Seifenblasen von Nordwind ================================================================================ Seifenblasen ------------ Seifenblasen „Hast du es schon gefunden?“ Die Stimme des kleinen Mädchens klang seltsam dumpf oben auf dem Dachboden. „Nein!“ rief die junge Frau zurück. „Du hast es weggeschmissen, oder?“ „Nein, hab ich nicht!“ Die junge Frau seufzte, das Mädchen war längst verschwunden. „Es muss irgendwo hier oben sein.“ murmelte sie deshalb mehr zu sich selbst. Sie blickte sich langsam um. Ihr Blick schweifte über das ungeordnete Chaos von Kisten, Kartons, Bücherstapel, alten Bilderrahmen und Möbelstücken. In der hinteren Ecke stand eine alte Kommode, ein zusammengerollter Teppich lehnte an der Wand und verdeckten zum Teil ein kleines, rundes Fenster, einige kaputte Koffer stapelten sich neben der Falltüre zu einem instabil wirkenden Turm, den scheinbar einige Spinnen mit ihren Netzen gesichert hatten, und längst vertrockneter Rosmariensträuße hing von der Decke, die direkt unter dem Giebel gerade einmal so hoch war, dass die junge Frau aufrecht stehen konnte. „Irgendwo hier oben…“ wiederholte sie leise und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Sie hasste den Dachboden und war nur sehr selten und ungern dort oben. Über allem lag eine zentimeterdicke Staubschicht und fette Spinnen mit einem dutzend Beinen krabbelten an den Wänden oder verharrten regungslos lauernd in ihren klebrigen Netzen, die sie in jeder Ecke und jeder Nische und die besonders dreisten sogar quer durch den ganzen Raum gesponnen hatten. Es roch nach Moder, Mottenkugeln und Mäusekot. Die junge Frau fröstelte. Es war ein kühler Herbstabend, wenige Tage erst nach Samhain. Die Sonne neigte sich langsam zu den sanft grünen Hügeln am Horizont hin. Ihre Strahlen erhellten den Raum und unterstützten das Licht der Glühbirne, die an der Decke leicht hin und her schaukelte. Die junge Frau schob eine schwere Holzkiste beiseite. Nur unter dumpfen, stotterndem Knarren löste sich die Kiste vom ihrem Standort, den ihr seit vielen, vielen Jahren niemand mehr streitig gemacht hatte. Staub rieselte von der Kiste, wirbelte vom Boden auf und glitzerte im Licht der Sonnenstrahlen, als wäre er Teil eines lang vergessenen Zaubers. Die junge Frau sprang auf und wich schnell zurück, doch zu spät, der Staub hatte sich bereits auf ihren Kleidern niedergelegt. Ärgerlich wischte sie über ihre Jeans und ihren schwarzen Rollkragenpullover und klopfte die grauen Staubkörnchen ab. Als sie fertig war, blickte sie zu der Kiste hinab und entdeckte überrascht ein kleines, dünnes Buch, das an jener dunklen Stelle zurückgeblieben war, an der die Kiste gestanden hatte. Die junge Frau lies sich in die Hocke sinken. Sie streckte die Hand aus und strich sanft mit dem Zeigefinger über den weichen, purpurnen Samteinband. Schließlich nahm sie es in die Hand, schlug die erste Seite auf und stellte irritiert fest, dass das Buch keine Seiten mehr besaß. Nur ihre fransigen, groben Überreste zeugten von ihrem einstigen Sein und auf welche grausame Weise sie einst herausgerissen worden waren. Sie wandte das Buch in ihrer Hand und entdeckte, dass auf der Rückseite des Einbanddeckels einmal etwas niedergeschrieben gestanden hatte, doch die Buchstaben waren bereits verblasst und es war unmöglich sie zu lesen. Dunkle Wolken zogen am Himmel auf. Ein sanfter Nieselregen setzte ein. Tropfen prasselten leise gegen das Glas des kleinen, runden Fensters, das sich in der hinteren Wand befand. Das stetige Trommeln füllte dumpf die Stille. Das Licht der Sonne wurde zu trübem Zwielicht, das die Hügel im Westen in ein eintöniges grau färbte. Ein Gedanke durchzuckte die junge Frau plötzlich. Sie legte das kleine Buch beiseite und richtete sich auf. Ihr war etwas eingefallen, etwas, dass sie vergessen hatte. Sie ging quer durch den Raum auf einen Stapel grau-brauner Kartons zu. Vorsichtig ging sie in die Hocke, immer darauf bedacht, dass ihre Kleider nicht mit dem staubigen Boden in Berührung kamen. Sie schob die Kartons beiseite und hinter ihnen kamen vier Schuhschachteln zum Vorschein. Sie erinnerte sich nur noch dumpf an die Schachteln und konnte nicht sagen, was sich in ihnen befand. Sie runzelte die Stirn. Sie wusste auch nicht, was sie eigentlich suchte. Der Wind rüttelte grob an den Fensterläden in den unteren Geschossen und pfiff durch die Ritze im Holz. Ein kalter Luftzug fuhr durch den Raum und die Frau schlang für einen Augenblick die Arme um ihren Körper, als würden sie vor dem kalten Schauer schützen, der ihr über den Rücken lief. Es half nichts. Mit dem Gesicht zu einer Grimasse verzogen zog die junge Frau einen Stock hervor, der aus einem der Gerümpelhaufen emporragte, und wischte damit einig Spinnenweben beiseite, die wie Vorhänge von der Decke und den Rosmariensträußen herabhingen. Sie wollte nach der ersten Schuhschachtel greifen, als plötzlich ein Rascheln sie aufschrecken lies. Langsam wandte die Frau sich um und lies ihre Augen über den Kofferturm und einige Bücherstapel wandern. Nichts. Einige Augenblicke vergingen, dann ein leises Scharren auf der anderen Seite des Raumes. Wieder ein Rascheln. Die Frau starrte wie gebannt auf eine Holzkiste jenseits eines Bücherturmes. Darin befanden sich alte Zeitungen und darunter, so wusste sie, eine Truhe mit abgetragenen Kleidungsstücken. Die Frau trat einen Schritt zurück. Der Wind heulte wie ein Wolf und wehte über die Felder und die Hügel im Westen. Ein Piepsen ertönte. Eine kleine, weiße Maus kam aus einem unsichtbaren Spalt in der Breitseite der Kleidertruhe hervor. Sie huschte über den staubigen Boden und verschwand im Schatten des Bücherturms. Die Frau seufzte. Nur eine Maus! Sie nahm die oberste Schuhschachtel vom Stapel. Sachte hob sie den Deckel ab und legte ihn beiseite. In der Schachtel befanden sich einige Briefe. Sie nahm sie vorsichtig heraus und legte sie in den Deckel. Ihre Augen wanderten wieder zu der Schachtel, in der sie einen Bilderrahmen fanden. Sie erkannte eine junge Frau auf dem Bild in dem Rahmen, die ihr selbst beinahe zum verwechseln ähnlich sah. Ein schwarzes Seidenband war um die obere, linke Ecke gebunden worden. Schnell stülpte die Frau den Deckel wieder über die Schachtel. Die Briefe, die darin gelegen hatten, verteilten sich auf dem Boden. Sie sank auf die Knie. Die letzten Strahlen der Sonne wurden von der dunklen Wolkenmasse verborgen, als sie mit letzter Kraft über die sanften Hügel im Westen kletterten. Es wurde allmählich dunkel. Die Frau nahm die nächste Schachtel vom Stapel und stellte sie auf die Erste. Sie nahm den Deckel ab und legte ihn achtlos beiseite. Ein Tuch deckte den Inhalt ab. Ein schöner, bestickter Schal. Die Frau griff nach ihm und warf ihn auf die Kartons. Ein weiterer Bilderrahmen kam zum Vorschein. Ein junger Mann war auf der Fotografie abgebildet. Auch um die Ecke dieses Bildes war ein schwarzes Seidenband gebunden. Sie lies das Bild fallen. Schrecken spiegelte sich in ihrem Gesicht. Das Glas zerbrach nicht. Sie blieb bestehen. Tränen traten in die Augen der Frau, sie lies das Bild liegen. Der Regen nahm zu. Draußen goss es in Strömen. Es schien beinahe, als wollten die Tropfen die Scheibe des Fensters durchschlagen. Ihr lautes Hämmern erfüllte die Stille. Die Frau nahm die nächste Schachtel vom Stapel und stellte sie auf die Zweite. Sie warf den Deckel beiseite und erkannte, dass sich in der Schachtel nur ein einziger Spiegel befand. Ein Handspiegel. Sie nahm den Spiegel und blickte in ihr eigenes Gesicht. Ihre Züge waren tiefe Furchen, ihre Lippen blass und dünn. Unter ihren Augen lagen tiefe Falten und dunkle Schatten, ihre Augen selbst waren umwölkt und blickten leer. Das graue Haar hing ihr wirr über die Schultern. Die alte Frau lies den Spiegel zurück in die Schachtel fallen. Der Wind riss grob an den Ästen und den letzten, braungelben Blättern der Bäume. Er jaulte und pfiff, als er über die Hügel im Westen jagte und um das Haus herum. Er rauschte und tobte, bog dünne Stämme und riss an Leinen. Die alte Frau rutschte auf Händen und Knien über den spröden Boden um zu der Letzten der Schachteln zu gelangen. Hastig riss sie den Deckel herunter und blickte hinein. Was sie sah lies sie in Tränen ausbrechen. Sie heulte und jammerte und schrie und starrte ungläubig auf die zerbrochenen Glaskugeln, die auf Samt gebettet in der Schachtel lagen. Sie waren zerplatzt wie Seifenblasen. Einfache Seifenblasen. Ein Blitz zuckte am Firmament, ein Donner grollte. Das letzte Licht der Sonne verschwand hinter den schwarzen, schemenhaften Hügeln im Westen und lies nur Dunkelheit zurück. Die Glühbirne an der Decke des Dachbodens flackerte schwach und kämpfte tapfer gegen die Finsternis. In ihrer Wut versetzte die alte Frau der letzten Schachtel einen Schlag, die daraufhin zur Seite geschleudert wurde. Dahinter kam eine kleine Sanduhr zum Vorschein. Der Sand in dem oberen Raum war beinahe ganz hinuntergefallen. Die Augen der alten Frau weiteten sich. Schreck stand in ihren Augen geschrieben. Verzweiflung spiegelte sich in ihren Zügen. Hastig erhob sie sich, strauchelte dabei und eilte schließlich so schnell, wie ihre alten, gebrechlichen Beine sie zu tragen vermochten, zum Fenster hinüber. Ihr Blick glitt hektisch suchend durch die Scheibe und trug das letzte Bisschen Hoffung, dass sie noch besaß, hinaus in die Nacht. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Wind war weiter gezogen, nur die wenigen Blätter, die noch an den grauen Ästen hingen, die sich wie dürre Finger an das letzte Bisschen Farbe klammerten, das ihnen noch geblieben war, wippten auf einer sanften Brise. Die Wolken hatten sich verzogen und gaben den Blick auf einen tiefschwarzen, sternenlosen Himmel frei. Die alte Frau sank kraftlos auf die Knie. Sie wollte weinen, doch ihr waren keine Tränen mehr geblieben. Sie wollte Schreien, doch ihre Stimme war versiegt wie eine Quelle. Die Verzweiflung war aus ihrem Gesicht gewichen, vertrieben von tiefer Einsicht. Dann, plötzlich, als das letzte Sandkorn hinuntergefallen war, kippte die Uhr um, rollte ein Stück über die Dielen und blieb reglos liegen. Das Licht der Glühbirne erlosch mit einem leisen Zischen. Ein lautes Klirren durchbrach die Stille. Der Klang eiliger Schritte hallte durch den Flur und verstummte unterhalb der Leite, die zum Dachboden hinauf führten. „Mutter?“ Schritte auf der Leiter, dann ein Lichtschein. Der Kopf einer jungen Frau erschien in der Luke. Sie stieg die letzten Sprossen hinauf und suchte mit dem Lichtkegel ihrer Lampe den Speicher ab. „Mutter.“ Die alte Frau antwortete nicht, doch die junge hatte sie schnell gefunden. Sie saß am Fenster und rührte sich nicht. Die junge Frau wollte zu ihr hinüber gehen, da knirschte es unter den Sohlen ihrer Hausschuhe. Sie hielt inne und bückte sich um zu sehen, was es war. Scherben lagen auf dem Boden zerstreut. „Oh!“ meinte sie, als sie die Scherben erkannte. „Die schönen Kugeln! Sind sie dir heruntergefallen?“ Die alte Frau schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht hatte die Farbe eines zu Asche zerfallenen Traumes und sie sprach mit leiser, tonloser Stimme. „Sie sind vor langer Zeit schon zerbrochen.“ sagte sie. „Und am Himmel sind keine mehr übrig.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)