Engelsgleich von Nayla (Ist es eine Gabe oder ein Fluch, wenn man sieht, was anderen Menschen verborgen bleibt?) ================================================================================ Kapitel 7: "Was macht Liron hier?" ---------------------------------- Endlich war es wieder Freitagnachmittag. Noch eine Stunde und dann war das Wochenende zum Greifen nahe. „Bijou, hast du schon gehört?“, flüsterte Marion ihrer Banknachbarin ins Ohr. Wobei ihr Blick immer noch starr an die Wandtafel gerichtet war. „Was denn?“, flüsterte Bijou zurück. Auch ihr Blick schien an der schwarzen Wandtafel zu haften auf deren lauter Zahlen und Formeln standen. Die beiden Mädchen sassen im Mathematikunterricht. Das ödeste Fach auf Erden. So dachte zumindest die halbe Klasse darüber. Die Lehrerin war etwa genauso öde wie Mathe. Für die Mädchen zumindest. Der geringe Anteil an Jungen war da mit ziemlicher Sicherheit anderer Meinung. Denn die Lehrerin hatte einen stattlichen Vorbau. Und sie war blutjung. Man schätzte sie nicht über die dreissig. Wie auch immer. Die Jungs klebten an den vollen Lippen der Lehrerin und die Mädchen tuschelten aufgeregt über dieses und jenes während die Lehrerin mit Argusaugen die Klasse beobachtete und irgendetwas versuchte zu erklären. „Also“, holte Marion aus, „Misha plant eine Party. Heute Abend.“ „Na und?“ Bijou verstand nicht ganz, was daran jetzt so toll sein sollte. Marion grinste überlegen und flüsterte dann zurück: „Es geht das Gerücht um, dass auch Liron eingeladen wurde!“ „Ach, ich dachte, dass Mishales Partys nur für Mädels wären?“ Bijou blickte argwöhnisch zur rothaa-rigen Schönheit rüber. „Ja, das dachte ich auch“, gab Marion zu, „aber stell dir doch mal vor, wenn Liron auf der Party er-scheinen wird!“ Bei diesen Worten funkelten die grossen Augen der Freundin. „Toll“, zischte Bijou zurück und erwiderte darauf leise: „Aber es heisst noch lange nicht, dass dann Liron auch auf der Party auftauchen wird.“ Marions Wangen schwollen an und dann stiess sie einen unüberhörbaren, tiefen Seufzer aus. Nie-mand schenkte dieser Aktion jedoch Beachtung, was Marion gerade Recht war. „Na gut. Du hast natürlich recht. Dann werde ich ihn nach dem Unterricht einfach mal darauf ansprechen. Und wenn er die Party besuchen geht, dann gehen wir auch hin. Abgemacht?“ Marion hielt ihrer verdutzten Freundin die Handfläche hin. Was soviel wie „Schlag ein!“ heissen sollte. Zögernd gab Bijou ihr Jawort und willigte ärgerlich ein. Sagte dann aber kleinlaut: „Vielleicht.“ „Na mach schon!“, knurrte Marion. Der grosse Zeiger der Uhr im Klassenzimmer war nur noch wenige Millimeter davon entfernt auf die schwarze Zwölf zu springen. Dann war endlich fünf Uhr. Dann fing das wohlverdiente Wochenende an. Dann endlich klingelte die Schulglocke. Die Lehrerin wünschte allen ein schönes Wochenende und lächelte in die Klasse. Die Schüler kamen in Bewegung und verliessen schnell das ermüdende Klassenzimmer. „Ich bin gleich wieder bei dir“, sagte Marion aufgeregt zu ihrer Freundin und stürzte aus dem Klassenzimmer direkt hinter Liron her. „Hey, Liron, warte bitte mal!“, schrie sie. Liron drehte sich gelangweilt um. Er zog eine Augenbraue hoch und guckte das blonde Mädchen erwartungsvoll an. Marion errötete, brachte aber dann nach einer kleinen Pause doch noch ihren Satz heraus, der ihr auf der Zunge lag: „Kommst du heute Abend auch auf die Party von Misha?“ „Kann sein.“ Das war definitiv nicht die Antwort, die Marion erwartet hatte. „Aha.“ „Kann ich gehen oder willst du noch was fragen?“, sagte Liron kühl. „Nein, ist schon okay.“ „Na, dann. Bye.“ Mit diesen Worten verschwand der schwarzhaarige Junge aus der Schule. Marion blieb noch einige Minuten verharren. Was fiel diesem arroganten Typen eigentlich ein, sie einfach so abzuservieren? „Marion, was stehst du denn da so rum? Alles okay bei dir?“ Bijou kam mit besorgtem Gesicht auf sie zu. „Ja. Mach dir keine Sorgen. Liron hat mich nur gerade eiskalt abserviert“, antwortete sie zerknirscht. „Wie meinst du das?“, forschte ihre Freundin nach. Auf Marions Gesicht zeigten sich Zornesfalten, dann meinte sie theatralisch: „Er weiss es nicht! Hallo? Sowas weiss man doch, oder?“ Bijou verstand nicht auf Anhieb, was ihre Freundin vor sich hin redete. „Du meinst wegen der Party, oder?“, fragte sie deshalb vorsichtshalber nochmals nach. Marion nickte und guckte ihre Freundin verzweifelt an. „Und jetzt? Kommst du trotzdem mit auf die Party?“ „Mishale hat mich nicht eingeladen“, gab Bijou ihr zur Antwort. Dies sollte soviel wie „Nein!“ heissen. „Ja und? Mich doch auch nicht. Wir tauchen einfach mal dort auf. Wir wissen wo unsere Prinzessin wohnt und ich glaube nicht, dass die Party vor Mitternacht anfängt. Bitte Bijou, komm auch mit!“ Marion flehte beinahe Bijou an. „Ich gehe sogar auf die Knie vor dir!“, sagte sie dramatisch. „Schon okay“, meinte Bijou verlegen. „Also ja?“ „Nein!“ „Ach komm schon, bitte!“ „Ich habe nein gesagt! Begreif doch das, Marion! Bitte.“ „Ich möchte aber nicht alleine gehen!“, trotzte Marion. „Na gut“, gab Bijou nach, „aber ich weiss es jetzt schon, dass ich es bereuen werde.“ „Du bist wirklich ein Schatz!“, freudig umarmte sie die deprimierte Bijou. Arm in Arm gingen die beiden Schülerinnen aus dem grossen Schulhaus hinaus, direkt in das bunte Blättermeer des Herbstes. „Gehst du jetzt nach Hause?“, fragte Marion Bijou auf der Strasse. „Ja, wieso?“ „Ich besuche noch Nick im Krankenhaus. Ich wollte nur fragen, ob du mich begleiten würdest?“ Bijou zögerte sagte dann mit rauer Stimme: „Nein. Tut mir leid. Ich halte es an solchen Orten einfach nicht aus.“ „Kein Problem. Ich verstehe dich ja. Also, ich komme dich heute Abend gegen Elf Uhr abholen, ist das gut so?“ „Ja, ich werde auf dich warten“, grinste Bijou. „Bis dann“, lächelte Marion und machte sich glücklich zum örtlichen Spital auf. Währenddessen ging Bijou die Strasse entlang, welche sie nach Hause führen wird. Vor dem prächtigen Stadtpark blieb sie abrupt stehen. Die Blätter sahen so wunderschön aus. In allen erdenklichen Farben schillerten sie. Rot, orange, grün, golden. Sie war fasziniert von dieser Pracht. Warum war ihr dies nicht schon in all den Jahren aufgefallen, in denen sie schon hier wohnte? Daher beschloss Bijou den Weg durch den Park zu gehen und so nach Hause zu kommen. Es führen manchmal viele Wege nach Hause. Vor der Haustüre angelangt, hörte sie ein Wispern. Als Bijou sich umdrehte, sah sie aber nur einzelne Blätter auf der asphaltierten Strasse herumwirbeln. Dabei war sie sich sicher, dass jemand hinter ihr stand. „War wohl nur Einbildung“, dachte sich das Mädchen und öffnete die Haustüre. Ein greller Schrei bahnte sich durch die Wohnung. Bijou stand zitternd im Flur und versuchte sich irgendwo festzuklammern, damit sie vor Schreck nicht gleich umfallen würde. Was sie sah, war entsetzlich. Vor ihr stand zwar ein wunderschöner Engel, jedoch waren seine Au-gen ausgekratzt und seine Kleidung zerfetzt. Seine silbernen Haare klebten dem Wesen im Gesicht und sein ganzer Körper war nass. Als ob der Engel mit Wasser übergossen worden wäre. Ausserdem waren seine Flügel eigenartig angewinkelt. Erst beim näheren Betrachten fiel Bijou auf, dass ein Flügel ganz zerfetzt war und sich das Blut mit dem Wasser vermischte und unaufhörlich auf den Flur tropfte. „Verschwinde von hier! Sofort!“, schrie das Mädchen den Engel an. „Du musst mir aber helfen!“ Es war eigentlich nur ein Keuchen zu vernehmen, jedoch verstand Bijou den Engel klar und deutlich. „Nein! Hört endlich auf damit. Ich kann euch nicht allen helfen. Ich will das nicht mehr. Hast du ge-hört? Ich will und kann nicht mehr! Also verschwinde von hier. Geh aus meinem Leben“, japste Bijou den geschundenen Engel entsetzt an. Ihr war das alles einfach zu viel. Sie konnte den Anblick von Blut einfach nicht mehr sehen. Warum musste sie nur diese Gabe, die an einen Fluch grenzte, haben? Warum ausgerechnet sie? Warum nur? „Hör mir doch zu…“ „Verschwinde, bitte!“ „Aber…“ Bijou wollte gerade antworten, jedoch löste sich der Engel plötzlich auf. Und weg war das Wesen, welches so bemitleidenswert aussah. „Wie?“ Bijou verstand nicht, warum der Engel plötzlich verschwand. Er wollte doch ihre Hilfe? Als Bijou aufatmen wollte, durchfuhr sie erneut den Schrecken. Sie spürte, wie jemand ihre Hand fasste. Das Mädchen wollte sich umdrehen und schreien, wegrennen und sich in Sicherheit bringen. Jedoch blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie spürte, wie ihr Herz beinahe zersprang. So fest hämmerte es in ihrem Brustkorb. „Alles okay mit dir?“ Sie kannte diese Stimme. Sie kannte sie nur zu gut. „Liron? Du hier? Was machst du hier?“ Bijou wirbelte herum und blickte wieder einmal direkt in die tiefblauen Augen des Jungen. Bijou schüttelte ihren Kopf und schloss für einen Augenblick ihre Augen. „Was macht Liron hier?“, dachte sie fieberhaft. Als sie die Augen wieder öffnete, traf sie erneut der Schock des Lebens. Verwirrt guckte sie in reh-braune, besorgte Augen. „Bijou, komm zu dir! Ich bin’s, deine Mutter.“ „M-Mama?!“ „Komm, Schatz. Setz dich hin.“ Ihre Mutter holte einen Stuhl aus der Küche und stellte ihn neben Bijou in den Flur. „Setz dich. Ich rufe sofort einen Arzt!“ „Einen was? Wieso denn? Mama.“ Bijou war sichtlich verwirrt. Was war passiert? Ihre Mutter schaute sie verdutzt an und wiederholte dann ihre Worte sorgfältig. „Schatz, als ich eben nach Hause kam, standest du völlig fertig da. Du hättest dein Gesicht sehen sollen. Es war kreidebleich. Also, ich werde jetzt einen Arzt anrufen. Bleib du hier sitzen.“ Mit diesen Worten verschwand die Frau im Wohnzimmer. „Mama. Das ist wirklich nicht nötig! Ich…“ „Nichts da Bijou.“ „Aber…“, versuchte es Bijou erneut. „Habe ich den geschrien, vielleicht?“ „Oh, das weisst du? Ja, und wie. Ich dachte ja zuerst, dass ein Einbrecher hier wäre oder so.“ Besorgt legte Bijous Mutter den Telefonhörer zur Seite und nahm Bijous Gesicht in ihre Hände und sagte mit belegter Stimme zu ihrer Tochter: „Du musst dich mal anschauen, Schatz. Du siehst gar nicht gut aus. Ich möchte dir nur helfen. Verstehst du?“ „Ja, sicher Mutter. Aber es ist nichts. Wirklich!“ „Würdest du mir dann sagen, wenn…“ „Ja, natürlich“, fiel Bijou ihr ins Wort. „Versprochen?“ Bijou nickte. Aber würde sie wirklich ihrer Mutter es sagen? Sie hatte schon genug Geheimnisse vor ihr und sie wollte ihre Mutter nicht damit belasten. Bijou wusste es nicht. Vielleicht irgendwann, aber im Moment… nein. Sie konnte es nicht versprechen. Und sie hasste es, ihre Mutter anzulügen. Es war bestimmt kein Zufall, dass sie zuerst dachte, Lirons Stimme zu hören und dann auch noch seine Augen wahrzunehmen. Der Junge beschäftige sie mehr, als ihr lieb war. Nach dem kleinen Gespräch liess es Bijous sein, den Arzt anzurufen. Mit besorgtem Gesichtsausdruck sass die Frau am Küchentisch und ihre knochigen Finger umklammerten eine heisse Tasse Kaffee. Währenddessen lag Bijou in ihrem Bett. Beine und Arme von sich gestreckt. „Wohin ist dieser Engel verschwunden und warum so plötzlich?“, dachte sie fieberhaft nach. Jedoch konnte sie sich noch so sehr anstrengen um eine Antwort zu finden, immer wieder sah sie Liron vor sich. Das Bild von ihm wurde immer klarer, bis Bijou dachte, er steht wirklich vor ihr. „Nein, nein, nein!“, japste das Mädchen und stand auf. Das Bild von Liron war verschwunden. Keuchend setzte sie sich auf die Bettkante und stützte ihr Gesicht in die Hände. Sie merkte, dass sie am ganzen Körper zu zittern anfing. „Das muss die ganze Aufregung sein“, sagte Bijou sich selber und das Mädchen beschloss, in die Küche hinunter zu gehen. „Mama?“ „Schatz. Du siehst besser aus. Wie fühlst du dich?“ Ihre Mutter versuchte sie anzulächeln, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. „Gut. Aber Mama, ist mit dir alles okay?“, fragte Bijou argwöhnisch. „Ja, natürlich. Ich bin nur etwas müde von der Arbeit.“ „Ach so“, sagte Bijou erleichtert. Normalerweise würde sie sich mit dieser Antwort von ihrer Mutter nicht zufrieden geben, aber im Moment mochte sie einfach nicht mehr. „Mama. Dürfte ich vielleicht heute Abend zu einer Party gehen?“ „Wie bitte?“ Die Augen der jungen Frau waren weit aufgerissen. „Bijou, ich würde normalerweise nicht nein sagen, aber was heute vorgefallen ist…“ „Mir geht’s wieder gut! Ich kann mich bestimmt auf der Party etwas entspannen. Und ausserdem kommt auch noch Marion mit.“ Bijous Mutter seufzte, jedoch musste sie einsehen, dass ihre Tochter in einem Punkt recht behielt. Die Party würde Bijou bestimmt etwas aufheitern und die ganze Sache vergessen lassen. „Okay. Geh du auf die Party, ich möchte aber, dass du nüchtern nach Hause kommst.“ Bei diesen Worten musste die Frau anfangen zu lächeln. „Was gibt’s da bitte schön zu lachen?“, sagte ihre Tochter mit gespielter Empörung. „Weisst du Bijou. Du musst selber wissen, was du tust. Ich gebe dir nur Ratschläge. Aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass du stockbesoffen nach Hause kommst.“ „Nein, Mama, das kann ich mir auch nicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)