Engelsgleich von Nayla (Ist es eine Gabe oder ein Fluch, wenn man sieht, was anderen Menschen verborgen bleibt?) ================================================================================ Kapitel 2: "Diese tiefblauen Augen." ------------------------------------ Tränenüberströmt lag Bijou in ihrem Bett. Sie zitterte an ihrem ganzen Körper. Immer wieder geisterten Bilder durch ihre Gedanken. Bilder, die so unrealistisch schienen, aber sie hatte doch das alles selber gesehen. Warum konnte sie dem Engel nicht mehr helfen? Es war doch ihre Aufgabe, verirrten Schutzengeln wieder zu dem Meister, dem Schützling, zu bringen. Seit sie klein ist, hat Bijou eine Gabe. Eine Gabe, die unglaublich scheint. Eine Gabe, die schon an einen Fluch zu grenzen scheint. Sie kann Engel sehen und wahrnehmen. Ihren eigenen Schutzengel konnte Bijou aber noch nie richtig sehen. Kurz nach ihrem sechsten Geburtstag war der Engel einfach verschwunden. Ab diesem Tag an, beschloss sie, ihren Engel zu suchen, denn im Normalfall hatte jeder Mensch einen Schutzengel. Der Engel wird nämlich mit dem Baby geboren. Auch hat sie beschlossen, da Engel sich manchmal verirren und ihren Meister nicht mehr finden, den Engeln zu helfen und sie wieder zu ihren Schützlingen zu bringen. Denn Menschen sind ohne Schutzengel unfähig, ihr wahres Glück zu finden. Ja, was wären Menschen eigentlich ohne ihre Schutzengel? „Wer war bloss dieser Junge?“ Bijou seufzte. Die blauen Augen des Fremden gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. „Er kam mir so bekannt vor.“ Sie zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch. „Dabei kenne ich doch gar keinen Jungen mit solch tiefblauen Augen“, überlegt sie angestrengt. Sie kannte überhaupt kein männliches Wesen mit blauen Augen. Dieser Gedanke schockte Bijou beinahe etwas. Das Mädchen konnte lange nicht einschlafen. Immer wieder sah sie die schreckliche Szene auf dem Schulhof. Diese Bilder schienen sich in ihr Gehirn eingebrannt zu haben. „Schrecklich." Die Tränen schienen nicht mehr aufhören zu wollen, ihr die Wangen runter zu kullern. Und jedes Mal, wenn sie ihre Augen schloss, sah sie diese tiefblauen Augen. „Nein! Lass mich in Ruhe!", murmelte sie schon halb im Schlaf versunken. Und endlich hatte ihre Müdigkeit gesiegt. Unter Tränen schlief das Mädchen langsam ein. Es war ein unruhiger Schlaf, in den sie fiel. Mit einem lauten „Piepen" jagte der Wecker Bijou aus dem Schlaf. „Ich konnte also doch noch einschlafen." Es war Montagmorgen. Und sie war viel zu spät dran. „Verdammt! Ich komme noch zu spät zum Unterricht.“ Hastig zog sie sich ihre blau-schwarz-weiss-karierte Schuluniform an, schlüpfte in ihre noch nassen Schuhe und rannte aus dem Haus. Sie lebte hier alleine mit ihrer Mutter. Ihren Vater hatte Bijou nie kennen gelernt, was ihr im Grunde egal war, denn sie kannte es ja nicht anders. Sie kannte die Situation nicht, einen Mann, einen Vater bei sich zu haben. Sie kannte eine perfekte Familie wie aus dem Bilderbuch nicht. Und irgendwie wollte sie dies auch gar nicht kennen. Denn es war gut so, wie es war. Nicht perfekt, aber was ist schon perfekt? Ihre Mutter arbeitete von früh morgens bis spät abends in einer Bäckerei nicht weit weg vom Haus. Die meiste Zeit war Bijou also alleine. Eigentlich wusste niemand von ihrer Gabe Engel zu sehen und mit ihnen zu kommunizieren, nicht einmal ihre Mutter. Denn Bijou wollte ihrer Mutter nicht noch mehr Sorgen aufhalsen, denn sie wusste, dass ihre Mutter grosse Schuldgefühle mit sich herumtrug, da ihre Tochter keinen Vater hatte. Zumindest ihn nicht kannte. Bijou grübelte immer noch über die seltsame Nacht nach und überlegte, ob das wirklich real war. Sie musste leider feststellen, dass dem so war. Denn ihre nassen Schuhe erinnerten sie schmerzhaft daran. „Guten Morgen, Bijou. Etwas spät dran, nicht?“ Bijou blickte überrascht hoch und sah in das grinsende Gesicht ihrer besten Freundin Marion. „Wie immer“, stichelte diese. Marion hatte ihr langes, gelocktes, blondes Haar kunstvoll hochgesteckt und hatte viel zu viel Make-up in ihrem Gesicht. „Warum so aufgetakelt?“, fragte Bijou grinsend. „Du stehst doch normalerweise auf den natürlichen Look. Oder irre ich mich da?“ „Mensch, Bijou. Du hast schon ein Hirn.“ „Wieso?“, fragte diese belustigend nach. „Letzte Woche hat doch unsere Lehrerin gesagt, dass ein neuer Junge zu uns in die Klasse kommen wird. Und dieser Tag ist heute. Na, dämmert es dir langsam?“ Zugegeben, dies war wirklich ein Grund sich zu stylen. Denn die beiden Mädchen gingen an eine ehemals reine Mädchenschule. Daher waren immer noch über 80 Prozent Mädchen an eben dieser besagten Schule. „Trotzdem“, konterte Bijou, „man kann’s ja auch übertreiben. Und was machst du, wenn dir der Junge gar nicht gefällt? Ich meine, welcher Junge kommt schon an eine ehemalige Mädchenschule?“ Marion feixte nur. „Lass mich überlegen…“ „Genau! Alles Aufreisser und notgeile Typen!“, fiel Bijou ihr ins Wort und als sie den verdutzten Gesichtsausdruck ihrer Freundin sah, konnte sich das Mädchen ihr Lachen fast nicht mehr verkneifen. „Nur weil du noch nie einen festen Freund hattest oder was?“, warf Marion ihr an den Kopf. „Jetzt gehst du aber zu weit!“ Lachend rannte Bijou ihrer Freundin nach, die sich schon in Sicherheit bringen wollte, um ihr was auszuwischen. Am grossen Eingangstor der Schule angekommen, schreckte Bijou für einen Augenblick zurück. War das Blut etwa noch zu sehen? „Was ist?“ „Eh? Nichts“, erwiderte Bijou ihrer Freundin. Die Schulglocke läutete zum Unterricht ein. Hastig warf Bijou noch einen kurzen Blick auf den Pausenhof. Die Schaukeln wiegten sich sachte im Wind. Dieser Ort, die Schaukeln, all das sah so unschuldig und friedlich aus. Kein Blut war zu sehen. Kein einziger Blutfleck. „Kein Blut“, flüsterte Bijou. Es sah so aus, als ob nichts gewesen wäre. Als ob letzte Nacht hier auf dem Pausenhof nichts passiert ist. Als die beiden Mädchen das Klassenzimmer erreicht hatten, war es laut wie immer und das Gerede der Klassenkameradinnen schien ohne Punkt und Komma zu fliessen. Die Jungs in der Klasse hatten aber bei diesem Lärm nichts zu sagen. Auch dies war wie immer. Ausserdem schienen die Mädchen aufgeregt zu sein. „Sieh sie dir doch nur mal an.“ Bijou warf einen verachtenden Blick auf ihre Mitschülerinnen. Aus irgendeinem Grund nervte sie sich. Sie konnte aber nicht sagen, was dafür ausschlaggebend war. „Was ist nur heute los mit dir?“ Marion schien sich Sorgen zu machen. „Du bist doch nie so feindlich gegenüber anderen.“ „Es ist wirklich nichts.“ Und um dies zu zeigen, lächelte Bijou sie fröhlich an. Doch in ihrem Kopf durchlebte sie immer wieder die gestrige Nacht. Dieser Junge schien sie nicht mehr loslassen zu wollen. „Wer ist nur dieser Junge? Wer ist er?“, dachte sie angespannt nach. „Jetzt seid doch endlich mal still! Was soll sich unser neuer Mitschüler nur von euch denken?“, schrie die Lehrerin in ihre Klasse. Bijou hatte die junge Frau gar nicht kommen gehört, so sehr war sie in ihren Gedanken versunken. Augenblicklich war es still. „Wieso nicht gleich so?“ Die Lehrerin blickte mit ihren rehbraunen Augen fragend in die Klasse. Dann öffnete sich mit einem leisen „klack“ die Schulzimmertüre. Ein grosser, dunkelhaariger Junge kam herein. Seine langen Stirnhaare verdeckten fast seine Augen. Unschlüssig stand der junge Mann in der Türschwelle und würdigte dabei die Klasse keines Blickes. „Er wird sich gleich selber vorstellen. Also, bitte.“ Die Lehrerin lächelte den Neuling an und winkte ihn vor die Klasse. „Hm.“ Der Junge blickte auf und zum ersten Mal sah man seine Augen. Sie waren tiefblau und schienen einem zu durchbohren. Bijou fiel bei diesem Anblick fast vom Stuhl. Diese Augen! „Kann das sein…?“, dachte sie erschrocken. „Ich heisse Liron. Und bin neu hier in die Gegend gezogen.“ Er machte eine kurze Pause. Dabei blickte der Junge etwas hilflos in seine neue Klasse. Anscheinend mochte er es nicht, von all den Mädchen angestarrt zu werden. Die Mädchen hofften jedoch, dass Liron noch was von sich preisgeben würden und starrten ihn weiter an. „Das sollte genügen“, fügte er nach dieser kurzen Pause kühl hinzu. „Dann begrüsse ich dich ganz herzlich im Namen unserer Klasse“, sagte Marion schnell, um der Stille im Raum zu entkommen. „Ich bin die Schulsprecherin und wenn irgendetwas sein sollte, dann kannst du gerne zu mir kommen.“ „Das glaub ich dir gerne, Marion“, schnauzte Misha sie an. „Halt du deine Klappe!“, konterte diese. Misha war die, man könnte sagen, Schulschönheit. Sie hatte Modellmasse und lange, rötliche Haare und wunderschöne grüne Augen, die jetzt aber Marion wie zwei feurige Smaragde anfunkelten. „Du…“ Noch bevor Marion zurückgiften konnte, sagte der Junge: „Wo soll ich mich den hinsetzen?“ Stille. Alle schienen von Liron fasziniert zu sein. „Sogar die Lehrerin starrt ihn an“, schoss es Bijou durch den Kopf. „Zugegeben, schlecht sieht er ja schon nicht aus… Halt! Mensch, Bijou, was denkst du da nur?“ Die Lehrerin räusperte sich, sie schien verlegen zu sein, und sagte dann: „Neben Mishale ist noch einen Platz frei. Wenn sie nichts dagegen hat?“ „Nein, natürlich nicht“, lächelte diese. „Na gut“, meinte Liron nur und seine blauen Augen schienen jede Person im Klassenzimmer genau zu fixieren. Als der Blick Bijou traf, merkte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. „Was ist nur los mit mir?", dachte sie fiebrig. Ihr Herz pochte wild gegen ihre Rippen. Übelkeit schlich sich ein. „Scheisse!" Für einige Sekunden, schien es ihr so, als Lirons blaue Augen an ihr etwas suchten. Schnell wendete sie ihren Blick ab und starrte auf den blanken Fussboden. Natürlich merkte Marion, dass Bijou errötete und flüsterte: „Oh. Was sehe ich denn da?" „Ja, was denn?", zischte Bijou. Das Mädchen wusste genau, was ihre Freundin dachte. „Du magst ihn. Hab ich recht?" „Ich kenne ihn..." „Lenk gefälligst nicht vom Thema ab, hast du gehört Bijou?" „Ich meine es ernst. Marion, Liron kommt mir wirklich bekannt vor. Und nicht nur seit gestern." Das Grinsen in Marions Gesicht verschwand. „Seit... gestern?" Ihre Freundin antwortete ihr nicht. „Hallo? Bist du noch da?" Marion fuchtelte vor Bijous Gesicht wild mit den Händen herum. „Lass den Blödsinn, Marion!" „A-aber... was 'seit gestern'? Hab ich da nichts mitbekommen?", sagte Marion fast etwas gekränkt. „Nein, natürlich nicht." Wie konnte sie sich da nur wieder rausreden? Denn Marion liess nicht locker. „I-ich glaube", stotterte Bijou, „es war bloss ein Traum. Liron sah ich in meinem Traum." „Du glaubst? Verkaufe mich nicht für blöd. Nur weil ich blond bin, oder was?" „Marion... es... ist nur so: Der Traum hat sich einfach realistisch angefühlt. Okay?" „Okay, Bijou." Ein verschmitztes Lächeln huschte über die rotgeschminkten Lippen der Freundin. „Bitte nicht! Was ist?" Bijou ahnte nichts Gutes. „Wie sah denn der Traum aus? Du und er. Na? Na los, sag schon." „Sicher nicht so, wie du dir es wieder mal vorstellst!" Bijou musste grinsen. Und wieder fing ihr Herz an zu rasen. Lag dies wirklich an Liron? „Verdammt!", dachte Bijou. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)