesen können!

Doch im nächsten Moment wurden alle meine Fragen aus meinem Kopf verbannt. Alices Gedanken verdrängten meine eigenen, ein Bild einer Vision das einzige, was ich sah, ein Bild dessen, was noch nicht passiert war.

Laut holte Alice Luft.

Es klang, als würde sie schreien wollen.

Wie hatte ich das nicht merken können? Ein blauer Van war auf den Parkplatz gefahren, in einem viel zu hohen Tempo, und er würde über die Stelle Eis fahren, die ich benutzt hatte, um schwungvoll auf meinem Parkplatz zu landen. Aber ich hatte hundert Mal bessere Reflexe als der Fahrer, hundert Mal bessere Augen und unter meiner Führung hätte der Wagen nie außer Kontrolle geraten können.

Im Gegensatz zu diesem Menschen, der über das Eis direkt auf Bella, den neuen Mittelpunkt meiner Welt, zuschlitterte und sie zerschmettern würde.

Alices hatte diese Vision nur Sekunden bevor sie in der Wirklichkeit passieren würde.

Doch im selben Augenblick, in dem ich sie in meinen Gedanken sah, wusste ich auch, dass es nie passieren würde.

Bella blickte auf, als sie das quietschende Geräusch vom Versagen der Bremsen hörte, sah den Van, sah mich, starrte mich an und schien dann erst viel zu langsam zu registrieren, welches Schicksal sie ereilen würde.

Nein.

Nein!

Nicht sie!

Alices Vision änderte sich, aber ich wartete nicht ab, worin die Veränderung lag. Ein Flimmern aus vielen Bildern war das einzige, was ich noch sehen konnte, bevor mich mein Körper zum Handeln zwang. Schneller als ich durfte und als Menschen wahrnehmen konnten, flog ich geradezu über den Parkplatz, über den Van hinweg und auf den Menschen zu, den ich auf jeden Fall vor der Kraft des Wagens schützen musste.

Nicht sie! Nicht sie! Alles, nur nicht sie!

Kräftiger als es für ihren zerbrechlichen Menschenkörper gut war, umschloss ich ihren Körper mit einem meiner Arme; es fühlte sich an, als hätte mein bereits totes Herz zum zweiten Mal zu schlagen aufgehört, als ihr Kopf wegen meiner unüberlegten und viel zu schnellen Handlung auf dem Eis aufschlug. Am liebsten hätte ich nach ihrem Kopf gesehen, ob es irgendwelche Wunden gab, ob es ihr gut ging, doch ich war mir noch zu deutlich des Vans bewusst, der nun auf uns zurutschte, am Heckflügel ihres Transporters abprallte und seinen Weg änderte.

Verdammt. Warum musste sie wie ein Magnet auf diese Gefahr wirken?

Ich ließ Bella los und griff an ihr vorbei, um den Wagen bei seinem nächsten Versuch abermals daran zu hindern, ihr das Leben zu nehmen. Die Kraft des Vans konkurrierte mit meiner, drückte meinen Rücken in den Wagen neben Bellas Truck. Das Metall gab nach, doch der Van kam zum Stillstand, direkt über Bellas Beinen schwebend.

Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Ich konnte den Wagen nicht einfach fallen lassen, damit würde er direkt auf ihren Beinen landen und sie zerquetschen, ihr fürchterliche Schmerzen bereiten und meine ganze Rettung wäre umsonst. Als wäre ihre Kopfverletzung nicht schon genug Schaden. Doch ich konnte ihn auch genauso wenig so lange in der Luft halten, bis Rettung kam und Bella von jemandem befreit wurde. Und noch weniger konnte ich ihn einfach wegstoßen; ich durfte in all meiner Sorge um den Menschen vor mir nicht andere gefährden.

Fluchend – und das war etwas, was ich nie in Gegenwart einer Dame tat – stieß ich den Wagen mit einem geringen Kraftaufwand nach oben und fing ihn mit einer Hand wieder auf, während ich um Bellas Taille griff und sie unter dem Van wegzog. Als ich sicher war, dass ihr gesamter Körper vollständig aus der Gefahrenzone war, ließ ich den Wagen vollständig los.

Er fiel zu Boden, alle Fenster gleichzeitig zerbrechend, und blieb vollends stehen.

Viel zu erleichtert wandte ich meine Aufmerksamkeit nun Bella zu.

Nur um im selben Moment zu einer Statue zu erstarren. Die Erkenntnis war grauenhafter als die Erleichterung schön war.

Was hatte ich getan?

Selbst durch die Lagen von Stoff spürte ich deutlich ihre Körperwärme, ihren schnellen Herzschlag, ihren unregelmäßigen Atem. Wie verführerisch süß und quälend bitter diese Vorstellung, diese Nähe zu ihr noch heute Nacht gewesen sein mochte, wie sehr wünschte ich mir jetzt, ich stände wie noch vor zehn Sekunden auf der anderen Seite des Parkplatzes an der Seite meiner Geschwister.

So sehr ich auch ihre Rettung gewollt hatte, wie konnte ich das riskieren?

Wie viel hatte sie mitbekommen?

Dieses Mädchen war mein absoluter Untergang, war doch der Teufel aus meiner persönlichen Hölle, egal, was ich mir vorher dachte. Wegen ihr hatte ich riskiert zu offenbaren, was wir waren. Was, wenn jemand gesehen hatte, wie ich bei meiner Familie stand? Mussten wir wegen mir schon wieder die Stadt verlassen? Schon wieder umziehen? Ich konnte jetzt schon in meinen Ohren das Streitgespräch hören, das heute Abend auf mich wartete. Was hatte ich nur getan?

War es das wirklich wert gewesen?

Bella atmete zitternd ein und all die Gedanken darüber, was ich getan hatte und für das ich die Verantwortung übernehmen musste, waren verschwunden.

Ging es ihr gut? War sie mit ihrem Kopf zu fest aufgeschlagen?

„Bella? Ist alles in Ordnung?“, fragte ich sie leise und ich konnte selbst die Verzweiflung aus meiner Stimme hören.

„Mir geht’s gut“, antwortete sie wie automatisch mit rauer Stimme. Ich spürte ihren schwachen Versuch, sich aufzurichten, doch ich ließ sie nicht los. Sie war nicht äußerlich verletzt, zumindest konnte ich kein frisches Blut riechen – Gott sei Dank, – aber das hieß nicht, dass sie vollständig unverletzt war. Es war besser für den Augenblick, wenn ich sie an meiner Seite behielt.

„Vorsicht. Ich glaube, du bist ziemlich hart mit dem Kopf aufgeschlagen.“

Ich glaubte nicht nur, ich wusste es, hatte es gehört. Es war meine Schuld.

„Au.“

Hatte sie erst durch meine Aussage den Schmerz in ihrem Kopf bemerkt? War das möglich?

„Hab ich’s mir doch gedacht.“

Erleichterung erfüllte mich erneut und vor Glück, dass ich sie anscheinend nicht allzu ernst verletzt hatte, hätte ich fast lachen können.

„Wie zum …“, begann sie einen Satz, hielt dann aber inne. Was …

„Wie bist du so schnell hier gewesen?“

Ich seufzte innerlich. Dieses Mädchen war viel zu aufmerksam. Sie hatte viel mehr bemerkt als gut für sie war.

„Ich stand direkt neben dir“, sagte ich ihr, meine Stimme angefüllt mit all der Seriosität, die ich aufbringen konnte. Ich war ein ausgezeichneter Lügner und ich wusste, wie ich eine Lüge überzeugender als die Wahrheit erzählen konnte. Erneut versuchte sie, sich von mir zu lösen und dieses Mal ließ ich es zu. Vielleicht war ein wenig Abstand gar nicht so schlecht. Dann sah sie in mein Gesicht, löste den Blick nicht, bis auch sie die Stimmen hörte, die sich uns näherten und helfen wollten. Bildete ich es mir nur ein, oder schlug ihr Herz wahrhaftig noch schneller?

Sicherlich die Aufregung.

Was anderes wäre in einer solchen Situation einfach nur unmöglich. Außerdem konnte sie jetzt auch die Stimmen all derer vernehmen, die sich dem Unfallort näherten, jede einzelne mit Panik unterlegt. Ich achtete nicht sehr auf sie, sondern viel mehr auf das Mädchen in meinen Armen, das sich jetzt vollkommen von mir zu befreien versuchte. Ich hielt sie fest: „Bleib erst mal sitzen.“

„Aber es ist kalt.“

Natürlich. Es war kalt. Ihr war kalt. In diesem Moment, nur Augenblicke, nachdem sie dem sicheren Tod entrungen war, war ihr kalt. Innerlich lachte ich laut auf über diesen Umstand – was war mit diesem Mädchen los? Das war nicht normal, – aber über meine Lippen kam nur ein kurzes, nervöses Lachen. Ich antwortete ihr nicht.

„Du wart dort drüben. Bei deinem Auto.“

Mein Lachen erstarb, während sie sprach. Das konnte nicht wahr sein.

„Nein, war ich nicht.“

„Ich hab dich gesehen.“ Aber warum bloß? Hätte sie nicht träumen können? Oder mir einfach glauben?

„Bella, ich stand neben dir, und ich hab dich zur Seite gezogen.“ Wie es sich für einen überzeugenden Lügner gehörte, sah ich ihr direkt in die Augen, unterbrach den Blickkontakt nicht und versuchte, sie allein mit meinem Blick zu überzeugen.

„Nein.“

Das funktionierte nie im Leben. Doch ich sah nicht weg.

„Bella, bitte.“

„Warum?“

„Vertrau mir“, bat ich sie leise. Sie musste mir einfach vertrauen. Ich brauchte zumindest ihr Wort, wenn ich schon nicht ihre Gedanken kannte, um wenigstens etwas zu haben, auf dass ich bauen konnte. Aber das war nicht alles. Nebenbei wünschte ich mir auch, dass sie mir vertraute. Ich wollte ihr Vertrauen.

„Versprichst du, mir später alles zu erklären?“

Dieser Teufel ließ nicht locker, trieb mich in den Ruin und brachte mich um den Verstand. Womit hatte ich das verdient, dass der einzige Mensch, dessen Gedanken ich nicht kannte, auch gleichzeitig noch der aufmerksamste von allen sein musste? Und als wäre es noch nicht schlimm genug, dass als das in einer Person vereint sein musste, nein, es kam auch noch dazu, dass genau dieselbe Person fürchterliche Neugier in mir auf sie weckte, die mit meinem Durst um die Oberhand konkurrierte?

Mist. War mein Leben als seelenlose Kreatur bisher so gottlos gewesen, dass ich eine solche Bestrafung verdiente?

Vielleicht.

„Schön, wie du willst“, antwortete ich ihr und klang in meiner Verzweiflung gereizter als ich es eigentlich wollte.

„Schön“, sagte sie in demselben Tonfall. Ihre Imitation von meinem Klang war fast schon wieder lustig.

Mehr ungeduldig als alles andere wartete ich darauf, dass die herbeigeeilten Rettungskräfte den Van aus dem Weg hievten, damit sie zu uns gelangen konnten. Am liebsten hätte ich ihnen geholfen, nur ein ganz klein wenig, damit es schneller ging, aber das hätte sie gesehen und ich wollte meinem Teufel nicht noch ein Folterwerkzeug in die Hand drücken. Er war so schon gefährlich genug.

Also wartete ich.

Bella und ich sagten kein Wort mehr und als wir endlich befreit waren, stürzten sich sofort zwei Rettungshelfer auf uns, zwei anderen kümmerten sich bereits um den unglücklichen Fahrer.

Er blutete.

Sofort erzählte ich ihnen, dass mein Teufel sich den Kopf angestoßen hatte, als ich ihn aus dem Weg ziehen wollte, und der Mann nickte kurz, bevor er sich ihr zuwandte. Flüchtig blickte sie mich zornig an, aber sie sagte nichts.

Ich war nahe an der Grenze zu lächerlich beruhigt, dass der Sanitäter, der mich überprüfen wollte, mir mühelos abnahm, dass mir nicht das Geringste fehlte. Jeder Patient behauptete das und eigentlich gehörte es zu seinen Pflichten, ihn dennoch zu untersuchen, aber dieser Mann schien sie nach meinen Worten völlig vergessen zu haben. Ich sagte, mir ginge es gut und ich würde meinen Vater im Krankenhaus einen Blick auf mich werfen lassen, und er glaubte mir vorbehaltlos.

Braver Mensch.

Bella versuchte dasselbe, doch ihre verzweifelten Versuche verfehlten ihre Wirkung völlig. Ihre Wangen brannten in einem fürchterlichen Rot, als ihr eine Halskrause angelegt wurde. Ich musste ihre Gedanken nicht lesen können um zu wissen, dass sie vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre. Sie war wütend auf mich, doch sie schwieg weiterhin.

Hielt sie sich an meine Version der Geschichte?

Ich wusste es nicht, ich konnte sie nicht einschätzen. Das Verhalten dieses Menschen ging gegen jede Form von Vernunft. Warum tat sie mir das an?

Meine Verzweiflung von gerade wuchs erneut, gemischt mit der Erleichterung, dass ihr nichts Ernsthaftes fehlte. Diese beiden Gefühle in Kombination zu fühlen war nahezu ekelhaft und es war schwer, meinen inneren Kampf von meinem Gesicht fernzuhalten.

Die Verzweiflung erinnerte mich an meine Geschwister, die nach dieser Ewigkeit von Ereignissen, die sich in der Realität in nur fünf Minuten abgespielt hatte, immer noch auf der anderen Seite des Parkplatzes standen, ihr Blick ununterbrochen auf mich gerichtet. Sie konnte keine genauen Gedanken fassen, sie waren sprachlos und ihre Augen waren genauso leer wie ihre Gedanken. Doch kaum, dass sie meinen Blick spürte, brach in Rosalies Kopf eine Scharade von Gedanken los, die zusammenhängend keinen Sinn ergaben. Aber ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass es auf den Punkt gebracht so heißen würde: Was hast du gemacht?

Sie trieb meine Verzweiflung nur noch höher.

Es half nicht, dass sie mir trotz ihrer eigenen Sprachlosigkeit versprachen, alle Beweise übermenschlichen Handels zu beseitigen.

Ich fuhr im Krankenwagen mit zum Krankenhaus und dort angekommen ging ich, so schnell wie es die menschliche Geschwindigkeit im Schritttempo erlaubte, in Carlisles Büro, doch ein Teil meiner Gedanken blieb immer bei Bella hängen, meinem Teufel, der sich als Märtyrer herausstellte, der es vorzog, schweigend unterzugehen.

Auch ihrem Vater gegenüber, den ich vollkommen anders eingeschätzt hatte als die Person, die zu ihrer Tochter gestürzt kam und deren Gedanken mich mit dieser Panik um seinen Lebensgrund überfielen (und die in gewisser Weise meiner Einschätzung von Bella entsprachen), sagte sie nichts, was ihrer Wahrheit entsprach. Sie log für mich. Was ich noch weniger verstand als den ganzen Rest zuvor. Sie glaubte nicht daran, warum um alles in der Welt tat sie das?

Ich beobachtete sie weiter, während ich durch das Krankenhaus in das Büro meines Vaters ging – ich hatte zuvor nach seinen vertrauten Gedanken gesucht und ich war ungemein erfreut darüber, ihn wirklich in seinem Büro vorzufinden. Ich wüsste nicht, welche Ausrede ich hätte gebrauchen können, wenn er bei einem Patienten wäre. Ich musste noch um eine Kurve und dann den Flur, der ihr folgte, entlang gehen, doch ich murmelte bereits leise seinen Namen. Ich sah, wie er aufblickte, aufstand und fast erschrocken auf die Tür blickte, die ich nur wenige Augenblicke später öffnete.

„Edward, was ist …“

Er sprach den Satz nicht zu Ende, viel zu sehr besorgt um das, was möglicherweise passiert sein konnte.

Du hast doch nicht –

„Nein, es ist nichts dergleichen.“

Wie konnte ich es ihm vorhalten, dass er ausgerechnet zuerst zu dieser Schlussfolgerung sprang?

Ja, du hast Recht. Es tut mir Leid. Deine Augen sind noch … Er ließ den Satz unvollendet.

„Doch es ist fast genauso schlimm. Ich war – ich hätte nicht … ich wollte wirklich nicht. Es hab nicht nachgedacht. Es tut mir fürchterlich leid, Vater. Ich hätte nachdenken sollen, jetzt –“

Beruhige dich, mein Sohn. Und jetzt noch einmal von vorne: Was ist passiert?

Ich atmete tief durch, sah tief in meinen Gedanken Bella, durch die Augen irgendeines Menschen in ihrer Nähe.

„Vor Schulbeginn ist ein Van auf dem Parkplatz übers Eis gerutscht. Der Fahrer verlor die Kontrolle über den Wagen und rutschte über den Asphalt auf sie zu. Es tut mir leid. Ich konnte sie nicht sterben lassen. Kein Mensch hat gesehen, wie ich über den Parkplatz gerannt bin, um ihr zu helfen … keiner außer ihr. Ich stieß sie zur Seite und musste den Wagen aufhalten – auch das hat nur sie gesehen. Wirklich … es tut mir so schrecklich Leid, Carlisle. Ich wollte nicht …“ Ich flüsterte nur, den Blick auf den Boden gerichtet. Ich konnte ihn nicht ansehen, zu groß die Schuld, die ich empfand.

Mein Vater kam um seinen Schreibtisch herum, auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Nein. Es war gut so, Edward. Du hast das Richtige getan.“

Er sprach die Worte, dachte sie nicht und seine ruhige und klare Stimme dämpfte meine Schuldgefühle ein wenig.

„Aber sie weiß, dass etwas nicht mit mir stimmt … sie hat noch nichts gesagt, aber …“

Noch nicht?

„Bisher hält sie sich an meine Version der Geschichte, aber sie will wissen, was passiert ist.“

Und auf einmal wirkte er nicht mehr so ruhig, doch er versuchte, es sich kaum anmerken zu lassen – weder körperlich noch in seinen Gedanken.

„Es ist nicht schlimm, Edward. Wenn uns keine andere Möglichkeit bleibt, ziehen wir wieder um.“

Er nickte mir zu, wie um seine Worte zu bestätigen, aber die beruhigende Wirkung war verflogen.

Es tat mir so unglaublich Leid …

Bellas Bild drängte sich plötzlich wieder in den Vordergrund und ich fuhr mit meiner Geschichte fort: „Sie hat sich den Kopf angeschlagen … genau genommen ist es meine Schuld. Ich hab sie zu fest auf den Boden gestoßen. Vielleicht ist das Ausrede genug, um ihre Glaubhaftigkeit ein wenig zu beschränken …“

Das wäre es in der Tat, aber Carlisle hielt – im Moment – nicht viel davon; er hörte, wie sehr es mir gegen den Strich ging, irgendjemanden an ihrem Verstand zweifeln zu lassen. Denn genau dessen Schärfe brachte sie ja in solche Schwierigkeiten.

Wir werden sehen. Ich werde sie untersuchen. Doch vielleicht solltest du erst mit ihr reden.

Nicht, dass ich die anderen Ärzte nicht für kompetent genug hielt, aber das Wissen, das mein Vater sich Bella ansehen würde, vertrieb zumindest die Schuldgefühle bezüglich Bella. In seinen Händen wusste ich sie in der besten Behandlung, die sie bekommen konnte; er würde sich so um sie kümmern, dass später nichts zurückblieb als die Erinnerung an den Schmerz. Physisch gesehen.

„Danke. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe …“

Er lächelte mich an, strich mir in einer sehr väterlichen und menschlichen Geste über das Haar, zersauste es ein wenig mehr, als es eh schon war und ging dann voraus.

Vor einer Woche wolltest du sie noch umbringen und heute beschützt du sie gleich zweimal vor dem Tod. Vom Mörder zum Beschützer – ein wunderschöner Wechsel, mein Sohn. Ich bin stolz auf dich.
 

Ich blieb noch eine Weile in seinem Büro, atmete tief durch, versuchte mich zu beruhigen. Ein. Aus. Ein. Aus. Es verwunderte mich nicht im Geringsten, dass es nichts brachte.

Ich konzentrierte mich stattdessen wieder auf Bella, die ich in diesem Augenblick aus den Augen Tyler Crowleys sah, der Fahrer des Vans, vor dem ich Bella gerettet hatte. Er entschuldigte sich in diesem Moment bei ihr für seine Unachtsamkeit, doch winkte ab, fragte nach seinem Befinden. Natürlich. Immer besorgt um andere, sie selbst war sehr weit unten auf der Liste. Während sie sprachen, behandelte eine Schwester Tyler und seine Gedanken füllten sich mit stechendem Schmerz wegen der Wunden, die unter den Verbänden zum Vorschein kamen, doch er versuchte, ihn weitgehend zu ignorieren. Den Starken vor Bella zu spielen. So hormongesteuert … doch seine Maskerade brach für einen Augenblick, als die Schwester ihm das Gesicht abtupfte und der Schmerz zunahm.

„Mach dir keine Sorge; wie du siehst, hast du mich verfehlt.“

Schon wieder.

„Wie bist du so schnell ausgewichen? Du warst direkt vor mir, und dann warst du auf einmal weg …“

Ich hatte die Frage bereits in seinen Gedanken gehört – dieses kleine Mysterium beschäftige ihn unterbewusst schon für ein paar Minuten, – aber ich nahm ihr volles Ausmaß erst wahr, als er sie aussprach, Bella sie wirklich hören konnte. Was würde sie jetzt antworten?

Würde sie sich an meine Bitte halten? Wirklich den Mund halten und ihm meine Geschichte erzählen? Doch warum sollte sie das?

„Ähm … Edward hat mich beiseite gezogen.“

Ihre Stimme hatte einen nervösen Unterton, doch Tyler hörte ihn nicht, war abgelenkt von seinen eindeutigen Gedanken über Bella, die in eine für den Moment viel zu unpassende Richtung ging. Doch ich sollte mich nicht beschweren. Ich hatte meinen Namen schon so oft gehört, gesprochen von so unterschiedlichen Stimmen in so unterschiedlichen Tonlagen, doch aus ihrem Mund klang er wie … etwas besonderes. Und nicht nur das – sie hielt sich wahrhaftig an das, worum ich sie gebeten hatte. Unglaubliche Erleichterung durchströmte mich. Wieder einmal.

„Wer?“, fragte Tyler überrascht, seine Erinnerungen danach absuchend, mich neben Bella gesehen zu haben. Doch da war nur seine Panik um sich und Bella, seine Verzweiflung, als er sich bewusst wurde, dass er den Wagen nicht mehr unter seine Kontrolle bekommen würde, dass er Bella gleich …

„Edward Cullen – er stand neben mir.“

Und schon wieder war da dieser besondere Klang, den ich nicht einzuordnen vermochte. Aber dennoch mochte ich es ungemein. Ich musste sie irgendwie dazu bringen, meinen Namen öfters zu sagen.

Bella wirkte nervös, als sie sprach; sie war eindeutig keine gute Lügnerin und fast hätte ich gelacht, weil Tyler ihr dennoch glaubte, wenn auch widerstrebend: „Cullen? Den hab ich gar nicht gesehen … Wow, ich nehm an, das ging einfach alles zu schnell. Geht’s ihm gut?“

Bis zum Augenblick, in dem Bella zu Ende sprach, fühlte er auch Schuldgefühle mir gegenüber, einer weiteren Person, dessen Tod, so glaubte er zumindest, er beinahe verursacht hätte: „Ich glaub schon. Er muss hier irgendwo sein.“

Innerlich atmete Tyler erleichtert aus, nun wissend, dass mir nichts passiert war. Er sah nicht, wie Bellas Blick sich auf einem nicht existenten Punkt verlor und sein störrischer Ausdruck verriet, dass sie anderes glaubte. Ich wusste, sie würde nicht nachgeben. Sie würde weiterhin an dem festhalten, was sie gesehen hatte.

Doch warum um alles in der Welt log sie dann für mich? Ich verstand sie nicht.

Langsam verließ ich Carlisles Büro, als Bella zum Röntgen gebracht wurde, ging in Richtung der Notaufnahme und kam dort an, als sie wieder längst wieder zurück war. Sie lag auf ihrem Bett, die Augen geschlossen und Tyler ignorierend, der sich beinahe ununterbrochen bei ihr entschuldigte und sein Vergehen heute bei ihr wieder gutmachen wollte. Er überlegte, während er sprach, wie er das anstellen sollte, aber er konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen.

Bella schien nicht zu hören, dass ich den Raum betrat. Sie tat weiter so, als würde sie schlafen, um nicht mehr auf Tylers Entschuldigungen reagieren zu müssen. Am Fußende ihres Bettes blieb ich stehen und fragte Tyler: „Schläft sie?“

Innerlich lächelte ich, als Bella sofort ihre Augen öffnete und mich wütend ansah. Zumindest schien zu versuchen, wütend zu sein. Es schien ihr ein wenig schwer zu fallen, doch das lag sicherlich an dem, was sie heute hatte durchmachen müssen. Auch wenn die bisherigen Ärzte sagten, ihr ginge es gut, glaubte ich ihnen erst, wenn mein Vater es mir bestätigte.

„Hey, Edward, tut mir wirklich –“, begann Tyler, um sich auch bei mir zu entschuldigen, doch ich hob die Hand, um ihn zu unterbrechen.

„Nichts passiert“, sagte ich und grinste dabei, setzte mich an den Rand von Tylers Bett. Ich hatte schon genug angerichtet für einen Tag; ich wollte durch Bellas Nähe nicht unbedingt noch mehr riskieren. Doch eben durch sie ... es war wirklich lachhaft. Hinter mir lag Tyler, bedeckt in seinem eigenen Blut, dessen Duft den Raum erfüllte, aber allein der Geruch von Bellas Blut, das sich vollständig unter ihrer Haut verbarg, überdeckte ihn. Es war wie im Sekretariat in der Schule am ersten Tag: War Bella im selben Raum, wirkte jedes andere Blut ranzig und unappetitlich.

„Also, wie lautet der Richterspruch?“, fragte ich sie, um den Schein zu wahren. Als normaler Mensch hätte ich nicht wissen können, was die Ärzte ihr gesagt hatten.

„Mir fehlt nicht das Geringste, aber sie lassen mich nicht gehen. Wieso bist du nicht an eine Bahre geschnallt wie alle anderen Beteiligten?“, jammerte sie und es war offensichtlich, dass sie im liebsten sofort aus dem Krankenhaus verschwunden wäre. Und gleichzeitig mit ihren Worten, als wäre es sein Sprichwort gewesen, hörte ich Carlisles Gedanken auf dem Flur, der auf dem Weg hierher war.

„Alles eine Frage von Beziehungen“, antwortete ich und lustigerweise entsprach das genau der Wahrheit. Zumindest teilweise.

„Aber keine Sorge, ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen.“

Dann trat Carlisle in ihr Sichtfeld und ihr Mund öffnete sich, als sie meinen Vater anstarrte. Ich sah ihr an, dass sie gewisse Ähnlichkeiten, die nichts mit familiären Banden auf biologischer Ebene zu tun hatten, zwischen ihm und mir erkannte. Was sie wohl dachte?

„Also, Miss Swan“, begrüßte Carlisle sie, „Wie fühlen Sie sich?“

„Mir geht es gut“, antwortete sie und ich wusste, dass sie diese Antwort heute schon für ihren Geschmack viel zu oft gegeben hatte. Keiner schien ihr recht glauben zu wollen. Carlisle warf einen Blick auf die Röntgenbilder und er bestätigte, was die anderen Ärzte vor ihm ebenfalls bereits gesagt hatten, doch dies aus seinem Mund zu hören (oder in seinen Gedanken) war für mich erst vollauf befriedigend: „Die Aufnahmen sehen gut aus. Tut Ihr Kopf weh? Edward sagt, Sie seien ziemlich hart aufgeschlagen.“

Ja. Wegen mir.

„Meinem Kopf geht es auch gut“, sagte sie und sie seufzte. Ihre Reaktion unterstützte meine Annahme nur noch weiter, dass sie es langsam satt hatte, jedem aufs Neue zu versichern, dass es ihr gut ging. Sie mochte keine Aufmerksamkeit, selbst wenn sie wie in diesem Fall berechtigt war. Bella sah mich böse an und ich lächelte innerlich.

Als wäre er nicht dieses unnatürliche Wesen, das wir, seine Familie, nun mal waren, stellte er sich vor und seine Finger glitten über ihre Kopfhaut und tasteten nach dem, was durch die Röntgenaufnahmen vielleicht nicht sichtbar wurde. Ich beobachtete ihn und empfand stillen Neid und gleichzeitig Bewunderung für meinen Vater. Es sah überhaupt nicht schwer aus. Tyler in seinem Blut bedeckt hinter ihm, Bella mit ihrer süßen Versuchung vor ihm, doch nichts davon schien ihn irgendwie zu berühren. Seine letzte Jagd war anderthalb Wochen her und man sah es seinen Augen an, trotzdem war es, als wäre es nichts. Als wäre er kein Vampir.

Mit geringem Druck berührten seine Finger ihre Kopfhaut und meine Gefühle beschränkten sich nicht nur auf seine absolute Selbstkontrolle. Wie gerne würde ich Bella auch so berühren können wie er. So leicht, so ohne Probleme und inneren Kampf. Seine Gedanken drehten sich einzig und allein um sein medizinisches Wissen.

Bella zuckte unter seiner Berührung zusammen. Warum?

„Empfindlich?“, fragte mein Vater auf ihre Reaktion, doch sie verneinte.

Alles in Ordnung, Edward. Ihr Fall hat keine physischen Folgen hinterlassen.

Ich konnte nicht anders: Weitere Erleichterung durchströmte mich. Sie war so groß, dass ich leise lachte und Bella sah mich erneut finster an.

„Gut. Ihr Vater wartet draußen, Sie können jetzt mit ihm nach Hause fahren. Aber kommen Sie wieder her, wenn Ihnen schwindelig wird oder wenn Sie irgendwelche Probleme beim Sehen bekommen“, wies er sie sachlich an und Bellas Gesicht nahm einen undefinierbaren Ausdruck an.

„Kann ich nicht wieder in die Schule?“, fragte sie. Ah. Natürlich. Wie ich mir schon zuvor gedacht hatte, sie wollte nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig haben.

„Vielleicht sollten Sie es für heute ruhig angehen lassen.“

Definitiv.

Dann sah sie zu mir: „Darf er in die Schule?“

Die Art, wie sie dieses kleine Pronomen betonte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie es mir immer noch übel nahm, dass sie dieses ganze Prozedere durchmachen musste während ich ungeschoren davon kam. Wenn sie wüsste.

„Irgendjemand muss schließlich die Nachricht überbringen, dass wir überlebt haben“, sagte ich ihr und grinste dabei.

„Um ehrlich zu sein“, sagte Carlisle und während er sich daran erinnerte, fiel auch mir die viel zu große Menge an Gedanken auf im Eingangsbereich des Krankenhaus und die ungewöhnliche Lautstärke des steten Hintergrundsummens in meinem Kopf auf, „sieht es so aus, als säße der größte Teil der Schule im Wartezimmer.“

„Auch das noch“, jammerte sie und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.

Ha! Ich lag also richtig – bisher hatte ich meine Vermutung einfach so als Tatsache hingenommen und auf Bestätigung gehofft. Sie mochte wirklich keine Form von unnötiger – oder überhaupt in irgendeiner Form – Aufmerksamkeit.

„Möchten Sie lieber noch bleiben?“, fragte Carlisle, ihr gewissermaßen damit eine kleine Ausrede anbietend, doch sie lehnte vehement ab, schwang wie zur Bekräftigung ihrer Worte ihre Beine über den Bettrand und stand auf. Doch sie schien viel zu viel Schwung für ihre Verhältnisse dabei zu haben; sie schwankte und Carlisle griff automatisch nach ihr, um sie zu stützen. Hatten selbst seine Untersuchungen etwas ausgelassen? Was war mit ihr? Irgendetwas musste mit ihr sein, wenn sie solche Gleichgewichtsstörungen hatte.

Sie sah seinen besorgten Gesichtsausdruck und versicherte sofort wieder, es ginge ihr gut. Er empfahl ihr trotzdem ein Schmerzmittel, das sie ablehnte.

„Es scheint, als hätten Sie großes Glück gehabt“, sagte er und unterschrieb ihre Krankenakte.

Oder einen guten Beschützer.

„Ich hatte Glück, dass er zufällig neben mir stand“, sagte sie und die Art und Weise, wie sie mich ansah, machte deutlich, dass sie meiner Geschichte immer noch keinen Glauben schenkte. Sie hielt an dem fest, was sie gesehen hatte (und ich hatte keine Ahnung, was das die Ausmaße davon waren), und erzählte die Lüge nur aus irgendwelchen, für sie relevanten Gründen.

„Oh – ja, stimmt“, sagte Carlisle. Er hatte diesen einen Unterton in ihrer Stimme ebenfalls gehört, doch er würde nicht weiter darauf eingehen.

Sie scheint wirklich mehr zu wissen, als uns lieb sein könnte … wenn sie eine Erklärung von dir haben möchte, pass auf, was du ihr sagst. Vielleicht kannst du sie ja trotzdem überzeugen. Viel Glück.

Er glaubte daran, sie könnte mehr wissen, aber er glaubte nicht, dass sie gefährlich werden könnte. Wenn sie bisher an ihrer Geschichte festhielt, dann nur für sich. Aber sicher zu gehen konnte nie schaden. Doch ich wusste nicht, ob man damit die Sache einfach so zu den Akten legen konnte.

Ich beobachtete Bella, während ihr Blick auf Carlisle hing, der sich nun Tyler zuwandte und auch hier wieder lag etwas in ihren Augen, das mir sagte, dass sie mehr wusste als gut für sie war. Kaum war mein Vater ganz in seine Arbeit versunken – scheinbar, – wandte sich Bella zu mir und kam auf mich zu.

„Ich möchte mit dir unter vier Augen reden, wenn du nichts dagegen hast“, sagte sie und ich seufzte innerlich – warum konnte sie sich einfach nicht mit der Lüge zufrieden geben? Warum wollte sie unbedingt die Wahrheit erfahren? Ich hatte ihr das Leben gerettet – die Wahrheit würde es ihr wieder nehmen. Ich wollte sie nicht verlieren.

Und kaum, dass ich diese Worte vollkommen verstanden hatte, hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. Dieser Teufel, für den ich heute morgen noch so unendlich begeistert war, ihn nicht mehr als Teufel sehen wollte, weil er so besonders war, zog mich noch weiter in seinen Bann als gut für mich war.

War es nicht schlimm genug, dass diese Nähe zu ihr mich vollkommen um den Verstand brachte? Dass ihr lieblicher Atem und ihr süßes, süßes Blut, gemischt mit ihrer Körperwärme, das appetitlichste war, was ich je in meinem Leben gerochen hatte? Dass ich diesem Getränk kaum widerstehen konnte? Dass ich alles dafür geben würde, um nur einmal zu …

Abrupt, um mich von der Versuchung zu retten oder zumindest abzulenken, drehte ich mich um und ging aus dem Zimmer; ich hörte noch Carlisle mir ein wenig Mut zusprechen, doch es war allein die Vertrautheit seiner Stimme, die sie in diesem Moment aus dem Hintergrundsummen hervortreten ließ. Ich achtete nicht darauf, konzentrierte mich nur darauf, das fürchterliche Brennen zu beherrschen.

Was sollte ich ihr sagen? Wie, vor allen Dingen, wenn sie viel zu dickköpfig war um einer überzeugenden Lüge zu glauben? Und wie sollte ich ihr widerstehen, wenn uns kein Meter trennte und sie mir so fesselnd in die Augen sah? Mir wurde allein bei der Vorstellung ganz anders … Da war nicht nur dieses Brennen, sondern auch …

Nein! Nein! Nein! Weder das eine noch das andere! Edward, beherrsch dich!

Ich blieb genauso plötzlich stehen, wie ich losgegangen war und als ich mich umdrehte, merkte ich, dass ich vielleicht ein wenig zu schnell gegangen war; Bella schien ziemliche Probleme damit zu haben, mit mir Schritt zu halten.

„Was willst du?“

Wütend auf mich selbst und genervt von meiner eigenen Unfähigkeit klang meine Stimme härter und kälter als beabsichtigt und ich sah Bella an, dass ihre Entschlossenheit nachließ. Ich hatte sie nicht einschüchtern wollen, beschränkte sich doch mein Zorn allein auf mich, aber ich konnte mich auch nicht dafür entschuldigen.

„Du bist mir eine Erklärung schuldig“, sagte sie, vielleicht leiser als beabsichtigt.

„Ich hab dir das Leben gerettet – ich bin dir gar nichts schuldig.“ Die Art, wie sie vor meiner Unfreundlichkeit zurückgeschreckt war, verschreckte mich selbst und es war schwer, denselben Tonfall zu behalten.

„Du hast es versprochen“, beharrte sie und wieder traf sie meine Schroffheit, als würde sie es sich wirklich persönlich nehmen. Hatte ich, in der Tat, aber ich konnte an diesem Versprechen doch nicht festhalten.

„Bella, du hast dir den Kopf gestoßen, du weißt nicht, was du redest.“

„Mit meinem Kopf ist alles okay“, antwortete sie fast schon zickig; jetzt war sie wütend und das machte es leichter für mich, an meiner eigenen Wut festzuhalten – auf mich selbst.

„Ich will die Wahrheit wissen. Ich will wissen, warum ich für dich lüge.“

Verdammt. Was sie wollte, war nur gerecht. Ich würde an ihrer Stelle auch die Wahrheit wissen wollen, wenn ich für jemanden, den ich kaum kannte, lügen musste. Doch Wahrheit war das einzige, was ich ihr nicht geben konnte.

„Was ist denn deiner Meinung nach passiert?“ Fast hätte ich sie angeknurrt.

„Ich weiß nur, dass du nicht in meiner Nähe warst“, begann sie und bereits jetzt sprach sie schneller als sonst, „und Tyler hat dich auch nicht gesehen, also erzähl mir gefälligst nicht, dass mein Kopf was abbekommen hat. Der Van hätte uns beide getötet – hat er aber nicht und dann hatte er plötzlich Dellen, wo deine Hände waren – und das andere Auto auch, aber du bist überhaupt nicht verletzt – und der Van hätte eigentlich meine Beine zerquetschen müssen, aber du hast ihn hochgehalten …“

Ihre Stimme verlor sich; vielleicht klang dieser Punkt für sie einfach zu abstrakt.

Ich hatte gehofft, sie hätte, obwohl selbst Carlisle sagte, es wäre alles in Ordnung, wirklich leichte Probleme gehabt, sich zu erinnern, und ich hatte gehofft, dass all das auf dem Parkplatz für sie zu schnell gewesen war, als dass sie es hätte sehen können.

Aber sie hatte wirklich alles gesehen.

Ungläubig sah ich sie an – wie war das möglich? Es dauerte einen für mich langen Augenblick, bis ich mich einigermaßen wieder gefasst hatte und die übliche Maske aufsetzen konnte.

„Du bist also der Meinung, ich hätte einen Van angehoben?“

Kein Mensch konnte das. Und genauso musste ich auch klingen. Jeder vernünftige Mensch würde nach so einer Erklärung an dem gesunden Geisteszustand seines Gegenübers zweifeln. Doch sie war anderer Meinung. Sie nickte einmal und es war eindeutig, dass sie immer noch an ihrer Geschichte festhielt, ganz egal, wie verrückt ich sie halten könnte.

„Das wird dir niemand glauben, das ist dir klar, oder?“, fragte ich sie spottend.

Kein Mensch konnte das. Keiner. Ich wiederholte diesen Satz immer und immer wieder. Das musste sie doch wissen. Warum wollte sie sich der Lächerlichkeit preisgeben?

„Ich hab nicht vor, es irgendjemanden zu erzählen.“

Was?

Wieder dauerte es ein wenig, bis ich den Schock geschluckt hatte. Ich sah ihr an, dass sie es wirklich ehrlich meinte, auch wenn ich mir natürlich nicht vollständig sicher sein könnte.

Aber warum sollte sie das?

„Warum ist es dann so wichtig?“

Warum beließ sie es nicht einfach dabei? Warum ihre Welt dafür auf dem Kopf stellen, wenn sie eh die Wahrheit nicht erzählen wollte?

„Es ist mir wichtig. Ich lüge nicht gerne, und wenn ich es tue, will ich einen guten Grund dafür haben“, erklärte sie. Schon wieder: Es ergab völlig Sinn und wäre wirklich gerecht, wenn sie die Wahrheit wüsste. Vielleicht würde sie ja sogar Verständnis zeigen.

Nein. Nie. Unmöglich.

„Kannst du mir nicht einfach danken und die Sache vergessen?“

„Danke.“ Doch dann kam nichts weiter. Sie wartete immer noch.

„Du lässt nicht locker, oder?“

„Nein.“

„Dann hoffe ich, dass du mit Enttäuschungen umgehen kannst.“

Lieber Enttäuschungen als das, was dich erwartet, wenn du wirklich wüsstest, was passiert war.

Enttäuschungen nahmen einem nicht das Leben. So wie das Monster, das ich war.

Wir starrten uns böse an – es war irgendwie lachhaft, dass sie gegen mich lebenden Albtraum zu bestehen hoffte.

„Warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht?“

Ich hatte mit der Frage nicht gerechnet und sie traf mich überraschend.

Ja, warum hatte ich das? Warum war ich plötzlich nur von diesem einen einzigen Gedanken beherrscht? Warum hatte ich alles dafür tun wollen, damit gerade sie überlebt? Was machte sie so fürchterlich besonders aus ihrem fürchterlich süßen Blut? Was hatte sie so dermaßen zu meinem persönlichen Mittelpunkt gemacht?

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß und merkte nicht, dass ich mit dieser Version ihre Version des Geschehens vielleicht ein wenig bestätigen könnte.

Seufzend wandte ich mich ab und ging davon, ließ meinen persönlichen Teufel allein dort stehen.

Nur Visionen

Eigentlich hatte ich es nicht beabsichtigt, meinen Mitschülern gegenüber mich so abweisend zu verhalten. Noch weniger sollte ich es. Schadensbegrenzung war das wichtigste und beste, was ich hätte tun können, nachdem ich wieder zur Schule zurückgekehrt war, aber es fiel mir außerordentlich schwer, meine schlechte Laune unter der üblichen höflichen Maske der Schauspielerei zu verbergen.

In unzähligen Gedanken hörte und sah ich, wie grauenhaft nahe mein Gesichtsausdruck an der Grenze zu unmenschlich war. Es war nicht gut. Doch ich konnte mich nicht beherrschen. Was tat ich da nur? Was hatte ich getan?

Ich hatte sie vor dem sicheren Tod bewahrt und ich bereute es nicht. Lieber sie, die als einzige glaubte, unnatürliches gesehen zu haben als die ganze Schule, die mich dabei beobachtete, wie ich mich an ihrem frisch vergossenen und ach so süßen Blut labte. Das wäre sicherlich auffälliger gewesen.

Aber ich hatte sie nicht gerettet, weil ich mich vor ihrem Blut retten wollte – an diese perfekte Ausrede hatte ich in jenem Augenblick nicht einmal gedacht. Ich hatte mich bereits einmal angelogen, wenn es um sie ging, auf ein zweites Mal wollte ich es nicht ankommen lassen.

Nur was erzählte ich dann meiner Familie? Die Wahrheit? Dass ich riskiert hatte, unser Wesen zu offenbaren, weil mir das Leben dieses einen Menschen so viel bedeutete. Das würde ein lauter Streit werden; Rosalie und Jasper hießen mein vorheriges Verhalten schon nicht gut und jetzt hatte ich dem Ganzen wohl die Krone aufgesetzt. Sie behüteten ihre Gedanke, ließen mich nicht einblicken, doch das machte die Vorstellung der Auseinandersetzung mit ihnen nur noch schlimmer.

Aber vielleicht war es genug, wenn meine Mutter auf meiner Seite stand. Carlisle wandte sich nie gegen sie und wenn er ebenfalls versuchte, mir zu helfen, dann standen die Chancen vielleicht besser, dass zumindest Rosalie mich in ihrem Zorn nicht nur mit Worten zerriss. Hoffentlich konnte sie sich zumindest beherrschen, bis wie zu Hause angekommen waren.

Aber sicherlich würde sie das. Ihre offensichtliche Selbstbeherrschung, die ich nicht zu haben schien, war für sie schon der erste Schlag in unserem Streit.

Ich seufzte innerlich.

Die Gedanken änderten sich nicht; immer noch zeigten sie mich mit diesem fürchterlich grimmigen Gesichtsausdruck, mit diesen pechschwarzen Augen.

Nein, nur fast schwarz, aber Menschen konnten den schwachen, goldenen Schimmer nicht erkennen.

Ich hörte, dass Mr. Banner darüber nachdachte, mich zu fragen, wie es Bella ging, ob es ihr und Tyler bald wieder besser gehen würde, aber genau wie all die anderen schreckte er instinktiv vor mir zurück. Er würde nachher im Sekretariat nachfragen.

Wir waren doch Monster.

Die Stunden vergingen und ich achtete nicht im Geringsten auf das, was weiter geschah. Was sollte ich tun? Was meinen Geschwistern sagen? Was mit Bella tun? Bella versprach, nichts zu sagen. Woher sollte ich wissen, dass sie die Wahrheit sagte? Warum aber sollte sie lügen? Nichts ergab Sinn – sie ergab keinen Sinn. Niemand würde ihr glauben, dass ich den Van mit bloßen Händen aufgehalten hatte (das war keinem Menschen möglich). Doch ein Gefühl in meinem Inneren sagte mir, dass sie wahrhaftig ehrlich zu mir war. Aus irgendeinem Grund würde sie für mich schweigen. Wie sehr wollte ich ihre Gedanken lesen können! Welch Folter, es nicht zu können! Es ersparte mir so viel fürchterlichen Ärger! All diese Fragen, die mich nicht losließen!

Langsam, als es zum Ende der letzten Stunde klingelte, ging ich aus dem Gebäude in Richtung Parkplatz, einen Schritt nach dem anderen, die Unebenheiten des Bodens hatte ich noch sie so deutlich gespürt wie heute. All die kleinen Steinchen, die in meinem Weg lagen, zerbrachen unter meiner Kraft – das knirschende Geräusch, das dabei entstand, wurde von dem freudigen Gerede übertont: Endlich Schule aus! Endlich nach Hause! Endlich der Streit mit der Familie!

Ich seufzte, war beim Wagen angekommen und schloss die Türen auf. Meine Geschwister sagten nichts, stiegen lautlos sein und ich verdrängte die Gedanken all der anderen, wollte sie nicht hören und es blieb nur ein leises Summen übrig, aus dem ich keine einzelne Stimme herauszuhören vermochte, mochte sie auch noch so vertraut sein. Ich ließ den Motor an, fuhr los, erst unter der Geschwindigkeitsbegrenzung, dann, auf dem Weg aus der Stadt heraus, bei weitem drüber.

Die Zeit verstrich einigermaßen schweigend, stiller als zuvor, da sich das Summen auf einige wenige Stimmen beschränkte, doch je mehr ich versuchte, es zu ignorieren, desto lauter wurde Rosalie.

Ich verzog das Gesicht bei den Ausmaßen und vor allen Dingen der Lautstärke, die die Parade von Schimpfwörtern in ihrem Kopf erreichte, während ihr Gesicht keinerlei Regung zeigte.

Ich trat fester auf das Gaspedal und mein Volvo gehorchte problemlos – wie wütend auch immer sie auf mich sein mochte und das auch noch berechtigt, ihr Stolz für ihr makelloses Tuning an jedem von unserem Wangen drang dumpf durch ihre Schimpfwörter hindurch. Doch eben wegen ihres Tunings waren wir schneller zu Hause als mir lieb war, die zweite Verdammnis rückte im Millisekundentakt näher. Ich hielt in unserer Garage an, wir stiegen aus und dennoch blieb es stumm. Kein Wort wurde gesagt, nur ich seufzte ein weiteres Mal.

Ein langer Abend, der mich erwartete.

Ohne jegliche Hast ging ich meiner Familie in das Esszimmer hinterher, nur gebraucht für Diskussionen, weil kein einziger jemals zu Hause aß.

Ich hatte den Raum gerade erst betreten, saß noch nicht einmal, als Rosalie ihre Kaskade an Beleidigungen in ihren Gedanken mit ihrem Mund zum Ausdruck brachte: „Edward, wie konntest du nur? Du gottverdammter, seelenloser Idiot!“ Au. Das war unter die Gürtellinie, aber ich sagte nichts. Sie hatte jedes Recht dazu, mich zu beschimpfen.

„Warum hast du für einen Menschen – einem Wesen, das schon zu deiner Ernährung beitrug – unsere Aufdeckung riskiert? Was hast du dir dabei bloß gedacht?“

Nicht sie.

Alles und jeder, nur nicht sie.

Doch ich schwieg – hätte ich das gesagt, hätte sie mich vermutlich wirklich angegriffen.

Rosalie beruhigte sich nicht durch mein Schweigen, ihre Blicke erstachen mich.

Antworte, du billiger Abklatsch von einem Vampir!

„Es tut mir leid, Rosalie. Ich wollte nicht die Aufdeckung unserer Familie riskieren durch mein unüberlegtes Handeln. Es tut mir aufrichtig leid. Ich habe nicht nachgedacht.“

Mein Blick wanderte über jedes Familienmitglied und ich blieb bei meinem Vater hängen. Zog er vor, dass ich auf diese Weise gehandelt hatte? Das hatte er zumindest im Krankenhaus gesagt. Er konnte unmöglich wollen, dass ich lieber ihr Blut getrunken hätte.

„Das hättest du mal lieber gemacht, als du noch die Möglichkeit dazu hattest!“, fauchte sie und unterlegte ihre Worte unbewusst mit einem Knurren.

Wie sehr unser Wesen doch von dem Raubtier, das wir sind, beherrscht wurde.

„Es tut mir leid“, wiederholte ich. „Von ganzem Herzen. Ich werde die volle Verantwortung für mein Handeln übernehmen.“

Von ganzem Herzen? Dein Herz schlägt seit 100 Jahren nicht mehr!“

„Deins genauso wenig!“ Mein Ton war schärfer als beabsichtigt, doch sie ging nicht darauf ein: „Und wie willst du das machen? Wieder weglaufen?“

In ihren Gedanken sah ich, dass es in ihren Augen so etwas wie „Verantwortung übernehmen“ für meine Tat nicht gab. Kein Verzeihen. Immer mit dieser Schuld leben und selbst das war ihr nicht genug.

„Vor einem Menschen? Du bist so unglaublich feige, Edward.“

„Rosalie, lass das“, mischte sich Carlisle mit fester Stimme ein, gebietend, aber nicht parteiisch. „Ich ziehe jede Lösung vor, die beinhaltet, dass Edward bei uns bleiben kann.“ Es schmerzte ihn, mich wieder gehen zu lassen – ein drittes Mal. Ich war sein Sohn, mehr als alle anderen, auch wenn er für jeden von uns sein Leben lassen würde.

„Aber wenn Edward bleibt, dann ziehen wir alle um und ich will nicht schon wieder von vorne anfangen. Wir haben uns gerade erst eingelebt“, jammerte sie und sah unseren Vater flehend an. Ihre Blicke sagten genau das, was ich in ihren Gedanken hörte: Trenn dich von ihm – nur für ein paar Jahre. Dann müssten wir eh wieder umziehen. Warte bitte. Doch selbst wenn Carlisle ihre Gedanken wirklich wüsste und nicht seiner eigenen Interpretation vertraute, würde er ihr nicht zustimmen.

Dieser Mann war zu gut zu mir.

„Und wenn wir alle bleiben – woher sollen wir wissen, dass dieser Mensch den Mund hält? Wir sind alle gefährdet durch seine Dummheit!“ Jetzt war ihre Stimme wieder voller Wut auf mich.

„Bella wird nichts sagen.“

Weiß der Geier warum, aber ich glaubte ihren Worten, die sie mir im Krankenhaus gesagt hat. Es war ein reines Gefühl, dem ich ganz vertraute.

„Du kennst ihre Gedanken nicht. Woher willst du das wissen?“

„Da hat sie leider Recht, Edward“, murmelte Emmet.

„Woher wollt ihr wissen, dass sie etwas sagt?“

„Es wäre nur natürlich – wer würde so etwas schon für sich behalten?“

Es wäre nur natürlich … ich lachte fast. Selbstverständlich wäre es nur natürlich, aber Bella war nun mal nicht natürlich. Sie handelte nicht nach normalen menschlichen Trieben. Bis jetzt. Wenn sie jetzt etwas sagte, auch wenn ihr keiner glauben würde, könnte ich es ihr nicht vorhalten – es wäre nur verständlich.

„Und wir müssen zum Schutz unsere Familie dafür sorgen, dass sie nichts sagt.“

Zum ersten Mal sprach Jasper, doch seine Gedanken trafen mich schlimmer als seine Worte. Wie viele Möglichkeiten er durchging, dieses Mädchen zu töten! Und jede war fürchterlich effektiv in jeder erdenklichen Weise! Und kaum, dass er zu Ende gesprochen hatte, hörte ich dazu parallel exakt denselben Gedankengang – von Rosalie. Sie beide planten den perfekten Mord an meinem neuen Mittelpunkt, weder blutig noch schmerzhaft.

Einfach. Schmerzlos. Schnell. Unnachweisbar.

Und wenn sie zusammenarbeiten würden, wäre es noch…

„Hört auf! Ihr könnt doch nicht einfach einen Menschen umbringen!“

Ich sprach aus, was sich bereits in den Gedanken Carlisles als Bild geformt hatte – als Bild, weil er trotz seines messerscharfen Verstandes sprachlos war wegen des greuelhaften Verbrechens, das seine Kinder planten.

„Aber wenn sie –“

„Dann ziehen wir um.“

Carlisle tadelte sie nicht mit Worten, aber sein Blick war deutlich genug. Rosalie und Jasper schwiegen, doch ihre Gedanken verrieten sie. Sie gaben ihren Plan nicht auf.

„Alice, kannst du nicht sehen, ob sie etwas sagen wird? Wir müssen nicht sofort wegziehen; wir können abwarten“, fragte Esme, ihre Stimme getränkt mit all ihrer Sorge um ihre Kinder und das Menschenmädchen.

„Was bringt das? Bei der nächsten Gelegenheit wird Ed–“, begann Rosalie und nur mit einem minimalen Bereich ihres Gehirns bemerkte sie, dass sie ihren Zorn auf mich an ihrer Mutter ausließ, doch Esme reagierte nicht darauf. Oder kam nicht dazu, weil Alice Rosalie unterbrach: „Ich kann gar nichts sehen! Nicht das Geringste! Denn jede Vision von Bella endet mit ihrem Tod, herbeigeführt nicht durch Edward!“

Sie ließ keinen Zweifel daran, wen genau sie meinte; ihre Blicke waren niederschmetternd.

Ich schaute in ihren Gedanken nach Visionen und tatsächlich – da war immer wieder Bella am Boden, immer wieder Jasper und Rosalie. Doch noch während ich die Visionen sah, änderten sie sich und Belas lebloser Körper lag nicht mehr auf dem Boden (dieses Bild brannte sich schmerzlich in meine Erinnerungen und in meinem Herzen spürte ich einen scharfen Stich), sondern an meiner Seite, geschützt vor Angriffen meiner Geschwister. Egal, welche Taktik Jasper sich ausdachte, ich reagierte auf jede und brachte sie zum Scheitern.

„Das gefällt mir schon eher“, murmelte Alice, die Augen verloren auf irgendeinen Punkt gerichtet, ihre Augenbrauen dennoch weiterhin missfallend zusammengezogen, aber ihre Visionen änderten sich nicht.

„Jasper, bitte“, bat sie nach einigen Minuten mit einem entnervten Seufzen. „Gib ihr eine Chance. Vertrau mir bitte. Und du auch, Rosalie. Für einen einzigen Augenblick“, fügte sie an ihre Schwester hinzu, doch die schien im Gegensatz zu Jasper nicht bereit von ihrem Vorhaben abzulassen. Ich musste nicht Gedanken lesen können, um auf ihrem Gesicht ihren inneren Kampf zu sehen; Rosalie widerte es gerade zu an, ihr problemloses Fortbestehen in Forks einem Menschen anzuvertrauen, über den ich nichts weiter wusste als dass ich seinem Sirenengesang kaum widerstehen konnte.

„Ich verbiete euch, diesem Kind grundlos etwas anzutun. Sie hat uns nichts getan und wir haben kein Recht, einem Menschen sein Leben zu nehmen“, sprach Esme leise. Sie sah auch niemanden dabei an; ich spürte durch Jaspers Fähigkeiten, wie unwohl sie sich fühlte, wenn sie ihre Autorität in dieser Weise gebrauchte, dennoch wagte Rosalie es nicht, sich zu widersetzen.

Widerwillig gab sie es auf, Bella aus dem Weg räumen zu wollen. Jaspers Kapitulation folgte ihrer nur nach wenigen Augenblicken, eingeschüchtert unter dem mütterlichen Verbot und Alices Blicken.

„Danke“, sagte Alice, sowohl an ihren Mann als auch an Rosalie und Esme gerichtet; Carlisle und Emmet sahen schweigend zu, als Alices Augen sich wieder in der Zukunft verloren.

„Schon viel besser“, murmelte sie für sich, ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen. „Nein, sie wird nichts sagen …“

Alice hatte Recht. Ihre Visionen wandelten sich, Jasper und Rosalie wurden in den Hintergrund gedrängt, verschwanden vollständig. Die dunkle Gasse ward eine sonnengetränkte Lichtung, strahlend in ihrer Blütenpracht, doch all ihre Schönheit verblasste im Angesicht der zwei Personen in ihrer Mitte. Ein junger Mann und eine junge Frau. Ihre Hände miteinander verschlungen.

Ein Bild völliger Harmonie und des Verliebtseins, das laut klirrend zerbrach, als ich Bella in der jungen Frau erkannte. Auf ihrer Haut und ihrem Haar tanzten bunten Lichter, die das Sonnenlicht warf, gebrochen auf der Haut des jungen Mannes. Meiner Haut.

Ich, ein Vampir, gefoltert durch den scheußlichsten Teufel aus seiner eigenen Hölle, zusammen mit eben diesem Teufel in einem Moment süßester Liebe.

In den Augen Bellas – oder überhaupt in ihrer ganzen Körperhaltung – lag Wissen.

Ich schauderte. Natürlich wusste sie, was ich war, wenn ich mich ihr im Sonnenlicht zeigte; es war genauso offensichtlich, als hätte ich vor ihren Augen das Blut eines Menschen getrunken (als würde ich das je vor ihr machen. Jedes Blut würde mit dem Geruch von ihrem in der Nase einfach schrecklich schmecken).

Doch Bella fürchtete mein Wesen nicht und ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, ihre braunen Augen strahlten mit der Sonne um die Wette.

„Und so verliebte sich der Löwe in das Lamm …“

Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, was meine Stimme da sagte, während mein zukünftiges Ich wie gebannt in Bellas Augen sah und sich einfach nicht losreißen konnte. Es fühlte sich an, als würde es mir körperliche Schmerzen bereiten, wegzusehen – sogar jetzt, da es noch gar nicht geschehen war.

Ich liebte Bella? Bella liebte mich? Ich liebte Bella.

Egal, wie rum ich es drehte, es klang dennoch absurd. Ein Menschenmädchen sollte es nach mehreren Dekaden endlich geschafft haben, mein Herz zu erreichen? Unlogisch. Unmöglich. Ich widerte mich selbst an, dass ich Rosalie innerlich in diesem Punkt zustimmte.

Was hatte dieses Mädchen, was andere nicht hatten? Was gab es an ihr, was mich mit dieser offensichtlichen Liebe an sie band?

Das Bild verschwand nicht, schweißte sich unabänderlich in meine Erinnerungen. Ich sah es immer länger an und Ewigkeiten verstrichen dabei, obwohl ich genau wusste, dass bisher nicht einmal eine Sekunde vergangen war.

Ich sah es, und ergab immer mehr Sinn. Ich kannte ihre Gedanken nicht, ihr Blut war die reinste Verführung, aber sie war ein lieber Mensch, herzensgut. Wer konnte sie nicht lieben? Warum sollte ich sie nicht lieben?

Doch ihre roten Wangen in dem süßen Bild waren Grund genug. Ein Mensch war in meinen Armen nicht sicher. Und von allen am wenigsten sie. Sie war diejenige, die am meisten vor mir geschützt werden musste – am sichersten war sie weit, weit weg von mir und wenn nicht das, dann sollte sie mich nicht leiden können. Das Beste …

„Nein. Das ist nicht möglich!“

„Das sehe ich anders“, sagte Alice und lächelte dabei wissend. Natürlich sah sie es anders, obgleich sie genau wusste, dass ihre Visionen rein subjektiv waren; sie glaubte dennoch fest daran.

Edward, siehst du denn nicht? Sie weiß – oder wird wissen –, was du bist und sie liebt dich trotzdem so sehr. Warum lässt du es nicht zu?

„Nein, das kann ich nicht …“ Das konnte ich ihr nicht antun.

Was ist daran falsch?

„Alles! Das ist nicht möglich!“ Das durfte nicht geschehen, doch dieses Bild verschwand einfach nicht. Ich sah es immer noch und es wurde immer schöner, die Vorstellung immer süßer, ihren zerbrechlichen Körper trotz meines grausamen Seins in den Armen zu halten.

Wie konnte ich ihr nur so etwas antun wollen? Wie konnte sie so etwas nur wollen?!

Ich hatte gedacht, Bella heute ein wenig besser verstanden zu haben, doch das war jetzt alles dahin.

Ich schreckte aus meinen Gedanken auf, als Alice erneut eine Vision hatte. Dieses Mal zeigte sie nicht mich, sondern Alice selbst, neben ihr Bella und sich lachten beide herzlich.

„Was? Was soll das?“

Sie antwortete nicht. Ihr Glück schien noch zu wachsen, als ihre Vision sich leicht änderte. Bellas Wangen, gerade noch so lieblich rot angehaucht, waren jetzt weiß wie meine, ihre Augen genauso golden und das Sonnenlicht auf ihrer und Alices Haut warf tanzende Lichter auf ihre Umgebung.

„Nein! Das darf nicht passieren! Nie!“

Ich schüttelte den Kopf, als würde es irgendetwas bringen, als könnte es meine zukünftige Entscheidung für dieses Mädchen beeinflussen.

Du kannst nichts dagegen tun. Es ist unabänderlich.

„Nein. Ist es nicht –“

„Um was geht es hier eigentlich?“

„ – dann gehe ich eben wieder. In ein paar Jahren ist sie mit der Schule fertig und dann –“

„Um was geht’s? Alice!“

„ – kann ich wieder zu euch zurückkommen. Wir müssten dann eh wieder umziehen. Ich –“

„Edward! Sag endlich was!“

Doch stattdessen minutenlanges Schweigen, das Emmet vermutlich noch mehr störte als das Gespräch seiner Geschwister, das nur zur Hälfte gesprochen war.

Ich glaube nicht, dass du gehen kannst.

„Ich muss es versuchen.“

„Nein, Edward. Das kannst du nicht“, sagte sie sanft und lächelte für einen Augenblick, dann waren ihre Augen hart und durchbohrten mich geradezu.

Und wehe dir – nimm sie mir nicht weg. Ich werde sie auch so sehr lieben … wir

„Auch lieben?“

Ich flüsterte nur – ich liebte sie? Sie war so ein liebes Mädchen und verdiente besseres als mich. Auch lieben. Alice liebte Bella. Und Bella würde auch Alice lieben. So sehr, dass sie keine Angst vor ihrem Wesen hatte, sogar gerne in ihrer Nähe war. Und mich würde sie so sehr lieben, dass sie ihr Leben für mich aufgeben würde. Sie liebte mich mehr als sich selbst.

Wie konnte ich so etwas nur verdient haben?

Schweigend versuchte ich zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Oder offensichtlich nur ich nicht begreifen konnte, denn Rosalie lachte laut auf, als sie verstand, worum es ging. Ein harter, erschrockener Laut, kein Stückchen amüsiert: „Edward liebt Bella? Er wird sich in dieses Mädchen verlieben? In einen Menschen?“

Es passierte plötzlich so viel auf einmal. Als Rosalie die Worte aussprach, hörte ich so viele Fragen auf einmal, gesprochen und gedacht, und für einen Moment schloss ich meine Augen, um ihre Stimmen auseinander zuhalten.

Die Stimme Esmes war die lauteste, übertönte Rosalies Beleidigungen und Carlisles schreiende Sprachlosigkeit. Ihre Freunde, ihr Glück, darüber, was mir widerfahren würde, schien für sie alles Negative aus der Welt zu drängen.

So viele unterschiedliche Gedanken, so unterschiedliche Lautstärken. Diese wenigen, ach so vertrauten stimmen waren ein Klang und dann doch wieder nicht. Meine eigene Verwirrung war fast schlimmer als der Rest.

Ich flüchtete aus dem Haus.
 

Mit meiner Familie sprach ich an diesem Tag nicht mehr; ich kam nicht einmal mehr vor der üblichen Zeit, zu der wir zur Schule fuhren, nach Hause, sondern rannte unablässig durch die Wälder und jagte. Doch meinen Durst, den einzigen Bestandteil meines Lebens, der nie verschwinden würde, vermochte ich nicht zu stillen.

Es war bereits nach Mitternacht, als ich merkte, dass ich noch wochenlang weiter Tierblut – oder sogar Menschenblut – trinken könnte und mein Durst einfach nicht nachlassen würde. Es war nicht Blut, nach dem mein Wesen dürstete, sondern sie. Ihr ganzes Wesen, ihr Geruch, ihr Aussehen, ihre Stimme, ihr Charakter selbst, einfach alles von ihr war es, das ich sehen wollte, bei mir haben wollte, das Bild jener Vision immer vor Augen in unnatürlich grellen Farben.

Doch obschon ich das verstand und auch einsah, schreckte ich dadurch noch mehr vor der Erfüllung der Vision zurück. Ich würde nie jemanden meine Lebensweise aufzwingen, selbst oder gar erst recht nicht wenn nach ihr verlangt werden würde. Selbst, wenn dieser jemand dem Tode nahe war. Nie. Dieses Schicksal verdiente niemand. Noch weniger sie.

Aber wie sollte ich es verhindern, wenn sie doch eine so starke Wirkung auf mich hatte? Mich fesselte, obwohl ich mich mit meiner übermenschlichen Kraft dagegen wehrte und doch auf ganzer Linie scheiterte?

Ich konnte nicht wieder weglaufen und meinen Eltern wieder Sorgen bereiten, wusste ich doch, dass sie es zu sehr an damals erinnerte, als ich …

Wie sonst auch ließ ich den Gedanken fallen und schüttelte innerlich den Kopf. Was auch immer war, ich würde nicht weglaufen. Ich blieb hier, bis sie mit der Schule fertig war. Dann würden wir in einen anderen verregneten Teil der Erde umziehen und sie in einen sonnigen Ort, wo der Regen und die Kälte ihr nicht die Stimmung verderben konnten. Wir würden einander nie mehr wieder sehen. Sie würde alt werden und sterben und ich lebte weiter wie bisher, vollkommen unberührt von ihrer Macht, sie nur noch existent in meinen Erinnerungen. Nichts weiter als das Leben eines Unsterblichen führen.

Doch für den Augenblick war ich noch hier, würde noch einige Jahre bis zum besagten Schulabschluss von ihr mit ihr hier sein. Eine Zeit, die es zu überstehen galt, in der ich ihr nicht zu nahe kommen durfte. Es bedurfte doch nur einer allzu schwachen Bewegung und ihr Leben war beendet. Wie sollte das gut gehen? Das konnte nicht gut gehen. Gab sie sich mir hin, wäre sie verdammt bis in alle Ewigkeiten. So durfte es mir ergehen – ich hatte es mehr als nur verdient –, aber doch nicht ihr.

Ein Leben als Mensch mit all seinen Höhen und Tiefen wartete auf sie und sie sollte es auch leben, so, wie es das Schicksal vorschrieb. Wer war ich, dass ich mir das Recht anmaßte, über ihr Leben derart zu bestimmen? Wie konnte ich nur?

Ein gefragtes Mädchen

Meinen Entschluss, zwischen Bella und mir keine positiven Gefühle aufkommen zu lassen, in die Tat umzusetzen, erwies sich als genauso schwer wie ihrem süßen Geruch zu widerstehen.

Am Tag nach dem Unfall war sie umringt von allen möglichen Schülern unseres Jahrgangs, die die Geschichte aus ihrer Sicht hatten hören wollen. Wie hatte sie es geschafft, dem Van zu entkommen?

Wie von ihr versprochen und wie von Alice vorhergesagt, bliebt sie bei meiner Version des Unfalls. Unzählige Male beteuerte sie, ich sei es gewesen, der sie aus dem Weg gezogen und dabei sein eigenes Leben riskiert hätte – wenn sie wüsste. Doch mehr als misstrauische Blicke bekam ich nicht, während die Fragenden sagten, sie hätten mich nicht neben ihr gesehen, was aber nicht einmal im Ansatz so schlimm war wie Bellas eigentliche Sicht der Dinge; immerhin hatte ich wirklich auf der anderen Seite des Parkplatzes gestanden, den zu überqueren ich als Mensch nie im Leben rechtzeitig geschafft hätte. Aber es interessierte auch niemanden wirklich, wo ich wann gewesen war. Wir Cullens sahen gut aus, ja, aber wir waren Außenseiter. Freaks. Eben einer dieser Freaks hatte die neue Sensation der Schule gerettet. Punkt. Und? Er selbst wurde damit nicht besser.

So weit die Sicht der meisten Schüler. Hin und wieder allerdings hatte ich das Gefühl, dass Bella in dieses Schema nicht passte, es anders sah. Besonders in Biologie. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, weil ich ihr dann so nahe war und so sehr mit meinem Blutdurst kämpfte, dass ich ein wenig unaufmerksam wurde.

Seit sie da war, war Biologie die schlimmste Schulstunde meines gesamten bisherigen Schullebens. Nur einen halben Meter von ihr entfernt, während ich um- und benebelt war von ihrem Sirenengesang. Ich atmete nicht mehr in dieser einen Stunde; ich hielt es einfach für das Sicherste, dass ich tun konnte. Aber allein zu wissen, welch süßlicher Geruch mich umgab, war fast genauso schlimm wie ihn direkt einzuatmen.

Trotzdem hörte ich ihr zu, wenn sie mit Freunden sprach, doch ich sah sie nicht direkt an – zumindest nicht durch meine Augen, auch wenn ich diesen Anblick allen anderen vorzöge. Jedem Bild Bellas, obwohl sie im Grunde alle gleich waren, mischten sich die persönlichen Gedanken unter und veränderten es. Ich sprach kein einziges Wort mit ihr und gleichzeitig wüsste ich doch zu gerne, was sie von mir hielt … ob mein Verhalten die gewünschte Wirkung erbrachte? Doch wo lag der Sinn, wenn ich wünschte, sie würde es mir ins Gesicht sagen? Dann würde ich sicherlich nur schwach werden und alles daran legen, dass sie eben jenen Hass wieder vergessen würde. Oder so ungefähr.

Diese Unwissenheit kombiniert mit ihrem Geruch ließen mich schier verzweifeln, stets das zukünftige Bild Bellas in ihrer wunderschönen unsterblichen Form vor Augen und das machte es so unendlich schwer, ihrem menschlichen Sein im Jetzt zu widerstehen.
 

Doch während ich an ihr verzweifelte und hoffte, für sie an Bedeutung zu verlieren, beobachtete ich sie Tag für Tag aus der Ferne und aus vielen unterschiedlichen Perspektiven.

Wenn es mir durch direkten Kontakt nicht gestattet war, dieses liebliche Mädchen kennen zu lernen, dann doch wenigstens über Umwege.

Ich war überrascht und hätte fast mitten des Unterrichts laut aufgelacht, als ich verstand, dass sie am Tag des Unfalls keineswegs auf einer allzu glatten Eisfläche gestanden hatte. Es war lächerlich, dass ich es nicht sofort gesehen hatte mit meinen ach so scharfen Augen, aber vielleicht war es nur zu offensichtlich gewesen.

Bella war tollpatschig. Durch und durch. Sie stolperte, fiel oder ließ fallen, stieß sich den Fuß, das Knie, den Ellbogen, die Schulter, den Kopf, rempelte an oder stieß etwas herunter und war kaum in der Lage, auf einer geraden Fläche ohne irgendwelchen störenden Gegenstände, die den Lauf in einer unachtsamen Sekunde gefährlich werden lassen könnten, fünf Schritte zu gehen ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern.

Wie sie es geschafft hatte, bisher so problemlos zu überleben, ohne ständig wegen irgendwelcher Knochenbrüche im Krankenhaus zu sein, war mir ein Rätsel. Und jetzt, da ich es wusste, war es ein dominierender Aspekt, der mir bei meinen Beobachtungen sofort immer ins Auge stieß.

Es war fast schon lustig und wirkte auf eine besondere Art süß.
 

Es näherte sich der Ball und ich war mir sicher, dass Bella nicht hingehen würde – zumindest glaubte ich, sie durch meine Beobachtungen (ich kam mir vor ein Stalker) gut genug kennen gelernt zu haben für ein solches Urteil.

Jeder Ball war immerhin auch ein Tanz und wenn es beim Gehen schon scheiterte, dann würde es mit dem Tanzen sicherlich nicht besser aussehen. Nahm ich an.

Ich hätte es vermutlich gar nicht bemerkt, dass der Tanz anstand, zu sehr besessen von diesem Mädchen, das ich nicht lieben durfte – nicht lieben würde –, wenn meine Schwestern nicht angefangen hätten, über ihre Kleider zu reden und Jasper zunehmend nervöser wurde durch die rasenden Herzen all der Mädchen, die den Jungen ihrer Wahl um dessen Begleitung fragen wollten. Doch obwohl Damenwahl war, wie ich nach dem ersten Gedanken eines Mädchens in dieser Richtung herausgefunden hatte, hörte ich den Gedanken so vieler Jungs, die darauf hofften, dass, wenn Bella sie nicht fragen, sie die Sache selber in den Hand nehmen könnten. Das und all die Sachen, die jene Schüler während und nach dem Ball mit Bella machen wollten, zu hören, weckte jedes Mal ein so seltsames Gefühl in mir.

Anfangs hatte Jasper mich bei diesen Eifersuchtsanfällen, wie er es nannte, noch verständnisvoll angesehen. Jetzt war er angenervt, weil ich mich trotz dieser offensichtlich starken Gefühle für sie, die jeder in meiner Familie sah, aber nur ich nicht wahrhaben wollte, immer noch von Bella fernhielt.

Als Alice das erste Mal eine Vision hatte, in der ich Mike Newton wegen seines aufdringlichen Verhaltens in seinen Gedanken gegenüber Bella das Blut austrank (schmecken würde es aber sicherlich nicht), war sie noch hoch amüsiert und triumphierend, glaubte sie doch, ich wäre endlich zu dem Schluss gekommen, dass ihre Visionen der Wahrheit entsprachen. Doch als nichts dergleichen geschah und ich Bella weiterhin ignorierte – zumindest nach außen hin – und Mike Newton noch immer ohne einen einzigen Tropfen Blut weniger rum lief, wirkte sie fast schon verbittert und schlug mich jedes Mal so fest wie sie konnte ohne ein verräterisches Geräusch zu erzeugen.

Rosalie hingegen tat es mir gleich und ignorierte all die Anzeichen der Störung mit Namen Isabella Swan. Solange keine Gefahr für ihr sorgenloses Leben in Forks bestand, schien es ihr egal zu sein. Und Emmet nahm es einfach nur so hin, zählte die Tage, wie lange ich meinen Dickkopf wohl noch durchsetzen konnte. Er schien vollständig überzeugt von den Visionen.
 

An einem Tag, es waren nur noch knapp zwei Wochen bis zu besagtem Ball, saß Newton wie üblich auf der Kante von Bellas Tischseite und unterhielt sich mit ihr. Oder würde gleich anfangen. In seinen Gedanken hatte er das bereits mindestens fünf Mal gemacht, hatte bisher aber noch nicht seinen Mund öffnen können.

So sehr ich mir auch wünschte, sie spräche mit mir – oder jemand anderes, Hauptsache, nicht mit Newton; ich mochte seine Gedanken von Bella nicht –, war ich doch wieder einmal froh darüber, ihre Stimme aus unmittelbarer Nähe hören zu können. Es war doch ein Unterschied, sie mit meinen Ohren zu hören als durch so viele Gedanken Fremder. Denn so hörte ich, dass sie ganz leicht, minimal, angespannt wirkte, ein schwacher Unterton in ihrer Stimme, den Newton nicht zu hören vermochte. Und immer, wenn sie neben mir saß, schlug ihr Herz eine Spur schneller. Doch das war sicherlich nur eine durchaus natürliche und unterbewusste Reaktion auf mein Wesen …

Noch immer schien Newton völlig überfordert, einen vernünftigen Anfang des Gesprächs zu finden; normalerweise hatte er schon den Mund auf, bevor er sich überhaupt auf die Tischkante gesetzt hatte. Erstaunt von mir selbst lauschte ich seinen Gedanken, um endlich den Grund zu erfahren, und, aah, natürlich. Eine solche Lage war sicherlich schwierig für jeden Jungen, der eine Schwäche für Bella hatte, aber einem anderen Mädchen gegenüber nicht taktlos sein wollte.

Ich verstand ihn, aber das machte ihn mir nicht unbedingt sympathischer.

„Was ich dir sagen wollte … Jessica hat mich gefragt, ob ich mit ihr zum Frühlingsball gehe“, sagte er und hielt seinen Blick gesenkt, sah nur noch aus den Augenwinkeln Bellas zierliche Gestalt und wie innig er sich wünschte, sie würde enttäuscht reagieren. Ich kapitulierte schon bevor er die Frage überhaupt ausgesprochen hatte; ich konnte mir nicht im Geringsten vorstellen, wie sie reagieren würde.

„Echt? Toll! Ihr habt bestimmt einen super Abend zusammen“, sagte sie enthusiastisch und gut gelaunt, doch es wirkte ein wenig aufgesetzt. Newton allerdings nahm es für bare Münze und zögerte, weiterzureden. Weiter ehrlich zu sein, wenn sie so offen erfreut war über Jessicas Annäherungsversuch, fiel im sichtlich schwer.

„Na ja, die Sache ist … ich hab ihr gesagt, ich weiß noch nicht.“

„Warum das denn?“, fragte sie empört und wieder entging Newton dieser eine Unterton in ihrer Stimme – Erleichterung, würde ich sagen. Worüber?

Auch wenn ich die Antwort nicht wusste, lächelte ich innerlich: Das war es, was ich an dieser Stunde als einziges schätzte; ich hörte sie besser und es sagte mir so viel mehr als die Gedanken der anderen Schüler.

Newtons Wangen färbten sich rot, doch es war nicht einmal im Ansatz appetitanregend. Bellas süßer Duft überdeckte alles andere.

„Ich war mir nicht sicher … also, ob du nicht vielleicht vorhattest, mich zu fragen.“

Ja, wer hoffte das nicht von den Jungs hier, die Bella kannten?

Ob ich genauso das Recht hatte, zu hoffen?

Vorausgesetzt, sie würde sich überhaupt trauen, mich anzusprechen … was ich im Grunde ja eigentlich nicht wollte.

Hoffentlich wollte sie nicht Cullen fragen – das wäre ja …

Er vollendete diesen Gedanken nicht, aber ich konnte mir denken, was an der Stelle der gedachten berüchtigten drei Punkte stehen würde. Ich lächelte innerlich. Ich war doch der Freak. Der Außenseiter. Sah er mich etwa ernsthaft als Konkurrenz für Bella an? Hatte er nicht gemerkt, dass zwischen ihr und mir kein Kontakt Bestand?

Ich wandte den Kopf in ihre Richtung, ließ es aber so aussehen, als wäre es aus einer Geste purer Langeweile, so dass sie oder Newton sich nichts weiter dabei denken würden.

„Mike, ich finde, du solltest ihr zusagen.“

„Hast du denn schon einen anderen gefragt?“, fragte er und natürlich sah er ganz kurz zu mir. Er hielt mich wirklich ernsthaft für eine Bedrohung, als Rivale. Als könnte er gegen mich bestehen, wenn ich es darauf anlegte, Bella für mich zu gewinnen. Ich unterlag ihrem Willen, ihrem Wesen und ich würde sie meine ganze Liebe spüren lassen, sie auf Händen tragen wie eine Königin – meine Königin – und sie würde nachgeben. Hatte Alice Vision es nicht bestätigt?

Ich seufzte. Alice Vision würde es sicherlich bestätigen, wenn ich meinen Gedanken weiterhin so freien Lauf ließ.

„Nein. Ich gehe überhaupt nicht zum Ball“, verneinte sie seine Frage. Warum nicht? Aus dem Grund, den ich mir dachte? Oder gab es da etwas anderes?

„Warum denn nicht?“

Wie dankbar war ich ihm dafür, dass er die Frage stellte und wie sehr hasste ich mich dafür, dass ich sie nicht selber hatte stellen können.

„Das ist der Samstag, an dem ich nach Seattle fahre“, erklärte sie. War es die Wahrheit? Oder doch nur eine Ausrede? Und wenn es nur eine Ausrede wäre, hatte sie sie nur für Newton erfunden? Würde sie sie mir auch erzählen, wenn ich nachfragte?

„Kannst du das nicht auf ein anderes Wochenende verschieben?“

Ein letzter Funken Hoffnung, doch noch mit Bella auf den Ball gehen zu können, aber sie blieb dabei und verneinte erneut: „Nein, tut mir Leid. Und du solltest Jess auch nicht länger warten lassen – das ist unhöflich.“

Könnte es sein … dieser eine Unterton … die Erleichterung darüber, dass Newton besagter Jess noch nicht ganz abgesagt hatte … wollte sie, dass die beiden zusammen zum Ball gingen?

Warum auch nicht? Diese Art von Handlung passte zu Bella.

„Ja, du hast Recht“, murmelte er zustimmend, auch wenn er in Gedanken der Meinung war, dass Bella alles andere als Recht hatte. Ich dagegen stimmte ihr vollkommen zu. Es war wirklich unhöflich, ein Mädchen warten lassen – meine Erziehung zu einem Gentleman steckte mir einfach zu sehr in den Knochen. Doch umso mehr stimmte ich ihr zu, weil Newton sich dann nicht an Bella ranmachen konnte.

Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er von der Tischkante runterrutschte und zu seinem Platz ging, während mein Blick an diesen bezaubernd braunen Augen des lieblichsten Mädchens fest hing. Doch nicht lange sah ich in ihre Augen, denn sie schloss sie und presste ihre Finger gegen ihre Schläfen, massierte sie mit ein wenig Druck. Was wohl in ihrem Kopf vorging? Ich konnte mir absolut keinen Reim drauf machen. Es ergab keinen Sinn. Was an der Szene gerade war so schlimm? Vielleicht ihre Ausrede – wenn es denn eine war … sie hatte mir gesagt, sie log nicht gerne. Ob es nun dermaßen an ihren Nerven zog, dass sie dennoch zu einer Lüge hatte greifen müssen?

Wer weiß?

Ich wollte es so gerne und unbedingt wissen. Es war so frustrierend, nicht den geringsten Hauch einer Ahnung zu haben. Was würde ich doch dafür geben, um nur ein einziges Mal in ihren Kopf blicken zu können wie in jeden anderen auch!

Sie öffnete ihre Augen, sah wie durch ein Wunder direkt in die meinen und hielt ihren Blick dort. Irgendetwas, was sie in meinen Augen sah, schien sie zu fesseln, so sehr, dass sie einfach nicht wegsehen konnte. Dabei war die Reaktion ihres Körpers so deutlich. Mit jeder weiteren Sekunde erhöhte sich ihr Puls hörbar und mittlerweile klang er ungesund schnell – hätte ich selbst noch einen, würde er sicherlich mit ihrem konkurrieren. Jedes Mal, wenn ihr Herz schlug, versank ich weiter in diesem endlosen, wunderschönen Meer aus brauen Augen und ich versank gerne darin.

Ich sah mein eigenes Spiegelbild in ihren Augen; ihre lieblich braun, meine pechschwarz. Die letzte Jagd war wohl zu lange her, doch jetzt war eindeutig nicht der passende Augenblick, die Nahrungsquelle zu wechseln. Ich amtete wie üblich nicht, vergaß die üblichen kleinen, schwachen Bewegungen, saß einfach still da – zu still für einen Menschen, aber ich konnte nicht mehr denken. Sie brachte mich um den Verstand.

Mein eiskalter Körper fühlte sich auf einmal so warm an, mein Kopf und meine Nase, obwohl ich nicht atmete, mich nur an ihren Duft erinnerte, berauscht von ihrem süßen Geruch. Ich verbrannte in dieser Intensität.

Gefangen in ihrer ganzen Präsenz.

Ich sah sie wieder in Alices Vision auf der Lichtung, in diesem Augenblick süßester Liebe, ihr Blick genauso von mir gefesselt wie jetzt. Sowohl in der Zukunft als auch jetzt war da kein bisschen Angst oder ein ähnliches Gefühl. In ihren Augen waren Fragen, viele Fragen, auf die sie vermutlich von mir Antworten haben wollte, die ich ihr nicht geben konnte.

Oder?

Nein. Irgendwann konnte ich sie ihr geben. Im Takt ihres Herzens sah ich meinen Willen dahin schmelzen, meinen Entschluss brechen. Wie sollte ich mich nach dem heutigen Tag – nach diesem Moment – noch von ihr fern halten?

„Mr Cullen?“

Mr Banners Stimme unterbrach den Moment, den ich am liebsten nie hätte enden lassen. Es fiel mir schwer, meine Frustration von meinem Gesicht fernzuhalten. Mehr widerwillig als alles andere wandte ich meinen Blick von Bella, der Schönen, ab, suchte die Antwort, die der Lehrer wissen wollte, in dessen Gedanken, und nannte sie ihm.

„Der Krebs-Zyklus.“

Ich hatte die Frage nicht mitbekommen und die Antwort selbst passte irgendwie auch nicht. Ich verdrängte sie wieder und warf einen kurzen Blick zurück zu Bella, doch sie blickte nun auf ihr Buch und versteckte sich hinter ihren Haaren. Sie atmete schwerer und bewusst gleichmäßiger, als wollte sie sich beruhigen, ihr Puls noch immer sehr viel schneller als zuvor.

An was dachte sie jetzt? Was hielt sie jetzt von mir, da ich sie nach Wochen das erste Mal angesehen hatte und dass dann direkt so?

Ich seufzte innerlich. Wie sollte ich an Antworten kommen, wenn ich mich weiterhin gegen die Gefühle wehrte, die ich für sie hatte? Alice sagte, es wäre unausweichlich. Mir bliebe keine andere Wahl. Ich konnte mich gegen diese Gefühle für sie nicht wehren, musste mich selbst unausweichlich in sie verlieben lassen.

Wie gerne würde ich das nun tun, aber welches Schicksal stand ihr bevor, wenn ich doch nicht stark genug war und ihrem Duft dann doch nicht widerstehen konnte? Durfte ich ihr ein solches Schicksal wie das meine auferlegen? Wollte sie so etwas? Und wenn es dann zum entscheidenden Biss kommen sollte … konnte ich überhaupt aufhören, wenn solch süßes Blut meinen Mund füllen und das Monster in mir endlich befriedigen würde?

Tod oder ewige Verdammnis.

Ewige Verdammnis oder Tod.

Wer würde nicht gerne vor einer solchen Wahl stehen? Ein zarter Hauch von Ironie.

Ich verdrehte die Augen. Niemand. Warum sollte sie?

Aber ich wollte sie. Sie selber kennen lernen. Sie haben. Für immer an meiner Seite. Sie mögen. Sie lieben. Bis zum Untergang der Welt.

Durfte ich so selbstsüchtig sein? Alice hatte es doch schon vorausgesehen; dem schönsten Mädchen machte es nichts aus, sie wollte sogar von sich aus an meiner Seite sein und wählte die Verdammnis …

Das konnte ich ihr doch nicht antun.

Aber ich konnte die Ewigkeit auch nicht ohne sie überstehen.
 

Es klingelte zum Ende der Stunde und Bella packte ihre Sachen, ohne mich anzusehen – was durchaus verständlich war, aber irgendwie war in mir der irre Gedanke aufgekommen, dieser einer Moment, der mir deutlich ihre physischen Reaktionen auf mich gezeigt hatte (auch wenn ich mir natürlich nicht sicher sein konnte, ob es einfach die übliche Reaktion auf mein Wesen war – wenn auch der Ausdruck in ihren Augen eine ganz andere Geschichte erzählt hatte), hätte irgendetwas geändert.

Wunschdenken.

Was hatte ich schon anderes verdient, nachdem ich sie seit dem Unfall vollständig ignoriert hatte? Zumindest nach außen hin. Nichts Besseres als das, was sie mir gab.

Ich raste nicht wie üblich davon, sondern bereitete mich innerlich auf den tausendsten Tod durch Verbrennen bei lebendigem Leibe vor. Ich atmete einmal ein, nur ganz flach, nur ganz wenig Luft, und mein Mundwinkel zuckte einmal, aber ich konnte mich zu keinem vollständigen Lächeln durchringen. Mich erwarteten viele Tode.

„Bella?“, sprach ich sie an und hätte mich am liebsten dafür verflucht, dass ich nicht wie sonst auch aus dem Raum geflüchtet war. Was wollte ich ihr eigentlich sagen? Ich hatte nicht einmal darüber nachgedacht, ihren Namen auszusprechen wirkte einfach so natürlich, nahezu selbstverständlich.

Geduldig wartete ich, bis sie sich mir zuwandte. Trotz meiner Ungewissheit kam abhauen jetzt gar nicht mehr in Frage, zu neugierig war ich auf diese kleine Unterhaltung mit ihr.

Als sie mich dann endlich ansah, war ihre Miene wachsam, zweifelnd und misstrauisch – nur natürlich. Ich hatte ihr nie einen Grund gegeben, mich zu mögen.

Ich sagte nichts, weil ich wirklich einfach nicht wusste, was ich sagen sollte und vor allen Dingen wollte. Außerdem hatte ich Angst davor, noch etwas zu sagen. Ich hatte Angst zu atmen. So viel wollte ich von ihr hören, wollte sooft mit ihr sprechen und jetzt scheiterte es schon beim eigentlich Einfachsten.

„Was ist? Sprichst du wieder mit mir?“, brach sie letztendlich selbst das Schweigen und klang dabei ziemlich zickig. Wie gesagt: Sie hatte keinen Grund, mich zu mögen. Mein Plan, zwischen uns Abstand zu schaffen, war wunderbar aufgegangen.

Aber dass sie überhaupt mit mir sprach, war für mich trotz meines eigentlichen Vorsatzes Grund genug, lachend Freudensprünge zu machen. Doch vermutlich hielte sie mich dann für völlig verrückt. Ich unterdrückte ein Lächeln.

Ich zögerte eine Weile mit meiner Antwort. Wollte ich das denn überhaupt? Hatte mein innerer Streit schon zu einer Lösung geführt?

Nicht wirklich.

„Nein, eigentlich nicht“, antwortete ich ihr und atmete langsam durch die Nase ein. So süß, so bezaubernd, so wunderschön … und so völlig außer Reichweite. Egal, wie sehr das Monster in mir nach ihrem Blut schrie – und es schrie so fürchterlich laut –, ich würde ihr nie etwas antun.

„Was willst du dann, Edward?“, fragte sie.

Sie schloss ihre Augen, während sie sprach und hielt sie auch danach geschlossen. Warum? Es wirkte so völlig aus der Reihe, so anders, als jeder Mensch es normalerweise machen würde. Sie sah mich nicht an und wartete. Ihr Herz ging wieder eine Spur schneller als zuvor.

„Es tut mir leid.“

Was konnte ich sonst sagen, was besser passte? Dieser Satz umschloss so vieles, das ich ihr nicht sagen konnte, weil es dunkle Geheimnisse beinhaltete. Aber es beinhaltete auch einiges, dass sie wusste. „Ich weiß, dass ich mich sehr unhöflich verhalte. Aber es ist besser so, wirklich.“

Es wäre wirklich besser, wenn ich mich weiter so verhalten würde und könnte.

Sie öffnete ihre Augen – endlich – und gestattete mir wieder, in ihnen lesen zu können, was ich vermutlich eh nicht verstehen konnte.

„Ich hab nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.“

Auch das war besser so.

„Es ist besser, wenn wir nicht befreundet sind. Glaub mir“, sagte ich. Das war alles, was ich sagen konnte, ohne zu viel preiszugeben. Diese wenigen Informationen mussten ihr genügen, doch es schien weniger der Mangel an Einzelheiten als meine Wortwahl zu sein, die ihr nicht gefiel. Ihre Augen verengten sich.

„Nur blöd, dass dir das nicht früher aufgefallen ist“, erwiderte sie wütend. „Dann müsstest du jetzt nicht all das bereuen.“

Bereuen?

„Bereuen? Was denn bereuen?“

„Dass du nicht einfach zugesehen hast, wie der blöde Van mich zermatscht.“

Was?

Ich starrte sie an, vollständig erfroren – selbst das Feuer in meinem Hals schien gelöscht, das bisher mit jedem Atemzug ein wenig stärker geworden war. Wie kam sie denn darauf? Wie konnte sie nur glauben, ich würde das bereuen, was ich als einziges in meinem ganzen Leben nicht bereute? Nie bereuen konnte. Dass ich ihr Leben gerettet hatte, schien gleichzeitig mein eigenes aus dem Finstern in ihr Licht gezogen zu haben.

Nie, nie, nie würde ich das bereuen. Wie konnte sie nur so etwas glauben?

Ungewollt wandelte sich meine Ungläubigkeit in Wut, als ich antwortete: „Du glaubst, ich bereue es, dir das Leben gerettet zu haben?“

„Ich weiß es.“

„Gar nichts weißt du.“

Und wie froh war ich, dass sie nichts wusste.

Bella antwortete nicht mehr, drehte sich einfach weg, presste dabei die Lippen zusammen und griff nach ihren Büchern, um aus dem Klassenzimmer zu stolzieren. Ihr ganzer Körper war versteift und ihr Schrittrhythmus war für den Weg bis zur Tür ein wenig anders, gleichmäßiger, fester. Sie drehte sich nicht mehr um, um nach mir zu sehen.

Als sie mit ihren Füßen an der Türschwelle hängen blieb und ihre Bücher fallen ließ, hätte ich fast gelacht. Auch wenn ich wegen ihr wütend war, konnte ich doch nicht anders, als diesen Anblick als amüsierend zu empfinden. Sie blieb einfach stehen, tat nichts, als würde sie überlegen, ob sie ihre Bücher einfach liegen lassen sollte.

Doch als sie sich dann letztendlich doch dafür zu entscheiden schien, sie doch aufzuheben, war ich schon an ihrer Seite – niemand war mehr im Klassenraum – und hatte die Bücher aufeinander gestapelt. Sie hatte sich nur zur bis zur Hälfte gebückt, als sie mich sah und in ihrer Bewegung einfror.

Ich reichte ihr die Bücher.

„Danke.“

Ihr Ton ließ mich die guten Gedanken wieder vergessen und meine Wut wieder die Oberhand gewinnen.

„Keine Ursache“, antwortete ich ihr in demselben Ton.

Die nächste Unterrichtsstunde wartete und unsere Wege trennten sich.
 

Zumindest für sie.

Natürlich war ich noch immer wütend auf sie – wie hatte sie nur zu diesem Fehlschluss kommen können? Ich war nicht der perfekte Gentleman gewesen, aber wann hatte ich ihr einen Grund gegeben, so etwas zu denken? –, aber ich konnte sie einfach nicht aus meinen Gedanken vertreiben. Was zumal größtenteils daran lag, dass ich nicht an sie denken wollte, aber dafür musste ich mich immer wieder selbst daran erinnern und darauf achten, dass ich nicht in den Gedanken der anderen Schüler nach ihr suchte.

Aber auch wenn es mich nervte, dass ich es einfach nicht schaffte, wenigstens für eine Minute durchgehend nicht an sie zu denken, war ich doch wenigstens froh darüber, damit eine Beschäftigung gefunden zu haben, die mich für den restlichen Schultag genug ablenkte. Unterricht war nichts, was von besonderer Bedeutung oder neu wäre. Und kein einziger Lehrer schien heute noch auf den Gedanken zu kommen, mich aus meinen Gedanken zu reißen wie es Mr Banner vorhin tat.

Auf dem Weg zum Auto ging auch dieser Vorsatz, nicht an Bella zu denken, genauso den Bach runter wie der, mich von ihr fern zu halten. Kaum, dass ich nachgab, hörte ich gleich mehrfach ihren Namen, sah genauso oft ihr Bild, in Erinnerungen oder in dem, was die entsprechende Person gerade sah. Ich hörte, wie Eric und Tyler darüber sprachen, nun selbst zu versuchen, Bella zum Tanz zu überreden. Der Korb, den sie Mike gegeben hatte, hob ihr Selbstvertrauen ungemein und ließ sie in dem Glauben, höhere Chancen bei ihr zu haben.

Ich folgte Eric in Gedanken, der sein Glück als erster versuchen wollte und an ihrem Wagen auf sie warten wollte; ich selbst war bereits in Hör- und Sichtweite, als sie endlich dazukam. Ich konnte klar erkennen, auch wenn ich nur ihren Rücken sah, wie sie sich für einen Augenblick versteifte, als sie den Jungen an ihrem Wagen entdeckte, doch dann entspannte sie sich wieder und ging weiter.

„Hi, Eric“, begrüßte sie ihn freundlich.

Ob sie immer noch so freundlich wäre, wenn sie wüsste, was er von ihr wollte?

„Hi, Bella.“

Eric schluckte schwer und war eindeutig nervöser als er es vorhin in dem Gespräch mit Tyler war. Aber Bella schien es nicht zu bemerken.

„Was gibt’s?“, fragte sie, während sie die Tür aufschloss und ihn dabei nicht ansah.

„Äh, ich wollte dich fragen … ob du vielleicht Lust hättest, zum Frühjahrsball zu gehen … mit mir.“

Seine Stimme brach beim letzten Wort.

Sie sah auf, aber ich konnte ihr Gesicht nicht sehen; er sah sie nicht an, nicht direkt, sein Blick schaffte es gerade mal bis zu ihren Lippen.

„Ich dachte, es ist Damewahl“, sagte sie überrascht.

„Ja, stimmt.“

Ich hätte wirklich zu gerne ihr Gesicht gesehen, um ihre Reaktion besser einschätzen zu können.

Stattdessen hörte ich nur ihre Stimme, wie sie ihm dankte, aber dann doch wieder erzählte in Seattle zu sein.

Das wusste er, weil Mike es ihm und Tyler erzählt hatte, aber enttäuscht war er trotzdem.

„Oh. Na ja, vielleicht ein andermal.“

„Klar“, sagte sie und durch Erics Augen sah ich, wie sie sich auf die Lippe biss. Als würde es ihr nicht gefallen, dass sie ihm diese Möglichkeit offen ließ. Mir gefiel ihre Reaktion dafür umso mehr.

Er ging, zurück zur Schule und damit in die völlig entgegengesetzte Richtung, in der er eigentlich hatte gehen wollen.

In diesem Augenblick kam ich an Bella vorbei und hörte sie leise seufzen. Ich konnte nicht anders als über ihre Reaktion zu lachen. Natürlich hörte sie das und ich versuchte mein Bestens, mein Lachen vor ihr zu verbergen, einfach geradeaus zu sehen.

Doch als ich hörte, wie sie in ihren Wagen einstieg und danach die Tür laut zuschlug, war ich mir sicher, dass mir das nicht wirklich gelungen war.

Als sie den Motor startete, war ich bereits in meinem Wagen und rückwärts aus der Parklücke gefahren, um ihr dann mitten im Weg stehen zu bleiben. Bereits auf dem Weg zu meinem Volvo hatte ich Tyler hinter mir gehört, wie er Bella noch erwischen wollte, bevor sie wegfuhr. Natürlich hätte er sie auch noch morgen fragen können, aber wie hoch waren dann die Chancen, dass ich dann ihre Antwort nicht mitbekommen würde?

Vielleicht war er der Junge, dem sie die Ausrede – wenn es denn eine war – nicht erzählen würde. Tyler war zwar kein auffälliger Junge, aber er konnte doch das sein, was Bella wollte.

Na toll. Wenn sie jemand Unauffälligen wollte, dann war ich wohl der Typ von Person, dem sie sich wohl erst zuallerletzt zuwenden würde. Ich war alles andere als unauffällig. Dieser Gedanke war deprimierend und ich spürte einen Stich in meiner Brust, doch ich ignorierte ihn. Die Wahl blieb doch letzten Endes bei ihr und wer würde sich schon für ein Leben wie das meine entscheiden?

Aber die Vision …

Während ich Bella den Weg blockierte, um zu hören, was sie Tyler sagen würde, fuhr sie – für sie vermutlich – gefährlich nahe an meinen Wagen heran, als glaubte sie, sie säße nicht in einem alten, rostigen Transporter. Wie amüsant.

Tyler winkte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch entweder ignorierte sie ihn absichtlich oder sah ihn einfach nicht. Ich hörte in den Gedanken meiner Schwester, wie sie die anderen aufklärte, was ich wissen wollte. Sie schien triumphierend und glücklich, dass ich endlich einen Schritt in Richtung Annäherung gemacht hatte, auch wenn sie den Schritt selbst nicht ganz verstand. Alice hatte nur gesehen, was ich tun würde, nicht warum. Ich achtete nicht auf die Reaktion der anderen, sondern nur auf Bella in meinem Rückspiegel, wie sie immer öfters zu meinen Geschwistern sah, ihr Blick genervt und fast schon beschwörend, als könnte sie sie so dazu bewegen, schneller zu gehen.

Tyler, dankbar für mein seltsames Verhalten, stieg aus dem Wagen, weil er meine Geschwister ebenfalls in noch sicherer Entfernung gesehen hatte, so dass ich nicht allzu schnell weiterfahren und Bella damit verschwinden würde. Er ging zur Beifahrerseite von ihrem Transporter und klopfte ans Fenster.

Sie erschreckte sich, sah ihn für einen Augenblick verwirrt an und versuchte dann das Fenster zu öffnen, schien dabei aber Probleme zu haben. Bei der Hälfte gab sie es auf.

„Tut mir leid, Tyler, aber ich steck hinter Cullen fest.“

Die Art, wie sie meinen Familiennamen sagte – und allein die Tatsache, dass sie ihn überhaupt sagte –, verriet eindeutig, dass sie noch sauer war.

„Ja, ich weiß – ich wollte dich nur etwas fragen, solange wir hier festsitzen.“

Im Gegensatz zu Eric wirkte er sehr viel mutiger, selbstsicherer und ließ sich auch nicht von Bellas offensichtlichen Missfallen gegenüber dessen, was sie nun erwartete, abschrecken. Ein kleines Detail, das er zwar wahrnahm, aber auf mich schob, weil ich sie hier festhielt.

„Hast du vor, mich zum Frühjahrsball zu bitten?“, fragte er das, was sie nicht hören wollte.

„Ich bin nicht hier, Tyler.“ Ihre Stimme klang immer noch wunderbar zickig und gereizt.

„Ja, das hat Mike auch gesagt“, gestand er.

„Aber warum …?“, fing sie an, doch Tyler unterbrach sie nach einem Schulterzucken.

„Ich dachte, du wolltest es ihm nur schonend beibringen.“

„Tut mir leid, Tyler“, antwortete sie und klang dabei überhaupt nicht so. „Aber ich bin wirklich nicht hier an dem Tag.“

„Ist schon okay. Wir haben ja noch den Jahresabschlussball.“

Sein Selbstbewusstsein war im Gegensatz zu Erics nicht im Geringsten angeknackst. Er vertraute wirklich darauf, dass er mit Bella dann zum Jahresabschlussball gehen konnte.

Wenn es wirklich nur eine Ausrede war, dann hatte sie sie wirklich konsequent durchgezogen. Wollte sie einfach mit niemandem zum Ball oder erzählte sie allen, sie sei in Seattle, bis sie den Richtigen oder der Richtige sie gefragt hatte?

Für einen Augenblick ließ ich in mir einen Funken Hoffnung aufkommen, den ich am liebsten sofort wieder hätte erlöschen lassen, doch dann fiel mein Blick auf ihr Gesicht, das ich im Rückspiegel sehen konnte. Der minimale Funken wurde zu einer kleinen Flamme. Ihre Mimik sagte so deutlich, nein, schrie regelrecht, dass sie für keinen der Jungen, die sie heute zum Ball einzuladen versucht hatten, irgendetwas besonderes empfand.

Die Bahn war anscheinend frei für mich.

Ich konnte einfach nicht anders als über meine Erleichterung zu lachen, die Tatsache völlig ignorierend, dass ich eigentlich gar keine „freie Bahn“ haben wollte.

Meine Geschwister stiegen in den Wagen ein.

Was ist so lustig?

Ich ignorierte die Frage Emmets, ebenso wie die Kommentare all der anderen und fuhr los. Ich beachtete sie einfach auf der ganzen restlichen Fahrt nach Hause nicht, auch wenn ich in ihren Gedanken öfters hörte, wie sie an meinem Geisteszustand zweifelten, wenn ich manchmal auflachte, weil die Erinnerung an dieses Gefühl der Erleichterung einfach zu groß wurde.

Ich versuchte zwar, meine Familie aus meinem Kopf zu verdrängen, aber es gelang mir nicht vollständig. Bei dem, was Jasper von mir an Gefühlen auffing, hätte ich fast noch mal aufgelacht – laut. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr gefühlt, zumal ich „so etwas“ noch immer nicht genau definieren konnte.

Zu Hause angekommen, blieb ich nicht lange bei meiner Familie. Aus purer Rücksicht auf meinen armen empathischen Bruder – die perfekte Ausrede, um meinen inneren Kampf ungestört auszutragen, der seit der heutigen Stunde bereits ein verlorener Kampf war –, rannte ich bereits seit Wochen stundenlang durch die Wälder in der Hoffnung, der Wind würde meinen Kopf befreien und mir mein Leben erleichtern. Bisher hatte ich natürlich, wie hätte es auch anders sein können, vergebens gehofft und heute wollte ich es gar nicht erst versuchen; ich war mir sicher, ich würde auf ganzer Linie versagen.

Ihre Augen, die so gebannt in die meinen starrten, sowohl im Unterricht als auch auf der Lichtung, die nur ungefähr eine Minute von mir entfernt war, verdrehten mir den Kopf, nahmen mir die Fähigkeit, klar zu denken, obwohl ich doch so viel klarer denken konnte als jeder Sterbliche.

Was auch immer da war, was mich an sie band, war so unglaublich stark, so völlig ohne Vergleich – ich kannte nichts, was mit dessen Stärke konkurrieren könnte. Und ich kannte eine Menge Arten von Gefühlen.

Ich rannte durch den Wald, stundenlang, ohne Pause. Die frische Luft tief einatmend, die Hölle ihres Geruchs nur in meinen Erinnerungen vorhanden, ließ ich mich dieses Mal nicht von meinem Stolz blenden. Ihre Macht war groß über mich, größer als ich mir selbst eingestehen wollte, ihr Duft verbrannte mich, wenn ich ihn einatmete – das waren unabänderliche Tatsachen. Dagegen konnte ich nicht ankämpfen. Alice hatte doch gesehen, dass ich es wirklich nicht konnte, und meine persönliche Erfahrung in den letzten Wochen hatte es mir ebenfalls noch ein weiteres Mal bestätigt.

Ich hatte mich von ihr fernhalten wollen und hatte sie trotzdem verfolgt in allen Gedanken, die ich erreichen konnte und in der Schule waren das ausnahmslos alle.

Ein besessener Stalker. Ein besessener Vampirstalker.

Mehr war ich nicht und ich hasste mich dafür, dass ich sie so dermaßen ohne ihr Einvertändnis verfolgte und auch noch so selbstsüchtig sein würde, dass ich sie einfach an mich riss.

Wie konnte ich ihr nur die Möglichkeit nehmen, ein einfaches Menschenleben zu führen? Vielleicht wollte sie für den Moment an meiner Seite sein, aber in fünf, zehn Jahren? Wenn sie Kinder wollte? Alt werden? All die Freunden des Menschenleben erleben wollte, die sie in ewiger Jugend erstarrt nie erfahren würde? Wollte sie das? Könnte sie das nicht wollen? Könnte sie mich jemals wirklich so lieben? Ein Monster? Ich bezweifelte, dass ich etwas Gutes wie sie, so völlig ohne Vergleich, verdient hatte. Sie verdiente besseres als mich.

Ein solches Leben konnte ich ihr nicht aufzwingen. Nie.
 

Bis Mitternacht jagte ich, versuchte meinen Durst zu stillen, der allein bei der Erwähnung ihres Namens in unendliche Weiten aufflammte. Ich trank wie jenes eine Mal zuvor, als ich von meiner überstürzten Flucht nach Hause zurückgekehrt war, viel mehr als notwendig, ohne wirklich danach befriedigt zu sein. Das Blut floss meine Kehle hinunter und löschte das Brennen nur mäßig; das fürchterliche Monster in mir versuchte sich vorzustellen, es wäre ihr Blut.

Es war ekelhaft. So sehr ich das Blut auch brauchte für den morgigen Tag, es widerte mich an. Ich selbst widerte mich an. Alles, was sich von mir nach ihrer Aufmerksamkeit verzehrte, fand ich abstoßend, ich wollte mir nehmen, was mir niemals gehören sollte. Alles an mir wollte sie.

Aber das durfte ich nicht. Dieser Mensch, so großzügig, dass er über all meine Sünden hinwegsehen und mir trotzdem grenzenlose Liebe schenken konnte, sollte nur von sich aus, völlig selbst entscheiden, ob er mich haben wollte oder nicht. Die Wahl lag immer nur bei ihr, diesem engelsgleichen Wesen, das ich, ja, ich konnte es nicht länger verneinen, liebte. Mit meinem ganzen toten, unsterblichen Herzen liebte.

Und nur das galt es ihr zu zeigen. Dass ich sie liebte. Mein Wesen, das nicht von Blutgier zerrissen, sondern nach der Liebe zu ihr süchtig geworden war – das nur sollte sie kennen lernen. Nur den 100-jährigen Mann im Körper eines 17-jährigen erstarrt, der zum ersten Mal solch starke Gefühle für jemanden – einen Menschen – empfand.

Ich wollte sie überzeugen, von mir, meinem Charakter, sie auf die altmodische Weise für mich gewinnen und die Konkurrenz dabei im Auge behalten, die sich ebenfalls um ihre Aufmerksamkeit schlug. Eine Konkurrenz, so konnte ich ohne gewissen Stolz und Genugtuung nicht feststellen, die von ihr heute vollständig abgewiesen worden war.

Wieder drängte sich in mir die Frage auf, ob sie auch mich abgewiesen hätte, wenn ich sie gefragt hätte, es drauf angelegt hätte anstatt mich von ihr fernzuhalten.

Doch jetzt war alles anders.

Wollte ich jetzt eine ernsthafte Konkurrenz, ein ebenbürtiger Rivale sein, dann musste ich mit ihr reden, sie unterhalten – hieß es nicht, Frauen mochten Männer mit Humor, die sie zum Lachen bringen konnten? – und dafür musste ich atmen. Ohne Luft in den Lungen, auch wenn ich sie nicht zum Überleben brauchte, bekäme ich kein einziges, für sie hörbares Wort über die Lippen und ich wagte es zu bezweifeln, dass ihre Künste im Lippenlesen mit den meinen gleichkämen. Doch atmen hieß mich ihrem Duft, der süßesten Hölle, auszusetzen, was wiederum hieß, dass ich, wenn ich bei ihr bleiben wollte, mich an das Brennen gewöhnen musste. Doch nicht nur gewöhnen, sondern mit Freuden ertragen als Zeichen dafür, dass sie trotz meiner Nähe noch lebte und ich noch keinen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte. War ich bei ihr und verbrannte sie mich, dann war alles in Ordnung.

Sie hatte die Welt zu sein. Aber ob bloß ertragen reichen würde? Das tat ich auch jeden Tag in Biologie ohne zu atmen und allein das Wissen um ihren Duft war beinahe genauso schlimm.

Nein, mir wurde schmerzlich bewusst, dass ertragen allein nicht ausreichte. Denn wenn ich doch nicht stark genug war, dann musste ich stark genug sein können, um zu gehen um ihrer Sicherheit willen. Ich durfte nichts tun, was dem schönen Engel schadete.

Ich würde so stark sein – ich musste so stark sein.

Allein bei ihr lag die Entscheidung. Ich beugte mich ihrem Willen, solange es gut für sie war.

Mehr unbewusst als wirklich bewusst beendete ich meinen Jagdausflug um Mitternacht und rannte durch den Wald zu ihrem Haus. Ich merkte es erst, als ich direkt am Waldrand, von den Schatten der Nacht versteckt, stehen blieb und ein schwacher Hauch ihres Geruchs meinen Durst erneut aufflammen ließ. Völlig beherrscht von dem Monster mit der unstillbaren Gier. Ich lächelte bitter und atmete tief durch, die linke Hand fest und flach an den Stamm eines Baumes gedrückt, nur als eine kleine Kontrolle.

Ein. Aus. Ein. Aus.

So süß, so lieblich und außer Reichweite; das beste Zeichen dafür, dass sie noch lebte.

Es war dunkel in der Straße, nur schwaches Licht von den Straßenlaternen und aus einem Fenster auf der anderen Straßenseite der bläuliche Schimmer eines Fernsehers, vor dem der Besitzer eingeschlafen war und nun in die Weiten des Traumlandes versunken war. Die Gedanken, die ich hörte, waren allesamt nur bruchstückhaft, auf den ersten Blick ohne Sinn – Träume. Auch Chief Swan war fest am Schlafen. Ohne mir Sorgen darum machen gesehen zu werden, sprang ich lautlos zu dem Haus der Swans hinüber zu einem Fenster der oberen Etage. Ich hielt mich mit den Fingern an der Fensterbank fest und wollte einen Blick – nur einen ganz, ganz kurzen – durchs Fenster werfen.

Ich hatte keinerlei Ahnung von der Zimmeranordnung des Hauses, rechnete aber damit, in einen Flur oder irgendein anderes unbedeutendes Zimmer zu blicken.

Doch das erste, was ich in der Dunkelheit erblickte, war sie. Ihre zarte Gestalt, die auf dem Bett lag und schlief, zwar nicht ruhig, aber dennoch tief genug, dass sie nicht hören würde, wie ich das Fenster nun langsam öffnete.

Ich schimpfte mich in Gedanken aus; ich hatte nicht einmal ernsthaft darüber nachgedacht und nun würde ich in drei Sekunden in ihrem Zimmer stehen. Stalker! Kranker, besessener Stalker! Kranker, besessener Vampirstalker, der sein Opfer über alle Maßen liebte.

Das Fenster ließ sich größtenteils problemlos öffnen, wenn auch nicht so leise, wie ich es mir wünschte. Doch Bella drehte sich nur in ihrem Bett, wandte mir ihr Gesicht zu und schlief weiter.

„Werde ich machen, Mama.“

Ich erstarrte mitten in der Bewegung, den Blick auf das Mädchen gerichtet, das schlafen sollte, es aber anscheinend wohl doch nicht tat. Telefonierte sie noch? Im Dunkeln? Unwahrscheinlich.

Ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem ein wenig unregelmäßig, ebenso wie ihr Puls, ihre Lippen leicht geöffnet und ihre Gedanken stumm wie eh und je.

Sie redete im Schlaf.

Erleichtert atmete ich auf – ich hatte schon befürchtet, sie hätte mich entdeckt. Ich war schon genug von der Tatsache angewidert, dass ich überhaupt hier war, in ihrem Zimmer statt das Haus einfach nur von außen zu betrachten, da musste sie mich nicht auch noch so sehr hassen wie ich mich. Sicherlich ein dicker Minuspunkt, wenn ich sie für mich gewinnen wollte.

Geräuschlos klettere ich durch den offenen Spalt und blieb direkt am Fenster stehen, mit dem Rücken zur Wand und betrachtete ihr Zimmer.

Von draußen fiel nur wenig Licht ins Zimmer und ich selbst warf auch noch einen Schatten, aber ich brauchte das Licht auch nicht, um irgendetwas zu erkennen. Ihr Zimmer war nicht übermäßig unordentlich, aber auch nicht pingelig aufgeräumt, ein perfektes und vor allen Dingen komfortables Mittelmaß. Ihre Schulsachen stapelten sich auf ihrem Schreibtisch, ihr Etui lag auf die Seite gekippt davor und ein paar Stifte ragten heraus. Die Bücher und Hefte für die Schule teilten sich den Platz mit anderen Büchern und CDs, die sie sicherlich in ihrer Freizeit las und hörte, doch ich konnte die Buchrücken oder die Cover nicht erkennen – was sie wohl las? Wie sie wohl zu Hause war?

Sie hatte bisher mit niemandem in der Schule darüber gesprochen, ansonsten wüsste ich es bereits. Aber ich würde jetzt auch nicht nachsehen; es war schon schlimm genug, dass ich überhaupt da war.

Ich blieb stehen und beobachtete das Mädchen einfach nur, das im Schlaf sprach.

„Nein …“

Ihr Herz ging noch eine Spur schneller. Träumte sie oder war das eine unbewusste Reaktion auf mich? Auch wenn ihr Verstand in irgendwelchen Träumen gefangen war, konnte ihr Körper mich doch bemerkt haben. Es wäre nichts ungewöhnliches, nur natürlich.

„Nein“, sagte sie noch einmal.

Von wem oder was sie träumte? Oder ob sie in ihrem Traum sogar meine Präsenz wahrnahm und sich fürchtete? Auch das wäre nur verständlich.

Ich wollte nicht, aber wenn es besser für sie und sie deswegen ruhiger schlafen könnte, würde ich gehen.

Fast wie automatisch hatte ich bei meinem unbefugten Betreten des Zimmers die Luft angehalten, hatte das Atmen einfach vollkommen vergessen, zu sehr überrascht davon, sie gefunden zu haben, so nah bei ihr zu sein. Ein letztes Mal, bevor ich ging, wollte ich ihren Duft einatmen, mich an diesem einzigen Ort, der in der Konzentration ihres Duftes von keinem anderen übertroffen werden konnte, mich auf die Probe stellen.

Nur langsam und zögernd füllte ich meine Lungen mit Luft. Jedes einzelne Molekül setzte mich in Brand, jedes neue ein bisschen mehr als das vorherige.

Es ist gut so. Gewöhne dich daran.

Ich wiederholte es immer wieder in meinem Kopf, flüsterte es sogar, doch so leise, dass Bella es selbst im wachen Zustand nicht gehört hätte. Für einen Moment schloss ich die Augen. Es tat weh, gehen zu müssen. Aber es war besser so. besser für sie. Ein letzter Atemzug, bevor ich mich dem Fenster zuwandte.

„Nein, Edward … geh nicht … bleib stehen …“

Wieder erstarrte ich mitten in der Bewegung – war sie aufgewacht? Doch als ich mich umdrehte, lag sie immer noch schlafend da. Sie träumte nur.

Träumte von mir?

Ewigkeiten lang – so kam es mir vor – starrte ich sie an. Sie träumte von mir. Eindeutig von mir. Sie hatte meinen Namen gesagt. Meinen Namen. Edward. Kein Tyler, Eric oder Mike. Nur meinen. Keinen anderen. Edward. Sie wollte, dass ich bei ihr blieb. Ich sollte nicht gehen. An ihrer Seite bleiben.

„Edward …“

Schon wieder. Sie träumte wirklich und wahrhaftig von mir.

Ein eindeutiges Nein für die gesamte Konkurrenz und ein noch eindeutigeres Ja für mich.

Grinsend atmete ich tief ein.
 

Da kam sie an und in nur fünf Sekunden würde sie ihren Wagen parken (grinsend stelle ich fest, dass sie es ziemlich deutlich machte, dass sie einen Parkplatz so weit wie möglich weg von meinem Volvo suchte) und aussteigen und dann würde ich zu ihr herüber gehen und sie ansprechen.

Keine Ahnung, wie und ob sie überhaupt noch ein Gespräch nach gestern mit mir führen wollte, aber ich würde es probieren. Plan „Wir ignorieren Bella zu ihrem Besten“ lag zertrümmert auf dem Boden, unrettbar zerstört und Plan „Wir gewinnen Bellas Herz, weil ich sie unendlich liebe und nicht ohne sie leben kann“ trat nun in Aktion.

Als sie ihren Transporter parkte und ausstieg, war ich bereits neben ihr. Ganz gemäß ihres üblichen Standards fiel ihr der Autoschlüssel aus der Hand und landete, weil sie das Glück so mochte, direkt in einer Pfütze. Als sie nach ihm greifen wollte, bückte ich mich ebenfalls wie gestern bei ihren Büchern und hob ihn hoch. Erschrocken richtete sie sich auf und sah mich an wie ein Gespenst.

„Wie machst du das?“, fragte sie überrascht, klang aber gleichzeitig auch verärgert.

Ja, sie war definitiv noch sauer.

„Wie mache ich was?“

Ich atmete flach ein, nur wenig Luft, aber doch genug um das übliche Brennen trotz des gestrigen Jagdausfluges hervorzurufen.

Es ist gut so.

Ich hielt ihr ihren Schlüssel hin und ließ ihn in ihre Hand fallen.

„Einfach so aus heiterem Himmel auftauchen.“

Gab es etwas, dass dieses Mädchen nicht bemerkte? Doch ganz perfekt in meiner Rolle, um das zu verstecken, was nicht an die Oberfläche sollte, versuchte ich gelassen zu antworten und den Gesprächsverlauf auf einer lockeren Ebene zu halten. Ehrlich, aber nicht zu tief greifend.

„Bella, was kann ich dafür, dass du so ein außergewöhnlich unaufmerksamer Mensch bist?“

Die ganze Frage einmal als Aussage und ohne die kleine Vorsilbe „un“ und es entsprach schon viel eher der Wahrheit.

Für einen Augenblick schaute sie mich verärgert an, dann verloren ihre Augen minimal ihren Fokus und sie blickte weg.

„Was sollte der Stau gestern? Ich dachte, du wolltest so tun, als würde ich nicht existieren, nicht mich aufs Blut reizen.“

„Das war nur Tyler zuliebe. Ich musste ihm seine Chance geben“, antwortete ich ihr ehrlich. Ich hatte immerhin wirklich Tylers Reaktion sehen wollen und wie schön war es gewesen, als er den dritten Korb bekommen hatte. Ich hatte zwar auch kein direktes „Ja“ bekommen, aber das indirekte war deutlicher als alles andere.

Ich musste lachen bei dem schönen Gefühl, das mich durchflutete.

„Du …“, fing sie an, doch ihr schienen nicht die passenden Worte einzufallen. Also ergriff ich die Möglichkeit, weiterzureden.

„Außerdem tue ich nicht so, als würdest du nicht existieren.“

Wenn sie wüsste.

„Das heißt, du willst mich tatsächlich bis aufs Blut reizen? Wenn ich schon Tylers Van überlebt habe?“

Nein. Wie konnte sie nur? Dass ich sie gerettet hatte, ist eine der wirklich wenigen Sachen, die ich nie, nie im Leben bereuen könnte und würde. Wie konnte sie das nur in Frage stellen?

Aber vielleicht hatte ich ihr in letzter Zeit auch nie wirklich einen vernünftigen Grund gegeben, der sie zu anderen Schlüssen hätte kommen lassen können.

„Bella, was du sagst, ist komplett absurd.“

Ich versuchte, mich zu beherrschen und einen klaren Kopf zu bewahren. Sie hingegen drückte als Antwort ihre Hände zu Fäusten zusammen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging davon, doch so schnell würde ich sie nicht davon kommen lassen.

„Warte“, rief ich hinterher in der Hoffnung, sie würde wirklich warten, doch sie ging einfach weiter; mir blieb nichts anderes übrig als ihr hinterher zu gehen.

„Es tut mir leid, das war nicht nett. Nicht, dass es nicht wahr wäre, aber es war trotzdem nicht nett, es zu sagen.“ Und ich meinte es auch so.

„Warum lässt du mich nicht einfach in Frieden?“

Ich hatte wohl in den letzten Wochen ein sehr schlechtes Bild von mir hinterlassen, wenn sie nichts mit mir zu tun haben wollte. Aber ihre Träume …

Lockere Gesprächsebene, lockerer Gesprächsverlauf – ich musste dahin zurück, wenn das hier zu irgendeinem vernünftigen Resultat kommen sollte. Ich legte mein ganzes Bemühen in einen lockeren Tonfall und einen gutgelaunten Gesichtsausdruck.

„Ich wollte dich etwas fragen, aber du hast mich vom Thema abgebracht.“

Das war gut. Das klang einfach und locker, nichts Tiefes dabei, nichts, was ihre Laune noch weiter senken könnte. Doch das, was ich sie fragen wollte, könnte in der Tat wieder für einen weiteren Sturz ihrer Laune sorgen – woher sollte ich wissen, wie sie reagieren würde?

„Sag mal, hast du vielleicht eine gespaltene Persönlichkeit?“

„Jetzt fängst du schon wieder an.“

Sie seufzte und schien sich damit zu ergeben.

„Na schön. Was willst du wissen?“

„Ich hab mich gefragt, ob du nächste Woche Samstag – du weißt schon, am Tag des Frühjahrsballs –“

Sie blieb stehen und sah mich an: „Soll das vielleicht witzig sein?“

Ja. „Würdest du mich bitte ausreden lassen?“

Bella biss sich auf die Lippe und verschränkte in einer ungeduldigen Geste ihre Arme vor Brust, wartete darauf, dass ich weiter sprach und sie endlich das fragte, was ich fragen wollte.

Der Anblick ihres Mundes, ihre Zähne, die sich in die weiche Unterlippe drückte, lenkte mich ab, verführte meine Gedanken und Fantasien in andere Ebenen, die jetzt einfach nur völlig ungesund waren. Das Brennen verstärkte sich.

„Ich hab mitbekommen, dass du den Tag in Seattle verbringst, und ich wollte dich fragen, ob du mitfahren willst?“

Warum auf die Probe stellen, ob die Ausrede eine Ausrede war, wenn man aus der Ausrede einfach die Realität machen könnte? Außerdem war es sicherlich einfacher, ihre Pläne zu teilen anstatt sie auf den Kopf zu stellen.

Meine Frage schien sie völlig aus ihrem Konzept geworfen zu haben: „Was?“

„Willst du mit nach Seattle fahren?“

„Mit wem denn?“

„Mit mir, wem sonst?“

Hatte ich wirklich ein so schlechtes Bild bei ihr hinterlassen? Ich hatte eine Menge Arbeit vor mir, wenn ich diesen schrecklichen Eindruck durch einen anderen ersetzen wollte.

Warum?

War es für sie wirklich so schwer zu begreifen, dass ich Zeit mit ihr verbringen wollte? Es schien noch mehr Arbeit zu sein, als ich vor ihrer Einwortfrage noch dachte.

„Ich hatte sowieso vor, in den nächsten Wochen nach Seattle zu fahren“, sowieso gerade mal seit maximal drei Minuten, „und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob dein Transporter die Strecke schafft.“

„Mein Transporter läuft prima, danke der Nachfrage.“

Bella ging nun weiter, war aber immer noch ziemlich verwirrt; ihr Zorn schien vergessen durch meine unerwartete Frage. Und ihre Antwort war kein Nein gewesen. Jetzt oder nie.

„Aber schafft er die Strecke auch mit einer Tankfüllung?“

„Ich weiß nicht, was dich das angeht.“

„Die Verschwendung begrenzter Ressourcen geht jeden etwas an.“

Nett formuliert, völlig besserwisserisch, aber doch hätte es passender nicht sein können.

„Ganz ehrlich, Edward, ich kapier’s nicht. Ich dachte, du willst nicht mit mir befreundet sein.“

„Ich hab gesagt, es wäre besser, wenn wir nicht befreundet wären, nicht, dass ich es nicht will.“

Von nicht wollen konnte keine Rede sein. Mein ganzes Wesen verzehrte sich nach ihr, ganz, wie meine Schwester vorhergesehen hatte.

„Ach so, vielen Dank – gut, dass wir das geklärt haben.“

Sie war immer noch. Ehrlich bleiben. Locker bleiben. Unterhaltsam sein. Doch wie blieb man bei einem solchen Thema locker, unterhaltsam und gleichzeitig ehrlich?

„Es wäre … besonnener von dir, nicht mit mir befreundet zu sein. Aber ich bin es leid, mich von dir fernzuhalten.“

Während ich sprach, sah ich direkt in ihre Augen, versuchte ihr auf diese Weise so viel der Ehrlichkeit und des Gefühls hinter den letzten Worten mitzuteilen. Ihr Atem stockte und ich begann mir Sorgen zu machen, bis er wieder einsetzte.

Hatte ich sie geängstigt?

„Fährst du mit mir nach Seattle?“

Ich würde es nun herausfinden. Niemand fuhr mit jemanden nach Seattle oder sonst wohin, wenn er sich vor der anderen Person fürchtete.

Ihr Herz schlug furchtbar laut, lauter als in der letzten Nacht oder sonst jemals zuvor, doch sie nickte.

Immer noch ein direktes Nein für die Konkurrenz, und nun das Rundum-Paket für den glücklichen Gewinner mit dem direkten und indirekten Ja. Sie hatte zu mir Ja gesagt. Ich lächelte, doch dann fiel mir meine eigene Bedingung für die Nähe zu wieder ein.

Solange es gut für sie war.

Sie sollte wissen, dass diese Freundschaft für sie auf keinem guten Fuß stand.

„Du solltest dich wirklich von mir fernhalten“, warnte ich sie in der Hoffnung, sie würde es verstehen.

Ja, in der Tat sehr locker und unterhaltsam. „Wir sehen uns in Bio.“

Ich atmete nicht mehr, als ich mich umdrehte und ging.



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Kommentare zu dieser Fanfic (29)
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Von: abgemeldet
2009-09-23T15:36:15+00:00 23.09.2009 17:36
soooooooooo

nach unendlichen versuchen diese geschichte endlich mal anzufangen, habe ich es heute vollbracht das erste kapitel zu lesen.. ^^

muss sagen, dass es mir wirklich gut gefällt..
haste fein gemacht schwesterherz..
bin gespannt wie die weiteren kapitel so sein werden..
werde sie so bald wie möglich ebenfalls lesen... will dich doch nicht enttäuschen :-)
Von: abgemeldet
2009-06-12T14:46:37+00:00 12.06.2009 16:46
hey,
es macht echt spaß die version von dir zu lesen^^
deine kapitel sind einfach super und ich bin gespannt auf die nächsten =)
Von:  silbersternchen
2009-05-31T13:40:31+00:00 31.05.2009 15:40
Mannoman,hab ich dir schon gesagt dass man süchtig nach dir werden kann?
Wenn nicht dann sag ich es jetzt.
Du kannst einfach nur geil schreiben, so das jeder deine Storys liebt.
Mach weiter so!!!!
lg
silbersternchen

Von: abgemeldet
2009-05-18T19:38:03+00:00 18.05.2009 21:38
Hey, das ist meine absolute Lieblings-Fanfic...Du schreibst wirklich gut und es macht unheimlich viel spass weiterzulesen! Bin supergespannt auf das nächste Kapitel!

glg Argentina
Von: abgemeldet
2009-05-17T15:37:32+00:00 17.05.2009 17:37
Hey,
habe mich super gefreut als ich gesehen habe, dass das neue Kapitel da ist. Und es ist so herrlich lang geworden.
Ich musste wieder so einige Male schmunzeln. Edward ist einfach spitze. Du hast das super rübergebracht, ich mag deinen Schreibstil total.
Und es ist wieder so spannend gewesen, dass ich am liebsten sooooofort weitergelesen hätte.
Also mach weiter so...

Liebe Grüße

Nicki
Von:  SamanthaGallin
2009-05-16T21:22:47+00:00 16.05.2009 23:22
ui das neue Kapi ist da
es ist toll geworden
ich könnte Edward für sein 2solange es gut für sie ist" den Hals umdrehen, aber so ist er halt
nein es passt super zum Buch und ich freu mich wahnsinnig auf dein nächstes Kapitel
glg Sam
Von:  -fluffi-
2009-05-15T17:36:25+00:00 15.05.2009 19:36
langsam fängts an interessant zu werden =)
ziemlich cool ich freu mich schon auf das nächste
kapi

<3 grüüssschen
kago
Von: abgemeldet
2009-05-15T14:23:22+00:00 15.05.2009 16:23
super schön wieder geworden^^
ggLG
Von: abgemeldet
2009-05-15T13:17:16+00:00 15.05.2009 15:17
oioioioi... wie süß...
das passt so hamma gut zum buch ♥.♥
schreib schön weida^^
grüße sobi ♥
Von: abgemeldet
2009-04-16T16:10:42+00:00 16.04.2009 18:10
unglaublich.
ich komme von der arbeit heim - 9,5 stunden in gedanken an einen weiteren verlorenen tag - mach meinen computer an, lese dein neues kapitel ... und kann gar nicht mehr aufhören beschwingt vor mich hin zu lächeln :)
toll.
vielen dank.


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