Die Welt im Wandel von Nochnoi (Oneshot-Sammlung zu "Dunkelheit/Vergeltung") ================================================================================ Kapitel 8: Regen ---------------- Lutetia, Gallien (78 n. Chr.): „Du bist verrückt, weißt du das eigentlich?“ Sharif trat auf die weitläufige Terrasse, die zu dem luxuriösen Herrenhaus gehörte, das er und sein Clan vor gut einem Monat besetzt hatten. Sein Blick war auf seinen Schöpfer gerichtet, der er sich auf einem Gartenstuhl gemütlich gemacht hatte, die Beine auf einen Tisch gelegt und sich nach hinten lehnte, als würde er sonnenbaden. Nur dass es bereits seit gut einer halben Stunde regnete. Asrim war inzwischen, obwohl der Regen eher Nieselcharakter besaß, schon reichlich durchnässt, schien sich daran aber nicht wirklich zu stören. „Ich weiß“, meinte dieser, ohne sich zu bewegen. „Das wird mir irgendwie schon mein ganzes Leben lang gesagt.“ Sharif blieb unter der Überdachung des Dachvorsprungs stehen und beobachtete den Regen. Er war in der Wüste geboren, an extreme Temperaturschwankungen gewöhnt, doch Feuchtigkeit dieser Art war ihm seit jeher ein Graus. Stets fühlte es sich für ihn so an, als würden seine Glieder versteifen und sich die Kälte bis in seine Knochen durchfressen. Asrim hingegen verspürte eine merkwürdige Faszination für das Wasser, das vom Himmel fiel. Sharif hatte schon sehr früh bemerkt, dass sich automatisch ein Lächeln auf die Lippen des Vampirs legte, sobald die ersten Regentropfen zu Boden fielen. „Warum liebst du ihn so?“, hakte der Ägypter nach. „Den Regen?“ Immer noch regte sich Asrim keinen Millimeter. „Über eintausend Jahre und du hast mir diese Frage noch niemals zuvor gestellt.“ Sharif beobachtete, wie die Mundwinkel des anderen kurz nach oben zuckten. „Es gibt viele Fragen, die ich dir noch nie gestellt habe“, entgegnete dieser daraufhin. „Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, warum du Pflasterstraßen nicht leiden kannst oder warum du immer anfängst zu summen, wenn du einen längeren Text liest. Und was ist das überhaupt mit Rothaarigen? Du starrst sie immer an, als könntest du nicht glauben, dass sie existieren.“ Nun endlich wandte Asrim seinen Blick Sharif zu. Seine Augen funkelten amüsiert, während er seinen Kopf zur Seite legte. „Ich erzähle dir gerne alles, was du wissen willst“, bot er großzügig an. „Sofern du dich traust, dich zu mir zu setzen.“ Und damit klopfte er auf den nassen Stuhl neben sich, auf seinen Lippen ein hämisches Grinsen, wie man es sonst nur von Alec gewohnt war, wenn er erneut Oscar bis aufs Blut reizte. Sharif verzog missfällig sein Gesicht und dachte ernsthaft darüber nach, einfach kehrtzumachen und ins trockene Innere zu flüchten. Im Grunde hielt ihn nichts davon ab, seinen Schöpfer einfach alleine zurückzulassen, anstatt dabei zuzusehen, wie er sich langsam im Wasser auflöste. Wäre da nicht diese verdammte Neugierde. Sharif gab sich nach außen hin immer als gefasster Mann, den nichts in Aufregung versetzen konnte, aber ab und zu kam doch das Kind in ihm durch, das fasziniert einen Schmetterling betrachtete. Er wusste selbst, dass das nicht unbedingt zum Image eines mächtigen Vampirfürsten passte, doch er vermochte nichts dagegen zu tun. Und auch diesmal war der Drang in seinem Inneren stärker. Somit setzte er sich auf den nassen Stuhl, seine Muskeln derart verkrampft, als würde er voller Anspannung auf einen ungemütlichen Kampf warten. „Man könnte fast den Eindruck gewinnen, ich hätte dich gezwungen, dir ein Schwert in den Bauch zu rammen“, stellte Asrim belustigt fest. „Es ist doch nur Wasser.“ Sharif schnaubte. „Es ist nicht nur Wasser!“, entgegnete er schnippisch. „Es ist überall, unaufhaltsam, es … es ist wie die feuchte Version von Sand. Und ich hasse Sand!“ Asrim gab daraufhin ein Geräusch von sich, das wie ein unterdrücktes Auflachen klang. „Und diese Worte von einem Ägypter.“ „Nur weil ich in der Wüste geboren bin, muss ich sie nicht automatisch lieben“, erwiderte Sharif. „Ich meine, hattest du an deiner Heimat nichts auszusetzen?“ Für einen Moment wurden Asrims Augen ganz glasig, als würden sich seine Gedanken fortbewegen, weg in diese längst vergangene Zeit. Sharif war schon früh aufgefallen, dass er stets einen etwas wehmütigen Gesichtsausdruck aufsetzte, wenn man auf seine Heimat zu sprechen kam. Bis heute hatte er auch niemals genau konkretisiert, woher er eigentlich genau stammte. Einst hatte er einmal erwähnt, dass seine Familie Handel mit Dakern betrieben hätte, aber darauf war er niemals weiter eingegangen.[1] „Es war sehr schön dort“, sagte Asrim schließlich nach einer kurzen Pause. „Es war nur etwas störend, dass die Ziegen unseres Nachbarn immer wieder bei uns eingebrochen sind und unsere Kleidung angenagt haben.“ Sharif spürte, dass er noch mehr sagen wollte, etwas tiefsinnigeres und düstereres als irgendwelche Tiere, die ihre Grenzen nicht kannten, doch wie so oft verschloss sich sein Schöpfer nach diesem kurzen Ausflug in seine Vergangenheit als Mensch. Stattdessen atmete Asrim einmal tief ein und sagte: „Sie verstärken den Verkehrslärm.“ Sharif blinzelte verdutzt, absolut nicht sicher, worauf sein Gegenüber nun eigentlich hinauswollte. „Bitte was? Die Ziegen?“ „Pflasterstraßen“, erklärte Asrim in einen Tonfall, als wäre dies völlig offensichtlich gewesen. „Du hast mich doch gefragt, warum ich sie nicht leiden kann.“ Er strich sich einige feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Die Karren, die Hufe der Pferde – alles ist so furchtbar laut, wenn es über Pflastersteine donnert. Wie ein schreckliches, ohrenbetäubendes Gewitter.“ Dem vermochte Sharif nichts entgegenzusetzen. Er nickte zustimmend, doch bevor er dazu kam, Asrim auch verbal beizupflichten, fuhr dieser ungerührt fort: „Und warum ich summe, wenn ich etwas lese? Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Es ist so eine seltsame Macke von mir, die ich einfach nicht erklären kann. Ich hab es schon immer getan und werde es wahrscheinlich bis an mein Lebensende tun.“ Sharif konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Asrim mochte sicher mächtig und berüchtigt sein, ein Wesen, das von vielen anderen bewundert und gefürchtet wurde, doch wenn er gedankenverloren über einem Text saß und dabei vor sich her summte – Volkslieder, Lieder von Barden und den Spielleuten, und manchmal sogar Kinderlieder –, wirkte er beinahe wie ein unbedarfter und unschuldiger Junge, der nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun konnte. „Und was ist mit Rothaarigen?“, hakte der Vampir nach. Asrim blieb daraufhin einen Moment still und wiegte seinen Kopf hin und her. „Du willst es wirklich wissen?“ Er schnalzte kurz mit der Zunge. „Es ist eigentlich ziemlich absurd.“ Sharif lächelte und störte sich nicht mal daran, dass ihm etwas Regenwasser in die Augen lief. „Umso besser.“ „Im Grunde sogar lächerlich.“ „Ich habe Alec bei dem armseligen Versuch zugesehen, auf einer Panflöte zu spielen“, entgegnete Sharif. „Und es gibt sicher nichts lächerlicheres als das!“ Asrim verzog seine Mundwinkel nach oben. „Meine Mutter hat mir damals als Kind erzählt, dass die Götter rote Haare hätten.“ In seinen Augen blitzte etwas Seltsames auf. „Und ich weiß, es ist dumm, aber ich habe es lange Zeit geglaubt. Und als ich das erste Mal einem rothaarigen Menschen begegnet bin – bloß ein fahrender Händler in heruntergekommener Kleidung und mit keinem einzigem Zahn mehr im Mund – war ich wie erstarrt. Ich dachte wirklich, es würde ein leibhaftiger Gott vor mir stehen.“ Sharif wusste darauf im ersten Moment absolut keine Antwort. Er wusste nicht mal, ob er lachen sollte oder nicht. Stattdessen erinnerte er sich an all die unzähligen Begegnungen in den vergangenen Jahrhunderten. Stets hatte Asrim rothaarige Männer und Frauen immer mit einer gewissen Intensität angestarrt. Einer seltsamen und schon fast unheimlichen Intensität, als würde er darauf warten, dass im nächsten Moment etwas geschah. Etwas Einzigartiges, etwas Sonderbares, etwas … Göttliches? Sharif musste unweigerlich schmunzeln, als er daran dachte, wie sehr doch die Dinge, die man als Kind erlebt und erfahren hatte, einen noch über eine lange Zeit weiterbegleiten konnten. „Und der Regen?“, fragte Sharif nach, sehr bemüht, sich sein schweres Missfallen nicht anmerken zu lassen. Auf seiner Kleidung lag bereits ein funkelnder Wasserfilm und über kurz oder lang würde sich das Nass auch einen Weg durch die Stoffbahnen bahnen. Viel schlimmer war jedoch die Feuchtigkeit in seinem Gesicht, die ihn inzwischen dazu zwang, seinen Kopf zu senken und die Augen zuzukneifen. „Warum liebst du ihn?“ „Weil er immer da war“, erklärte Asrim mit einer ungewohnten Samtheit in der Stimme. „Immer da?“ „An jedem einzelnen Geburtstag.“ Sharif hob daraufhin seinen Blick und musterte seinen Schöpfer verwundert. „Wie bitte?“ „Aus irgendeinem Grund wusste ich immer, wann mein Geburtstag war, auch wenn diese Art von Ereignis damals absolut keine Rolle für die Menschen gespielt hat. Die meisten hatten noch nicht mal eine Ahnung, wie alt sie überhaupt selbst waren, geschweige denn, an welchem Tag sie geboren waren. Aber ich spürte es, tief in meinem Inneren.“ Asrim lächelte. „Und an jedem einzelnen meiner Geburtstage hat es geregnet. Als wäre der Himmel neben mir der einzige, der sich daran erinnerte.“ Sharif musste ehrlich zugeben, dass er mit solch einer Antwort nicht gerechnet hatte. Er hatte eigentlich angenommen, Asrims Liebe für den Regen wäre bloß eine merkwürdige Verrücktheit, einfach etwas, das man unmöglich zu erklären vermochte, so gern man dies vielleicht auch wollte. Der Ägypter sah hinauf und blickte auf die graue Wolkendecke. „Jeder einzelne Geburtstag? Jedes Jahr?“ Asrim nickte. „Jedes Jahr.“ „Und so auch dieses Jahr, nicht wahr? Genau heute!“ Mit einem Mal entsann sich Sharif wieder, wie Necroma früher an jenem Tag zu Asrim getreten war, ihn in den Arm genommen und anschließend mit einem breiten Grinsen den abgetrennten Finger eines vormals dreisten römischen Soldaten geschenkt hatte. Sharif hatte gedacht, es wäre bloß wieder eine von Necromas typischen Marotten, aber unter Umständen war dieses kleine Präsent tatsächlich als Geburtstagsgeschenk gedacht gewesen. Immerhin wusste diese wahnsinnige, chaotische, verrückte Frau weit mehr über die Welt und ihre Bewohner als jeder andere. Asrim bedachte Sharif kurz mit einem amüsierten Blick, ehe er wieder die Augen schloss und die Tropfen auf seiner Haut genoss, als wären es wärmende Sonnenstrahlen. „Also dann …“, begann Sharif nach einem Moment des Schweigens. „Herzlichen Glückwunsch.“ Asrim lachte leise auf. „Vielen Dank.“ „Ich habe aber leider kein Geschenk für dich“, warf Sharif sofort darauf ein. „Ich meine, ich könnte dir zu dem Finger, den du von Nec gekriegt hast, noch eine passende Hand oder so besorgen, wenn du willst …“ „Sharif?“ „Ja?“ Asrim wirkte mit sich und der Welt völlig im Reinen, als er sagte: „Ich habe wirklich alles, was ich brauche. Der Regen ist mein Geschenk und wird es auch immer sein.“ Sharif betrachtete seinen Schöpfer eine Weile stillschweigend, wie er sich zurücklehnte und das Nass auf seiner Haut genoss. Nichts schien ihn in diesem Moment aus der Ruhe bringen zu können. „Du bist wahrlich ein seltsamer Mann, Asrim.“ Asrim schmunzelte daraufhin. „Hab Dank für das Kompliment, Wüstenmann.“ Seine Augen blitzten einen Augenblick merkwürdig auf, als er Sharif kurz musterte. „Und wenn du es noch schaffst, weitere zwanzig Minuten hier im Regen zu verbringen, erzähle ich dir, warum ich immer wieder und überall auf der Welt von Kaninchen attackiert werde.“ Sharif blinzelte. „Kaninchen?“ „Die sind überall“, erklärte Asrim mit todernster Stimme. „Und sie kommen wie aus dem Nichts.“ Und so konnte der Ägypter einfach nicht anders, als noch weitere zwanzig Minuten sitzen zu bleiben. Neben dem Mann, der gerne Lieder vor sich her summte, in Rothaarigen weit mehr sah als alle anderen und als kontinuierliche Zielscheibe für angriffslustige Kaninchen fungierte. Und der den Regen sosehr liebte. ************************************************************ [1] Daker: Ein thrakischer Volksstamm, der auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens angesiedelt war. Tada, mal wieder ein kleines Lebenszeichen von mir xD Gut, ich weiß, es ist nichts Besonderes, aber ich persönlich mag solche kleinen, harmlosen Episoden total gerne, also von daher könnt ihr euch bestimmt noch auf ein paar mehr einstellen ;p Und wie immer vielen lieben Dank für eure Kommentare! Ihr seid das Salz in der Suppe meiner Stories ... oder so ähnlich :D Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)