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Tanabata

Misa no inori
von

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Was ist die Welt? Etwas, dass das Böse zusammenhält...

Man sagt, dass ein neuer Krieg mit derselben Waffe beginnt, mit der sein Vorgänger endete. So war es beim Zweiten Weltkrieg – er übernahm außer den chemischen alle anderen Waffen des Ersten Weltkrieges. Und da diese besagte Regel eine schreckliche Gültigkeit besitzt, wusste jeder, was kommen würde, als der Zweite Weltkrieg mit einer Atombombe beendet wurde. Niemand wagte es auszusprechen und der Gedanke daran wurde weitestgehend verdrängt, aber der vorauszusehende Dritte Weltkrieg musste mit einer Atombombe beginnen. Was danach kommen sollte? Niemand konnte es sagen…

Nun, es gab einen Beginn eines Dritten Weltkrieges, aber nur diesen Beginn. War unsere moderne Gesellschaft doch so vollkommen, so war sie im Stande gewesen, eine weitaus bessere, erschreckendere Waffe für einen erneuten Krieg zu entwickeln.

Und diejenige, die dafür büßen musste, war Misa, meine kleine Schwester.
 

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So, dies war der Anfang unserer Geschichte. Natürlich sind die einzelnen Kapitel wesentlich länger, das verspreche ich! ^^

Kommentare und verbesserungsvorschläge sind gern gesehen!

Ya, mata ne!

Look into my mind and you will see... your memories!

Mein Leben verlief unspektakulär, bis zu jenem Tag im Jahre 2008. Ich wurde in der Stadt Sendai, in der Präfektur Miyagi, geboren. Das Highlight meiner Heimatstadt war immer das Tanabata – Fest. Als Junge fand ich es kitschig. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich zehn war. Jetzt war ich Student und lebte allein in einem kleinen Apartment. Ich hatte eine Freundin, wenig Bock auf die Uni und immer zu wenig Geld. Nichts Außergewöhnliches also.

Es war am Morgen des 1. Aprils, die Sonne schien in mein Zimmer und ich hörte die Vögel zwitschern. Ich rieb mir die Augen und blieb noch einen Moment liegen. Aufstehen fiel mir schon immer schwer. Nach einer Weile rollte ich mich unter der Decke hervor, richtete mich auf und stand schließlich auf beiden Beinen, um mir einen Kaffee zu kochen. Mein Apartment war kaum seinen Namen wert – es hatte nur ein Zimmer und im ganzen Haus gab es kein Bad, weshalb ich das öffentliche zwei Straßen weiter benutzen musste. Der klare Vorteil dieses Bades war, dass nebenan ein Convini lag, weshalb ich Einkaufen und Baden verbinden konnte. Der Nachteil der Wohnung war eben, dass sich Damenbesuch quasi von selbst verbot. Meine Freundin Sawa hasste es, hier zu sein, weil sie sich hinterher nicht waschen konnte. Außerdem mussten wir immer leise sein, wollten wir nicht die anzüglichen Bemerkungen anderer Mieter hören, wenn ich sie abends hinunterbrachte und uns jemand aus dem Haus begegnete. Um es kurz zu machen: Ein großer Teil meines eher mäßigen Gehaltes als Nachhilfelehrer für Mittel – und Grundschüler ging für Aufenthalte in Love Hotels drauf, weil Sawa ebenfalls keine geeignete Räumlichkeit hatte. Sie wohnte noch bei ihren Eltern.
 

Ich seufzte. Heute fing bei ihr ja die Schule wieder an. Zweite Klasse Oberstufe. Also wurden Treffen wieder seltener und sie schrieb mir vermehrt SMS. Ich hatte sie vor zwei Jahren kennen gelernt, ironischerweise war ich ihr Nachhilfelehrer gewesen, in Englisch und Mathematik. Sie war damals 15 gewesen und hatte von mir auch andere Dinge gelernt als die, die für die Schule wichtig waren. Nun ja, seither waren wir ein Pärchen, mehr oder weniger heimlich. Ihre Eltern wussten zwar, dass ich ihr Freund war und anfangs waren sie auch dagegen gewesen, weil ich ja soo viel älter war als Sawa – chan, aber letztendlich hatten sie ein Einsehen gehabt. Dass Sawa aber inzwischen eine richtige Frau war, wussten sie nicht. War wohl auch besser für sie…
 

Ich gähnte immer noch, putzte mir die Zähne und sah aus dem Fenster. Das Wetter war mies. Der Himmel wolkenverhangen, die Luft drückte die Stimmung und auf meinen Kopf. Obwohl das auch an dem Bier gelegen haben könnte, das ich gestern mit Freunden getrunken hatte. Genauer gesagt war es nicht nur ein Bier gewesen. Alles dröhnte und ich überlegte mir, was heute für Vorlesungen abgehalten wurden. Eventuell machte ich mal blau. War auch nichts Außergewöhnliches. Im Kühlschrank befand sich nur noch ein einziges Objekt, welches zwar auch nicht gerade das meiner Begierde morgens um acht war – es handelte sich um ein Tunfischsandwich mit interessanter Farbe – aber immerhin war es etwas Essbares. Ich ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, während ich das Sandwich verspeiste. Sawa hätte sich drüber aufgeregt, es sah mäßig bis saumäßig hier aus. Aber sie war ja jetzt in der Schule und ehe sie mir damit wieder die Ohren voll heulte, vergingen noch ein paar angenehme Stunden. Es war ja nicht so, dass sie mir vollends auf den Zeiger ging, aber ihr Gejammer über die Schule war, na sagen wir mal, lästig. Ich hatte mir das alles schon einmal von meinen Klassenkameraden anhören müssen, das war jetzt zwei Jahre her. Ich war immer recht gut in der Schule gewesen, auch, wenn ich nicht viel dafür machte. Aber an der Uni war ich einfach nur faul. Meine Mutter unterstützte mich nicht, also konnte ich ohnehin solange studieren, wie ich lustig war. Wozu die Eile? Ich hatte nicht vor, mit 25 als salaryman zu enden, wollte Sawa nicht in naher Zukunft einen Heiratsantrag machen, wozu ihre Eltern ein ordentliches Gehalt als „Bestechungsmittel“ nett gefunden hätten, also ergab sich kein Grund, meinen Lebensstil zu ändern. Schweren Herzens beschloss ich, den Tag jetzt beginnen zu lassen, indem ich weiterhin meine Zähne putzte und mir danach die letzten frischen Sachen heraussuchte. Ein Besuch im Waschsalon war wohl wieder fällig.
 

Ich hängte den Futon zum Auslüften aus dem Fenster, unten ging Frau Aori vorbei. Moment, da musste ich doch noch einen Augenblick warten und den Anblick genießen. Sie war wirklich eine hammermäßige Frau, allerdings leider vergeben. Und sie hatte ein Kind! Ich seufzte wieder. Der kleine Rotzbengel hatte mir erst vor zwei Wochen eine Acht ins Fahrrad getreten, weil er mit seinem Roller dagegen gefahren war. Gleich, nachdem sich der Vorfall ereignet hatte, kam Frau Aori zu mir und entschuldigte sich überschwänglich, auch eine Entschädigung war dabei, denn das Rad musste ja repariert werden. Ich hatte die alte Rostlaube immer noch nicht repariert, sondern das Geld – ganz vorbildlich – zur Bank gebracht, damit ich es nicht verprassen konnte und mein Rad am Ende auf ewig in diesem Zustand blieb. Demzufolge lief ich jetzt meist zur Uni, was meinen Fitnessbedürfnis entgegenkam und wenn es regnete, fuhr ich mit dem Bus, was zwar teuer, aber immerhin auch manchmal ganz lustig war.

Ein weiteres Mal blickte ich auf die Uhr, nahm dann meinen Krempel und machte mich auf den Weg in die Stadt. Ehe wir wieder die Uni unsicher machten, wollten meine Kumpel und ich noch eine Weile das Geld ihrer Eltern in einem Cafè durchbringen. Zumindest hatte ich so die Chance auf einen American Coffee und vielleicht etwas, dass dem bunten Tunfisch im Magen Paroli bieten konnte.

Im Treppenhaus begegnete mir der Hauswart, er grüßte gequält. Klar, es war gestern bei mir wieder spät geworden, aber die Haustür stand ohnehin jede Nacht bis ein Uhr auf, weil außer mir noch 10 andere Mieter in diesem Haus wohnten. Wieso also die Aufregung? Gestern war ich der Unruhestifter, morgen war es ein anderer.

Achselzuckend verließ ich das Gebäude und atmete draußen den Duft der regennassen Straße ein. Irgendjemand hatte diesen Duft sehr gemocht, aber ich wusste nicht mehr, wer es gewesen war. Meine Mutter vielleicht? Oder Sawa? Ein Mädchen, das auf der High-School mit mir gegangen war, deren Namen mir aber nicht mehr einfiel, weil sie ja nicht die einzige gewesen war?

Na ja, es spielte doch auch keine Rolle, oder? Derjenige war jetzt nicht hier.

Here comes that feeling again... this song I heard...

Am frühen Nachmittag kam ich wieder zurück in meine Wohnung. Wie erwartet, hatte sich keiner gefunden, der hier für mich aufräumte und wie erwartet war aus dem American Coffee ein ganzer Vormittag geworden, den wir vergammelt hatten. Hach, die Jungs machten einem aber auch echt das Leben schwer! Ich stapfte durch die Unterwäscheberge und suchte nach meinem Terminplan.
 

Heute war… Montag. Ach, Mann, morgen verbrachte ich meinen Abend ja bei Tasuke, um ihm mal das Geheimnis der quadratischen Funktion zu entlocken. Mir war noch kein Neuntklässler untergekommen, der derartig begriffsstutzig war – für ihn wäre es besser gewesen, er hätte die Schule bereits nach der neunten Klasse beendet, aber seine Eltern prügelten ihn förmlich auf die Oberschule. Seine Alten rafften, gelinde gesagt, gar nichts. Aber das war mir ja nicht unbekannt. Eltern waren halt für nichts zu gebrauchen, außer, sie hatten einen spendierfreudigen Tag. Meine Mutter schickte kein Geld und meinen Vater hatte ich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, er war in Tokyo. Aber so war es umso wichtiger, dass ich als Nachhilfelehrer gute Arbeit machte und Tasuke, wenn nötig, auch zum hundertsten Mal erklärte, was der Scheitelpunkt der quadratischen Funktion war. Während ich mich fragte, ob alle Jungs in seinem Alter so waren und ob bloß ich eine kleine Anomalie darstellte, suchte ich alle verstreuten Wäscheteile zusammen.

Ich hatte eine todsichere Methode entwickelt, die mich davor bewahrte, dass weiße Socken plötzlich rosa aus dem Waschsalon kamen, weil sich ein rotes Halstuch drunter gemischt hatte. Ich nahm den Wäschekorb und steckte ein großes Stück Pappe in die Mitte. Dann warf ich alles bunte auf die linke und alles weiße auf die rechte Seite. Fertig! Diese Methode musste ich zum Patent anmelden, es würde mir das Studium versüßen. Ich grinste und trug den Korb zur Tür, wo ich ihn an der Wand abstellte. Dann begab ich mich wieder zum Kühlschrank und schrieb einen Zettel, auf dem alle Lebensmittel aufgelistet waren. Zu viele für meinen Geldbeutel… Vielleicht konnte ich Sawa anpumpen? Klar, sowas macht man nicht mit seiner Freundin, aber sie verbrauchte ihr reichliches Taschengeld kaum. Ich dankte den Göttern, dass ihr Vater noch nichts von der Weisheit „Reichtum verdirbt den Charakter“ gehört hatte und wünschte ihm im Stillen ein langes Leben.

Ich legte den Zettel auf den Wäschekorb und das Handy daneben, damit ich mir den Anruf bei Sawa noch mal durch den Kopf gehen lassen konnte. Irgendwie hatte mich die Plackerei ziemlich erschöpft, obwohl ich kaum was gemacht hatte, daher lies ich mich auf den Boden fallen. So lag ich eine Weile, atmete gleichmäßig und starrte an die Decke. Da hörte ich Schritte auf dem Gang. Frauenschuhe mit einem relativ hohen Absatz.

Die Dame ging sicher ein Stockwerk höher, neben meiner Wohnung lag die Treppe zum Obergeschoss. Doch mit einem Mal waren die Schritte verstummt. Ich stutzte und plötzlich klopfte es.

Aus irgendeinem Grund zögerte ich, die Tür zu öffnen, rappelte mich aber dann doch hoch und ging hin, mich ständig fragend, was für eine Frau da stehen konnte.

Als ich den Riegel löste und nach draußen spähte, musste ich zunächst weit hinunter blicken, denn mein Besuch war klein, ich schätzte sie auf gute 155cm. Sie trug eine rote Baskenmütze auf einer mittellangen, mit dem Föhn zu großen Locken gebrachten, modischen Frisur. Für das Barrett war es schon viel zu warm, aber sie trug zusätzlich noch einen ebenso roten Schal auf einem schwarzen Trenchcoat. Darunter hervor guckte eine Art Schottenrock, von Sawa wusste ich, dass das gerade total angesagt war und kleine, zierliche Beine steckten in hautfarbenen Strumpfhosen und diese wiederum in schwarzen Stiefeln. Das einzige, was nicht zu ihr passte, war ein Kinderrucksack, der über ihrer linken Schulter baumelte. Sie sah aus wie ein Model für Chanel, vielleicht war sie auch eins, denn sie trug eine dunkle, verspiegelte Sonnenbrille. Ich konnte nicht erkennen, ob sie mich ansah.

„Darf ich fragen, was Sie möchten?“, fragte ich höflich, aber sie blickte nur stumm in die immer gleiche Richtung. Ich schaute sie an, doch sie sagte weiterhin keinen Ton. Was wollte sie bloß hier? Ich verlagerte mein Gewicht vom einen Bein aufs andere, als Zeichen dafür, dass mich die Situation nervte. Jetzt, endlich, blickte sie mir direkt ins Gesicht, hob ihren Kopf ein Stück und öffnete ihren Mund.
 

„Entschuldigen Sie bitte, aber… Sind Sie Satoshi Iwamura?“, fragte die Frau. Ich nickte und machte: „Mhm.“ Dieses sprachlose Rumgestehe auf dem Flur ging mir auf den Wecker. „Darf ich fragen, was Sie wollen?“ Sie erschrak. „Ano… ano…“, druckste sie herum. „Entschuldigen Sie, aber wenn Ihnen der Grund für ihr Kommen entfallen ist, möchte ich Sie bitten, zu gehen. Ich habe noch einiges zu erledigen.“ Damit wandte ich mich zum Gehen und ließ sie stehen. Plötzlich packte sie meinen Arm und sang: „Oft, in der Nacht, wacht der kleine Bär auf, geht ins Tal, dort wohnt sein Freund Shu – u – ji!“ Ich war wie vom Donner gerührt. Die Titelmelodie von Shuji und Dondon, meiner Lieblingsserie, als ich ein Kind gewesen war. Ich hatte sie immer zusammen gesehen mit… Danach waren wir immer zum Fluss gegangen und hatten mit unseren Freunden Pirat gespielt. Sie wollte immer eine Prinzessin sein, aber es gibt ja keine Piratenprinzessinnen, also war sie der Steuermann. „Du hast dir kein Motorrad gekauft, oder, Sa – chan?“, fragte die Frau. Mein Motorradwunsch? Nur eine konnte davon wissen! Ich wirbelte herum und riss mit dem Arm ihre Sonnenbrille herunter, die scheppernd auf den Boden fiel. Sie schaute mich an.

Ich konnte nicht fassen, was ich da sah. Unter der roten Baskenmütze, eingehüllt in einen Schal, obwohl es schon April war, steckte – Misa! Ich war wie vom Donner gerührt und brachte keinen Ton heraus. Ich hatte mit den Händen ihre Oberarme umfasst und wollte etwas sagen, aber es war nur gestammeltes Zeug. Sie grinste und fing wieder an zu singen. „…und dann laufen sie zusammen, bis der neue Tag erwacht, in den Wald der Wünsche, wo alle Freunde sind!“ Sie stutzte. „Warum singst du nicht mit, Sa – chan? Hast du den Text vergessen?“ Das einzige, was ich sagen konnte, war: „Misa, Misa, Misa!“ Sie löste sich behutsam aus meiner Umklammerung, legte zwei Finger an ihre Lippen, küsste sie und drückte mir diesen Kuss auf die Wange.

Das hatte sie als Kind auch immer gemacht.

The strange present... I got a little sister?!

Es war einfach unglaublich. Ich musste wie ein absoluter Idiot dastehen, wie ich immer wieder „Misa!“ stammelte. Sie stand mir gegenüber, die Locken fielen auf die Schulter und sie legte immer wieder den Kopf schief während sie mich musterte. „O-nii-chan…“, murmelte sie leise. „Aber!“, protestierte ich. Sie zog sich erschrocken zurück. „Darf ich dich nicht ‚o-nii-chan‘ nennen?“ Mit einem Mal war alle Fröhlichkeit aus ihrem Gesicht gewichen und sie blickte traurig zu Boden. Wie ein kleines Kind, dem man verboten hatte, mit dem bösen Nachbarsjungen zu spielen. Ich schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht! Natürlich darfst du… Aber, wo in aller Welt kommst du her?“ Sie blinzelte ungläubig. „Aus Tokyo, das weiß du doch. Ich hab dort gewohnt.“ Sie schien nicht zu begreifen. Oder hatte ich eine lange Leitung? „Das mein ich nicht, das weiß ich. Ich meine, wieso du jetzt … nach über zehn Jahren… hier auftauchst? Woher hast du meine Adresse? Ich wohne seit zwei Jahren nicht mehr in Sendai!“ Sie grinste und ging an mir vorbei in die Wohnung, zog sich während des Gehens die Schuhe aus. „Darf ich rein kommen? Ich habe dich suchen lassen, über das Wohnungsamt in Sendai. Mama hab ich nicht gefunden oder vielleicht wollten sie mir keine Auskunft geben…“ Sie machte einen vorwurfsvollen Blick. „Du hast kein besonders sauberes Zimmer, Sa – chan. Du musst Wäsche waschen und die Pflanze da“ sie wies auf ein Alpenveilchen, „ist tot. Du hast sie nicht genug gegossen.“ Ich stand in der Tür wie der letzte Idiot, während meine Schwester die Pflanze aus dem Topf holte und in den Mülleimer beförderte. Sie lachte mich an und ich erwachte aus meinem tranceähnlichen Zustand und schloss die Tür. Musste ja nicht jeder wissen, wie es hier aussah.

Misa zog ihren Mantel, sowie Schal und Mütze aus. Sie saß mir in hell rosafarbener Bluse und ihrem Schottenröckchen gegenüber und lachte. Verdammt, sie sah wirklich nicht mehr wie das Mädchen aus, dass vor zehn Jahren mit meinem Vater aus Sendai weggezogen war. Sie war… fast erwachsen. Da fiel mir etwas ein. „Weiß Papa, dass du hier bist?“ Misa senkte den Blick und verkrampfte ihre Fäuste auf den Oberschenkeln, bis die Knöchel weiß heraus traten. „Papa ist seit neun Jahren tot… Ich dachte, du wüsstest das. Aber andererseits… waren du und Mama nicht auf der Beerdigung und man hat mich nicht zu euch zurück geschickt. Ich dachte schon, dass du es nicht wissen wirst.“ Das war ein großer Schock für mich. Mein Vater war… tot? In meinem Kopf tauchten Bilder von unserer Familie auf, als wir noch eine richtige Familie gewesen waren. Ich erinnerte mich an das Familienbild, das kurz vor der Scheidung entstanden war. Mein Vater war immer ein liebenswerter Mensch gewesen, fleißig, wenn auch nicht sehr einflussreich. Und immer gut zu uns beiden Kindern. Aber Misa hatte ihn über alles geliebt und vergöttert. Das war auch der Grund, weshalb unsere Eltern uns damals getrennt hatten. Sie hätte die räumliche Trennung zu ihrem Vater nicht verkraftet. Misa! „Misa-chan…“ Ich legte ihr beruhigend die Hand auf den Oberschenkel, fühlte den rauen Stoff des Rocks. „Aber… wenn Papa schon solange nicht mehr da ist… wo warst du dann all die Jahre?“ Sie schaute mir jetzt direkt in die Augen, ein tiefer, alles erforschender Blick. „In einem Kinderheim.“

Was erzählte sie mir da? Etwas musste gehörig schief gelaufen sein. Ich war kein Fachmann im Bereich des Jugendamtes, aber wäre es nicht das Normalste der Welt gewesen, ein kleines Mädchen, dem der Vater gestorben war und dessen Mutter und Bruder am Leben waren, zu denen zu schicken? Und wieso wurde die restliche Familie nicht darüber informiert? Man schickte Kinder doch nicht einfach ins Heim, bloß, weil irgendein so ein dämlicher Aktenhengst Lust darauf hatte!

Ich wandte mich wieder an meine kleine Schwester, die die Hand auf ihrem Bein betrachtet hatte. „Du hast ganz warme Hände.“, sagte sie unvermittelt. Ich war etwas irritiert. Sie wechselte einfach so das Thema. Vorsichtig tastete ich mich an den Grund ihres Kommens heran. „Und was ist jetzt? Was ist mit dem Heim?“ Sie legte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Ich hab die Mittelschule beendet, länger durfte ich nicht dort bleiben. Die Leitung wollte mich in eine andere Einrichtung verlegen und im Trubel bin ich von dort abgehauen. Meine Dokumente sind dort angekommen, aber ich saß nicht im Zug. Ich bin auf der dritten Station der Yamanote-Ring-Linie ausgestiegen und dann untergetaucht. Es hat Spaß gemacht, wie Räuber – und – Gendarm spielen. Dann hab ich mir eine Fahrkarte gekauft und bin nach Sendai gefahren. Ich war bei unserem alten Haus, aber dort war keiner. Also bin ich zur Stadtverwaltung gegangen und habe nachfragen lassen, wo ich dich finden kann. Innerhalb von zwei Tagen hatte ich deine Adresse und eine neue Fahrkarte. Es war nicht schwer, dich zu finden. Du hinterlässt… eine Spur der Verwüstung. Viele Leute in dieser Stadt kennen dich.“
 

Ich biss mir auf die Lippen. Scheiße, was hatte sie bloß angestellt? Was sie da tat, war nicht richtig! Sie musste zur Schule, in dieses neue Heim, zurück nach Tokyo. Aber sie lachte mich so glücklich an, war so froh, mich gefunden zu haben, dass es mir unmenschlich vorkam, ihr einen Vortrag zu halten. Also lachte ich sie auch an. Plötzlich fiel sie mir um den Hals, wir beide kippten um und Misa quietschte vergnügt, saß rittlings auf mir und hatte ihre Hände auf meiner Brust abgestürzt. „Sa – chan! Ich bin so froh, so froh, dass ich dich wieder gefunden habe! Du weißt gar nicht, wie glücklich ich bin! Ich möchte für immer hier bleiben!!!“ „Eh?“, stotterte ich überrumpelt.

„Aber Misa… Ich halte das für keine gute Idee.“ Sie blickte zu mir hoch. Kleine, traurige Schwester. „Willst du mich nicht haben? Ich… ich bin auch ganz brav, ehrlich. Ich werde mich um dich kümmern. Dafür sorgen, dass es hier immer sauber ist und dass du etwas Gutes zu essen bekommst. Ich bin gut im Kochen. Lass mich hier bleiben! Ich werde dir nicht zur Last fallen. Und wenn du möchtest, gehe ich auch zur Schule, ja? Auch, wenn ich sicher nicht so klug werde wie du, o – nii – chan.“, schmiegte sie sich an mich.
 

Wer konnte bei so einem süßen Angebot schon nein sagen?

She can get whatever she wants... it can be everything!

Nach einer Weile stützte ich mich wieder auf meine Unterarme auf. „Misa, du bist schwer!“, ächzte ich. Sie zog eine Schnute. „Ich bin nicht zu dick! Ich hab Untergewicht!“, verkündete sie trotzig. War das was Tolles?
 

„Geh trotzdem runter!“, befahl ich und drehte mich zur Seite, damit sie auf den Boden fiel. Wir sagten eine Weile nichts, lagen so nebeneinander. Draußen wurde es langsam, aber sicher dunkler, ein kurzes Abendrot. „Sa – chan, ich hab Hunger…“, kam es kläglich neben mir. „Wann hast du das letzte Mal was gegessen?“, gab ich zur Antwort. „Gestern morgen.“, sagte Misa leise. „Wie bitte?“ Ruckartig setzte ich mich auf und kroch zum Kühlschrank. Ach, halt, da gab es ja nichts Nennenswertes mehr. Mein Tagesplan war ja durcheinander geraten.

„Komm, zieh dich an!“, sagte ich kurzentschlossen und machte die Kühlschranktür wieder zu. Misa zwinkerte ein paar Mal und setzte sich dann auf ihre Knie. „Was hast du vor?“ „Wir gehen essen.“, erklärte ich. „Echt? Wohin? In ein französisches Restaurant?“ Ich drehte mich zu ihr um. War das ihr Ernst? „Natürlich nicht, Dummchen. In ein Ramenrestaurant oder an einen Takoyakistand. Was halt auf hat.“ Sie schien enttäuscht. „Guck nicht so! Ich hab für was Besseres kein Geld. Normalerweise hätte ich den Rest der Woche von Instantnudeln gelebt.“ Ich lächelte versöhnlich. „Außerdem möchtest du sicherlich noch baden, nicht wahr? Wir gehen auf dem Rückweg ins Badehaus.“ Das schien ihr wesentlich besser zu gefallen, denn sie nickte kaum merklich.

Ich hatte sie dazu überreden können, Brille, Schal und Mütze in meiner Wohnung zu lassen, denn so kalt war es nun wirklich nicht. Vorsichtig blinzelte ich aus der Wohnungstür, um mich zu vergewissern, dass uns kein Mieter über den Weg lief. Ich lotste Misa zur Tür hinaus und nahm selbst den Wäschekorb. Ehe wir essen gehen konnte, musste die Wäsche gewaschen werden.

Misa sah sich mit großen Augen überall um. Es wirkte, als wolle sie ihre Umwelt tief in sich aufsaugen, ganz so, wie ich es heute morgen mit dem Regengeruch gemacht hatte. Der Himmel zog sich zu, die Dunkelheit der Nacht wurde von dicken Regenwolken überschattet. Ich blickte hinauf.
 

Auf einmal hatte ich wieder eine Schwester. Und ich erinnerte mich, dass sie es gewesen war, die den Duft regennasser Wege so mochte. Wie hatte ich sie vergessen können? Wir waren uns als Kinder so nah gestanden, aber es hatten sich Dinge ereignet, die, so glaubte ich, unsere Verbindung auf ewig erschüttert hatten. Misa tappte sacht neben mir her, sie sah auf ihre Füße und sang lautlos etwas vor sich hin – ihre Lippen bewegten sich.

Während wir zusammen die Wäsche in die Wäschetrommeln im Waschsalon luden, sprachen wir kein Wort miteinander. Meine kleine Schwester setzte sich auf die Bank und griff zu einer Zeitung. „Pass auf, ich werde jetzt was zu essen holen und du bleibst hier und passt auf die Wäsche auf. Was willst du haben?“ Sie legte den Kopf schief, dachte nach. „Eto… ich würde gern Pocky essen, mit Erdbeergeschmack. Die hatte ich schon lange nicht mehr.“ Ich riss die Augen auf. „Pocky? Misa, das ist kein richtiges Essen! Vorhin hast du gesagt, du hättest Hunger. Pocky ist was für Zwischendurch.“ „Aber ich möchte trotzdem Pocky!“, erklärte sie starrköpfig. Ich seufzte. „Also gut, wie Madame wünschen!“, verdrehte ich die Augen, drehte auf dem Absatz um und ging die Straße hinab, ohne mich umzublicken.

Pocky… Ich kaufte sowas sonst nie und fand es deshalb auch nicht gleich. Dass es so viele Sorten gab, wunderte mich. Reichten Schokolade, Vanille und Erdbeere etwa nicht aus? War doch eh sofort alles weg, wenn man die Schachtel einmal öffnete. Ich kaufte mir selbst eine Schachtel Reiscräcker und zog mir draußen am Automaten zwei Flaschen grünen Tees, großen Appetit hatte ich nicht, musste wohl noch an dem Tunfisch liegen. In meiner Jackentasche war noch eine halb volle Schachtel „White Arties“, meine Zigarettenmarke. Ich versuchte schon ewig, damit aufzuhören, aber Rauchen ist eine gute Methode, um den Hunger zu unterdrücken, wenn man knapp bei Kasse ist. Für eine neue Schachtel hatte ich allerdings jetzt auch kein Geld.

Der Waschsalon war inzwischen komplett leer geworden, Misa saß beinebaumelnd auf ihrer Bank und las einen Artikel über ein neues Teenidol, als ich ihr die Pocky und den grünen Tee reichte. „Arigato!“, sagte sie laut und trank den Tee in großen Schlucken. Es sah niedlich aus, alles an ihr sah niedlich aus. Ich schluckte schwer. Nicht, dass ich an „sowas“ dachte, aber sie war noch süßer als damals, als sie sechs gewesen war. Wir verzehrten unsere beiden Snacks, während draußen die Nacht sich langsam in unser beider Leben schlich.

Mit der fertigen Wäsche verließen wir eine Stunde später den Laden. „Was ist mit dem Bad, o-nii-chan?“, fragte Misa und zupfte mich am Ärmel. Ach ja, richtig. „Komm mit, es ist hier in der Nähe.“, meinte ich und gab ihr eine Seite des Wäschekorbs zu tragen. Wir schlenderten die wenigen hundert Meter zu dem kleinen Badehaus am Ende der Straße. Es roch nach Regen.
 

Dieser Abend im Badehaus würde mir zeigen, dass zwar mein Gespür für Regen untrüglich war, aber meine Menschenkenntnis leicht auszutricksen war.
 

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Dieses Kapitel ist etwas kürzer als die üblichen 1000 Wörter, die ich mir pro Kapitel zum Ziel gesetzt habe, geworden. Aber das hat den einfachen Grund, dass die Badehausszene eine gesonderte Beschreibung braucht und deshalb nicht in Kapitel 4 gequetscht werden konnte - es wäre sonst doch etwas lang geworden.

An alle fleißigen Leser: Bleibt mir treu.

An alle "Favolisten-Leger": Kommis wären nicht schlecht, aber trotzdem danke für die Ehre.

An alle Kommi-Schreiber: Nur eins - D-A-N-K-E!!!

A watch ties us together - opening the gates to destination

Ich fragte mich, ob Misa – chan in ihrem Mantel nicht schwitzte. Verstohlen blickte ich auf sie hinab. Sie sah mit großen Augen auf das alte, halb vermoderte Schild vor dem Badehaus. „Ist es das?“, fragte sie. Ich nickte. „Ja. Hast du einen Wellness - Tempel erwartet? Das hier ist nicht Tokyo, sondern bitterste Provinz, junge Dame.“ Schnell schüttelte sie den Kopf. „Das macht nichts. Es ist schön, solange du da bist, nii – chan.“ Unvermittelt musste ich lachen. „Da hast du aber Glück! Das andere öffentliche Bad ist komplett nach Geschlechtern getrennt. Hier zieht man sich nur in unterschiedlichen Räumen um.“ Sie blinzelte ungläubig. „Das wäre schlimm“, murmelte sie.

Wir gingen hinein und wurden schon am Eingang von der hohen Luftfeuchte und der Wärme umfangen. Misa öffnete zwei Knöpfe ihres Mantels. Ihre Augen sahen sich suchend um, tasteten den Raum ab. Ich drückte ihr ein Körbchen in die Hand. Sie schien nicht zu bereifen. „Für deine Sachen.“, erklärte ich. „Leg alles da rein. Dein Mantel kann hier bleiben. Die Frau am Eingang passt drauf auf.“ Ich deutete zu der alten Dame an der Tür, die uns ein zahnloses Grinsen entgegen warf und freundlich winkte. Verschüchtert winkte Misa zurück. „Ist gut.“ Sie nahm den Korb und zog sich im Laufen den Mantel aus, legte ihn vorne ab. „Ich geh mich dann umziehen“, wandte sie sich an mich und verschwand hinter der Schiebetür mit dem Frauen – Kanji. Ganz allein.

Eine Weile dachte ich hin und her. Obwohl sie in diesem Waisenhaus gelebt hatte, war sie doch relativ auf sich allein gestellt gewesen. Bei dem Gedanken musste ich lächeln. Früher hatte sie mit dem Alleinsein so ihre Probleme gehabt.

Mir fiel der Tag ein, an dem sie zum ersten Mal in den Kindergarten gehen sollte. Er lag nicht weit von meiner Grundschule entfernt – ich ging damals in die zweite Klasse – und deshalb meinte meine Mutter, dass wir den Weg zusammen gehen sollten. Ich sollte meine Schwester morgens hin bringen und nachmittags wieder abholen. So weit, so gut.

Doch Misa machte uns einen Strich durch die Rechnung. Bis zum Kindergarten war sie bereitwillig neben mir hergelaufen, freute sich auf die anderen Kinder und plapperte viel. Als ich sie aber zur Tür brachte und sie begriff, dass ich gehen würde, anstatt mit ihr hier zu spielen, brach sie in Tränen aus. Nichts half, ich konnte sie nicht beruhigen. Hilflos fuhr ich sie an: „Nun hör doch auf zu weinen, Misa – chan! Du hast doch gar keinen Grund!“ Sie schniefte und zog immer wieder die Nase hoch. „Aber …“, stammelte sie, „aber ich habe Angst … dass du … nicht … wieder kommst!“, heulte sie. Aha. Daher wehte also der Wind. Ich dachte einen Moment lang nach und dann kam mir die rettende Idee. Behutsam legte ich ihr die Hände auf die Schultern, sie starrte mich aus ihren verheulten, kleinen Augen an. „Hör zu, Misa! Ich werde dir jetzt etwas geben.“ Ich schob meinen linken Jackenärmel hoch und nestelte an meinem Arm. Vorsichtig zog ich die Armbanduhr hervor, die sich an dem Arm befunden hatte. „Schau her,“, sagte ich. „Das ist die Uhr, die Papa mir geschenkt hat. Ich gehe nie ohne sie aus dem Haus, denn sie war sehr teuer und ist mir wichtig. Solange du im Kindergarten bist, wirst du sie für mich aufbewahren. Dann weißt du, dass ich dich wieder abholen werde – weil ich weder meine tolle Uhr noch meine kleine Schwester verlieren will. Du musst gut auf die Uhr aufpassen und sie am Arm tragen, ja? Hast du das verstanden?“ Misa blinzelte etwas und nickte dann zögerlich. Sie streckte mir ihren kleinen Arm hin und ich machte die Uhr daran fest. Es sah komisch aus, viel zu groß für ihren schmalen Arm.

Nachdem ich ihr die Uhr umgebunden hatte, nickte ich ihr noch einmal zu, winkte dann und ging. Draußen wartete ich einen Moment, aber ich hörte weder ein lautes Geheul, noch lief mir meine Schwester nach. Ich atmete erleichtert auf. Sie hatte es also verstanden und musste sich keine Sorgen mehr machen, dass ich sie nicht wieder abholen würde – die Uhr verband uns von nun an, sie war unser Ritual.

Misa wartete immer darauf, dass ich ihr die Uhr umlegte und sie streckte mir auch als erstes den Arm entgegen, als ich sie abholte. Einmal musste ich eher von der Schule nach Hause gehen, weil ich Fieber bekommen hatte. Ich lag daheim in meinem Bett und schlief, doch plötzlich durchzuckte mich der Gedanke an meine Schwester. Sie hatte die Uhr und sie würde auf mich warten. Sie wäre nie mit jemand anderem mitgegangen. Gehetzt sprang ich aus dem Bett, schlich mich durch das Haus, vorbei an meiner Mutter, nahm im Vorbeigehen meine Schuhe und Jacke und rannte dann die Straße hinab. Misa war noch da, aber ihr Blick, mit dem sie mich betrachtete, als ich schnaufend um die Ecke bog, zeigte mir, dass sie Angst gehabt hatte, ich würde mein Wort nicht halten. „Sa – chan …“, flüsterte sie. „Warum kommst du so spät? Misa ist traurig.“ Das nervte Mutter an ihr. Wann immer sie verstört war, sprach sie von sich selbst in der dritten Person. Eigentlich hatten meine Eltern geglaubt, es würde sich legen, sobald sie vier war, aber leider war das Gegenteil der Fall. Sie machte es unbewusst und wollte auch niemanden damit ärgern, aber es passierte einfach immer wieder. Die einzige Möglichkeit, das aufzuhalten war, ihr keinen Grund zur Unsicherheit zu geben. Aber dann wäre sie nicht lebensfähig gewesen. Ich atmete aus und richtete mich dann wieder vor ihr auf. „Ich hab gesagt, dass ich komm. Du musst mir mal vertrauen, nee – chan.“ Sie nickte schüchtern und gab mir ihre Hand. Sie sagte den ganzen Heimweg über nichts, scheinbar dachte sie nach.

Der Spurt zum Kindergarten war mir allerdings nicht gut bekommen. Am nächsten Morgen konnte ich nicht mehr aufstehen und blieb den ganzen Tag zu Hause – Mama brachte Misa weg und holte sie auch wieder ab. Und, was für ein Wunder, meine kleine Schwester ging bereitwillig mit, fragte nicht nach mir und scheinbar schien ihre Barriere durchbrochen worden zu sein. Sie vertraute sich anderen Menschen an und war auch im Kindergarten nicht mehr so isoliert und auf wenige Bezugspersonen aus – sie spielte mit jedem und war bei allen beliebt.

Das war so lange her … Zwölf Jahre.
 

Nachdem ich mich zwischen den alten Herren meiner Sachen entledigt hatte und bei einem Umschweifen meines Blickes festgestellt hatte, dass alle Größe und Jugend einmal verging, trat ich durch die Milchglasschiebetür in den Dampf, der über dem Wasser im Becken waberte. Aus der Wand mir gegenüber schoss ein Strahl heißen Quellwassers, den die alten Mütterchen gern nutzten, um ihre Verspannungen zu kurieren.

Langsam sah ich mich um, konnte aber meine Schwester nicht entdecken. Besonders viel war nicht los. Drei Kinder jagten sich quer durch den Raum, fielen manchmal hin und rappelten sich wieder auf, alte Leute gingen gebückt zum Becken und nur wenige Personen waren überhaupt in meinem Alter. Vermutlich lag es einfach daran, dass die meisten Häuser ein eignes Bad hatten und dieses Haus hier nicht genutzt wurde. Die alten Menschen lebten aber meist allein und die Häuser hatten teilweise noch ein Plumpsklo. Außerdem konnte man das Badehaus hervorragend als Treffpunkt nutzen.

Plötzlich hörte ich etwas hinter mir mit nackten Füßen über die Fliesen tappen, drehte mich um und im nächsten Moment sprang mir etwas auf den Rücken, johlte: „O-nii-chan!“ und klammerte sich an meinen Hals. „Uff!“, machte ich nur, meine Beine gaben unter der Last nach und ich sackte vornüber, während Misa unter lautem Kreischen ihr Handtuch und das Körbchen verlor, welches ich gerade noch fangen konnte. Aber um das Handtuch war es geschehen – Misas nackter Bauch und ihre … drückten sich an meinen Rücken. Ich schluckte. „Misa! Geh sofort runter von mir!“, befahl ich, damit nicht noch Schlimmeres geschah. Überrumpelt ließ sie sofort von mir ab, bedeckte sich, so gut es ging mit ihren Händen und rutschte auf dem Boden näher an das Handtuch heran. Ein paar Männer grinsten anzüglich und die Frauen sahen verlegen zur Seite.

Misa wurde rot. Sie zog sich das Handtuch vor den Körper und blickte mir nicht mehr ins Gesicht. „Was hast du dir dabei gedacht?“, zischte ich, als ich ihr wieder auf die Beine half. „Sowas ist peinlich! Du bist nicht mehr drei, also benimm dich auch nicht so!“ Ihr traten die Tränen in die Augen, aber sie versuchte krampfhaft, nicht zu weinen, während ich sie an der Hand hielt und zum Badebecken mitnahm. Ich stellte unsere Körbchen auf eine kleine Ablage über meinen Kopf, als ich mich niedergelassen hatte und bedeutete ihr dann, auch Platz zu nehmen. Sie sank lautlos ins Wasser, zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen.

Wir saßen eine Weile lang schweigend nebeneinander, als hätten wir uns nichts zu sagen. Dabei gab es soviel, was ich sagen wollte. ‚Was hast du gemacht? Bist du gut in der Schule? Hast du einen Freund? Welche Filme hast du zuletzt gesehen? Was war mit Papa, nachdem du fort warst?‘ Aber all diese Dinge waren dem Augenblick nicht angemessen, sie brauchten Ruhe, keine neugierigen Zuhörer. Misa schien genauso zu denken, denn sie spielte nur mit ihrem Waschlappen, den ich für sie mitgenommen hatte.

Warum war sie so? Sie war sechzehn, aber weshalb benahm sie sich dann wie ein übermütiges Kind? Es gab doch keinen Grund dafür …

Seufzend stieg ich nach etwa 20 Minuten aus dem Wasser, das Becken hatte sich mit der Zeit immer mehr geleert. Misa erwachte wie aus Trance, als ich sie anstubste und ihr damit bedeutete, auch raus zu kommen. Hastig folgte sie mir, wie ein kleiner Hund.

Ich gab ihr ihren Korb zurück und sie ging geknickt wieder zur Tür mit dem Kanji für Frau. Als ich mich drinnen wieder anzog, klopfte mir jemand auf die Schulter. Es war Herr Kounji, der alte Herr aus dem Erdgeschoss, der sich immer um die Blumen vor dem Haus kümmerte. „Na, Iwamura – san? War wohl wieder mal eine Grundreinigung fällig, wie?“ Er lachte dröhnend. Scheinbar kam er gerade und wollte jetzt baden. Ich bejahte seine Frage und dann sprachen wir etwas miteinander. Misa würde sicherlich draußen warten – hier herein zu kommen, das traute sie sich dann doch nicht. Ach ja, da fiel mir etwas ein. „Kounji – san, meine Schwester aus Tokyo ist momentan bei mir zu Besuch, ich bin mit ihr hierher gekommen. Sie wird noch die Gelegenheit haben, sich bei Ihnen vorzustellen, morgen früh vielleicht? Sie mag Blumen, vielleicht können Sie ihr ein paar ihrer schönsten Exemplare zeigen?“ Er schaute überrascht. „So? Sie haben eine Schwester? Aber natürlich zeige ich ihr alles mit Freuden! Für ein junges Mädchen steht mein Garten immer offen.“ Er nannte es immer ‚seinen Garten‘ obwohl der natürlich dem Eigentümer gehörte. Trotzdem zahlte Kounji – san alle Pflanzen für die Beete aus eigener Tasche. Der Hausbesitzer war sowieso ein Ausputzer sondergleichen – einmal jährlich wurde die Miete um 5000 Yen erhöht. Das war zwar unterm Strich nicht viel, für einen Studenten schon, aber es war nicht gerechtfertigt. An dem Haus wurde nichts gemacht, es gab zwei Gemeinschaftsklos und im letzten Winter hatte es fast den Gashahn entschärft, was nur durch das beherzte Eingreifen von Frau Aoris Mann noch verhindert werden konnte. Der Mann war vom Fach, er war Heizungsbauer. Deshalb verdiente er auch nicht so viel und wohnte mit seiner Familie hier. Wahrscheinlich war Frau Aori von Kindheit an einen anderen Stand gewohnt, denn die Sachen, die sie trug, wirkten nie billig oder sahen nach Hausfrau aus. Sie ging immer in perfekt sitzenden Sachen aus dem Haus.

Als ich meinen kleinen Plausch mit Kounji – san beendet hatte, trat ich nach draußen. Aber Misa wartete nicht hier, nur die alte Frau am Eingang grinste ihr zahnloses Lächeln. Ich trat auf sie zu. „Entschuldigen Sie, aber ist hier ein junges Mädchen vorbei gekommen? Etwa so groß?“ Ich zeigte die Größe mit der Hand. „Sie wissen schon, das, mit dem ich hier herein gekommen bin, das Mädchen mit dem Mantel!“ Die Frau nickte und wollte gerade den Mund zum Sprechen öffnen – doch sie kam nicht mehr dazu.

In diesem Moment hörten wir beide einen ohrenbetäubenden Knall. Irgendetwas sagte mir, dass Misa damit zu tun hatte.

Ich riss mich los von dem Ort, an dem ich stand und eilte zur Tür.

Mir bot sich ein Bild des Grauens: Da stand meine Schwester und vor ihr lag ein Mann mittleren Alters, leicht untersetzt. Misas Mantel lag ebenfalls auf der Straße, ihre Kleidung war verrutscht und unordentlich. Der am Boden liegende zitterte und rutschte von ihr weg. Er schrie. „Hör auf! Du bist ja wahnsinnig! Stopp doch einer diese Verrückte! Sie ist ein Monster!!!“ Hastig und in Angst griff er nach einem Stein und warf ihn nach Misa.

Mühelos wich sie ihm aus. Was war das für eine Kraft? Konnte sie Bewegungen vorher sehen? Sie sah hinter dem Stein her, schnaufte dann verächtlich und fuhr ihn an: "Ich sagte: Lass mich in Ruhe, du alter Sack!“ Ohne ihn zu berühren, ergriff etwas die Jacke des Mannes und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen eine Laterne. Er stöhnte laut auf und genau das schien das Wesen, das meiner Schwester glich, erwartet zu haben. Ihre Augen blitzten böse, funkelten rot und der Betrunkene wurde wieder und wieder in die Luft gehoben und gegen die Laterne geworfen. Es schien ewig so weitergehen zu wollen, es war so schrecklich, dass ich nicht wegsehen konnte.

Plötzlich krachte es, der Kopf des Mannes sackte endgültig zur Seite und sein Rücken färbte sich dunkelrot. Doch das Wesen hörte immer noch nicht auf. Als würde ich auf einmal erkennen, wer dort vor mir stand, schrie ich: „MISA!“. Der Kopf des Dinges fuhr herum, erblickte mich, sah mit einem Mal sehr erschrocken aus, ließ den leblosen Mann, den es nicht einmal berührt hatte, um ihn so zu drangsalieren, fallen und sank auf die Knie. Ich stürzte zu ihr hin und fing sie auf.

Bewusstlos kippte sie in meine Arme und ich spürte, wie schwer ihr Körper war.

Plötzlich gab es nur noch uns, den toten Körper des Mannes, die Pfütze aus Blut und den Regen, der wieder einsetzte. Es war, als würde der Himmel weinen.

Was hatte Misa nur getan?!
 

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Hab die beiden Kapitel zusammengelegt - alle, die den Anfang schon kennen, mögen mir verzeihen. Aber es wär doch ungerecht an der schönsten Stelle aufzuhören, oder?

Nu ist es raus - Misa ist ein Monster. Oder zumindest das, was der Gemeinmensch für ein solches hält. Aber wir werden sehen, was sich hier so entwickelt.

Depressing confessions - the scaring fairytale

In mir bildeten sich Fragmente der Erinnerung, einzelne, kleine Teile. Ich blickte in meinen eigenen Seelenspiegel.

Zuerst sah ich, wie meine Hand, sie war klein, diese Hand, nach einer Tür fasste, den Griff herunter drückte und wie ich in helles Licht trat. Meine Augen entdeckten in gleisendem Licht ein Bett mit einer weißen Decke, darin meine Mutter, die langen Haare zum Zopf geflochten, woraus sich einzelne Strähnen gelöst hatten. Sie lächelte und ich stolperte auf sie zu, legte die Hände auf die Decke. Mein Vater strich mir über den Kopf, ich sah auf. „Das ist deine kleine Schwester, Satoshi. Von nun an bist du ein großer Bruder und musst immer gut zu ihr sein. Kannst du mir das versprechen?“ Ich nickte zaghaft. Meine Mutter hielt mir jetzt das Baby hin. Es war in ein Tuch gewickelt und atmete tief. Die kleinen Fäuste lagen neben dem Kopf. „Sie ist ganz klein.“, flüsterte ich. „Ich mach sie doch kaputt, wenn ich sie festhalte.“ Mama lachte verschmitzt. „Nein, hab keine Angst, Sa – chan. Ihr wird nichts passieren, wenn du sie nur fest im Arm hältst.“ Vorsichtig griff ich nach dem Bündel, dass meine Schwester war und zog sie in meine Arme. Ich ächzte, denn sie war schwer. Mein Vater setzte sich auf einen Stuhl. „Wird aka - chan in meinem Zimmer schlafen?“, wollte ich wissen. Papa lachte auf. „Satoshi, du kleiner Dummkopf! Sie heißt nicht aka – chan, ihr Name ist Misa. Und sie hat ein eigenes Zimmer, wie du. Aber sie wird für eine Weile in unserem Schlafzimmer bleiben, weil sie nah bei Mama sein muss.“

Ich schmollte etwas, denn ich war sehr gern bei meiner Mutter. Seit einem Jahr ging ich in den Kindergarten, aber zuvor hatte sie immer viel Zeit mit mir verbracht. Aber ich verstand, dass ich nun ein großer Junge war und das Baby so klein. Es brauchte meine Mama sehr dringend, denn es konnte ja nicht mal allein sitzen oder essen. Ich würde sie beschützen, vor allem, was ihr Angst machen würde. Vielleicht nicht vor dem Monster unterm Bett, denn vor dem hatte ich selber Angst. Aber Papa würde es sicher für uns beide verjagen, denn Papa war mutig. Papa war mein Held.

Viele dieser Bilder tauchten in mir auf, während ich Misa den Berg hinauf in meine Wohnung trug. Als ich durch die Dunkelheit und den Regen hastete, sah ich alles wieder: die Eisenbahn, den Fluss, Shuji und Dondon, Motorräder, das Tanabatafest, unser Auto an dem Tag vor zehn Jahren, als unsere Trennung begonnen hatte.

Ständig blickte ich mich um, aber mir folgte niemand. Plötzlich fiel mir ein, dass mein Wäschekorb noch im Badehaus stand. Verdammt! Die Leute dort würden sich sofort an mich erinnern und dann hätte ich die Polizei im Haus und meine Schwester käme in den Bau.

Was war bloß in sie gefahren? Sie hatte nichts mit diesem Ding gemein außer dem Aussehen. Aber allein diese übermenschliche Kraft … Wie war so was möglich? Wie konnte sie, ein kleines, schmächtiges Mädchen, solche Dinge tun?
 

Ich hatte Glück, dass mein Haus nicht so weit entfernt lag, denn irgendwann wurde Misa doch schwer und ich war ziemlich fertig, als ich sie ablegte. Mir war nicht ganz klar, ob sie ohnmächtig oder bloß todmüde war, zumindest atmete sie noch.

Etwa zwei Meter von ihr entfernt setzte ich mich an die Wand, meine Schwester lag mitten im Raum, als hätte ich sie aufgebahrt. Sie war mir unheimlich und gerade das war das Verrückte daran. Was für einen Grund hatte ich, vor meiner jüngeren Schwester Angst zu haben? Allerdings war die Antwort ebenso einfach wie erschreckend: Ich hatte den Tod durch ihre Hand gesehen.

Mein Blick fiel auf ihren Pandarucksack. Weshalb lief sie eigentlich mit so einem Ding durch die Gegend? Ich hob ihn auf, öffnete ihn und förderte den Inhalt zu Tage. Er enthielt nicht mehr als eine „Hello Kitty“ – Geldbörse, einen Notizblock mit passendem Stift, ebenfalls in einer augenschädlich-grellen Farbe, sowie einen mehr oder weniger zusammengeknüllten Yukata.

Ich sah wieder zu Misa hinunter. Sie musste doch schwitzen … Ich war hin und hergerissen. Einerseits lähmte mich die Angst vor dem Wesen, dass auf der Straße den Mann getötet hatte, aber andererseits war in mir der Wunsch, meiner Schwester etwas Gutes zu tun. Ich entschied mich für letzteres, knöpfte ihr Mantel & Bluse auf und versuchte, den Verschluss ihres Rockes zu erhaschen, was mit Sicherheit am schwierigsten war, da sie ja auf dem Rücken lag. Ich zerrte also den Stoff solange in die richtige Richtung, bis der Reißverschluss vorne war. Der erste Teil war geschafft und Misa nicht erwacht. Jetzt musste ich sie allerdings wieder anziehen, denn nur in Unterwäsche und Strumpfhose fror sie dann doch … Ich breitete den Yukata auf dem Boden aus, hob Misa hoch und legte sie darauf wieder ab. Dann wickelte ich sie provisorisch in den Yukata ein. Jetzt konnte sie wenigstens bequem schlafen.

Ich ging zu meinem Ausgangspunkt zurück, griff in meine Tasche und kramte die „White Arties“ hervor. Ich steckte mir eine Zigarette an und stieß langsam den Rauch durch die Nase aus, während ich immer wieder das Feuerzeug betätigte. Das gleichmäßige Klicken und das Glimmen der Zigarette waren die einzigen Aktivitäten im Raum.

Mir war nicht einmal klar, worüber und ob ich überhaupt nachdachte.

Ich musste kurz weggenickt sein, denn ich wurde durch ein leises Stöhnen geweckt. Im Dunkeln mussten sich meine Augen erst an das Treiben gewöhnen, ehe ich meine Schwester erkannte, die sich unruhig im Schlaf über den Boden wälzte. Ich rutschte zu ihr hin und nahm ihren Kopf in meine Hände. Als ich langsam wieder zu mir kam, jetzt vollkommen wach war, erschrak ich vor mir selbst. Was, wenn sie mich jetzt genauso tötete wie den Mann vorhin? War sie dieses Wesen?
 

Ich ließ sie wieder sinken und setzte mich wieder an die Wand, hielt aber meine Augen immer auf ihren Körper gerichtet. Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie setzte sich, wie durch einen Befehl, auf.

Einen Moment lang blickte sie mich dann, erwachte aus ihrem Dämmerschlaf, erkannte mich und drehte sich dann um, schaute beschämt auf den Boden.

Nichts davon war meinem Blick entgangen, aber ich rauchte ruhig weiter, meine dritte Zigarette. Ich hatte jetzt keinen Hunger mehr.

Eine ganze Weile lang sagten wir beide nichts. Dann brach ich das Schweigen.

„Misa?“, fragte ich dumpf. Sie erschrak. „Was war das vorhin? Bist du das gewesen?“ Ohne sie anzublicken, wusste ich, dass sie nickte.

„Warum?“

Tonlos stand sie auf und antwortete mir: „Das ist mein wahres Ich. Ich bin nicht mehr die, die du einmal gekannt hast, ich … habe eine andere Persönlichkeit.

Der Mann auf der Straße … er war betrunken und hatte mich zuvor nackt in dem Badehaus gesehen. Ich hab draußen auf dich gewartet und da kam er auf mich zu. Er muss gespürt haben, dass ich Angst vor ihm hatte. Ich drehte mich um, doch er griff mir von hinten an die Schultern und meinte, ob ich nicht mit ihm mitkommen wolle, in ein Love Hotel, er würde mir auch etwas Schönes schenken. Weil ich nichts tat, außer innerlich zu flehen, dass er aufhören möge, damit nichts Schlimmes passieren würde, fasste er mir an den Po.“ Sie drehte sich zu mir um und kam auf mich zu, blickte zu Boden.

„Und dann habe ich die Kontrolle über mich verloren, mein zweites, richtiges Ich griff ein. Ich wollte ihm auf einmal ganz doll weh tun, ihn verletzen, damit er mir nichts zufügen konnte. Nur mit meinen Gedanken hab ich ihn gepackt und ihn immer wieder gegen die Laterne geschleudert.

Ich war wie im Blutrausch, Sa – chan.“

Sie sank vor mir auf die Knie. Ich hielt sie fest und drückte sie an mich. Kleine, todbringende Schwester. „O – nii – chan,“, schluchzte sie, „ich habe solche Angst. Wenn ich solche Dinge tue, habe ich keine Gewalt über mich. Ich kann mich selbst nicht kontrollieren. Jedes andere Mädchen hätte dem Mann ein paar runtergehauen oder wäre schreiend weggelaufen, aber alles, was ich tue, ist, ihm das Leben zu nehmen. Ich schäme mich dafür, so etwas zu tun. Wer bin ich denn, dass ich über Leben und Tod entscheiden darf? Ich will das nicht! Nur … weil ich so schwach bin, waren sie fähig mich zu diesem … Ding zu machen! Und jetzt habe ich nicht mal die Kraft, es aufzuhalten. Es greift immer weiter um sich. Ich brauche nur zu denken, dass ich jemanden tot sehen möchte und schon fällt er um. Noch vor zwei Jahren musste ich mir konkret vorstellen, wie er sterben sollte, dann klappte es, ich musste es mit kleinen Hunden und Katzen ausprobieren, damit meine Hemmschwelle sank. Wenn ich weinte, schlugen sie mich, bis ich aufhörte. Ich habe solange nicht geweint, Sa – chan.“ Sie schaute auf, ihre Augen, rot, zuckten unruhig hin und her. „Aber jetzt bin ich bei dir, Bruder. Darf ich … darf ich jetzt weinen?“ Sie hoffte so sehr, so innig, ich konnte nicht anders. Ich drückte sie immer fester an mich, spürte ihren Körper, an dem nichts mehr so klein und mädchenhaft war wie vor zehn Jahren, krallte meine Hände förmlich in ihren Rücken, als könne ich sie nie mehr loslassen, umfasste den zarten, fast kraftlosen Körper meiner Schwester und hauchte: „Ja. Wein soviel du willst …“

The nightmare continues - fear humans more than monsters

Irgendwann hatte sie aufgehört, entweder hatte sie keine Tränen oder keine Luft mehr gehabt. Sie war in meinem Arm eingeschlafen. Ich legte sie sacht auf den Boden, holte meinen Futon aus dem Schrank, breitete ihn aus und schob sie sanft darauf. Es war schwierig, denn ich hatte Angst, sie zu wecken oder ihr wehzutun. Oder hatte ich vielleicht Angst davor, was passieren könnte, wenn sie plötzlich erwachte und nicht einordnen konnte, wer ich war? Sie hatte mich solange nicht gesehen und jetzt lag sie hier… nur im Yukata, ich ein fremder Mann für sie. Zu was sie fähig war, wenn sie sich bedroht fühlte, hatte ich ja vorhin gesehen. Aber Misa blieb ruhig. Sie war leicht, beinahe dürr. In mir erwachten Vatergefühle. Sie musste essen, wieder zu Kräften kommen. Ich stand langsam auf, zog mir das Sweatshirt über, das vor mir auf dem Boden lag und ging zur Tür. Einen Moment lang zögerte ich, ob es klug war, die Tür abzusperren. Doch dann entschied ich mich, es doch zu tun. Ich würde nicht lang weg sein, zurückkommen, ehe Misa – chan aufwachte. Sie würde keine Angst haben müssen, dass sie allein war und ich sie verlassen hatte.

Draußen war es kalt geworden. Ich kuschelte mich in den Sweater und dachte nach. Nein, ich konnte Misa nicht allein lassen, ich musste ihr beistehen. Ich hatte sie schon einmal gehen lassen und die Quittung dafür war, dass sie nun nicht mehr dieselbe war, ein anderer Mensch, ein anderes Wesen. Obwohl ich trotzdem etwas Panik vor ihr hatte… Die Art, wie der Mann gestorben war, wäre selbst für Horrorfilme grausam gewesen und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine derart kranke Vision aus dem Kopf meiner Schwester kam, die sich früher immer für kleine, niedliche Tiere interessiert hatte und alles mochte, was rosa und mit Rüschen versehen war. Vielleicht hatte ich sie deshalb nicht erkannt. Sie war komplett anders als damals. Sie kleidete sich fraulich, obwohl sie erst 16 war und ihre Art zu töten war in der Tat… bestialisch. Mir fiel kein anderes, entschärfendes Wort dafür ein. Gomen ne, Misa – chan, aber du tötest wie eine Bestie, nicht, wie ein Mensch töten würde. Nicht drei Schüsse und dann fällt der Gegner um, nein, du bist anders. Aber warum? Sie hatte mir nichts weiter erzählt, nur die Sache mit dem Heim, was offenbar eine Lüge war, das wusste ich ja jetzt. Ich musste sie später nach der Wahrheit fragen…

Im Convini kaufte ich zwei Fertiggerichte: Aal auf Reis und Udon.

Dann fiel mir ein, dass Misa ja kaum etwas bei sich hatte, außer den Sachen, die sie am Leib trug und den Kinderrucksack, in dem außer dem Buch und dem Schlafanzug nichts war. Sie hatte ja nicht mal … Ich dachte an Sawa. Sie musste doch momentan auch… Es war mir etwas peinlich, als ich die Zahnbürste, das Essen, die Unterwäsche, das Handtuch, den Teddy, die Schokolade und die Schachtel… Tampons auf den Tresen legte, aber der Verkäufer behandelte alles wie einen normalen Einkauf. Ich war ohnehin der einzige im Laden, also hätte ich mich nicht schämen müssen. Trotzdem war ich froh, wieder draußen zu sein. Ich musste unweigerlich an dem Ort vorbei, an dem der Grabscher den Tod gefunden hatte, vor weniger als zwei Stunden. Die Polizei schien seine Leiche bereits weggeräumt zu haben, aber an der Laterne, gegen die Misa ihn fünfzehnmal geworfen hatte, klebte noch sein Blut. Ich konnte es nicht begreifen. Wie war dieses dünne, krank wirkende Mädchen, meine Schwester, in der Lage, einen so schweren Mann nur mit ihren Gedanken in die Luft zu schleudern und gegen die nächste Laterne zu werfen, bis er sich irgendwann das Genick brach? Ich musste sie das fragen, es ging nicht anders. Sie würde es verstehen, wir hatten früher auch keine Geheimnisse voreinander gehabt. Wieso konnte sie so etwas? Konnte man das lernen? Etwas musste in diesen zehn Jahren mit ihr passiert sein, das nicht mehr rückgängig zu machen war, etwas, dass sie mir mehr entfremdet hatte als die räumliche Trennung und unser Älterwerden.

Ich verhielt mich sehr leise, als ich ins Apartment kam, der Verwalter, ein Mann um die Fünfzig, hasste Mieter die abends noch lange im Treppenhaus herumgeisterten. Als ich vor meiner Tür ankam, hörte ich, dass von innen heftig daran gerüttelt wurde. Misa! Ich suchte schleunigst meinen Schlüssel hervor und schloss auf, da stürzte mir meine Schwester entgegen, sie weinte wieder. „Misa – chan? Was hast du?“ Sie drückte ihr nasses Gesicht an meine Brust. „Sa – chan! Ich hatte solche Angst! Bitte, lass mich nicht allein und schließ mich nicht ein! Ich will nicht eingesperrt werden!!!“ Sacht streichelte ich ihren Kopf. „Haben ‚sie‘ das mit dir gemacht? Dich eingesperrt?“, fragte ich leise. Sie nickte, immer noch das Gesicht am Sweatshirt. Ich schob sie langsam wieder ins Zimmer, schloss die Tür und legte die Einkäufe ab. So schnell, wie ihre Tränen gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Misa hockte auf dem Futon und schaute mich aufmerksam an. ‚Wie ein kleiner Hund!‘, dachte ich belustigt. „Was hast du gekauft?“, fragte sie und jetzt war es wieder so, als wären wir wieder Kinder. Ich musste mich umdrehen, damit ich glauben konnte, dass Misa kein Kind mehr war.

„Essen. Und Sachen für dich. Ein paar Kleinigkeiten – du hast ja nichts mit.“ Sie schien erfreut zu sein. „Darf ich’s auspacken?“ Ich lachte. „Bitte bedien dich.“ Sie wühlte etwas in den Beuteln und förderte als erstes den Teddy zu Tage. „Kawaii!“, rief sie und drückte das Stofftier an sich. Etwas in ihr war also immer noch so wie damals. „Ist der echt für mich? Er ist so süß! Vielen Dank, o – nii – chan!“ Lächelnd setzte ich mich zu ihr auf den Boden, sie legte den Bären gar nicht mehr aus der Hand, also packte ich weiter aus. Als nächstes das Handtuch. „Du brauchst eines zum Waschen, du kannst schließlich nicht meines mitbenutzen, oder?“ Sie nickte. Dann fand ich das Essen. „Welches willst du lieber? Udon oder Aal?“ Misa überlegte nur kurz. Ich hatte wissentlich ihr Lieblingsgericht gekauft. Aber für mich war es ein Test, wie viel an meiner Schwester wirklich noch menschlich war. „Udon!“ Sie hatte bestanden. Ich stellte den Gaskocher an und erwärmte die beiden Mahlzeiten, während sie warm wurden, kroch ich wieder zu ihr auf den Boden. Ich packte zwei Sachen auf einmal aus – die Unterwäsche und die Zahnbürste. Sie wurde rot. „Du hast Unterwäsche für mich gekauft? Woher weißt du denn, ob sie passt?“ Ich kratzte mich verlegen am Hinterkopf. „Na ja, weißt du, als wir vorhin im Bad waren, hab ich doch für einen Moment dein Körbchen mit der Wäsche gehalten – der Slip lag oben, ich hab das Größenschild gesehen.“ Sie war feuerrot im Gesicht. „Das… ist mir peinlich.“ Ich musste sie beruhigen. „Es ist in Ordnung. Nur so war ich doch in der Lage, dir etwas Passendes zu kaufen, oder?“ Sie nickte schüchtern. Sie war irgendwie doch meine Schwester, auch, wenn ich mich vor ihr fürchtete. Als letztes waren nur noch die Schokolade und die Tampons übrig. Von dem Einen wusste ich, dass sie es über alles liebte, das Andere würde sie unweigerlich irgendwann brauchen. Sie war ja schon 16. Ich schaute sie lächelnd an, doch sie hatte den Kopf gesenkt, die Augen waren finster. „Warum hast du das gekauft, Sa – chan?“ Ich war verblüfft. „Du magst doch Schokolade! Und die Tampons… ich hab es gut gemeint, ich dachte, dass du sie brauchst. Wenn dir das peinlich ist – das muss es nicht. Niemand weiß, für wen sie sind.“ Ich legte meine Hand auf ihren Oberschenkel, aber sie rutschte von mir weg.

„Ich… hasse Schokolade! Und diese Dinger… werde ich nie brauchen!“ Die nackte Wut stand in ihren Augen, ich fühlte, dass ich sie zornig gemacht haben musste. „Misa – chan! Komm zu dir! Ich will dir nichts tun!!!“ Sie erschrak und erwachte wie aus Trance. Sie fasste sich an die Stirn, als würde sie dort Schmerzen haben. „Entschuldige bitte, ich habe dich sicher erschreckt. Das wollte ich nicht, Sa – chan. Bitte, vergib mir.“ Sie hielt die Hände vors Gesicht, als wolle sie sich vor der Welt verstecken. Doch die Welt spielte nicht mit, Misa blieb hier. „Es ist nur… mit Schokolade haben sie es fertig gebracht, dass ich mit ihnen ging und dort blieb. Wenn ich brav war, bekam ich ein Stück. Aber jetzt, da ich weiß, was meine Aufgabe sein soll, hasse ich sie, ihre Versprechungen und die Schokolade. Sie ist schuld, dass ich mitging. Und was die Tampons angeht… als mein Körper begann, sich zu entwickeln, hat man in einem Labor meine Anziehungsfähigkeit auf Männer getestet. Sie war unglaublich hoch. Aber weil ich irgendwann unter Menschen leben sollte, musste etwas passieren, damit sich nicht irgendein Kerl an mir vergriff und ich ihn versehentlich tötete, das hätte das ganze Projekt gefährdet. So ein Fall, wie er heute eingetreten ist.“

Sie senkte wieder den Blick, ihre Stimme war jetzt ganz leise, kaum wahrnehmbar. „In einer langen Operation wurden mir alle Geschlechtsorgane entfernt, innerlich und äußerlich. Ich kann weder meine Regel bekommen, noch Kinder kriegen, noch überhaupt jemandem meine Liebe schenken. Waffen dürfen keine Kinder haben. Das ist besser so. Zur Vertuschung meines zerstörten Unterleibs haben die Ärzte mir ein ‚Geschlechtsimplantat‘ aus Resin modelliert. Es lässt nur noch Urin raus, für etwas anderes ist es nicht da. Um mich äußerlich weiterhin zur Frau werden zu lassen, bekam ich Hormone, sonst hätte ich nicht mal Brüste.“ Sie bebte bei diesen Worten. Ich konnte es nicht glauben, was ich da hörte. Jemand hatte meiner Schwester die Fähigkeit genommen, einmal Mutter zu werden? Ich wusste von früher, dass sie sich immer darauf gefreut hatte, später selber einmal Kinder zu haben. So, wie sie immer ihre Puppen bemutterte… Und man hatte ihr diesen Wunsch einfach versagt?

Bei was für grausamen Menschen hatte Misa gelebt?



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Kommentare zu dieser Fanfic (13)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  KrawallLucy
2008-06-15T21:26:57+00:00 15.06.2008 23:26
Oh je, ist das traurig... aber ich mag den Teddy... warum schenkt mir keiner mehr Teddys? Bin ich zu alt dafür geworden?*winsel*
Auf jden Fall... es ist so herzerweichend! Misa tut mir so leid... Schreib bald weiter
Von:  KrawallLucy
2008-06-15T21:21:43+00:00 15.06.2008 23:21
*schnüff* das ist so niedlich-traurig... mein Lieblingskappi bisher... mir tun nur die arnem kleinen Hunde und Katzen leid... *schnüff*
Von:  Frau_Erdbeerkuchen
2007-10-11T20:04:47+00:00 11.10.2007 22:04
Jup, das ist "gewissermaßen" geklaut. Aber unser Misa-chan ist ja keine Maschine an sich. Schon noch menschlich, aber halt ... geistig anders? ^.~'
Von:  Saiko
2007-10-11T09:23:10+00:00 11.10.2007 11:23
Ich will das Ende ja gar nicht wissen! Lieber lesen ;-)
Stimmt eigentlich mit den Animes... xD diese idee mit der menschlichen maschine kommt aus Saikano oder? (So viel weiß ich grad noch so von dem Film)


Von:  Frau_Erdbeerkuchen
2007-10-10T19:19:12+00:00 10.10.2007 21:19
Das Stück hier war von langer Hand geplant, ich hatte das noch eher fertig als den Rest der Story.
Ich werd dir doch aber das Ende nicht verraten, mit Nichten! ^^'


Aber, wenn ich das mal anmerken darf: So schwer war die Überlegung dazu nicht. Einfach viele Animes gucken!
Von:  Saiko
2007-10-10T17:57:05+00:00 10.10.2007 19:57
Boah.. das ist ja voll böse und traurig >_<
Die arme kleine Misa...... ich hoffe die Geschichte hat ein gutes Ende.... sie ht auhc etwas Science-Fiction mäßiges oder nicht?
Aki, das hast du dir super ausgedacht, ich glaub mir würde nie sowas einfallen ^^°
Von:  Saiko
2007-09-20T15:19:08+00:00 20.09.2007 17:19
ah achso! Kein Problem! ;-)
Dann wart ich halt noch n bissl ^^
Von:  Frau_Erdbeerkuchen
2007-09-19T19:37:36+00:00 19.09.2007 21:37
Ano ... das war eigentlich erst zum "warm up" gedacht. Ich kam leider in der Schule nicht zum Weiterschreiben, sosnt wär das Kapitel fertig.
Gomen! =.='
Von:  Saiko
2007-09-19T11:49:51+00:00 19.09.2007 13:49
Ist etwas kurz aber schön formuliert ^^
bin ja gespannt, was noch aus dem monster wird...
Von:  Frau_Erdbeerkuchen
2007-09-17T20:19:59+00:00 17.09.2007 22:19
Kriegst du - schneller als du denkst. ;)


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