Mutter von Rackne ================================================================================ Kapitel 1: Flucht ----------------- Mutter Dunkel… Angst... Hilfe! Angsterfüllt öffne ich die Augen… Und sehe alte Kartons, Mülleimer und einen Hund in der Ecke sitzen. Mit traurigen Augen sieht er mich an, das schwarz-weiß gescheckte Fell ist schmutzig. Leise hechelnd kommt er auf mich zu. Mit einem kurzen Blick verscheuche ich ihn. Jaulend rennt er davon. Müde blicke ich nach oben. Ich sehe ein kleines Stück blauen Himmel, eingepfercht zwischen meterhohen Wänden. Graffiti überall. Müll. Es stinkt. Ich höre den Lärm der Menschen, die auf der Straße unterwegs sind. Normale Menschen. Nicht wie ich. Ich denke zurück an den Traum. Ich habe ihn mittlerweile jede Nacht. Seitdem ich aus der Klinik draußen bin. Und „Sie“ getroffen habe… Die Tränen greiser Kinderschar Ich zieh sie auf ein weißes Haar Werf in die Luft die nasse Kette Und wünsch mir dass ich eine Mutter hätte Der Reim geht mir so oft durch den Kopf. Denn er passt perfekt auf mich. Traurig blicke ich auf meine Knie. Der Hund kommt wieder langsam auf mich zu. Er sucht nach Essen. An mir wird er nicht viel finden. Abgemagert sitze ich hier. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich bin zu lange schon hier draußen. Geh doch zurück flüstert eine kleine bösartige Stimme, sie werden dich mit Freuden wieder aufnehmen. Nein. Ich weiß selber, wenn ich das tue, werde ich es bereuen. Bis an mein Lebensende. Welches auf diesen Weg nicht lange auf sich warten lässt. Die Sonne scheint nicht mehr in die schmale Gasse, in der ich sitze. Es ist dunkel geworden. Die verschiedenen Gegenstände in der Gasse werden zu Schemen. Schon Sonnenuntergang? Wie lange ist es schon her, dass ich geflohen bin? Geflohen für nur ein Ziel. Mein Ziel. Wieso bin ich so seltsam? Wieso ich? Warum ausgerechnet ich? Alle Menschen sehen mich seltsam an. Die normalen Menschen. In meiner Kehle steckt ein Schlauch, der mich mit Atemluft versorgt. Ich vertrage die normale Luft nicht. Zu viele Abgase. Einer der Gründe warum ich bald sterben werde. Einer der Gründe warum ich sterben will. Noch etwas, dass mich von den „Normalen“ unterscheidet: Ich hab keinen Bauchnabel. Warum nur? Warum? Ich wollte so nie sein. Ich wollte das nicht. Mutter Wolltest du, dass ich so werde? War das dein Wille? Wenn ja, dann hasse ich dich dafür. Traurig sehe ich zum Himmel. Zwei Vögel fliegen durch den winzigen Streifen blau. Nach wenigen Sekunden sind sie wieder weg. Sie verstecken sich vor dir. Sie haben Angst vor dir wispert die böse Stimme. Ich ziehe die Knie an und bette meinen Kopf darauf. Ich will mich verstecken. Ich will weg hier. Weg von all dem. Kapitel 2: Namen ---------------- Du hast mir kein zuhause gegeben. Ich konnte mich nie in deine Nähe flüchten. So sehr ich mich auch danach gesehnt habe, in den Arm, in deine Arme, genommen zu werden. Und dann konnte ich es doch nur selbst tun. Mein Hals tut weh. Der Schlauch schabt. Normalerweise sollte er jetzt gewechselt werden. Zu spät. Niemand gab mir einen Namen. Ein namenloses Kind auf der Straße des Lebens. Ich werde namenlos sterben. Ich will nicht namenlos sterben. Ein Name. Ich brauche einen Namen! … Ich kenne keine. Schlagartig wird mir wieder bewusst, dass ich anders bin. So anders. Traurig verschwindet mein Gesicht hinter meinen Händen. Doch die Tränen kommen nicht. Du kannst nicht weinen. So etwas Unnützes haben sie dir entfernt. Es wäre zu viel Arbeit gewesen, dich zu trösten. Deine Tränendrüse entwickelt nur so viel Feuchtigkeit wie es nötig ist, um deine Augen zu befeuchten… Sei ruhig! Ich will das nicht hören! Ich will dich nicht hören! Du existierst gar nicht! Mit einem leisen Lachen entfernt sich die Stimme. Für dieses Mal. Ich denke zurück an die Nacht nachdem ich aus der Klinik ausgebrochen bin. Der Nacht, als ich der meiner Mutter, die mich nicht geboren hatte, etwas versprach. Hab ich das heute Nacht geschworen? Nein, nicht heute. In meinem Kopf dreht sich alles. Das war nicht heute. Das war… Mein Gehirn setzt aus. Eine schwarze Wand. Ich weiß nicht, ob es vor einem Jahr war oder vor 2 Tagen. Nur an mein Vorhaben erinnere ich mich noch genau. Als wäre es gestern gewesen, wie ironisch: „Ich werd ihr eine Krankheit schenken Und sie danach im Fluss versenken“ Mein Plan. Den ich eingehalten habe. Mutter Sie ist tot da ist sie wieder. Diese kleine, miese Stimme. Sie ist tot und du hast sie umgebracht. Nein, habe ich nicht Natürlich hast du sie umgebracht. Denkst du, sie ist von allein verrückt geworden und dann in den Fluss gesprungen? Das warst allein du. Lass mich in Ruhe. Verschwinde. Du hast nichts in meinem Kopf verloren! Ich schließe die Augen. Sehe noch einmal das Gesicht meiner Mutter. An dem Tag, als sie in die Klinik kam. Ihr einziger Besuch. Kapitel 3: Besuch ----------------- Sie war vielleicht 20 Jahre alt. So jung. So schön. Ihre Haare. An sie erinnere ich mich am besten. So lang und blond. Ein so helles blond. Oder waren sie schon weiß geworden? Aus Schmach vor ihrer Tat? Ich weiß es nicht. Ihr roter Mund. Ungeschminktes Gesicht. Und diese traurigen Augen. Meine Augen, wie ich später sah. Dasselbe helle blau. An ihrem Todestag sah ich sie wieder. Sie war nicht viel älter geworden. Zwei Jahre vielleicht. Es hat weder ihrem Gesicht noch ihrem Körper etwas von seiner Schönheit genommen. Doch ihr Haar war noch heller. Ein reines, helles weiß. Langsam stand sie auf. Gesessen hatte sie auf einer Parkbank. Nur durch Zufall hatte ich sie gefunden. Sie kam auf mich zu. „Du? Hier?“ fragte sie. „Mein kleines Baby. Was tust du hier?“ Ich streckte meine Arme nach ihr aus. Sie stand vor der Sonne. Ihr Schatten umfing mich völlig. Sie sah aus, wie ein Engel. War sie da schon verrückt oder habe ich es erst geschafft, indem ich zu ihr gegangen bin? Ich weiß es nicht. Sie nahm mich in den Arm. Das erste Mal in meinem Leben berührte ich meine Mutter. Obwohl sie nicht meine Mutter war. Dann setzte sie mich wieder ab. Ob wir nicht ein wenig spazieren gehen wollen, fragte sie. Ich nickte nur. Ich kann ja nicht sprechen. Niemand brachte es mir bei. Gehorsam nahm ich die Hand, die sie mir hinhielt. Zärtlich schmiegte sich meine kleine in ihre große. Würde sie eine Faust ballen, wäre meine Hand wohl zerstört worden. Ich tapste neben ihr her. Sie erzählte mir von all den wunderschönen Sachen. Kapitel 4: Einsamkeit --------------------- Den wunderschönen Sachen, die ich nun nie kennen lernen werde. Ich spüre den Tod langsam auf mich zukommen. Zu Schade, dass ich sie nicht wieder sehen werde. Meine Mutter, die für unbarmherzige Experimente missbraucht wurde. Und ich, das Ergebnis dieser Experimente. Sie gab einen Teil ihres Körpers. Nur für Geld. Und doch gab sie mir damals Liebe. Wie mein Vater wohl war? Ihn konnte ich nicht ausfindig machen. Von den Vätern liegen immer zu viele vor. Vielleicht habe ich sogar zwei. Da ich aber das Ergebnis eines sehr gewagten Experimentes bin, denke ich, dass mein Vater vielleicht sogar meine Mutter ist. Vielleicht bin ich ein Klon. Vielleicht ist mein Vater auch der Bruder meiner Schwester. Ich konnte es nicht herausfinden. Und jetzt ist es zu spät. Ich schließe die Augen. Meine rechte Hand ertastet einen scharfen Gegenstand. Ein heißer Schmerz durchzuckt meinen Zeigefinger. Erschrocken blicke ich zu meiner Hand. Ich blute. Rot, so rot. Langsam tropft es herunter. Ich stecke den Finger in den Mund. Es schmeckt nach Metall. Du weißt überhaupt nicht, wonach Metall schmeckt. Und aus irgendeinem Grund kenne ich doch den Vergleich. Egal. Was kümmert es mich? Ich sehe vor meinem inneren Auge noch einmal meine Mutter. Sie liegt auf dem Flussbett. In ihren Lungen wohnt jetzt ein Aal, denke ich mir. Ihr weißes Haar umschwebt ihren Kopf. Das wunderschöne rote Kleid weht wie bei Wind. Ein paar Fische schwimmen herbei. So wird sie noch lange liegen. Niemand vermisst sie. Sie war einsam. So wie ich. Doch ich werde nicht mehr einsam sein. Ich gehe zu ihr. Jetzt. Kapitel 5: Unterschied ---------------------- Ich muss nur noch einen Unterschied zwischen mir und den normalen Menschen ausmerzen. Das hässliche Muttermal. Ich wusste davon nichts. Bis ich gestern in den Fluss sah, nachdem meine Mutter darin gestorben ist. Ich sah mein Spiegelbild. Weiße Haare. Hellblaue Augen. War ich wie meine Mutter? Oder wie mein Vater? Junge oder Mädchen? Ich weiß es nicht. Vielleicht kann es mir Mutter sagen, wenn ich sterbe. Das Muttermal… Entferne es mit Messers Kuss, sagt die bösartige Stimme. Jedoch klingt sie nicht mehr böse und schlecht. Sondern tröstend. Will sie, dass ich sterbe? Wer ist sie? Doch auch diese Frage ist egal. Ich muss es tun. Ich will es tun. Ich will nicht länger dieses Zeichen meiner Herkunft besetzen. Auch, wenn ich sowieso sterben werde, nicht mit diesem Stigma. Selbst wenn ich verbluten würde, wäre das schlimm? Ich würde früher sterben. Keine Wartezeit, bis der Schlauch seine Aufgabe nicht mehr erfüllt. Sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Meine kleine Hand schließt sich um das Messer und hält es vor die Stirn. Und beginnt zu schneiden. Mama. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)