Es von gluecklich (Sie lauern in der Dunkelheit) ================================================================================ Prolog: Sie finden dich überall ------------------------------- Dunkelheit Halt deine Angst bereit Wenn sie über dich bricht Und der Schatten zu dir spricht Finsternis In der du verloren bist Lass dich ziehn zu uns hinab In dein schwarzes Grab ________________________________________________________________________________ Camille sank lächelnd in ihre Kissen. Ohne zu zögern knipste sie die Lampe auf ihrem Nachttisch aus und schloss die Augen. Sie genoss die Dunkelheit. Seit dem Umzug in das neue Haus war ihre Angst wie weggeblasen. Keine schattenhaften Mafiosi mehr hinter der Tür, keine ätzenden Schleimklumpen mehr im Badezimmerschrank, unter ihrem Bett keine Krokodile mehr und in der Wand keine Giftpfeile. Selbst ihre Stimmen hatten Ruhe gegeben. In ihrem neuen Zimmer war sie völlig sicher. Kein merkwürdiges Knacken (was ja sowieso nur von der Heizung kam) würde ihr noch einmal schlaflose Nächte bescheren. Sie seufzte wohlig und zog sich die Decke bis über die Nase. Morgen war Dienstag, das bedeutete – Krrrrk (was war das?) sie würde vermutlich einen Test in (was) Sozial(war)kunde (das) schreiben. Krrrrrrk Camille schlug die Augen auf. Sie war sich sicher, nichts gehört zu haben (Ca). Gar nichts (Camille). »Nichts!«, zischte sie. Es ist hier, flüsterte jemand. Camille biss die Zähne zusammen. Es existierte nicht. Krrrrrrrk Das wusste sie. Ihre Stimmen waren auch seit Monaten still. Das hier (in deinem Zimmer) war (ein Monster) Einbildung. Genau wie ihre Mutter (du hast ihr nie geglaubt) es ihr gesagt hatte. Vorsichtig drehte Camille den Kopf zur Seite und spähte durch das abendliche Halbdunkel ihres Zimmers. Es war nichts zu sehen (du weißt dass) und auch nichts mehr zu hören (manche von ihnen) – also bestand (sich unsichtbar machen können) kein Grund zur Sorge. Man kann sie nicht immer sehen. Langsam, ganz langsam bewegte sie die rechte Hand in Richtung ihres Nachttisches. Sie musste die Lampe finden bevor (das Monster) die Angst sie fand. Krrrrrrrrk Camille hielt mitten in der Bewegung inne. Ihr Atem beschleunigte, das Herz pochte ihr laut im Hals; krampfhaft versuchte sie sich Ruhe einzureden, doch die Stimmen waren zurück, eine panischer als die andere. Verdammt, außer mir ist niemand im Zimmer!, dachte sie fieberhaft. Ich weiß nicht, was dieses Krachen verursacht (es klingt wie Füße auf Sand), aber es ist sicher nichts (Harmloses) Gefährliches. Die (Bösen sind zurückgekehrt) Dachziegel knarren doch manchmal im Wind. Sie haben dich gefunden, Camille. Sie kniff die Augen zu und öffnete sie sofort wieder. Diese eine gemeine Stimme hatte sie keinen Deut vermisst. Du kannst dich nicht vor ihnen verstecken, sie finden dich überall! Halt die Klappe! Eine energische Stimme unterbrach sie, wofür Camille sehr dankbar war. Sie hörte nun keine Geräusche mehr, ihr Zimmer lag wieder im Stillen. Gerade hatte sie den Kopf zur Wand gedreht, da zuckte sie zusammen und wirbelte ihn regelrecht zurück. Im Augenwinkel hatte sie etwas (den Schatten) gesehen. Etwas (der Schatten) hatte sich neben ihrem Bett aufgebaut. Doch nun sah sie nichts mehr. Camille wollte aufstehen um zu ihrer Mutter ins Schlafzimmer zu gehen, doch die Angst lähmte ihr alle Glieder. Sie beschloss, nach ihrer Mutter zu rufen und holte Luft, jedoch kam sie auch dabei nicht weiter. Wenn Es dich hört, wird Es dich zum Schweigen bringen!, rief eine ängstliche Stimme widerhallend. Camille schloss den Mund wieder und atmete so leise wie sie nur konnte aus. Es war die Methode, die sie bereits seit Jahren anwandte: Wenn diese (Monster) Hirngespinste – etwas anderes konnten sie doch nicht sein – dachten, sie sei bereits tot, würden sie sicherlich (das weißt du nie) nicht mehr an ihr Hand anlegen. Ihr Körper war steif, die Augen weit aufgerissen und darauf fixiert, sich nicht umzusehen (manche von ihnen reagieren böse sobald man sie sieht), ihr Atem ging flach und geräuschlos. Nach einiger Zeit schlief sie ein. Kapitel 1: Jan und Matthew Remy ------------------------------- »Warum hast du das Licht nicht einfach angemacht?« »Mama, ich hatte Angst.« »Aber du hättest mich doch rufen können, ich hätte dir geholfen! « »Ich hab mich doch nicht getraut. Ich kann mich nicht bewegen in solchen Situationen.« Judith seufzte. »Das ist schrecklich, Camille. Wirklich schrecklich. Du hattest doch gesagt, es sei besser geworden.« »Ist es ja auch. Das war vielleicht ein Rückfall. Keine Ahnung.« »Wenn das so weitergeht –« »Mama, es wird nicht -« »Bitte, Camille. Wenn das so weitergeht, machst du doch eine Therapie. Es war schon mal im Gespräch, aber da ist es besser geworden.« »Ich weiß«, sagte Camille leise. »Wenn es jetzt wieder losgeht, lässt du dich therapieren. Du bist fünfzehn, Camille, das ist nicht mehr normal. Deine Fantasie sollte dir solche Streiche längst nicht mehr spielen. « »Ich weiß«, wiederholte Camille noch leiser. Judith wandte sich wieder ihrem Frühstück zu. »Sag bescheid, wenn es wieder passiert«, befahl sie ihrer Müslischale. »Ja«, sagte Camille bloß. Sie schlüpfte in ihre Jacke und schulterte ihren blauen Eastpack. »Ich bin weg«, sagte sie. Für immer, zischte die gemeine Stimme. Denn draußen ist es noch dunkel. Camille biss die Zähne zusammen. »Tschüss.« »Tschüss, Schatz«, flötete ihre Mutter. »Viel Spaß in der Schule!« Camille gingen einige sarkastische Antworten durch den Kopf, doch sie verließ das Haus schweigend. An der Straßenbahnhaltestelle blieb sie ohne Worte neben ihrem besten – und einzigen – Freund stehen. Aus Jans Ohrhörern tönte Rock aus voller Lautstärke. Erst nach einigen Minuten senkte der um gute zwanzig Zentimeter größere Junge den Blick und entdeckte Camille. Er blinzelte, grinste und nahm einen Hörer aus seinem Ohr. »Sag doch was.« »Morgen.« Camille grinste zurück. »Tag auch.« Jan hielt ihr den Hörer hin. »Magst du?« Camille nahm ihn dankend entgegen und sah zu ihm hoch. »Alles klar?« »Joah«, sagte Jan. »Bei dir auch? Siehst müde aus.« Camille zuckte mit den Schultern. Die Bahn hielt und die beiden stiegen ein. »Konnte nicht so wirklich schlafen. Schreiben wir Sozi?« »Grundsätzlich nicht.« Sie setzten sich nebeneinander auf eine der dreckiggelben Bänke. »Konntest du deshalb nicht schlafen?« Camille schüttelte den Kopf. »Lygophobie«, murmelte sie. »Was für’n Teil?« »Lygophobie. Manchmal hab ich Angst im Dunkeln.« »Achso.« Jan nickte. »Ich glaub, das hattest du schon mal erzählt. Früher saß dieser blutrünstige Vampir an deinem Fenster, oder?« »Jaah…« Camille unterdrückte ein Schaudern. »Das Problem ist aber, dass er…« Eine Frau stieg ein und setzte sich ihnen gegenüber. Beschämt senkte Camille die Stimme. »Dass er wieder da ist.« Jan sah sie überrascht an. »Der Vampir?« Camille nickte. Nicht nur der, murmelte jemand. Alle anderen auch. »Es gibt doch gar keine Vampire.« Camille verdrehte die Augen. »Ich weiß. Aber so was kannst du mir nachts nicht erzählen, da bin ich…« schizophren »…irgendwie…« paranoid »Na ja, mein rationales Denken ist ausgeschaltet. « »Sobald das Licht ausgeht.« »Jap.« Jan hob den Kopf und musterte die Decke. »Arbeitet deine Mutter heute?« »Glaub schon, warum?« »Ich glaub, ich muss dich endlich mal meinem kleinen Bruder vorstellen. Der hat das selbe Problem.« »Dein Bruder ist bestimmt noch nicht fünfzehn«, murmelte Camille. »Nein, das nicht. Aber er hat ’ne rege Phantasie.« Wie immer versetzte dieser Satz Camille einen kleinen Stich. Er entmachtete ihren Verstand, hatte immer einen kleinen Hauch von Du bist doch verrückt. Außerdem glaubte – auch, wenn sie es sich nicht mehr eingestehen wollte – ein Teil von ihr noch immer an die wahrhaftige Existenz der Ungeheuer der Dunkelheit. Sie zuckte mit den Schultern. »Kann nach der Schule gern mit zu dir kommen.« »Nee«, sagte Jan kopfschüttelnd. »Nicht nach Hause. Ich hol ihn nachher aus der Stadt ab. Therapiestunde.« Camille hob überrascht die Augenbrauen. »Therapie? Doch nicht wegen der Dunkelheit, oder?« »Na ja. Irgendwie schon. Er bildet sich ein, irgend so ein Schatten hätte ihn umgebracht.« Es war, als hätte jemand Camille mit voller Wucht in die Magengrube geschlagen. Der Schatten… In ihrem Kopf entstand ein Flüstern, was sich langsam zu tosendem Lärm entwickelte. Ihre Stimmen riefen panisch durcheinander, zwischen ihre Schläfen setzte sich ein dröhnender Schmerz. Sie schluckte trocken. »Achso. Dann… Ja, ich… Ich denke, ich komme mit.« Jan musterte sie kurz und lehnte sich dann lächelnd zurück. »Alles klar.« Und während Camille noch verzweifelnd versuchte ihre Stimmen zur Ruhe zu bringen, schlenderte Jan fröhlich pfeifend neben ihr her ins Schulgebäude. Die beiden bildeten ein merkwürdiges Paar. Camille war klein, mit glatten blonden Haaren, einem blassen, zarten Gesicht und unscheinbarem Auftreten. In ihrer Klasse wurde sie großzügig ignoriert, was sie in den seltensten Fällen störte. Jan wiederum war äußerst beliebt. Groß, dunkelhaarig, charmant – unter einigen Mädchen trug er sogar den Spitznamen Surferboy. Jan hasste es. Er hatte Camille am ersten Tag ihres Umzugs kennen gelernt und teilte seitdem mit ihr eine herzhafte Freundschaft. Mit all den Mädchen, die versuchten ihn von ihr wegzulocken, konnte er beim besten Willen nichts anfangen. Camille stand somit wieder einmal teilnahmslos daneben, während Jan zur Begrüßung von sämtlichen Klassenkameraden umarmt wurde. Danach betraten sie zu zweit das Schulgebäude. »Bäh.« Jan rieb sich mit dem Handrücken über die Wange. »Ist das ekelhaft. Küsschen hier, Küsschen da – jetzt klebt mir wieder überall Lipgloss.« Camille grinste. »Tja.« Matthew saß auf der Treppe und tat, als spielte er mit seinen Autos. Er musste normal erscheinen, so normal wie möglich. Er durfte Es nicht verraten. Jetzt, im Moment, war er sicher, doch sobald er wieder in einem Raum sein würde, in dem plötzlich die Rollläden herunterfallen würden, in dem das Licht flackern und erlischen würde, in dem er wieder im Dunkeln sein würde, wäre diese Sicherheit gemeinsam mit dem Licht verschwunden. Und wenn er Es nun verraten würde, dann wüsste Es das. Es würde ihn bestrafen. Zwei schwarze Chucks erschienen in seinem Blickfeld. »Hey, Matt.« Er sah auf. »Hallo, Jan«, sagte er nüchtern. Sein Blick wanderte langsam zu dem Mädchen neben seinem Bruder. »Wer ist das?«, fragte Matthew. Sie lächelte. »Ich bin Camille Spencer. ’Ne Freundin von Jan.« Matt nickte. »Ah. Hallo, Camille. Ich bin Matt.« »Hi, Matt.« Jan reichte ihm eine Hand, Matthew zog sich an ihr hoch, stopfte die Plastikautos in seine Jackentaschen und drückte Jans Hand kurz. Auf dem Weg nach Hause erzählte Jan von ihrem Gespräch in der Straßenbahn. »Ein Vampir?« Matt lächelte flüchtig. »Ja. Den kenn ich auch. Weißt du, was ich glaube, Camille? Ich glaube, der Vampir ist der Chef.« Camille hob die Augenbrauen. »Kann sein. Aber, Matthew – eigentlich existieren Vampire gar nicht.« Matthew lachte. »Ja!«, rief er. »Ja, das sagt Doc auch immer, Doc sagt das auch immer, dass die meisten das glauben. Jaha, ja, ich weiß! Vampire gibt es nicht.« Jan warf Camille einen traurig-amüsierten Blick zu. »Siehst du«, murmelte er. Dann hob er die Stimme wieder und sah zu seinem Bruder hinab. »Was habt ihr heute besprochen, der Doc und du?« »Wir haben über Reee… Rekarna– nein, Halt. Reinkarnation. Über Reinkarnationen und Wiedergeburt haben wir geredet. Weil ich ja gestorben bin, aber ich musste ihm das lange erklären.« Matthew verfiel in einen sachlichen Ton. »Ich war ja gar nicht tot, nachdem ich gestorben bin, deswegen war keine Wiedergeburt nötig. Die haben mich zwar umgebracht, aber tot war ich danach ja gar nicht. Ist ein bisschen schwer zu verstehen. Aber genau das passiert mit dir, wenn der Schatten dich holt.« Camille spürte, wie es ihr eiskalt den Rücken hinablief. Dieser Junge war knappe sechs Jahre alt und redete ganz nüchtern von seinem eigenen Tod in der Dunkelheit. Jan legte den Kopf schief. »Matt«, sagte er langsam. »Hattest du nicht… Ich mein, davor warst du doch der Meinung, du darfst das so genau niemandem erzählen… oder?« Matthew zuckte mit den Schultern. »Bei Camille ist das in Ordnung. Sie weiß es ja schon. Und du ja auch, wenn sie es dir erzählt hat. Ich darf es nur keinem sagen, der noch nichts davon weiß. Das darf ich nicht. Das gibt… Das gibt Ärger, verstehst du?« »Verstehe«, sagte Jan, äußerst unglaubwürdig. Vor seiner Haustür blieben sie stehen. »Geh schon mal rein«, sagte Jan zu Matthew. »Sag Mama, ich komm gleich nach.« Matt nickte und hüpfte summend ins Haus. Jan drehte sich zu Camille. »Cam, ich mach mir Sorgen. Ich weiß, in dem Alter baut man sich Phantasiewelten auf, aber so stark? Das ist doch bei dir nicht auch so mit dieser Lagophobie, oder?« »Lygophobie«, verbesserte Camille nachdenklich. »Ich weiß es nicht. Wie alt ist er, sieben?« »Sechs.« »Hm. Da war’s bei mir noch nicht so weit, ich hatte… mein Schlüsselerlebnis könnte man sagen, das hatte ich erst mit acht. Aber Phantasiewelt… Na ja, du hast schon recht, Matt hat da mehr als andere, mehr als normal, aber…« Los, Camille, sag es. Nein! Sag es ihm nicht! Noch glaubt er euch nicht, noch ist Es nicht verraten! Es gibt es nicht, dachte Camille barsch. Dass der Kleine auch den Schatten und den Vampir kennt und die Theorie des gestorbenen Todes auswendig weiß… Das heißt ja nichts, vermutlich denkt jeder Lygophobiker so. Jan hob die Augenbrauen. »Aber?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Ich weiß nur noch von mir selbst, dass ich wirklich auch sehr überzeugt davon war, bis es damals aufgehört hat. Deinem Bruder einfach zu sagen, dass Vampire nicht existieren wird vermutlich wenig bringen. Dieser Therapeut kriegt das schon hin. Mach dir keinen Kopf, Jan, ich bin das ja auch losgeworden.« Ein paar ihrer Stimmen kicherten sarkastisch, die gemeine lachte sogar lauthals auf. Camille verkrampfte sich etwas. Sie hoffte, dass Jan nichts auffiel. Er zuckte mit den Schultern. »Kann sein«, seufzte er. »Wir werden ja sehen. Magst du noch mit reinkommen?« »Würd’ gern. Aber meine Mutter kommt wahrscheinlich bald, da sollt ich vielleicht besser zu hause sein.« »Alles klar.« Jan klopfte ihr kurz auf die Schulter. »Dann bis morgen früh.« Camille nickte. »Vielleicht ruf ich noch mal an.« »Ich bestimmt auch.« Jan grinste leicht und sah verstohlen gen Himmel. »Falls ich Hilfe bei Französisch brauch.« »Gut«, lachte sie. »Dann bis dann.« Sie winkten sich kurz zu und Camille machte sich auf den Rückweg. Kapitel 2: Der Vampir --------------------- Camille ging an diesem Tag früher ins Bett als sonst. Sie fühlte sich furchtbar müde, seit sie von Jan und Matthew nach Hause gegangen war. Sie beschloss, ihre Nachttischlampe wieder einmal brennen zu lassen. Gähnend sah sie an die Decke. Sie hatten keinen Test geschrieben… Das bedeutete, dass sie nächste Woche erst recht mit einem zu rechnen hatte. Aber würde sie die Zeit haben, zu lernen? Da war dieses Klavierstück, was sie viel lieber üben würde – ganz zu schweigen von einem Haufen geplanter Treffen mit Jan. Sie seufzte. Mit Sicherheit würden auch noch Tests in anderen Fächern auf sie zukommen… »Schule stinkt«, stellte sie murmelnd fest. Im nächsten Moment wurde es dunkel in ihrem Zimmer. Camille keuchte auf. »Was…« Sie hielt die Luft an. War irgendwas zu hören, konnte irgendjemand in ihrem Zimmer sein? Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Es war vollkommen still. Vorsichtig bewegte sie die Hand zum Lichtschalter und legte ihn um. Nichts. Sie versuchte es noch einmal. Das Dunkel blieb. Ruckartig setzte sie sich auf, sie sprang aus dem Bett und war mit zwei Sätzen im Flur. Zitternd erschien sie im Türrahmen des Nebenzimmers, in dem ihr Vater gerade ihrer kleinen Schwester eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas. »Papa«, sagte sie heiser. »Mein Licht ist ausgegangen.« Er drehte sich zu ihr um. »Was?« »Mein Nachtlicht. Ist plötzlich aus.« »Achso. Na ja, wahrscheinlich ist die Birne durchgebrannt. Ich guck gleich mal nach.« Damit wandte er sich wieder dem Buch zu. Camille seufzte. Sie ging zurück vor ihr Zimmer und betätigte den Schalter für die Deckenlampe. Dunkelheit. Das ist kein Zufall, sagte prompt jemand. »Doch«, erwiderte Camille laut. »Natürlich ist es einer.« Sie setzte sich in eine Ecke des Flurs und winkelte die Beine an. Nur ein paar Lampen durchgebrannt… Gleichzeitig. Abends. Das hatte nichts zu sagen, so etwas kam nun mal ab und an vor. Kein Grund zur Besorgnis. Ihr Vater trat aus Lauras Zimmer und legte den Kopf schief. »Hast du schon wieder Angst davor?« Camille nickte wortlos. Ihr Vater zuckte mit den Schultern und schlenderte in ihr Zimmer. Ihre Stimmen schrien nach Vorsicht. »Na ja«, sagte er. »Kein Problem. Wenn ich morgen in den Baumarkt fahr, sind die ganz schnell ausgewechselt. Hast du ’ne Taschenlampe?« »Glaub schon«, murmelte Camille. Einige Minuten später warf ihre alte abgebrochene Fahrradlampe ihren roten Schein an die Zimmerdecke. Camille beobachtete unruhig die Schatten, die heute besonders lebendig durch ihr Zimmer zu tanzen schienen. Ihre Stimmen hatten sich beruhigt, doch die ein oder andere Bemerkung fiel noch immer. Sie machten ihr Anweisungen. Ruhig sollte sie sich verhalten, und auf keinen Fall die Augen schließen. Dass sie irgendwann von alleine zufallen würden, war schlimm genug. Weit nach Mitternacht war sie eingeschlafen. Gegen zwei Uhr trat Acer aus dem Schatten. Behutsam nahm er ihr die Fahrradlampe aus der Hand und knipste sie aus. Noch immer fiel ein schwaches Licht von der Straßenlaterne durchs Fenster, es warf ein kleines, helles Quadrat auf den Boden. Der Rest des Zimmers war vollends dunkel und still. Acer setzte sich auf die Bettkante. Ein winziges Lächeln umspielte seine blassen Lippen, während er sie musterte. Sie hatte ihre Bettdecke bis zu den Fußknöcheln hinabgestrampelt. Acer berührte sachte mit den Fingerspitzen die weiche Haut ihres Halses. Langsam beugte er sich hinunter. Während seine Fangzähne sich tief in ihre Haut bohrten, fühlte er die Empathie, die Möglichkeit ihre Gedanken in sich fließen zu spüren. Er schloss die Augen und grinste gegen ihren Hals. Camille träumte von ihm. Allerdings war sie bereits auf dem Weg hinaus aus der Traumwelt; Zeit für ihn, wieder zu verschwinden. Behutsam zog er die Zähne wieder zurück, er streifte die Bettdecke zurück bis an ihr Kinn und trat in den Schatten. Mit einem Keuchen erwachte Camille. Hektisch blinzelnd tastete sie um sich, versuchte einige Male vergeblich ihre Nachttischlampe anzuknipsen, bis ihr einfiel, dass ihr Vater die Birne herausgeschraubt hatte. Sie setzte sich ruckartig auf und griff gen Boden. Du hast die Lampe nicht ausgemacht, zischte jemand. Ist doch egal, dachte Camille. Hauptsache, sie geht jetzt an. Sie ließ den roten Lichtkegel durch ihr Zimmer gleiten. Es war niemand (sichtbar) da. Flüchtig griff sie sich mit der freien Hand an den Hals. Tatsächlich nur ein Traum, dachte sie erleichtert, als sie keine Bissspuren feststellen konnte. Acer befand sich in seinem Stammversteck hinter Camilles Schreibtischstuhl. Dort lagen ein Haufen Klamotten, Hüte und Bücher aufeinander geschmissen, wenn er sie über die Rückenlehne vorsichtig beobachtete, fiel es ihr nie auf – oder die Entdeckung wurde als Einbildung abgetan. Kapitel 3: »Denk an die Nacht.« ------------------------------- Jeathrow Peters lebte seit Jahren auf dem höchsten Hügel am westlichen Ende der Stadt – dort, wo die Sonne zuletzt unterging. In letzter Zeit plagten ihn schreckliche Kopfschmerzen. Jedes Mal, wenn er nach einem weiteren Aspirin vor dem runden Badezimmerspiegel stand und seine immer schwärzer werdenden Augenringe betrachtete, wurde ihm die Bedeutung dessen bewusster. Es passierte erneut. Sie wurden wieder stärker. Stärker als alle Menschen zusammen, erneut würde sie niemand aufhalten können. Erneut würde die Menschheit den Atem anhalten und warten müssen. Ob er es dieses Mal wieder überleben würde – ob ein Mensch in seinem Leben so viel Glück haben konnte – war fraglich. Im Wohnzimmer brannten die Deckenlampe, drei Leselampen, zwei Kerzen, fünf Teelichter und ein warmes Feuer im Kamin. Wieder einmal brütete Jeathrow über einem dicken Geschichtsband, jedoch schwand seine Konzentration mit jeder Minute mehr. Trotz des vielen Lichts war nicht zu übersehen, dass der Tag sich dem Ende neigte, dass die Röte des Sonnenuntergangs bald der Dunkelheit weichen würde. Seufzend klappte Jeathrow das Buch zu. Er stand auf, legte es zurück ins Regal und trat vor das riesige Panoramafenster. Ein stechender Schmerz zog sich durch seinen Rücken. »Du wirst alt, Jet«, murmelte er. Wie jeden Abend musterte er noch einmal kurz den glühenden, sich dem Horizont nähernden Feuerball, bevor er sich umdrehte um ins Schlafzimmer zu schlendern. Jeathrow zuckte zusammen. »Acer«, keuchte er. Der Vampir stand breit grinsend mit den Händen tief in den Hosentaschen vergraben im hinteren Teil des Wohnzimmers – dort, wo die letzten Sonnenstrahlen nicht mehr hinfielen. »Tut mir leid, dich so zu erschrecken, Jeathrow«, sagte er in seiner leisen, trügerisch höflichen Art. »Dein altes Herz macht das nicht mehr mit, was?« Jeathrows Augen tasteten hektisch den Raum nach einer geeigneten Waffe ab. »Was willst du?« Acer zuckte mit den Schultern. Er atmete tief ein, während er das kleine schattige Rechteck entlang schlenderte. »Ich war lange nicht mehr vor der Dunkelheit draußen. Während es Untergangs der Sonne ist die Welt noch viel wärmer…« »Komm zum Punkt«, knurrte Jeathrow. Acer schmunzelte und sah ihn an. »Du hast dich kaum verändert seit unserem letzten Zusammentreffen. Einige Falten sind tiefer geworden… Und du siehst müde aus, du solltest mehr schlafen. Oder…« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen, das seine Fangzähne entblößte. Mit einem altbekannten Anflug von Ekel stellte Jeathrow fest, dass Blut an ihnen klebte. »Traust du der Dunkelheit nicht mehr?« Jeathrow beschloss, ihm diese Frage nicht zu beantworten. »Du hast dich auch nicht verändert«, sagte er stattdessen. »Aber ich schätze, das wird auf ewig so bleiben. Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du hier willst.« Das Grinsen wich einem milden Lächeln. »Ich sehe, du hast dich ein wenig über uns schlau gemacht. Dann solltest du allerdings wissen, dass wir Geschöpfe der Nacht keinen Grund brauchen, um des Abends einen Menschensohn zu besuchen.« »Willst du mir allen Ernstes erzählen, es sei ein Zufall, dass du gerade jetzt gerade bei mir aufkreuzt?« »Schon gut, schon gut.« Acer lachte. »Du hast ja recht. Ich bin tatsächlich nicht ganz ohne Vorwand hierher aufgebrochen.« Jeathrow senkte den Blick. Etwas abwesend strich er mit der rechten Hand über ein Buch auf seinem Fernsehtisch. »Es hat wieder angefangen, nicht wahr?«, fragte er leise. »Ich konnte es nicht verhindern.« Jeathrows Augen loderten wütend auf; er funkelte ihn an. »Tu nicht so, als hättest du es versucht«, zischte er. Acer hob beschwichtigend die Hände. »Unsere Kerker sind voll«, sagte er. »Auch mir wäre es lieber, würden wir unsere Pause noch etwas in die Länge ziehen. Dennoch muss ich meinem Dienst nachgehen – bevor du dich wieder erzürnst: Ja, es macht mir Spaß. – und tatsächlich ist das auch der Grund für mein hiesiges Erscheinen. Es ist wieder soweit… Und du, Jeathrow, bist Mitwissender.« Jeathrow schluckte trocken. »Das… Das bedeutet für mich…?« Acer legte den Kopf schief. »Ich kann mich leider noch nicht zu dir begeben… Also komm doch bitte her zu mir.« Jeathrow zögerte. »Ich möchte erst wissen, was mich erwartet«, sagte er heiser. Acer grinste breit. »Dein Hals ist alt, deine Haut ist faltig und zäh. Nichts für ungut, mein Lieber, aber ich werde dir keine Gefahr sein.« »Ich glaube kaum, dass Zähne deine einzige Waffe sind«, murmelte Jeathrow, begab sich dann aber doch mit etwas wackligen Beinen zu Acer in den Schatten. »Wieder richtig«, sagte er. »Ich könnte und würde dir noch einiges mehr antun, doch das ist nicht meine Aufgabe. Nicht jetzt.« »Was dann, was in aller Welt willst du denn von mir?« Acer seufzte. »Der letzte Ausbruch der Dunkelheit ist kaum ein paar Jahrzehnte her. Du bist Zeitzeuge. Die Opfer des jetzigen Ausbruchs werden eventuell versuchen, dich zurate zu ziehen. Und ich empfehle dir, in diesem Falle zu schweigen.« »Ach…« Jeathrow grinste langsam. »Ihr bittet mich, die Klappe zu halten?« Etwas sarkastisch erwiderte Acer sein Grinsen. »Nein«, sagte er trocken. »Es ist keine Bitte. Es ist, wie gesagt, eine Empfehlung. Ich weiß nicht, wie es mit deinem Gehirn steht, alter Mann, jedoch hoffe ich, dass du noch weißt, wie unsere Strafen ausfallen.« Das Grinsen verschwand augenblicklich aus Jeathrows Gesicht. Eine starke Hand umklammerte langsam seine Eingeweide. »Verstehe«, murmelte er. »Gut«, sagte Acer, dessen Mundwinkel sich noch weiter gehoben hatten. Er klopfte Jeathrow auf die Schulter und kehrte ihm den Rücken. »Vielleicht sehen wir uns ja trotzdem irgendwann wieder.« »Hoffentlich nicht«, erwiderte Jeathrow. Er spürte das starke Verlangen, Acer zu Boden zu treten. Acer drehte den Kopf und sah ihn über die Schulter an. »Leb mal wieder ein bisschen auf«, sagte er leise. »Du hast nicht mehr lange, bis es für dich endgültig dunkel wird. Glaube mir.« »Aufs Wort. Verzieh dich, Vampir.« Erneut entblößte Acer seine blutigen Zähne. »Vergiss mein nicht, Mensch. Vergiss nie, wer lauert, wenn du dich schlafen legst. Genieße den Tag, aber vergiss das nie. Denk an die Nacht. Ihr entkommt niemand.« Er tat einen Schritt und war verschwunden. Jeathrow blickte hinab auf seine Arme, über die sich – wie er bitter feststellte – eine Gänsehaut gezogen hatte. »Er schwang schon immer gerne Reden«, murmelte er. Seufzend hob er den Blick zum Fenster. Die Sonne war zur Hälfte hinter den weit fernen Kornfeldern verschwunden. Jeathrow löschte die Lampen und Teelichter, die Kerze nahm er mit in sein Schlafzimmer. In dieser Nacht lag er noch lange wach. Der Wind heulte um sein Haus und rüttelte an den morschen Fensterläden. Es war seit Jahren – seit einigen Jahrzehnten – das erste Mal, dass er es nicht mehr wagte die Augen zu schließen. Stundenlang lag er im Dunkel und erinnerte sich. Er und seine Freunde waren ein unschlagbares Team gewesen… William Kidner, der viel öfter Billy the Kid gerufen worden war… Und natürlich Lionel »Groar« Durst. Er selbst war der Düsenjet gewesen – der Flinke. Jeathrow gab in seinem finsteren Schlafzimmer ein schnaubendes Lachen von sich. Heute war er alles andere als flink. Erneut fragte Jeathrow sich, wieso er keinen Kontakt mehr zu den beiden hatte. Nach dem Ende hatten sie sich nie mehr gesehen… Groar war weggezogen und Billy war einfach plötzlich weg gewesen… Was war aus ihnen bloß geworden? Gut eine Woche später hatte er es geschafft, Groars Adresse ausfindig zu machen. Seine Finger zitterten, als er die Nummer wählte. »Durst?« Eine sehr betagt klingende Frau meldete sich am anderen Ende. »Guten Tag«, sagte Jeathrow etwas zögerlich. »Mein Name ist Jeathrow Peters, ich – ähm – bin ein alter Schulfreund von G-… Von Lionel. Ist er da?« In der Leitung war es kurz still. »Wer ist da gleich?« »Jeathrow Peters, Lionel hat früher hier gelebt und war mit mir –« »Lionel ist tot.« »Lionel ist… Lionel Durst?« »Ja. Er ist vor einigen Wochen gestorben.« »Oh… Oh.« Jeathrow tat einige Schritte zurück und ließ sich in einen Sessel fallen. »Das tut mir leid, ich wusste nicht…« »Schon gut. Schon gut. Wir können nichts mehr daran ändern.« Jeathrows Blick wanderte zur schattigen Zimmerecke ihm gegenüber. »Entschuldigen Sie«, sagte er langsam. »Ist es zu anmaßend, wenn ich nach der Ursache frage?« »Herzstillstand«, sagte die Frau knapp. »Nachts, im Schlaf.« Jeathrow bezweifelte diese Diagnose sofort. Etwas in ihm sagte ihm zwar, dass es eine doch sehr paranoide Annahme war, doch allein die Tatsache, dass Groar nachts (im Dunkeln) verstorben war, löste bei ihm den alten Alarm aus. »Mein herzliches Beileid«, sagte er. »Danke. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie ein Freund waren, hätte ich Sie zur Beerdigung eingeladen.« »Das macht nichts«, sagte Jeathrow leise, der sich allmählich immer müder fühlte. »Danke für die Auskunft.« »Kein Problem. Einen schönen Tag noch.« »Ja, Ihnen auch.« Jeathrow ließ sein neues schnurloses Telefon auf den Boden fallen und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Lionel »Groar«, der Löwe, tot… Erinnerungen sausten durch seinen Kopf, Wasserschlachten am (roten blutroten) Fluss, gemeinsame verstohlene Blicke in die Mädchenumkleide (vorbei), Furzkissen auf dem Stuhl ihrer Lehrerin (Groar tot), Wettrennen (nachts in tiefster Dunkelheit) zu Billy the Kids Haus, die Jeathrow Düsenjet (er am Leben Groar tot) natürlich immer gewonnen hatte – doch am Ende jeder Erinnerung tauchte immer wieder eines auf. Es. Immer wieder Es. An welch spaßige Erlebnisse er auch zurückdachte, ständig tauchte Acers grinsendes Gesicht am Ende von ihnen auf. Dann der Schatten. Der Schatten. Es. Kapitel 4: Ereignisse --------------------- Der Tag, an dem Juliet verschwand, war ein frostiger, sonnenarmer Frühlingsbeginn. Ein Montag. Camille und Jan hatten am Abend zuvor noch bis in die Nacht hinein miteinander telefoniert; sie standen an diesem Morgen entsprechend müde am Schultor. Camille gähnte gerade ausgiebig, als ein Kiesel sie im Genick traf. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Jan stieß einen äußerst unsittlichen Fluch aus. Er und Camille blickten in das breit grinsende Gesicht von Alex Lager, einem Jungen aus ihrer Klasse. Als Camille umgezogen war, hatte er sich aus Gründen, die den beiden völlig unklar waren, entschlossen, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Jan, der sich schnell mit ihr angefreundet hatte, hatte dies natürlich verhindern wollen, was bloß zur Folge hatte, dass Alex ebenso auf ihn losgegangen war. »Du sollst nicht mit Sachen werfen, die größer sind als dein Gehirn, Wichserchen«, brummte Jan. »Dann hat er aber eine sehr kleine Auswahl«, murmelte Camille, während sie die getroffene Stelle an ihrem Nacken rieb. »Klopft doch keine dummen Sprüche, ihr Freaks. Verzieht euch lieber, seid doch woanders unnormal.« »Erstens heißt das anormal«, sagte Jan, »und zweitens – wenn du der Schulleitung das erklären kannst, nur zu, wir würden nur zu gern legitim nicht zur Schule gehen.« Alex lachte höhnisch. »Anormal, legitim«, wiederholte er. »Lernst du solche Wörter von deiner Streberfreundin da?« Camille hob seufzend die Augenbrauen. »Anormal und legitim sind Wörter, die in jedem deutschen Sprachgebrauch vorhanden sein können… Vorausgesetzt, man ist kein dreckschleudernder Flachwichser.« »Ich seh’ keinen«, sagte Alex trocken und blickte sich gespielt suchend um. »Tja«, machte Jan und wandte sich zum Gehen. »Wir schon.« Camille drehte sich ebenfalls um, da traf sie erneut ein Stein – diesmal direkt am Hinterkopf. Sie schrie auf und drehte sich zurück. »Au, Scheiße, du Arschloch! Lass deine Komplexe doch an etwas aus, das seinen Kopf nicht mehr braucht!« Wieder grinste Alex dümmlich. »Du brauchst deinen Kopf?« »Ja«, fauchte Camille und betastete ihren Hinterkopf. »Manche Menschen brauchen den, schließ nicht immer von dir auf andere. Mann, das gibt ’ne Beule…« Jan klopfte ihr auf die Schulter. »Gehen wir rein«, sagte er leise. »Der hat’s nicht verdient, dass wir uns wegen so was jetzt noch mehr mit ihm befassen. Wenn du willst, gehen wir petzen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mal sehen. Je nach dem, wie groß die Kopfschmerzen werden…« Alex setzte an, noch etwas zu sagen, als er seinen Namen hörte. Er drehte sich um. »Häh?« »Oh…« Jan gluckste. »Sieh mal. Wichserchens Mutter. Wenn wir Glück haben, kriegt er Anschiss.« Camille schüttelte leicht den Kopf. »Glaub nicht. So verwöhnt wie der ist…« Dennoch ließen sie es sich nicht nehmen, die beiden zu beobachten. Vom Gespräch konnten sie kein Wort verstehen, doch als sie bemerkten, wie Alex’ Gesichtszüge immer besorgter und niedergeschlagener wurden, konnten sie sich die Schadenfreude nicht verkneifen. Beim Klingeln der Schulglocke trugen beide ein breites Grinsen auf den Gesichtern. Alex erschien während des gesamten Vormittags nicht im Unterricht. Er irrte mit seiner Mutter durch die Stadt, auf der Suche nach seiner drittjüngsten Schwester Juliet. Er war der einzige der Familie, der dabei helfen konnte: Sein Vater konnte sich wieder einmal nicht von der Arbeit losreißen, seine beiden älteren Geschwister studierten jeweils in verschiedenen Städten und die Zwillinge waren noch zu jung um »Juliet« überhaupt auszusprechen. Somit waren er und seine Mutter bei ihrer Suche auf sich allein gestellt. Am späten Nachmittag kehrten sie erschöpft und frustriert von der Polizei nach Hause zurück. Der zuständige Beamte hatte ihnen versprochen, eine Vermisstenanzeige aufzugeben – sobald Juliet länger als zwei Tage verschwunden war. Nachdem Alex seiner Mutter auch beim dritten Heulkrampf beigestanden hatte, verspürte er das dringende Bedürfnis jemanden zu verprügeln. Er musste schleunigst den Kopf freibekommen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, da hatte er schon ein potenzielles Opfer gesichtet. »Remys kleiner Bruder…«, murmelte er und begann leicht zu grinsen. Wie war noch gleich sein Name? Er meinte, den Freak ihn einmal Matt rufen gehört zu haben. Der kleine Matthew radelte pfeifend durch den Häuserblock. Ein seliges Lächeln umspielte sein blasses Gesicht, er hing seinen Gedanken nach. »Hey!«, rief Alex. Er würde warten, bis Matt direkt an ihm vorbeifuhr. »Hey, Kleiner!« Matt, aus seinen Phantasien gerissen, sah sich etwas verwirrt um. »Hey, Matt, hier bin ich!« Er kreuzte Alex’ Weg und er packte die Gelegenheit beinahe buchstäblich beim Schopf. Er griff Matt an den Oberarmen und zerrte ihn vom Sattel. Nach einem Augenblick der Überraschung begann Matt zu zappeln und zu schreien, doch Alex war geübt. Er zog ihn mit sich in die kleine Gasse zwischen dem leerstehenden Nachbarhaus und dem seinen, trat ihm die Beine vom Boden und stemmte sein Knie in seinen Brustkorb. Matt keuchte kurz auf, ließ sich jedoch nicht davon abbringen weiterhin um Hilfe zu schreien. Alex’ Faust traf wuchtig auf sein Gesicht. Matt verstummte einen Moment lang. »Lass mich in Ruhe«, sagte er heiser. Alex schüttelte bloß den Kopf und schlug erneut zu. Wieder schrie Matt auf, doch diesmal schlug er zurück. Zwar bereitete ihm die kleine Faust auf Alex’ Nase kaum Schmerzen, doch sie kochte die Wut und Frustration noch höher. Er entfernte das Knie aus Matts Brustkorb und schlug ihm in den Magen; als der Junge versuchte sich aufzurichten, brachte ihm dies bloß einen weiteren Faustschlag ins Gesicht ein. Aus seiner Nase schoss Blut, Matt begann zu weinen. Alex holte zum nächsten Treffer aus, doch im gleichen Augenblick packte ihn jemand von hinten am Kragen und zog ihn weg. Alex hielt sofort still, beinahe instinktiv begann er sich den Kopf nach einer plausiblen Ausrede zu zermatern. »Mach, dass du hier wegkommst und vergreif dich nie wieder an Jüngeren«, sagte eine müde Stimme hinter ihm. »Am besten an niemandem mehr. Sei froh, wenn du keine Klage an den Hals bekommst.« Alex riss sich los und lief ohne ein Wort davon. »Und das nächste Mal entschuldigst du dich!« Der Mann schüttelte den Kopf und zog Matt behutsam an den Oberarmen auf die Beine. »Tut dir irgendwas weh?«, fragte er leise. »Mein Gesicht«, schluchzte Matt. »Meine Nase tut so weh.« Der Mann seufzte schwer, tiefes Bedauern breitete sich auf seinem zerfurchten Gesicht aus. »Eventuell ist sie gebrochen. Soll ich dich nach Hause bringen?« Matt wischte sich mit dem Handrücken Blut von der Lippe und schüttelte den Kopf. »Da ist niemand, meine Mutter arbeitet… Und mein Bruder ist bei seiner Freundin, glaube ich.« »Okay… Pass auf, ich nehm dich schnell mit zu mir, wir sehen nach deiner Nase und dann rufen wir bei der Freundin deines Bruders an. Klingt das gut?« Matt nickte vorsichtig. »Danke«, nuschelte er. »Ist doch selbstverständlich. Da hinten steht mein Auto, ich komm gerade vom Einkaufen. Wie heißt du denn?« »Matthew Remy«, antwortete Matt und griff vorsichtig nach der Hand des alten Mannes, als dieser losging. Er selbst war noch unsicher auf den Beinen. »Matthew Remy«, wiederholte er. »Ein schöner Name. Ich bin Jeathrow Peters.« »Auch schön«, sagte Matt leise. Jeathrow Peters lachte kurz. »Danke sehr.« Dann half er ihm auf den Beifahrersitz, schnallte ihn an und setzte sich ans Steuer. Als Matt bemerkte, dass sie sich immer weiter dem Stadtrand mit seinen verwachsenen und eher menschenleeren Hügeln näherten, wurde er etwas unruhig. Immerhin hatten seine Mutter und Jan ihn mehrmals daran erinnert, dass er nicht einfach zu fremden Leuten ins Auto steigen sollte. Doch seine Nase schmerzte noch immer so entsetzlich, und dieser Mann mit dem schwierigen Namen wollte ihm schließlich nur helfen, oder? Dennoch wuchs seine Nervosität, von plötzlicher Hektik gepackt sah er sich im Auto um. »Wo wohnen Sie denn?«, fragte er zaghaft. »Gleich dahinten, am Hügel«, antwortete Jeathrow und musterte ihn. Er schien ihm seine Sorge von den Augen abzulesen. »Keine Angst«, lächelte er. »Wir sind gleich da, dann rufen wir sofort bei dieser Freundin an, damit du so schnell wie nur möglich zu deinem Bruder kannst. Ich will dir schon nichts Böses.« Seine alte, fast sachliche Stimme beruhigte Matt ein wenig. »Tut deine Nase noch weh?« »Ja«, sagte Matt und drückte Jeathrows Taschentuch fester gegen seine noch immer Blut ausströmenden Nasenlöcher. »Ziemlich.« »Hm, ach Scheiße«, sagte Jeathrow. »Entschuldigung. Was wollte dieser Junge denn von dir?« »Weiß ich nicht«, murmelte Matt. »Ich kenn den gar nicht. Hat mich einfach überfallen und… Mein Fahrrad liegt ja noch da hinten!« »Oh«, machte Jeathrow. »Das kannst du nachher mit deinem Bruder noch holen. In der Gegend klaut das bestimmt niemand.« Das Auto stoppte und sie stiegen aus. »Wie heißt denn die Freundin?« »Camille…« Matt versuchte sich an den Nachmittag zu erinnern, an dem sie und Jan ihn von Doc abgeholt hatten. »Camille Spencer. Spencer. Glaub ich.« »Gut.« Jeathrow schloss die Tür hinter ihm und fischte ein Telefonbuch aus dem Regal. »Dann haben wir sie gleich erreicht. Setz dich einfach irgendwo hin, auf dem Tisch liegen frische Taschentücher, wenn du welche brauchst.« Erleichtert, keinem Kinderschänder in die Hände gefallen zu sein, ließ Matt sich auf ein Sofa fallen. Er zog sich ein neues Taschentuch aus der Packung auf dem Couchtisch und beobachtete Jeathrow dabei, wie er vor sich hinmurmelnd im Telefonbuch blätterte. »Ah, Spencer, da haben wir’s ja.« Matt hörte das Tuten der Tasten und kurz darauf eine gedämpfte Stimme aus dem Hörer. »Ja, guten Tag«, begann Jeathrow, »mein Name ist Jeathrow Peters, ich habe hier einen Matthew Remy sitzen, dessen Bruder bei Ihrer Tochter sein soll.« Er sah auf. »Wie heißt er denn, dein Bruder?« »Jan.« »Jan«, wiederholte Jeathrow in den Hörer. »Ein Jan Remy bei Ihrer Tochter Camille, könnte das sein? … Danke. Ich leite ihn dann an Matthew weiter. Ja.« Er reichte ihm den Hörer. Matt schniefte erneut und versuchte, nicht allzu kaputt zu klingen. »Jan?« »Hey Matt, was ist passiert?« Die Sorge in seiner Stimme war dennoch nicht zu überhören. »Irgend so ein Typ wollte mich verprügeln«, antwortete Matt und spürte, wie ihm gegen seinen Willen die Tränen in die Augen stiegen. »Herr Peters konnte ihn vertreiben, aber vielleicht ist meine Nase gebrochen.« »Jet«, sagte Jeathrow leise. »Jet ist schon in Ordnung.« »Fuck«, kam es von Jan. »Geht’s dir sonst gut, hat er dir irgendwas genommen, gesagt wie er heißt?« »Nein«, sagte Matt zögerlich. »Ich glaube, er hat mir nichts weggenommen. Mein Gesicht tut so weh, Jan…« »Das kriegen wir wieder hin, mach dir keine Sorgen. Du weißt nicht wer das war?« »Nein. Ich kannte den nicht.« »Okay. Wo bist du jetzt?« »Irgendwo ganz weit hinten, ich –« »Will er die Adresse wissen?«, fragte Jeathrow. Matt nickte. »Dann gib her, ich sag sie ihm.« Er teilte Jan seine Adresse mit und legte kurz darauf auf. »Er und seine Freundin kommen mit dem Bus hierher und holen dich ab«, sagte er. »Dann könnt ihr mit deiner Nase zum Arzt.« Matt kicherte bei der Vorstellung wie Camille, Jan und er mit seiner Nase an einer Leine in die Arztpraxis marschierten, und nickte. »Vielen Dank, Herr… Jet.« »Ist doch kein Problem. Hör zu, Matthew, wenn dir dieser Junge noch einmal etwas antun will, dann lauf so schnell du kannst zum nächsten Haus und ruf von dort die Polizei an. Man darf nicht einfach rumlaufen und Kinder verprügeln, das ist nicht in Ordnung.« Erneut nickte Matt. »Willst du etwas trinken, während wir auf die beiden warten?« Matt, der inzwischen sein Taschentuch in zwei Hälften gerissen, jeweils zusammengeknüllt und in seine Nasenlöcher gestopft hatte, zuckte mit den Schultern. »Wenn du O-Saft hast… Dann hätte ich gern welchen, jap.« Grinsend nickte Jeathrow, stand auf und schlenderte in die Küche. Als er mit zwei Gläsern Orangensaft wiederkam, hatte er die Ärmel seines Pullovers hochgekrempelt. Matthew nahm sein Glas entgegen, da blieb sein Blick an Jeathrows Unterarm hängen. Zwischen all den schwarz-braunen Haaren konnte er blass eine Narbe erkennen, die ihm selbst durchaus geläufig war. Hastig stellte er das Glas auf dem kleinen Tisch vor sich ab und tastete mit beiden Händen seinen Nacken ab. Dort, auf der linken Seite, war sie, er konnte sie noch deutlich fühlen – seine eigene Narbe. Sie bestand aus einem O, in dem sich ein S schlängelte, der knochige Dinosaurierreiter hatte ihm erklärt, wofür das stand: O und S waren der erste und der letzte Buchstabe von Obscuritas, dem lateinischen Wort für Dunkelheit. Jeathrow hob eine Augenbraue. »Ist alles in Ordnung?« Durch Matts Kopf raste der Gedanke, dass er diesem Mann nicht zu viel – oder am besten gar nichts – verraten sollte, doch dann platzte es dennoch aus ihm heraus: »Dich haben sie also auch geholt!« Einen Moment lang starrte Jeathrow ihn schweigend an. »Was meinst du?«, fragte er dann leise. »Du hast die Narbe am Arm, die Narbe, die man bekommt wenn sie einen holen. Kennst du auch den Vampir?« Wieder brauchte Jeathrow einige Zeit um zu antworten. »Woher weißt du vom Mal?« »Ich hab’s auch«, sagte Matt eifrig, seine um Stille brüllende Vernunft ignorierend. Dieser Mann war erwachsen, er war sogar alt, und er schien ihn ernst zu nehmen, er wusste von den Erlebnissen, die die Dunkelheit Menschen antat. Er musste mit ihm darüber ins Gespräch kommen. Er drehte sich auf dem Sofa halb um und strich ein paar seiner Haare im Nacken nach oben. »Siehst du’s?« »Matt«, sagte Jeathrow heiser. »Matt, Matt. Ich… Ja, ich seh’s. Wann war das, wann ist dir das passiert?« Er drehte sich wieder zurück. »Weiß ich nicht mehr so genau. Vor ein paar Monaten.« »Was, so lang her ist das schon?« »Ja, es war … es war im Sommer, also vor vier oder fünf Monaten… oder so.« »Oh nein… Ich wusste nicht, dass sie schon so lang wieder aktiv sind«, murmelte Jeathrow. »Wie lang ist es denn bei dir her?« Er rieb sich flüchtig über den Unterarm und sah beiseite. »Jahre. Lange Jahre. Da gab es dich noch gar nicht. Es ist wirklich ewig her… Und ich hatte nicht erwartet, dass sie noch einmal wiederkommen, bevor ich sterbe. Wie furchtbar naiv von mir.« »Sie sind mal weggegangen?« »Ja, sie sind nicht immer aktiv. Es hat 1950 wieder einmal angefangen, da war ich kaum ein paar Jahre älter als du jetzt. Meine Freunde und ich haben damals versucht uns zu wehren, konnten sie uns dann eine kurze Zeit lang fernhalten. Nun ja, dreißig Jahre später traf uns ihre Rache in vollem Maße.« Matts Gesichtszüge verdunkelten sich ein wenig. »Sie sind nicht aufzuhalten?« Nachdenklich zeichnete Jeathrow mit dem Zeigefinger Kreise auf die Armlehne seines Sessels. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er langsam. »Vielleicht sind wir es damals einfach falsch angegangen. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit.« »Weißt du eine?« Jeathrow schmunzelte. »Nein. Ich weiß keine. Und selbst wenn ich eine wüsste, Matt, das wäre nichts für dich. Wenn du möchtest, kann ich mich bei dir melden, falls mir etwas einfällt, aber du mischst da bitte nicht mit. Du bist so jung, du hast zu viel zu verlieren. Lass den alten Mann das mal machen, in Ordnung?« Matt zuckte bloß mit den Schultern; es klingelte. »Das wird dein Bruder sein… Geh mit ihm zum Arzt und dann erzähl ihm von diesem Jungen, beim nächsten Mal zeigt ihr ihn an.« Jeathrow erhob sich langsam und schlenderte zur Tür. »Tut deine Nase denn jetzt noch weh?« »Nur ein bisschen, nicht mehr so viel wie davor«, antwortete er. Sein Gesicht hellte sich augenblicklich auf, als er Jan und Camille im Türrahmen sah. Jan stürzte zu ihm und ging vor dem Sofa auf die Knie. »Wie geht’s dir, Kleiner?«, fragte er hastig. »Kannst du aufstehen, kannst du laufen?« Matt nickte und wurde im nächsten Moment dennoch von seinem großen Bruder auf den Arm genommen. Camille war im Türrahmen stehen geblieben. Etwas teilnahmslos ließ sie den Blick schweifen. »Bist du die Freundin?«, fragte Jeathrow. Sie zuckte leicht zusammen, sah auf und nickte. »Danke, dass Sie sich um ihn gekümmert haben«, murmelte sie. »Echt nett.« »Ist doch kein Problem. Ihr könnt mich ruhig alle duzen.« »Er heißt Jet«, sagte Matt, der sich sichtlich wohl in Jans Armen fühlte. Er zupfte zufrieden am Stoff seines T-Shirts. »Und er hat den Typen sofort vertrieben.« Camille legte den Kopf schief. »Du bist sicher, dass du ihn nicht kanntest, Matt?« »Ich glaube, ich hab ihn schon mal gesehen. Aber ich wusste nicht, wer das war, mh-mh.« »Also, eigentlich hab ich ja schon einen Verdacht«, nuschelte Jan düster. Camille nickte. »Alex.« »Jaah. Na ja, wir wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Aber so wie ich den kenn, erzählt er uns morgen selbst alles ganz stolz, wenn er es wirklich war.« Jeathrow hob eine Augenbraue. »Also gut… Ihr scheint gut klar zu kommen, vielleicht solltet ihr jetzt erst einmal zum Arzt.« »Mit meiner Nase«, kicherte Matt leise. Wenige Momente später schloss Jeathrow die Tür hinter ihnen. Er seufzte tief, taumelte einige Schritte zurück und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. Sein Kopf fühlte sich an, als wolle er platzen. Gerade hatte er die Augen geschlossen um ein wenig zu dösen, da klingelte das Telefon. Jeathrow fluchte gedrückt und fragte sich abermals, warum er sich so etwas überhaupt angeschafft hatte. Grummelnd hob er ab. »Peters?« »Jet?« Er stockte. »Wer ist da?« »Ich bin’s. Billy.« »Nein… Wehe hier verarscht mich jemand – Billy the Kid?« Die alte Stimme am anderen Ende lachte heiser. »Ja, verdammt. Ich verarsch dich nicht, ich bin’s wirklich.« »Wo bist du? Ich hab versucht dich zu finden, aber –« »Ich bin in der Stadt, in irgend so einem schäbigen Hotel. Komm bitte vorbei. Der Blutsauger war bei mir.« »Ja. Ja, bei mir auch. Wo warst du die ganze Zeit, Junge?« »Erzähl ich dir später. Ich will das jetzt nicht am Telefon erklären. Das Teil hier heißt ›Zur alten Geige‹ oder so.« »Ja, gut. Ich weiß, wo das ist, ich komm vorbei.« »Hast du schon von Groar gehört?« »Jaah… Hab ich…« »Herzstillstand.« Billy schnaubte. »Von wegen. Der Blutsauger hat von ihm gesprochen, weißt du.« Jeathrows Herz setzte einen Schlag aus. »Hat er? Tatsächlich?« »Ja, ja. Er war gestern nacht hier bei mir im Zimmer und mal wieder völlig in seinem Element. Hat gequatscht wie ’n Wasserfall.« Ein Anflug von Nostalgie überkam Jeathrow. Das war Billy the Kid pur. Es war schon damals so gewesen, immer hatte es so geschienen, als könne Billy nichts ernst nehmen. Immer schon hatte er sich liebend gern über alles und jeden lustig gemacht, je brenzliger die Situationen, desto sarkastischer waren seine Bemerkungen geworden. »Ich komm vorbei«, sagte er schmunzelnd. »Schön, bis dann. Ich bin dir ein paartausend Erklärungen schuldig.« Kapitel 5: Billy the Kid ------------------------ Alex hatte sich derweil ein anderes Opfer gesucht. Diese Punkgöre aus seiner Parallelklasse war ihm schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Ihr richtiger Name war Samantha Josephine Parker, doch sie nannte sich selbst Sammy-Joe. Wahrscheinlich kam sie sich unglaublich cool vor mit ihren schwarzen Shirts und den Nietenarmbändern. Dabei hatte sie Sommersprossen – und rote Haare! Alex hasste Leute mit Sommersprossen. Mädchen mit roten Haaren waren ebenfalls schlimm. Beides zusammen, dann auch noch an jemandem, der diese ekelhafte Musik hörte… Dieses Mädchen gehörte eindeutig verprügelt. Er fand Sammy-Joe auf der Stadtmauer. Allein saß sie dort mit dem Rücken zu Alex, baumelte mit den Beinen und spielte geistesabwesend einige Akkorde auf einer Gitarre. Breitbeinig blieb er stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ey, Parker!« Augenblicklich ließ sie die Schultern hängen und seufzte. »Was?«, sagte sie schroff, ohne sich umzudrehen. »Komm runter zu mir, ich glaub, du brauchst Schläge!« Nach einem kleinen Moment drehte Sammy-Joe den Kopf zu ihm. Alex glaubte es kaum, doch sie grinste. »Hast deine Schwester nicht gefunden, hm? Frustrierend, kann ich mir vorstellen. Aber kein Grund gleich die ganze Stadt verhauen zu wollen.« Alex runzelte die Stirn. »Wer hat dir gesagt, dass meine Schwester weg ist?« Sie zuckte bloß mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer Gitarre zu. »Hey!«, brüllte Alex. »Sag mir sofort, wo sie ist!« Sammy-Joe lachte. »Ich hab nicht gesagt, dass ich das weiß. Außerdem würdest du es mir nicht glauben.« »Sag – es – mir«, knurrte er. »Oder ich schlag dich grün und blau!« »Machst du doch sowieso, oder? Aber na gut, ich kann es dir ja sagen. Es hat sie geholt, Alex. Deine Schwester ist jetzt bei Ihm. Und sie kommt nur wieder, wenn wir alle verdammt viel Glück haben.« Alex packte sie am Shirt und zog sie von der Mauer. Ein erschrockenes Keuchen entwich ihrer Kehle, als sie mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug. »Hör auf, so ’ne Scheiße zu reden«, zischte er. »Verarschen kann ich mich auch alleine! Weißt du, wo sie ist, oder nicht?« Sammy-Joe kniff sichtlich gequält ein Auge zu. »Ich hab es dir ja gesagt, du glaubst mir nicht. Ich weiß wo sie ist, aber du würdest es nicht einmal verstehen, wenn du es versuchen würdest.« Alex sah einen Moment lang so aus, als dächte er nach, dann schüttelte er den Kopf. »Fotze«, brummte er. Er entriss ihr die Gitarre und schleuderte sie achtlos über seine Schulter. Sammy-Joe setzte sich ruckartig auf. Sie starrte auf den Punkt, auf dem ihr langjähriger bester Freund aufgeprallt war, drehte den Kopf zu Alex und verengte die Augen zu lodernden Schlitzen. »Du hast meine Gitarre zerstört«, sagte sie leise. »Du hast meiner Gitarre den Hals gebrochen, du elender Bastard…« Alex grinste breit. »Hast du nicht besser verdient. Du kannst doch eh nicht spielen, das klingt alles widerlich.« Sammy-Joe gab einige unverständliche Flüche von sich, dann rammte sie Alex ihren Ellenbogen ins Gesicht und sprang auf. Sie ging einige Schritte und fiel vor ihrer zerschmetterten Gitarre auf die Knie. »Das war ein Geburtstagsgeschenk, du Wichser«, murmelte sie. »Die ist vier Jahre alt. Du Wichser, du verdammter Wichser…« Alex hatte sich mittlerweile von ihrem Schlag erholt. Mit einer Hand an seiner schmerzenden Nase stand er nun hinter ihr und funkelte bedrohlich auf sie herab. Was war das nur für ein Tag, an dem man niemanden verprügeln konnte ohne dass ich irgendjemand dagegen wehrte? Seine freie Hand packte Sammy-Joes Haare unterhalb ihres schwarzen Basecaps, er ging in die Hocke und donnerte ihr Gesicht auf den Korpus der Gitarre. Sie zuckte zusammen, Saiten und Holzsplitter drückten gegen ihre Haut und hinterließen rote, bald blutende Striemen, während Alex ihren Kopf immer wieder hin und her drehte. Sammy-Joe zappelte und schlug nach ihm, doch jedes Mal wenn sie ihn traf, zog er sie an den Haaren kurz hoch und rammte ihr Gesicht danach noch heftiger zurück ins berstende Holz. Als ihre Wut- und Schmerzensschreie so laut wurden, dass Alex fürchten musste, ihr würde jemand zu Hilfe eilen, ließ er sie los. Er richtete sich auf und wich einige Schritte zurück. Zitternd und keuchend kniete Sammy-Joe vor ihrer Gitarre, die Hände fest auf ihr Gesicht gepresst. »Bastard«, knurrte sie immer wieder. »Bastard, du mieser Bastard… Bastard…« Alex lachte höhnisch. »Das passiert mit Pocken wie dir, Dreckspunk«, feixte er. Nach einem kräftigen Tritt in den Rücken blieb sie reglos auf der Gitarre liegen. »Lass es dir eine Lehre sein. Du hast es nicht anders verdient.« Ihre Augen waren halb geschlossen; beinahe jeder Zentimeter ihres Gesichtes war blutüberströmt. »Ich hab dir nie etwas getan, Lager. Ich hab dir nie einen Grund gegeben meine Gitarre zu zerstören und dann damit auch noch mein Gesicht zu entstellen«, knurrte sie gedrückt. »Sag mir, warum ich es nicht anders verdient hab. Nenn mir einen vernünftigen Grund, weshalb du das tust.« Alex sah kurz gen Himmel, dann wandte er sich wieder ihr zu; er vergrub die Hände in den Hosentaschen, legte den Kopf schief und grinste breit. »Ich bin was Besseres als du«, sagte er. Mit diesen Worten schlenderte er in die nächste Seitengasse. »Das bist du nicht!«, brüllte Sammy-Joe ihm hinterher. Dann schloss sie die Augen und zog erschöpft die Gitarre unter ihrem Bauch weg. »Das bist du nicht…« Als sie es geschafft hatte, sich wieder aufzurappeln, dämmerte es bereits. Sie wischte sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht und schlurfte, die nur noch von drei Saiten zusammengehaltene Gitarre hinter sich herziehend, nach Hause. Sammy-Joe zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. »Bin wieder da«, rief sie. Keine Antwort. »Mama? Mama, ich bin wieder zuhause… Deine Tochter, weißt du«, setzte sie murmelnd hinzu. Sie schleppte sich die Treppe hoch in ihr von Rollläden verdunkeltes Zimmer. Ihre Haltung verkrampfte sich, das Holz des zerstören Gitarrenhalses knarrte zwischen ihren fester zupackenden Fingern. Der Kutscher. Er stand mitten in ihrem Zimmer. Den Zylinder hielt er in der Hand, sein langer schwarzer Mantel war aufgeknöpft, sein fahles, ausgemergeltes Gesicht zeigte puren Ernst. »Samantha«, sagte er ruhig. Sie schluckte schwer. Zitternd streckte sie eine Hand aus und tastete nach dem Lichtschalter. Der Kutscher schüttelte bloß den Kopf. »Lass es«, sagte er. »Du hast dir schon genügend Ärger eingehandelt.« »Ärger?«, wiederholte Sammy-Joe und räusperte sich, um diese unnatürliche Höhe aus ihrer Stimme zu bekommen. »Ich hab … gar nichts gemacht.« Der Kutscher schlenderte langsam im Zimmer auf und ab. »Juliet Lager«, begann er langgezogen, »ist erst heute Morgen abgeholt worden. Und schon heute Nachmittag erzählst du ihrem Bruder Alex von uns. Wir haben dich freigelassen, Samantha, unter der Bedingung, dass du in Stillschweigen verharrst.« »Er hat mir doch eh nicht geglaubt«, murmelte Sammy-Joe. Ihr wurde zunehmend übel. »Und wenn er mich so dumm anmacht… Er glaubt mir kein Wort, macht euch doch nicht ins Hemd.« »Er wird über deine Worte nachdenken«, entgegnete der Kutscher. »Und wenn er sich keinen anderen Ausweg mehr weiß, wird er darauf zurückkommen.« Er drehte sich zu ihr und tat einen Schritt in ihre Richtung; Sammy-Joe wich instinktiv zurück in den Flur. »Und ich hoffe für dich, dass du dann weißt, was zu tun ist.« »Der Kerl hält sich für was Besseres«, nuschelte sie. »Er würde jemanden wie mich nie und nimmer freiwillig um Rat fragen.« Der Kutscher schenkte ihr ein kurzes Grinsen und entblößte damit einige seiner gelben Zähne. »Du weißt selbst, wie verzweifelt Menschen werden können. Warte ab, Samantha. Und dann handle richtig.« Er verließ das Zimmer durch die ihr bekannte Art – er löste sich einfach auf. Sammy-Joe ließ ihre Gitarre fallen, den Rollladen hochschnellen und sich selbst auf ihr Bett plumpsen. Ihre Mutter schien nicht da zu sein. Gut für sie. Sie begann, hemmungslos zu weinen. Zur selben Zeit kam Jeathrow in der »alten Geige« an. Er sah sich kurz in dem schwach beleuchteten Foyer um und trat an die Rezeption. »Ich suche einen William Kidney.« Der bärtige Mann hinter dem Tresen sah auf. »Sind Sie Jeathrow Peter?« »Peters«, verbesserte Jeathrow. »Verzeihung. Er erwartet Sie schon, Sie sind der einzige, den er in sein Zimmer lässt.« Verständlich, dachte Jeathrow. »Welche Nummer hat er denn?« »Vierundachtzig«, sagte der Mann. Jeathrow fiel auf, dass er ihn neugierig beäugte. »Danke«, murmelte er und wandte sich ab. Vor der Tür mit der verblassten 84 blieb er einige Momente lang stehen. Das altbekannte Gefühl der dumpfen, beklemmenden Angst beschlich ihn. Seine Eingeweide fühlten sich an wie in einer Presse, ihm war furchtbar übel. Er hob einen bleischweren Arm und klopfte. »Wer’s da?«, kam es von innen. »Düsenjet«, antwortete Jeathrow. »Ich bin’s, mach auf.« Billy schien kurz zu zögern, dann drehte sich etwas im Schloss und die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Ein blasses, zerfurchtes Gesicht tauchte darin auf und schien sofort erleichtert. »Tatsächlich«, sagte der alte Bill. »Du bist es. Hast dich kein Stück verändert.« Er trat einen Schritt beiseite und öffnete die Tür komplett. »Das hat Acer auch gesagt«, murmelte Jeathrow, während er eintrat. »’Nabend.« »Tag auch. Setz dich aufs Bett oder so. Der Boden ist ’n bisschen eklig und Stühle sind keine da.« Jeathrow senkte den Blick auf den dunkelgrauen Teppich, in dem seine Schuhe bei jedem Schritt millimetertief einsanken, und rümpfte die Nase. Etwas steif hockte er sich auf das harte Bett. Billy the Kid setzte sich seufzend daneben. »Also«, sagte er – und gluckste. »Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll.« Jeathrow sah ihn von der Seite an. »Du siehst ziemlich gestresst aus. Erzähl doch einfach, was du in den letzten Jahren so gemacht hast.« Billy lachte schnaubend. »Kann ich machen«, sagte er. »Ich war in der Anstalt.« Schweigen. Dann: »Was?« »Klapse. Hast du nie versucht, mich zu finden?« »Doch, natürlich. Aber niemand konnte mir weiterhelfen. Oder wollte. Deine Eltern haben sich verdammt merkwürdig verhalten, wenn ich nach dir gefragt habe. Und irgendwann wollte ich das Ganze nur noch vergessen. Hab dann aufgehört.« Billy nickte. »Versteh ich. Meinen Eltern war das alles irgendwie peinlich. Aber sie haben mich selbst hingeschickt.« »Moment. Mal ganz langsam. Du warst wirklich in einer Klinik?« »Ja, ja. Bis vor Kurzem.« »Weshalb?« Billy lachte auf. »Na, rate mal. Extreme Lygophobie, natürlich. Und Paranoia.« Jeathrow runzelte die Stirn. Das klang mehr als abwegig. »Aber so schlimm war’s damals doch gar nicht«, sagte er langsam. Er sah, dass Billy versuchte, weiterhin zu grinsen, doch seine Gesichtszüge waren wie versteinert. Er erinnerte sich zurück an etwas zweifellos Grausiges. »Doch«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich, als habe er seit Tagen nichts mehr getrunken. »Nachdem Groar weggezogen war, wurde es schlimm. Ich … sah Dinge, weißt du.« »Dinge?« »Bilder. Immer, wenn es dunkel wurde, sah ich uns. Und immer waren wir tot. Verstümmelt natürlich, mit Seinem Mal überall. Groar, du und ich. Irgendwann war ich dann total am Ende. Selbst tagsüber war es mir überall zu dunkel, ich habe keine Minute ohne elektrisches Licht ausgehalten. Und ich fühlte mich beobachtet von ihnen. Immer, überall. Hab wochenlang nicht geschlafen, die Folge waren Nervenzusammenbrüche ohne Ende. Da ist es meinen Eltern also zu dumm geworden und sie ließen mich einliefern.« Er sprach tonlos, der Blick war starr geradeaus gerichtet. Jeathrow schluckte trocken. »Davon hab ich gar nichts mitgekriegt«, sagte er heiser. »Ja… Ich weiß.« Billys Mundwinkel zuckten zu einem winzigen Grinsen. »Wenn ich bei dir war, war das alles nicht so schlimm. Unsere Freundschaft war immer ein Stückchen heile Welt. Aber nachdem Groar weg war, haben wir uns weniger getroffen, erinnerst du dich? Es ist alles langsam zerbrochen… Sowohl unsere Freundschaft, als auch meine Psyche. So war das eben.« »Hm…«, machte Jeathrow. »Jaah, stimmt schon. Aber ich hab’s immer noch nicht ganz verstanden – bis wann warst du da und wie bist du wieder rausgekommen?« »Das ist auch noch so ’ne Sache für sich«, sagte Billy leise. »Die haben sich immer dagegen gesträubt, mich zu entlassen, obwohl sich mein Zustand – meiner Meinung nach – immer weiter verbessert hat. Immerhin kann ich jetzt auch hier ohne Panikattacken und Zitterkrämpfe sitzen. Aber die meinten immer noch, ich sei in meiner Angst eine Gefährdung für die Außenwelt und mich selbst. Sie hätten mich also am liebsten bis zu meinem Tod dort behalten. Na ja… Und vor ein paar Wochen kreuzten sie in unserem Schlafsaal auf, drückten mir meine Sachen und irgendwelchen Papierkram in die Hand und setzten mich vor die Tür. Erzählten mir, ich sei geheilt und sie könnten mich jetzt entlassen. Obwohl sie mir Tage zuvor noch ständig diese lächerliche Therapie aufgedrückt haben. Sie haben mir sogar gesagt, dass ich da so schnell nicht mehr rauskomme. Und jetzt sitz’ ich hier…« »Also haben sie dich … richtig wieder rausgelassen?« »Ja… Merkwürdig, nicht?« Billy räusperte sich kurz, als müsse er einen dicken Kloß im Hals loswerden. Dann fügte er leise hinzu: »Das war in der selben Nacht, in der Groar gestorben ist.« Jeathrow nickte. »Zufall kann man das wohl kaum nennen«, sagte er düster. »Sein Werk.« »Auf jeden Fall. Es will uns wieder ins Spiel bringen.« Billy schnaubte. »Zwei alte Säcke.« Jeathrow musste an den kleinen Matthew mit seiner gebrochenen Nase und dem Mal auf dem Hals denken. »Nicht nur uns alte«, sagte er. »Heute war ein kleiner Junge bei mir. Sechs Jahre alt. Hatte Sein Mal im Genick und wusste über alles bestens bescheid.« Billy hob eine Augenbraue. »Sechs?« »Nicht älter.« »Scheiße. Werden ja immer heftiger. Wie alt waren wir?« »Groar war zehn, ich fast elf und du schon dreizehn. Aber es passiert alles wieder. Der Kleine hatte einen großer Bruder und der wiederum ’ne Freundin… Würde mich nicht wundern, wenn die da auch bald mit reingezogen werden. Und es verschwinden Kinder. Ständig. Selten älter als vierzehn.« Billy lächelte. »Du hast schon immer frühzeitig die Zeichen erkannt. Ich wette, du weißt schon länger als alle anderen, dass Es wiederkommt.« »Seit Monaten.« »Dachte ich mir. Ich war mir in letzter Zeit nicht sicher, weil die mir in der Anstalt ja ständig vorgebetet haben, dass das alles Unfug ist. Aber als ich dann draußen, Groar tot und der Blutsauger bei mir war, bestand ja kein Zweifel mehr. Ganz so naiv bin ich nicht.« »Was hat Acer dir erzählt?« »Dass der Kutscher Groar auf’m Gewissen hat. Dass du hier vor dich hinvegetierst und dass sie überfüllt sind in ihren Gefängnissen. Er meinte, Es würde deshalb Leute freilassen.« Jeathrow hob eine Augenbraue. »Dann weißt du mehr als ich. Es lässt Gefangene frei?« »Jep. Angeblich schon seit Jahren. Blutsaugerchen hat mir sogar einen Namen genannt.« »Jemand, der freigelassen wurde?« »Mhm. Samantha Parker. Vor ein paar Jahren wieder hergekommen, sie hat praktisch Platz gemacht für jemand anders.« Jeathrow schauderte. »Das klingt so grausam«, sagte er und hatte für einen Moment den Eindruck, mit der Stimme seines elfjährigen Ichs zu sprechen. »Wenn ich mir vorstelle, dass die Kerker da drüben vor gequälten Kindern überquellen und sie deshalb … vermutlich traumatisierte andere wieder rauslassen…« »Es war schon immer grausam, Jet. Das war es schon damals und das wird es auch immer sein.« »Außer, wir halten sie auf.« Billy lachte lauthals auf. »Du hast dich wirklich nicht verändert!«, rief er. »Immer noch der Düsenjet. Aber ja, du hast recht – auf in den Kampf! Was schlägst du als ersten Schritt vor, Kampfflieger?« Jeathrow konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. »Keine Ahnung, Kid. Diese Samantha Nochwas besuchen?« Kapitel 6: Blutregen -------------------- Matts Nase war tatsächlich gebrochen. Nachdem Jan und Camille ihm ein Klassenfoto gezeigt hatten, konnte er Alex als seinen Peiniger identifizieren. Sarah Remy war außer sich vor Wut. Sie führte ein brodelndes Telefonat mit dem Schulleiter und danach ein fünfminütiges schnaubendes Selbstgespräch. »Matt!«, donnerte sie schließlich und die Brüder fuhren zusammen. »Wenn der dich noch einmal anfasst, dann sag es sofort und ich mach dem die Hölle heiß!« Jan grinste und knuffte Matt in die Seite. »Mama reißt ihm die Eier ab.« Alex erschien erst am Donnerstag wieder in der Schule. Die ganze Klasse saß vor der ersten Stunde vor ihrem Saal auf dem Gang, Camille und Jan wie immer etwas abseits. Sie lachten gerade über ein gestern geführtes Telefonat, als er sich breitbeinig und mit verschränkten Armen vor ihnen aufbaute. Jan sah auf. »Moin, Arschkopf«, sagte er. »Remy«, knurrte Alex langgezogen. »Ich musste wegen deiner dummen Hurenmutter Sozialstunden machen. Dein missratener Bruder hat mich verpetzt und er wüsste meinen Namen nicht, wenn du ihn ihm nicht gesagt hättest.« Camille gluckste. »Scharf kombiniert, Watson.« »Fresse, Schlampe!«, bellte Alex. »Hey, hey, immer mit der Ruhe.« Jan stand auf, lehnte sich an die Wand und hob beschwichtigend die Hände. »Ruhig, Brauner«, grinste er. »Tu nicht so cool«, fauchte Alex. »Das wird Folgen haben, du kleiner Bastard, glaub mir.« »Och«, machte Jan spöttisch. »Willst du mich jetzt auch verprügeln? Wie edel.« »Nein, dich nicht. Ich hol mir deinen Bruder und zeig ihm die Hölle auf Erden.« Camille lachte auf. Kichernd kam sie auf die Beine und lehnte sich neben Jan. »Matt tut mir ja eigentlich leid, aber ich würd’s trotzdem gern mal erleben.« Jan grinste breit. Er verschränkte die Arme. »Meine Mutter hat sich ziemlich aufgeregt, weißt du. Wenn du meinen kleinen Bruder auch nur schief ansiehst, wird sie handeln. Du hast ihm die Nase gebrochen, das ist Körperverletzung.« »Und wenn du’s für nötig hältst, mach weiter«, fuhr Camille fort. »Bedroh ihn, brich ihm noch mehr, wie ich dich kenne, erpresst du ihn sogar. Mit ein bisschen Glück landest du dann bald im Jugendknast.« Alex schnaubte und drehte sich weg. Jans Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. »Der soll nur kommen. Ich mach den fertig.« »Reg dich nicht auf«, sagte Camille und klopfte ihm auf die Schulter. »Es reicht, wenn deine Mutter ihm den Arsch aufreißt. Wenn er Matt überhaupt wirklich noch einmal was tun will. Vielleicht blufft er nur.« »Kann sein«, murmelte er. »Keine Ahnung.« Sammy-Joe kam ihnen entgegen. Ihr Gesicht war blass und mit Kratzern übersät. »Was ist denn mit der passiert?«, murmelte Camille. »Hast du’s noch nicht gehört?«, antwortete Jan. »Wichserchen hat groß damit rumgeprahlt, vorgestern im Chat. Sam war seine zweite Zielscheibe am Montag.« »Doch, doch, natürlich hab ich das mitgekriegt. Aber sie sieht aus, als hätte sie seit Ewigkeiten nicht geschlafen.« Sammy-Joe richtete die blutunterlaufenen Augen auf die beiden. Sie merkte, dass man über sie sprach. »Sorry«, sagte Camille und spürte, wie sie rot anlief. »Hab mich bloß gefragt, weshalb du so gestresst aussiehst.« Sie nickte bloß und ging schweigend weiter. Alex warf ihr ein Mäppchen an den Kopf. »Arschloch«, brummte Jan. »Sam tut mir richtig leid.« »Mir auch«, sagte Camille. »Warum hat er sich eigentlich so sehr auf sie fixiert?« Jan zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. War irgendwie schon immer so. Sie hat ihm von Anfang an nicht gefallen, also ist er auf sie losgegangen… Die Welt ist schlecht.« »Richtig. Aber Sammy-Joe ist immer alleine.« »Ja, weil sich keiner an Alex’ Feinde rantraut.« »Ich finde, dann sollten wir das mal machen. Wir sind bei ihm doch eh schon die Arschies.« Jan lachte. »Die Arschies. Schön gesagt. Aber ja, du hast recht, gehen wir in der Pause mal zu ihr.« Gesagt, getan. Nach der zweiten Stunde gesellten sich die beiden zu Sammy-Joe. Bis vor diesem Montag hatte sie immer mit ihrer Gitarre auf einer Bank gesessen und leise gespielt, nun hockte sie still in einer Ecke und sah gen Boden. Als Camille und Jan sich neben sie setzten, sah sie überrascht auf. »Hi«, sagte Camille mit einem breiten Lächeln. »Ähm… Tag«, antwortete sie. Jan lachte. »Ich glaub, wir wirken ’n bisschen blöd.« »Na ja. Macht ja nichts. Sind wir ja auch«, verkündete Camille. »Wir wollten mal vorbeischauen, Sammy-Joe. Du bist sonst immer so allein.« Sie zuckte mit den Schultern. »Hab’ nicht so gern viele Leute um mich«, murmelte sie. »Joah, wir ja eigentlich auch nicht«, sagte Jan. »Uns mag aber auch keiner.« Sammy-Joe setzte an, etwas zu sagen, brach dann jedoch ab. Camille nickte. »Iiiich glaub«, sagte sie langgezogen, »wir haben alle drei ein und dasselbe Problem.« »Wichserchen«, sagte Jan prompt. »Ist das sein Zweitname bei euch? Bei mir heißt er Bastard.« »Oh«, machte Jan. »Ich glaub, so heiße ich bei ihm.« Sammy-Joe grinste kurz. »Dann tut mir das unendlich leid. Werd’ mir ein anderes Schimpfwort für ihn ausdenken.« »Er könnte sich auch einfach ein anderes für mich ausdenken. Oder mich einfach beim Namen nennen«, brummte Jan. Camille legte den Kopf schief. »Eigentlich sind wir nicht hierher gekommen, um schlechte Laune wegen Wichserchen zu schieben.« »Stimmt.« »Warum seid ihr denn eigentlich hier?« »Na ja, wie gesagt«, sagte Camille und lehnte sich zurück, »wir wollten mal vorbeischauen. Muss doch furchtbar langweilig sein, wenn man die ganze Zeit allein hier rumgammelt.« »Besser als bei den ganzen anderen Tussen«, sagte Sammy-Joe trocken. »Auch wieder wahr.« »Dafür gibt’s ja Leute wie uns«, grinste Jan. »Wir sind weder Alex noch Tussen.« Sammy-Joe lächelte. »Ihr wollt also auf Biegen und Brechen verhindern, dass ich weiterhin alleine hier sitze?« »Jap!«, riefen Jan und Camille einstimmig. »Also gut. Jetzt, wo meine Gitarre weg ist, kann Gesellschaft wohl wirklich nicht schaden. Und ihr seid tatsächlich nicht schlimm.« »Och, danke«, sagte Jan gespielt beschämt. »Was ist denn mit deiner Gitarre passiert?«, fragte Camille. »Alex«, antwortete Sammy-Joe bloß. »Dachte ich mir fa… Uh«, machte Jan. »Seht mal.« Die Mädchen folgten seinem Blick und sahen gen Himmel. Binnen Sekunden hatte sich sein helles Blau in ein immer dunkler werdendes Grau verwandelt. Jan kniff die Augen zusammen. »Sind das Gewitterwolken?« »Zieh mal wieder deine Brille an«, murmelte Camille. »Nein. Da sind keine Wolken, nirgends.« »Komisch… Sam?« Sie war aufgestanden und schien zu zittern. Ihr Blick war starr nach oben gerichtet, ihr Mund stand leicht offen. Der erste Tropfen landete genau auf ihrer Wange. »Scheiße«, hauchte Sammy-Joe. Jan und Camille standen ebenfalls auf. »Was ist denn?« »Sein Zeichen.« Ihre Stimme zitterte ebenso wie ihr Oberkörper, langsam schlang sie die Arme um sich. »Sein Zeichen, Es … ist da.« »Was?« Nun hatten auch die beiden einige Tropfen abbekommen. Camille zog die Nase kraus. »Komischer Regen«, murmelte sie. Sammy-Joe schüttelte knapp den Kopf. »Das ist kein Regen«, sagte sie. »Kein normaler.« Jan wischte sich mit einer Hand über die Stirn und musterte die Flüssigkeit, die nun an seinen Fingern klebte. Er zog die Stirn kraus. »Äh«, machte er. »Ist das…?« »Blut. Blutregen.« Jan und Camille sahen sich an, zuckten mit den Schultern und zogen sich unter einen Vorsprung zurück. »Sam?«, rief Jan. »Willst du wirklich da stehen bleiben?« Sie antwortete nicht, stand bloß dort und starrte den immer größer werdenden Tropfen entgegen. Mittlerweile war der gesamte Schulhof in Aufruhr geraten, Schüler rannten zurück ins Gebäude, unterhielten sich laut und fassungslos über die tiefroten Regentropfen. Schon bald waren die drei die einzigen, die noch draußen waren. Sammy-Joe drehte sich erst um, als sie völlig durchnässt und ihre Kleider komplett von der roten Farbe getränkt waren. In ihrem Gesicht stand pures Entsetzen. Jan hob eine Augenbraue. »Gehen wir auch rein?« »Kommt mit«, fiepte Sammy-Joe nur und rauschte an ihnen vorbei in Richtung Turnhalle. Perplex setzten die beiden ihr nach. Die Schulglocke ertönte, als Jan und Camille den Flur zu den Hallen betraten. Sammy-Joe war nirgends zu sehen, doch in einer Mädchenumkleide war eine Dusche zu hören. »Sammy-Joe«, rief Jan. »Es hat geklingelt, wir müssen rein. Wo bist du denn, was ist?« Zögerlich betraten die beiden den Raum, in dem die Dusche lief. Kapitel 7: Stillschweigen ------------------------- Sammy-Joe saß zusammengekauert auf den weißen Kacheln und ließ das kalte Wasser auf sich niederprasseln. Blut vermischte sich damit und floss langsam in den Abguss, während sie, ihre durchnässte Kappe fest umklammernd, geistesabwesend vor- und zurückwippte. Sichtlich verschreckt sah sie auf, als Camille und Jan vor ihr standen. »Sag uns doch, was los ist«, sagte Camille leise. »Ihr würdet es nicht verstehen«, sagte sie heiser. Sie riss sich sichtlich zusammen. »Es ist zurück, Es ist wieder unter uns. Aber das könnt ihr nicht verstehen, ihr könnt die Zeichen nicht deuten.« Camille spürte, wie bei ihren Stimmen ein Schalter umgelegt wurde. Mit einem Mal brach in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander aus. Zögerlich tat sie einen Schritt nach vorn und stellte das Wasser ab. »Ich glaube schon, dass wir es verstehen würden«, sagte sie vorsichtig und versuchte, sanft zu klingen. »Wir verstehen es bestimmt. Du redest von Ihm, du… Du meinst die Dunkelheit, oder?« Sammy-Joe starrte sie perplex an. »Meinst du das ernst?«, flüsterte sie. »Ihr wisst davon?« »Ja«, sagte Camille schnell. »Ja, wir wissen davon.« Sie warf Jan einen hektischen Blick zu; er stand schweigend etwas abseits und sah fragend zurück. »Komm, Jan«, sagte sie. »Das ist das, was Matt so Angst macht.« Mit einem schweren Schlucken nickte Sammy-Joe. »Es macht allen Angst. Man kann’s gar nicht abstreiten, jeder hat Angst vor Ihm.« Sichtlich widerwillig kam Jan einige Schritte näher. »Was… Was ist Es denn?« Sammy-Joe kniff die Augen zu, rieb mit den Fingerknöcheln darüber und öffnete sie wieder. Mit einem etwas klareren Blick sah sie Camille an. »Weiß er nichts davon? Dann dürfen wir es ihm nicht sagen.« »Es geht schon in Ordnung«, murmelte Camille. »Sein… Sein kleiner Bruder kennt sich bedächtig gut mit dem gestorbenen Tod aus.« »Camille, was redest du? Könnt ihr mir mal sagen, worum es hier überhaupt geht? Was soll das denn?« Nach kurzem Überlegen hielt Camille Sammy-Joe eine Hand hin. »Komm, steh auf. Wir schwänzen den restlichen Unterricht, gehen wir runter zum Fluss, oder so. Ich glaub, wir sind uns gegenseitig ein paar Erklärungen schuldig.« »Schwänzen? Aber… Ich meine, unsere Sachen sind doch noch im Raum, wir können doch nicht…« Sie klang immer verunsicherter. »Die können wir auch später noch abholen«, sagte Jan langsam. »Wir finden schon irgendeine Ausrede.« »Du müsstest auch irgendwie deine Sachen trocknen lassen. Wir könnten uns in die Sonne legen«, fügte Camille hinzu. »Und dann erklärst du uns, was genau los ist.« »Ich weiß nicht«, nuschelte Sammy-Joe. »Weiß nicht, ob das so gut ist. Ich…« Mit einem Seufzen zuckte sie die Achseln. »Also gut. Meinetwegen. Ich kann ja versuchen, euch zu sagen, was ich weiß.« Camille nickte – und in diesem Augenblick ging die Dusche wieder an. Ein dicker, dunkelroter Strahl schoss aus ihr hervor, der gesamte Raum war in Sekundenschnelle erfüllt vom eindeutigen Geruch Blutes. Sammy-Joe schrie auf, erschrocken sprang sie gut einen Meter zurück, ihre Finger krampften sich noch fester um ihre Kappe, während sie mit geweiteten Augen den Strahl anstarrte. »Scheiße, was ist das denn?« Jan war die Situation offensichtlich zu viel geworden. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus. Sammy-Joes Brustkorb hob und senkte sich deutlich, viel zu schnell. »I-Ich kann nicht«, brachte sie mühsam hervor. »Ich kann nicht mit euch darüber… Ich kann nicht.« Nur einen kurzen Blick warf sie Camille zu, schüttelte dann energisch den Kopf und spurtete Jan hinterher. »Ich geh zurück in den Unterricht!«, rief sie. Noch einige Sekunden lang stand Camille stirnrunzelnd da, dann rieb sie sich mit dem Handrücken über die schmerzende Stirn und trottete langsam zurück zum Schulgebäude. *** Sammy-Joe hatte ihrer Lehrerin gesagt, ihr sei in der Pause schlecht geworden und sie habe bis zu diesem Augenblick vor einer Toilette gekniet. Sie hatte sich somit die Erlaubnis erlogen, nach Hause zu gehen. Jedoch tat sie das nicht. Ihren Ranzen geschultert machte sie sich auf den Weg in den Stadtpark, zum allseits beliebten Abenteuerspielplatz. Sie krempelte ihre Hosenbeine hoch, zog die durch und durch nassen Schuhe und ihren Pullover aus und legte sie ins selbst noch feuchte Gras. Seufzend begab sie sich zum Rand des Spielplatzes, der von einem fast undurchdringlichen Dickicht gekennzeichnet war. Hier hatten Sie sie damals abgesetzt. Mitten ins Gebüsch, und dann einfach dort hocken gelassen. Ohne die leiseste Ahnung, wo sie war. Es hatte Stunden gedauert, bis sie gewusst hatte, dass sie in ihrer Heimatstadt war. Wie lange war es her? Vier. Vier Jahre. Und seitdem wusste sie nicht, womit sie das verdient hatte. Immer hatte man ihr gesagt, Sie würden nie jemanden freilassen. Doch dann sind immer mehr Leute unter ihnen verschwunden, die nicht tot gewesen sein konnten. Dann auch sie. Sammy-Joe schüttelte den Kopf. Sie konnte das niemandem erzählen. Sie durfte ihr Geheimnis mit niemandem teilen, die blutige Dusche eben hatte es ihr deutlich gezeigt. Ihr Wissen über Es und Seine Gefolgsleute musste sie für sich behalten. Sie saß noch lange auf dem schattigen Fleck Gras, starrte mit leerem Blick ins Dickicht vor ihr und ließ zu, dass sich ihre Gedanken um die vergangenen Jahre wanden, bis sie langsam ihre Sachen aufsammelte und sich auf den Heimweg machte. Im Vorgarten standen zwei ihr unbekannte Männer. Auf den ersten Blick schätzte Sam sie auf sechzig. Sie rieb sich die Augen und schloss das Gartentor hinter ihr. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie, so höflich wie es der Stress ihrer Stimme erlaubte. Die beiden Männer musterten sie von oben bis unten, schienen sich fangen zu müssen, bis sie zu einer Antwort ansetzten. »Äh«, machte der mit der Halbglatze. »Sind Sie… Oder bist du … Samantha Parker?« »Ja. Bin ich. Was ist denn?« »Wir…« Jetzt ergriff der andere das Wort: »Jet Peters«, sagte er mit einer Handbewegung zu seinem Begleiter. »Ich bin Billy Kidney. Wir kommen wegen Ihm.« Sammy-Joe beschloss, sich nicht von den Ereignissen in der Schule beirren zu lassen. »Wegen wem?«, fragte sie. »Wegen Ihm«, wiederholte Billy, während Jet neben ihm unruhig zu werden schien. »Acer hat uns gesagt, du wärst mal bei Ihm gewesen.« Einige Momente lang fehlten Sammy-Joe die Worte. Schweigend starrte sie die beiden Männer an, beobachtete mit wachsender Verwirrung, wie Jet sich offenbar nervös umsah; schließlich ging sie kopfschüttelnd und fluchend an ihnen vorbei zur Haustür. »Ich darf nicht darüber reden«, sagte sie bloß und trat ein. Die Tür fiel hinter ihr von alleine ins Schloss. Vom ersten Schritt an hatte Sam kein gutes Gefühl. Sie senkte den Blick zu Boden und stöhnte auf. »Kann man hier denn nicht mal zehn Minuten Ruhe haben?«, fauchte sie die Blutspur an, die sich vor ihr den Flur entlang zog. »So eine verfluchte Scheiße…«, murrte sie, bei dem Versuch, der in Bauch und Hals aufkommenden Angst keine Chance zu geben. Sie scheiterte kläglich, als sie sah, wohin die Spur führte. Der Keller. Bilder sausten durch ihren Kopf, Jahre alte Bilder, die sie längst hatte vergessen wollen. Es war eine Nacht gewesen, die sie wie so oft allein verbracht hatte, weil ihre Mutter sich schon wieder in jemanden verguckt hatte und stundenlang bei ihm geblieben war. Sammy-Joe hatte versucht zu schlafen, doch ein stetiges, für sie undefinierbares Geräusch aus dem Keller hatte sie davon abgehalten. Mit ihrem Teddy im Arm war sie die Treppen hinabgestapft, um nachzusehen, was das war. Nur wenige Tage davor hatte ihre Mutter es geschafft, sie endgültig davon zu überzeugen, dass es so etwas wie Monster nicht gab und sie nachts keinerlei Angst haben müsse. Sie war also zuversichtlich gewesen, bloß die Heizung herunterschrauben zu müssen oder etwas in der Art. Sammy-Joe schluckte schwer, den Blick auf die Klinke der Kellertür gerichtet. Ja, sie hatte bloß irgendwas an Heizung oder Waschmaschine drehen wollen… Stattdessen war sie geholt worden. Unschlüssig stand sie vor der geschlossenen Tür, wusste nicht ob sie die Treppen hinabsteigen oder bloß das Blut entfernen und ignorant in ihr Zimmer gehen sollte – bis aus den Räumen unter ihr ein Hilfeschrei drang. Sammy-Joe zuckte zurück. »Scheiße«, hauchte sie. Zittrig atmete sie durch, legte eine Hand auf die Klinke. »Scheiße, Scheiße, Scheiße… Ich will nicht…« »Hilfe!« Die Stimme aus dem Keller überschlug sich, ihre Verzweiflung war unüberhörbar. »Hilfe, bitte!« Sam kniff die Augen zu, schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter und öffnete die Tür. »Ich… Ich komme«, rief sie vorsichtig. »Ich komme schon, ich kann … helfen…« Das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Sie seufzte. Ihr Gedanke hatte Recht, sie war nicht sonderlich hoffnungsvoll, doch sie stieg dennoch die Treppen hinab. Während sie sich und ihre Mutter verfluchte, weil sie nie die durchgebrannte Deckenlampe gewechselt hatten, schwächten die Hilferufe zu einem leisen Schluchzen ab. Im einzigen, kühlen und feuchten Kellerraum brannte Licht. Eine logische Erklärung gab es dafür nicht, doch Sammy-Joe konnte sich ihren Teil problemlos denken. Im Zentrum des Lichtkegels stand ein Stuhl, auf dem eine Person mit dem Rücken zu ihr gefesselt war. Sie war in sich zusammengesunken und zitterte, ihr Kopf hob sich bei jedem Schluchzen kurz. Mit laut (zu laut sie hören mich) pochendem Herzen sah Sammy-Joe sich um (man kann sie nicht sehen natürlich sind sie hier), näherte sich mit äußerster Vorsicht dem Stuhl. »Hallo?«, rief sie sachte. »Hast… Hast du gerufen? Ich helf’ dir.« Ein starker Windstoß ließ sie die Augen zukneifen und die Fäuste ballen, Fingernägel gruben sich in das Fleisch ihrer Hände, als sie es wagte die Augen wieder zu öffnen, wurde sie nicht überrascht: Vor ihr stand der Kutscher. Vergilbte Zähne grinsten auf sie herab, furchtbar tot wirkende Augen, die tief in ihre Höhlen gerutscht waren, musterten sie spöttisch. »Unverbesserlich«, raunte die heisere, kratzende Stimme langsam. Instinktiv wich Sammy-Joe einige Schritte zurück. »Das war ’ne Falle«, hauchte sie begreifend. »Ihr habt… Was wollt ihr denn noch von mir, was soll das? Ich hab nichts getan! Ich hab mich sogar heute zurückgehalten, sie wissen nichts von mir!« »Beruhige dich«, grinste der Kutscher. »Es ist nicht dein Verdienst, dass ich hier bin. Diese Verwarnung hier ist sozusagen reine Routine, sie bietet sich bloß gerade an. Eins kam zum anderen…« Mit einer flüchtigen Handbewegung nach hinten sorgte er dafür, dass der Stuhl hinter ihm herum gedreht wurde; der Anblick Alex’ kleiner Schwester versetzte Sammy-Joe einen unangenehmen Stich in die Magengegend. »Das Mädchen hier hat eine Flucht gestartet… Und rate mal, wohin sie ganz von selbst gelaufen ist.« Sammy-Joe musterte Juliet prüfend; wie intelligent konnte die jüngere Schwester eines solch grenzdebil dämlichen Jungen sein? Erschrocken stellte sie fest, dass ihr Stuhl in einer weiteren Blutlache stand und dass eins ihrer Hosenbeine durchnässt und dunkel verfärbt war. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte Sam sich wieder dem Kutscher zu. »Sie ist hierher geflohen?« »Ganz recht«, nickte der Kutscher. »Sie schien den Weg genau zu kennen…« Sammy-Joe runzelte die Stirn, schüttelte flüchtig den Kopf. »Ich … kann mir nicht erklären, weshalb…« Verständnislos blickte sie das Mädchen an, dessen Augen und Wangen rot vor Tränen waren, das zitterte und schluchzte hinter der angsteinflößenden Gestalt des Mannes im schwarzen Mantel. »Juliet, wieso in aller Welt bist du hierher gekommen?« Bevor sie antworten konnte, erhob der Kutscher wieder das Wort: »Die Kleine hat es geschafft, uns zu belauschen, sie hörte von den Umständen ihres eigenen Verschwindens… Sie hörte davon, dass du das Feld räumen musstest, um Platz für sie zu schaffen.« Sam blinzelte perplex. »Ich hab … für sie…?« Mit einem leisen Lachen nickte der Kutscher. »Dass du aus Platzmangel freigekommen bist, wusstest du ja. Juliet hat nun auch den Rest der Geschichte erfahren und dabei gleich noch, wie sie fliehen konnte. Aber wir haben sie schon an deiner Haustür abgefangen und hierher gebracht…« »Ihr?«, unterbrach Sammy-Joe und spähte in den Schatten hinter Juliets Stuhl. »Bist du nicht allein hier?« Ein Lachen tönte aus dem Dunkel, nach und nach erschienen stechend rote Augen, eine perlweiße Zahnreihe mit übergroßen Fängen, blasse Haut umrahmt von dunklen Haaren; Sammy-Joe verzog das Gesicht. Das war Acers Auftritt. »Oh«, murmelte sie. »Der Chef.« Acer schenkte ihr ein schiefes Grinsen. »Es wurde mal wieder Zeit, Samantha. Ich habe etwas mit dir zu besprechen, deshalb bin ich gleich mitgekommen.« Er nickte dem Kutscher zu. »Mach du hier weiter, bring Juliet mal ein wenig über unsere Methoden bei… Samantha kennt das ja schon.« Während Sammy-Joe zähneknirschend die Narben an ihrer Schulter betastete, wandte der Kutscher sich mit einem überaus breiten Grinsen der vor Angst winselnden Juliet zu. Acer schritt eilig zur Kellertür und machte eine einladende Handbewegung in Sams Richtung. »Los, komm, wir gehen hoch dafür. Außer natürlich du willst dir das hier ansehen.« Sammy-Joe zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ihr seid ja richtig nett geworden«, murrte sie. »Früher hätte man mich zum Zuschauen gezwungen.« Sie warf Juliet einen letzten Blick zu, erinnerte sich dann selbst an die über die Jahre angewohnte Akzeptanz der Hilflosigkeit und stieg die blutbefleckten Treppenstufen hoch. »Wo sollen wir denn hin?« »Wohnzimmer«, sagte Acer knapp. »Das ist schon verdunkelt.« Sammy-Joe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen bei der Vorstellung, hinter Acers Rücken die Rollläden hoch zu lassen und ihn der Sonne auszusetzen; sie betrat wortlos das Wohnzimmer. Nachdem Acer sich auf dem Sessel niedergelassen und ihr zugenickt hatte, setzte sie sich etwas steif ihm gegenüber aufs Sofa. Acer schwieg einige Momente, er rieb sich die offenbar müden Augen und schlug die Beine übereinander. Er seufzte. Mit einem schwer zu unterdrückenden Feixen legte Sammy-Joe den Kopf schief. »Was ist denn jetzt, hm? Läuft was schief, wird’s mit der Zeit zu hell da unten? Oder sind vielleicht noch mehr Leute abgehauen?« Der Vampir hob den Kopf. Noch immer sagte er kein Wort, doch sein Blick ließ Sam sofort verstummen. Die unnatürlich klaren Augen bohrten sich in die ihren, ließen sie spüren, dass ihm etwas ganz und gar nicht gefiel und dass sie sich nicht darüber lustig zu machen hatte. Sammy-Joe biss sich verhalten auf die Unterlippe. Sie kannte sich selbst. Sie wusste, sie würde gleich etwas sagen, was sie in furchtbare Schwierigkeiten bringen würde. »War ja abzusehen«, hörte sie sich im nächsten Moment feixen, »dass du irgendwann die Kontrolle verlierst.« Einige Augenblicke lang war es still. Beide Blicke hielten einander stand, beide Körper rührten sich keinen Zentimeter. Acer schob seinen Unterkiefer etwas vor, holte langsam Luft um zu sprechen. »Mach mich nicht wütend.« Seine Worte waren langsam und leise, Sammy-Joe wusste, dass sie es beim nächsten Satz zu weit treiben würde. »Du setzt deine Freiheit aufs Spiel…« »Ihr habt doch eh keinen Platz mehr«, sagte Sammy-Joe prompt. Acers Kehle entwich ein leises Knurren, bevor er antwortete: »Wir können welchen schaffen, wie du weißt.« »Wie ich weiß und wie Juliet weiß, bald weiß das jeder und alle hauen ab. Gut gemacht, Blutsauger. Aber das ist nicht das, worüber du mit mir sprechen wolltest, oder?« Acer stand auf – und im selben Moment wusste Sammy-Joe, dass es vorbei war. Er hatte sie an eine Klippe gestellt und sie hatte den entscheidenden Schritt vorwärts von selbst getan. Unverbesserlich, hatte der Kutscher gesagt. Mit langsam aufsteigender Reue gab Sam ihm Recht. »Eigentlich«, raunte er langgezogen, »wollte ich dich bitten, den beiden Herren vor deiner Haustür in der nächsten Zeit gewissenhaft aus dem Weg zu gehen… Aber nun bin ich überzeugt, dass ich das auch vollkommen ohne Worte erreichen kann.« Kapitel 8: Alter ---------------- Pavel Maximovitsch Es – eine Stadt in Schweigen Tag 11 Ich drehe mich kontinuierlich im Kreis. Was ich auch tue, ich komme keinen Schritt weiter. Meine Experimente ergeben immer nur Niederlagen. Feuer hilft uns nicht weiter; Wasser noch weniger. Licht von Lampen – mehreren verschiedenen Lampen – schreckt sie auch nicht im Geringsten ab. Sonnenlicht fügt dem Vampir zwar Wunden zu (ich habe es entfernt, bevor er ganz verbrannt wäre), doch der andere schert sich gar nicht darum. Zuerst konnte ich mir deshalb nicht erklären, weshalb diese Wesen dann in der Dunkelheit agieren, wo ihnen Licht doch auch keine Probleme zu machen schien – bis ich feststellte, dass unter Helligkeit ihre Reflexe aussetzten. Der Vampir konnte sich zumindest dank seines Anteils an menschlichen Fähigkeiten noch orientieren, hing jedoch mit seinen sonst so schnellen Bewegungen deutlich hinterher. Der andere aber schien nahezu blind. Ich muss zugeben, dass es mich tatsächlich in heillose Schadenfreude versetzte, wie er über Schwärze vor seinen Augen klagte und zunehmend panische – aber vergebliche – Versuche startete sich zu ordnen. Schlug ich ihn, so reagierte er erst Sekunden später. Doch auf andere Reize blieb seine Reaktion unverändert fort. Ich überlege, ob ich ihn köpfen sollte. Tag 13 Der Vampir ist sauer, weil ich dem anderen den Kopf abgeschlagen habe. Das hilft ihm aber auch nicht weiter. Des anderen Körper hängt lasch in den Fesseln, doch sein Kopf scheint noch zu leben. Gruselig war das, ich hielt ihn in den Händen und er fluchte noch und beschimpfte mich. Ich habe sein Haupt in der Tiefkühltruhe verstaut. Tag 16 In meinem Kopf reift eine Idee. Ich habe von Flüchen gelesen, die Vampire in Särge und Dämonen in beliebige Gegenstände bannen. Es tötet sie nicht, doch es versetzt sie in eine Trance, aus der sie zweifelsohne nie mehr erwachen können – und wäre ich nicht töricht, jetzt noch anzunehmen sie töten zu können, wäre ich nicht arrogant und egozentrisch auf diesen Fingerzeig nicht zu reagieren? Meine Euphorie wächst und wächst mit jeder verstreichenden Sekunde. Die Theorie lässt sich bis ins kleinste Detail nachlesen, die Praxis hängt an mir. Ich möchte an dem Kopf in meiner Kühltruhe üben. Tag 17 Erster Versuch missglückt. Tag 18 Heute ein weiterer, ich habe das Gefühl mich lächerlich zu machen. Tag 19 Missglückt. Tag 20 Endlich ein Erfolg! Ganz funktioniert hat es noch nicht, doch ein Ansatz war zu erkennen. Meine Bannfähigkeiten machen Fortschritte. Tag 28 Entschuldige meine tagelange Abwesenheit, werte Nachwelt. Aber ich habe gearbeitet, gearbeitet und wieder gearbeitet. Und im Endeffekt hat es geklappt! Der andere ist endgültig gebannt. In eine meiner Bodendielen. Fehlt noch der Vampir, für ihn muss ich noch einen Sarg auftreiben, ohne aufzufallen. Aber ich habe bereits Kontakte knüpfen können, in wenigen Tagen sollte Ein weiteres Mal strich Billy die Seite glatt. »Ich kapier’s nicht«, wiederholte er. »Was kapierst du nicht?« Jets Müdigkeit spiegelte sich in seiner Stimme wider, er rieb sich die blutunterlaufenen Augen und zog das Buch wieder an sich. »Wo hängt es, Bill?« »Das Ganze da, ich raff einfach nicht, was passiert sein soll.« »Also«, begann Groar langgezogen und setzte sich im Gras auf. »Ich glaube, ich kann’s dir jetzt erklären. Maximovitsch hat es zwar geschafft, diesen anderen da zu bannen, das wissen wir ja, dessen Körper wurde gefunden, richtig? Das war der Zeitungsausschnitt.« Er warf Jet einen flüchtig verunsicherten Blick zu, doch als er nickte, fuhr Groar fort: »Aber ich denke, wir können vermuten, dass er dann irgendwas mit den Fesseln verpennt hat. Beim Vampir. Weil, der ist ja nicht gebannt, weder das, noch tot, das wissen wir auch.« »Zu Genüge«, murmelte Billy. »Genau… Das heißt, es ist naheliegend, dass dieses Viech ihn da mitten im Satz doch noch gekriegt hat. Und das wiederum bedeutet, dass Maximovitsch etwas falsch gemacht hat mit den Fesseln.« »Achso, ja«, sagte Billy rasch, blinzelte in Unverständnis über sich selbst. »Ist eigentlich logisch, habt Recht. Also während Maximovitsch da an seinem Tagebuch geschrieben hat, ist unser Acerlie –« »Mein Gott, Billy, nenn ihn nicht so.« »Entschuldigung. Der Blutsauger ist aus seinen Fesseln geschlüpft, während der Kerl seinen Eintrag gemacht hat, oder sonst irgendwas. Dann wurde er von ihm überrascht und … umgebracht, verschleppt wie auch immer. Ja?« Jet nickte. »So ungefähr haben wir uns das wahrscheinlich vorzustellen. Klingt für mich plausibel. Jedenfalls halb; wir wissen nicht, wie er das mit den Fesseln angestellt hat.« Nachdenklich kratzte Groar sich am Kinn. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Deckel des alten Buches, runzelte die Stirn. »Wie genau hat er es beschrieben? Er hat die Seile aus weißem Garn gemacht, aber wie noch mal?« Jet zog das Buch unter seiner Hand weg, schlug es auf und blätterte, bis er fündig wurde. »Er hat sie geflochten«, murmelte er. »Zu… Zu Zöpfen, er schreibt, er hat sie zu langen, weißen Zöpfen geflochten. Und dann als Seile genutzt und das hätte sie unfähig gemacht sie zu zerstören wie sonstiges Material.« »Na ja, solche Zöpfe lösen sich doch oft, wenn eine Stelle locker ist, oder?«, sagte Billy langsam. »Vielleicht ist Acer dadurch freigekommen. Sie haben sich einfach gelöst.« »Es war aber auch schon der achtundzwanzigste Tag. Vielleicht lässt die Wirkung vom Garn auf die Dauer nach und er konnte sich doch noch befreien.« Seufzend fuhr Jet sich durchs aschblonde Haar. »Ist beides möglich.« »Irgendwas wird schon stimmen«, nuschelte Billy, sein Blick wanderte prüfend zu Groar. »Was meinst du, Löwe?« Er zog die Schultern hoch. »Ich überlege gerade, was das für uns überhaupt bedeutet. Ich meine… Glaubt ihr, wir können das überhaupt? Fesseln aus Garn flechten – Garn ist verdammt dünn –, dann den Kerl auch noch damit einfangen; und dann – bannen?« »Sicher, das klingt nicht wirklich nach uns«, murmelte Jet. »Aber wir müssen ja nicht genau das tun, was Maximovitsch da gemacht hat. Ich finde nur, es sind ganz gute Richtlinien. Es gibt uns eine Idee, was man anstellen kann.« »Und, vor allem, dass man was anstellen kann«, fügte Billy hinzu. »Wir wissen jetzt immerhin, dass diese blöden Viecher auch Schwachstellen haben. Ich meine, hey! Die werden blind wie Maulwürfe, wenn’s hell genug ist!« »Aber wie sollen wir’s hell machen? Die verhindern das doch immer.« Billy tippte dem zweifelnden Groar auf die Nasenspitze. »Das müssen wir jetzt rausfinden. Das ist unsere Aufgabe.« Billy stierte mit verengten Augen den alten Mann in Jets Spiegel an. Dieses Bild überraschte ihn immer wieder. Man war in der Psychiatrie so sehr auf seiner Kindheit herumgeritten, dass er seinen tatsächlichen Alterungsprozess kaum bemerkt hatte. Und dennoch konnte er sich an die wirklich wichtigen Momente erst jetzt erinnern. Dieser Nachmittag, dieses Tagebuch war der Dreh- und Angelpunkt ihres Handelns gewesen. Billys trockene Lippen zuckten zu einem nostalgischen Grinsen; sie hatten es damals tatsächlich durchgezogen… Er drehte sich zum Türrahmen, durch den er Jet im Wohnzimmer sitzen sah. Wie immer stierte er in ein dickes Buch, das außer ihm wahrscheinlich niemand anfassen würde. »Jet?«, fragte er leise. Als der Angesprochene den Kopf hob, fuhr ein erwartungsvolles Kribbeln durch seine Magengegend, wie in Jugendtagen. »Kannst du die Technik noch?« Einen Moment dauerte es, bis Jet verstand. Er zog die Stirn kraus, verengte die Augen etwas. Dann nickte er, langsam. »Die Theorie … ist noch drin.« Er musste lachen, auch ihn überkamen nun die Erinnerungen. »Die Praxis würde ich nicht mehr im Entferntesten schaffen, glaube ich.« »Die hast du schon damals nicht gekonnt, Jet.« Das Lachen der beiden verblasste. »Groar konnte sie«, murmelten sie synchron. »Paradox«, flüsterte Billy. »Dass der kleine, dürre Groar den großen, bösen Vampir in einen Sarg gehämmert hat … den der schnelle, schlaue Jet konstruiert … und der kräftige, breite Billy gebaut hat.« Sie blickten zu Boden, und plötzlich – zum ersten Mal, seit sie sich wieder gesehen hatten – waren sie nicht mehr die beiden jungen Freunde, die sich erneut einem Abenteuer gegenüber sahen; plötzlich waren sie die Personen, die sie jeden Tag verachtend im Spiegel musterten; plötzlich waren sie die Personen, die sie vor so vielen Jahren nie hatten sein wollen; plötzlich waren sie zwei Männer, zwei alte Männer, die in einem alten Haus saßen, an alte Geschichten dachten und die alte Hoffnung längst aufgegeben hatten, alte Kräfte wieder aufkochen zu lassen. Plötzlich waren sie alt. Billy schüttelte den Kopf, seine Augen hatten sich geweitet, entsetzt über die Erkenntnis, die soeben mit einem kräftigen Schlag mitten in sein Gesicht zu seinem Gehirn vorgedrungen war. »Ich … werd’ ins Bett gehen«, sagte er heiser. Jeathrow nickte, er sah ihm stumm nach, wie er den Flur durchquerte um sich ins Gästezimmer zu schaffen… Die Tür blieb offen, das Licht blieb angeschaltet. Seufzend blickte Jet aus dem Fenster in die Dunkelheit der Nacht. Keiner von ihnen wollte jetzt mit ihr allein sein. Als aus dem Gästezimmer regelmäßiges, tiefes Schnarchen drang, erhob Jet sich und ging schwerfällig vor seinem drei Wände bedeckenden Bücherregal auf die Knie. Drei Bücher zog er heraus, wühlte sich durch einen Haufen von Staubmäusen und fischte schließlich einen nur spärlich gebundenen Stapel Papierfetzen aus einer Nische im Boden. Es – eine Stadt in Schweigen… Auch diesen Untertitel hatten er und seine Freunde nur langsam verstanden. Doch Pavel Maximovitsch hatte ihn sehr gut gewählt, das konnte Jeathrow nun ein drittes Mal feststellen. Nun waren in Abständen von dreißig und zwanzig Jahren Jugendliche in seiner Heimatstadt verschwunden und nur selten wieder aufgetaucht – wenn, dann oft verletzt und psychisch schwer gestört. Doch nur selten hatte einer dieser Verluste eine Meldung in der Zeitung gefunden, es waren immer bloß kleine Vermissten-Annoncen gewesen. Nichts war über die örtliche Presse hinausgegangen. Nie hatte die Welt außerhalb der Stadt etwas davon erfahren. Seufzend strich Jet durch die zerfledderten Seiten des alten Tagebuchs; Groar, Billy und er hatten oft überlegt, ob Es vielleicht selbst bezweckt hatte, dass die Menschen in dieser Stadt so sehr in Stillschweigen verfielen über all diese schlimmen Ereignisse. Er wusste es bis heute nicht, und er war zu müde um darüber nachzudenken. Woran auch immer diese hartnäckige Stummheit kam, es lag nach wie vor an ihnen, etwas zu verändern. »Und an den Kindern…«, murmelte Jet leise, als seine Gedanken zum kleinen Matt, seinem Bruder, Samantha Parker abschweiften. »An den armen Kindern…« Er schüttelte den Kopf, stellte die Sorge um den städtischen Nachwuchs zurück. Mit zitternden Fingern schlug er die letzte Seite des Buches auf, wo Pavel Maximovitsch lose Blätter aus anderen Werken in den Schutzumschlag geschoben hatte. Behutsam zog Jet sie raus. Hier war sie, die Theorie, hier war sie… Hier war die Anleitung, sich lästige Wesen vom Hals zu halten. Im Raum schräg gegenüber konnte Billy nicht einschlafen. Das Kind in ihm, das durch die letzten Jahrzehnte nie so weit zurückgedrängt worden war wie es hätte sein sollen, hatte es nicht gewagt die Deckenlampe zu löschen. Er lag in purem Licht. Seine Gedanken kreisten um die vergangenen Tage. Die Dinge hatten sich so rasant verändert, er hatte das Gefühl, als hätte Es diesmal im Zeitraffer geplant. Samantha Parker hatte sie vor drei Tagen hektisch abgewimmelt und ziemlich deutlich gemacht, dass sie nicht bereit war das Risiko einzugehen über Es zu reden… Seitdem hatte sie niemand mehr gesehen. Sie erschien nicht mehr in der Schule, sie wurde nicht einmal mehr vor ihrer Haustür gesichtet; auch nicht hinter ihrer Haustür, ihre Mutter hatte gestern die Vermisstenanzeige durchbringen können. Jet und er hatten immer mehr Erinnerungen teilen können, alles kehrte langsam zurück. Ein tiefes Seufzen dehnte seine Brust. Er vermisste Groar. Trotzdem, er musste versuchen strategisch zu denken. Wenn Samantha Parker geholt worden war – und das war anzunehmen –, musste das bedeuten, dass wieder eine andere Person freigelassen wurde. Acer hatte es ihm so erklärt, anders konnte es mittlerweile nicht mehr laufen. Aber nirgends war auch nur die kleinste Meldung aufgetaucht über einen Vermissten, der wieder nach Hause gekommen war. Aber irgendjemand musste doch… Hatte man diese Person etwa woanders abgesetzt? Wer war freigekommen für Samantha? Suzanne Grampier hatte sich seit Stunden nicht mehr vom Fleck bewegt. Der Schock, dass die Putzfrau sie fast entdeckt hatte, saß noch immer so tief, dass ihr Körper nicht für einen Zentimeter bereit war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lang sie sich nun bereits in dieser öffentlichen Toilette versteckte, es mussten über zwei Tage gewesen sein – die grellen Neonröhren waren schon zwei mal erloschen. Sie hatte sich abwechselnd in einer kleinen Kammer mit Putzutensilien und in verschiedenen Kabinen versteckt, getrunken hatte sie wie selbstverständlich aus den Schüsseln. Das hier waren die saubersten Toiletten, die sie seit Jahren hatte erblicken dürfen – nach der Erinnerung an den »Luxus« Plumpsklo war ihr das Wasser unter den Plastikbrillen wie das Reinste der Welt erschienen. Einmal hatte sie den Blick in den Spiegel im Waschraum gewagt, danach nie wieder. Bevor Sie sie geholt hatten, hatte sie sich ihr Teenagergesicht immer anders vorgestellt, hübsch, geschminkt, gepflegt, vielleicht sogar etwas pickelig – nicht dürr, faltig, eingefallen und von Dreck und Sand gebräunt. Mit diesen Gedanken hatte sie sich zurückgezogen ins Dunkel und seitdem keine mehr zustande gebracht. In ihrem Kopf herrschte Leere. Man hatte sie in diesen Räumen ausgesetzt, ohne ein Wort, ohne ein einziges Wort der Erklärung, sie wusste nicht wo sie war und weshalb sie dort war, sie wusste gar nichts. An diesem Punkt stellte sie immer wieder mit einem entrückten Lächeln fest, dass sie wenigstens noch ihren Namen wusste – ihren Vornamen. Bei ihrem Nachnamen schwankte sie. Grampier. Ruckartig hob Suzanne den Kopf. »Was?«, krächzte sie; ihre Stimme war ausgedörrt vom seltenen Gebrauch. Dein Nachname. Grampier. Sie brauchte einige Sekunden, um zu verstehen. »Mein Nachname…«, murmelte sie schließlich. »Grampier… Suzanne Grampier…« Ganz genau. Du bist Suzanne Grampier. »Ich… Wer… Wer spricht denn da…?« Das ist jetzt nicht wichtig. Du solltest sowieso aufpassen, nicht allzu laut zu reden, sonst findet man dich hier. Das könnte übel enden. Suzanne nickte langsam. Und bevor das passiert, solltest du dich besser selbst auf den Weg machen… Du hast doch Hunger, nicht? Langsam senkte Suzanne den Blick zu ihrem Bauch, und wie auf Kommando ertönte von dort ein Geräusch ähnlich dem eines absterbenden Automotors. Sie verzog das Gesicht. »Ja, hab ich«, nuschelte sie. Dann ist es höchste Zeit, dir etwas zu essen zu besorgen. Komm mit, ich weiß, wo du welches bekommst. Warm und köstlich… Und dabei wirst du gleich einen alten Freund wiedersehen. Einen von früher, von der schönen Zeit. Suzannes Augen weiteten sich. »Von früher? Ein Freund?« Ich erkläre dir alles auf dem Weg, Suza… Nun steh erst einmal auf. Längst nicht mehr argwöhnisch gegenüber Stimmen, die aus dem Nichts oder ihrem eigenen Kopf kamen, zog sich Suzanne langsam auf die Beine. Diese Stimme klang so sympathisch, so einfühlsam – sie hatte sie bei ihrem alten Spitznamen genannt. Komm, raus hier, wir müssen jetzt erst mal an die frische Luft. Dann zeig ich dir, was und wen ich meine. Etwas geblendet vom Licht stolperte Suzanne aus der Kammer, aus dem Waschraum, Treppen hoch und wieder herunter, aus einem Kaufhaus (erinnerst du dich hier warst du schon einmal mit deiner Mutter Hosen einkaufen für den Schulbeginn) und auf eine Straße – voll mit Menschen. Verängstigt blickte sie sich um, so viele lachende und sprechende Gesichter um sie herum war sie nicht mehr gewohnt, jeder schien laut und glücklich, das war abstrakt – Keine Angst. Wir kommen bald in leerere Straßen. Und vor diesen Menschen hier musst du dich nicht fürchten. Sie werden dir nichts tun, das verspreche ich. »Okay«, flüsterte Suzanne. »Okay… Wo… Wo gehen wir denn jetzt hin?« Die Adresse würde dir wohl nichts sagen… Aber… Mit Sicherheit erinnerst du dich noch an Alex Lager. Kapitel 9: Ein kleines Licht ---------------------------- Im Haus der Familie Lager verlief das Abendessen noch stiller als sonst. Niemand aß viel, und wenn doch, dann tat er das leise, um bloß nicht so auszusehen, als ginge es ihm gut. Selbst die kleinen Zwillinge schienen die Bedrückung zu bemerken. Alex’ Vater war heute nicht zur Arbeit gegangen, seine Geschwister waren vorzeitig vom Studium beurlaubt worden und saßen nun mit ihnen am Tisch; jeder sorgte sich um Juliet. Entsprechend erschrocken reagierten sie, als es an der Tür klingelte. Gabeln fielen zurück auf die Zelle, die Zwillinge fiepten, Stühle rückten - »Ich geh schon«, sagte Alex rasch, erpicht den Tisch als Erster verlassen zu können. Eilig stolperte er durch den Flur und riss die Tür auf. Eingesunkene braune Augen starrten zu ihm hoch, die Züge eines ausgemergelten, verdreckten Gesichts verzogen sich langsam zu gequälter Freude. Von der Größe her hätte Alex sie auf nicht älter als zwölf geschätzt, doch alles Andere ließ sie älter wirken. Der Wind wehte ihr verfilzte Haare ins Gesicht, die fast zu ergrauen schienen, tiefe Falten durchzogen ihre Haut, als ihre aufgeplatzten Lippen langsam ein furchtbares Lächeln bildeten, waren kurz gelbe, abgestorbene Zähne erkennbar. Na toll, dachte Alex prompt. Bettler, Penner, das können wir doch jetzt nicht gebrauchen. »Tut mir leid, wir haben nichts«, sagte er trocken. Nach Juliet wollte er nichts mehr einbüßen müssen. »Alex…« Er hob eine Augenbraue. Unterbewusst kam ihm etwas an dieser müden, verbrauchten Stimme bekannt vor, doch das beachtete er nicht. »Schön, dass du rausgefunden hast, wie ich heiße. Wir geben trotzdem nichts her.« Und er setzte an die Tür zu schließen, doch mit einer erstaunlich starken Hand hielt das Mädchen sie auf. »Bitte«, krächzte sie. »Bitte, ich… Ich hab Hunger… Alex, bitte… D-Du… Du kennst mich doch!« »Ich kenn dich nicht, hau ab. Ich hab Wichtigeres zu tun.« »Aber… I-Ich bin’s, Suzanne… Suza Grampier. Ich brauch was zu essen…« Noch einmal musterte Alex die Gestalt vor ihm, die zerrissenen Klamotten, dieses ungepflegte Erscheinen - »Ich kenn keine Leute wie dich.« Bedacht darauf nicht wieder verhindert zu werden, schloss er schnell die Tür. Er kannte keine Suzanne Grampier. Das musste ein Irrtum sein; oder wahrscheinlich schon viel eher eine psychische Störung. Als er zurück ins Esszimmer kam, blickten ihn erschöpfte Augenpaare in hoffnungsloser Erwartung an. »War niemand Wichtiges«, sagte Alex leise. Er blickte sich kurz um, griff schließlich seine Jacke von einem Stuhl und streifte sie sich über. »Ich geh noch mal raus«, murmelte er. »Brauch ’nen freien Kopf.« Er verließ das Haus in Schweigen, kein Wort der Vorsicht oder des Abschieds verfolgte ihn noch bis zur Hintertür. Alex floh absichtlich durch den Zaun von der Straße weg, um diesem armseligen Mädchen nicht noch mal begegnen zu müssen. Nur wenige Stunden später hatte er außerordentlich gute Laune. Er hatte seinen Weg durch die üblichen Kneipen eingeschlagen und erst weit nach Mitternacht wieder beschlossen nach Hause zu gehen. Die kleine Stimme, die ihm immer wieder einredete, dass er morgen wieder zur Schule musste, hatte er längst im Alkohol ertränkt. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen und dem Plan, sich noch mehr Bierflaschen zu beschaffen, schlenderte er die Straße entlang; hätte ihn jetzt jemand nach seiner Schwester Juliet gefragt, hätte er nicht gewusst von wem die Rede war. In seinem angeheiterten Zustand hielt er den Raben, der immer schneller über seinem Kopf kreiste, zunächst für einfache Windstöße. Erst, als Krallen sich in seine Kopfhaut gruben, brachte er ihm gebührende Aufmerksamkeit entgegen. Er stieß einige wüste Flüche aus, hob die Hände zu seinem Kopf und schlug nach dem Tier, doch alles, was er sich dadurch einhandelte, waren Kratzer auf den Fingern. Alex kam ins Stolpern, Federn und Flügelschlagen verwehrten ihm die Sicht und langsam stellte er sogar dumpfen Schmerz fest an zahlreichen kleinen, blutenden Wunden. »Verficktes Vieh, lass mich in Ruhe!«, rief er, kniff die Augen zu und schlug um sich, er wirbelte wild mit den Armen um den Vogel endlich zu vertreiben – und lief in seiner Blindheit geradewegs gegen eine Laterne. Stöhnend ging er zu Boden, schlug mit Rücken und Kopf hart auf dem Bürgersteig auf. Er blinzelte benommen, seine Sicht wollte sich einfach nicht klären, nur verschwommen konnte er sehen, wie sich der Rabe immer weiter seinem Gesicht näherte. In den nächsten Momenten erfüllte ein schmatzendes, zerfleischendes Geräusch die Luft, es war das einzige, was darauf hinwies, dass gerade ein Rabenschnabel immer wieder zwei Augäpfel durchstieß – bis es Alex schaffte, zu schreien. Er brüllte und drehte den Kopf hin und her, sein Körper zuckte unkontrolliert, war nicht fähig sich erneut zu wehren, der Schmerz raubte ihm jegliches Denkvermögen. Unverständliche Wortfetzen drangen aus seiner Kehle, schwächten zu einem Wimmern ab, als man endlich von seinen Augen abließ. »Hilfe…«, hauchte er heiser. »Törichter junger Mann«, antwortete eine Stimme direkt neben seinem Ohr, so laut und deutlich, dass es ihm vorkam als würde er angebrüllt. »Nie Hilfe geben, aber immer welche erwarten.« Ächzend drehte Alex den Kopf in die Richtung dieser Stimme, versuchte einen Arm nach ihrem Besitzer auszustrecken, doch sein Körper war vor Schmerz und Angst wie gelähmt. »Helfen Sie mir«, krächzte er. »Bitte!« »Hat das Suzanne Grampier nicht auch von dir verlangt? Eine alte Freundin aus Kindertagen; ihr habt euch in der Grundschule ganz wunderbar verstanden. Sie wollte nur etwas Hilfe: eine Scheibe Brot, ein Glas Wasser. Hat sie das von dir bekommen, Alex?« »W-Woher… Ich… N-Nein… Bitte, helfen Sie mir… Meine Augen…« Tränen vermischten sich mit dem Blut auf Alex’ Wangen, er konnte nicht verstehen, wie da jemand neben ihm sein konnte, ohne ihm zu helfen – er musste entstellt aussehen, er hatte doch Schmerzen, warum tat denn niemand etwas? Langsam holte er Luft, öffnete den Mund – Eine eiskalte Hand drückte sich auf seine Lippen, hielt gleichzeitig seinen Kopf am Unterkiefer unbeweglich fest. »Nicht, Alex… Weck die armen Leute hier nicht auf. Du hast schon genug geschrien.« Er spürte, wie er über den Boden gezogen wurde, gab erstickte Laute von sich und versuchte sich loszureißen, doch diese eine Hand an seinem Gesicht hinderte ihn tatsächlich an jeder Flucht. Schließlich übermannte ihn doch wieder der Schmerz in seinen zerstörten Augen, seine Kraftreserven verließen ihn rasant. Sein Rücken berührte eine steinerne Wand, er saß nun zusammengesunken am Boden, fühlte unnatürlich kühlen Atem nah an seinem Hals. »Glaubst du an Vampire, Alex?« Die Stimme war auf ein kaum vernehmliches Hauchen gesunken, sie verursachte ihm Gänsehaut und ein starkes Zittern in jedem einzelnen seiner Muskeln; selbst sein Hirn, ja sein ganzer Kopf schien sich zu verkrampfen, mit jeder Schmerzwelle von seinen Augen mehr. Als sich die Hand von seinem Mund löste, brannte ihm die höhnische Antwort auf der Zunge, die er jedem anderen gegeben hätte, doch sein schwächelnder Verstand konnte ihn gerade noch davon abhalten. »Nein«, wisperte er bloß. Ein Lachen drang an seine Ohren, kalt und höhnisch, das in ihm den starken Drang entfachte einfach aufzustehen und so schnell wie möglich wegzulaufen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals; er gab ein ersticktes Fiepen von sich, versuchte etwas zu sagen, doch die pure Panik nahm jeglichen Platz in ihm ein. »Nein«, wiederholte sein Gegenüber langgezogen. »Natürlich tust du das nicht. Hirngespinste der Freaks, nicht wahr? Freaks, um die du dich nicht kümmern musst… Freaks, die verprügelt gehören, Freaks, über die man sich lustig machen sollte. Suzanne Grampier stand heute an deiner Haustür, Alex, und hat dich um eine kleine Hungerspende gebeten. Aber selbst sie war für dich ein Freak. Weil sie arm aussah. Also hast du ihr nichts gegeben… Vielleicht interessiert es dich, dass sie jetzt in diesem Moment im Begriff ist zu verdursten.« Alex schluckte schwer, er presste sich mit wachsendem Horror gegen die Wand hinter ihm, verkrampfte sich gänzlich. »Wer sind Sie?«, brachte er mühsam hervor. Augenblicklich spürte er, wie sich diese Person ihm weiter näherte, zu sehr näherte, Atemluft streifte sein Ohr, wanderte weiter hinab, etwas (oh mein Gott) kratzte (Zähne) über die Haut seines Halses. »Ich bin der Rabe.« Durch den Verlust seiner Augen hatten sich Alex’ Sinne geschärft; deutlich nahm er jeden Millimeter wahr, den die Fänge auf dem Weg zu seiner Schlagader zurücklegten, entsetzt keuchte er auf, seine Arme hingen steif in der Luft, er war auf einmal völlig unfähig bloß daran zu denken sich zur Wehr zu setzen, in seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Der Vampir trank; jeden Zug spürte Alex an seinen Adern reißen, so quälend langsam entwich ihm sein Blut, sein Leben – zwei Arme legten sich um ihn, pressten ihn immer mehr an den fremden Körper, an den fremden Kiefer – sein Mund stand weit offen, sein Atem ging flach; das war also sein Ende. Mit einem tiefen Sog entwich der letzte Tropfen aus dem leblosen Körper. Acer ließ langsam von ihm ab und richtete sich auf. Den Nachgeschmack genießend leckte er sich über die Lippen, musterte Alex’ Leiche dabei eingehend. Schließlich versetzte er ihm einen kräftigen Tritt. Er ähnelte seiner Schwester in keinster Weise. Das kleine Licht flackerte, schwankte einige Momente in der Luft hin und her, bis es endgültig erlosch. Sammy-Joe seufzte, lehnte die Stirn zurück an die kühlen Gitterstäbe. »Und der nächste«, nuschelte sie. Erneut warf sie einen Blick auf ihren Unterarm und erneut fiel ihr ein, dass man ihr die Uhr abgenommen hatte. Die einfachste Methode, um jemandem Zeitgefühl und Verstand zu rauben. Doch die Frage, die sie sich wiederholt gestellt hatte, wurde im nächsten Augenblick beantwortet, als zwei lehmige Füße in ihr Blickfeld traten. »Du hast deine drei Tage abgesessen«, grunzte das Sandkind. Sammy-Joe legte ihre gefesselten Hände an die Stäbe und zog sich mühsam daran hoch. »Kann ich nach Hause?«, fragte sie in einem Anflug von Hoffnung, wurde jedoch sofort enttäuscht: »Nein, du kommst zu den anderen.« Sie nickte bloß, etwas Anderes hätte sie schließlich kaum erwarten dürfen, und ließ sich mit in den anliegenden Gebäudeteil ziehen. Kaum waren sie über die Türschwelle getreten, war die Luft komplett erfüllt vom Schluchzen, Wimmern, Weinen und Heulen hunderter Kinderstimmen. Fest vom Sandkind am Arm gepackt stolperte Sammy vorbei an geschundenen, verdreckten Gesichtern – ein furchtbar altbekanntes Bild für sie. »Ich hab ein Licht runterkommen sehen«, sagte sie leise. »Wer ist da gerade gestorben?« »Ein alter Freund von dir.« Sie hob eine Augenbraue und musterte das Sandkind abschätzend. »Meine alten Freunde habt ihr doch vor fünf Jahren schon alle umgebracht.« »Deshalb war das auch Ironie. Alex Lager.« Damit wurde sie in eine noch nicht ganz so volle Zelle gestoßen, perplex starrte sie das Sandkind an, ließ sich die Fesseln lösen, fing ganz aus Reflex das in Papier gewickelte Brot und die Plastikflasche auf, blinzelte ihm dann nach. Alex… »Das hätte nicht mal ich ihm gegönnt«, murmelte sie. »Sam?« Sie hob die Brauen, drehte sich um und blickte in ein Gesicht, das sich nach so vielen Jahren kaum verändert zu haben schien. »Annie!« Die eingefallenen Wangen rafften sich zu einem schwachen Lächeln auf, die Frau – sie war jetzt tatsächlich eine Frau – am Boden zwischen mehreren unruhig schlafenden Kindern klopfte einen Fleck vor sich von Sand und Staub frei und gestikulierte dann zu Sam hoch. »Setz dich, komm… Erzähl mir alles.« Vorsichtig ließ Sammy-Joe sich vor Annie Bennett nieder, legte ihre Essensration für die nächsten Tage beiseite und zuckte mit den Schultern. »Gibt nicht viel zu erzählen. Hab oben die paar Jahre Ruhe gehabt und dafür andere Probleme; jetzt bin ich wieder hier, weil ich Acer geärgert hab.« »Sieht dir ähnlich«, schmunzelte Annie. »Ist jetzt schon wieder kaum zu glauben, mit welcher Fassung du das hier nimmst. Ich hab da viel länger gebraucht, um mich zu beruhigen. Na ja – ich war auch hochschwanger.« Als Sammy sie nur überrascht ansah, lachte sie – bitter und verletzt. »Ja, stell dir vor, ich war schwanger. Und zwar schon im neunten Monat, als ich hier ankam. Geholt haben sie mich wohl, weil ich langsam anfing, meinen Psychologen zu glauben. Hab gedacht, für das Kind sollte ich mit dem Scheiß aufhören… Und das hab ich jetzt davon.« Sam schwieg weiterhin. Sie rechnete. Kennen gelernt hatte sie Annie mit zehn, und sie war fünf Jahre älter gewesen. Sechs Jahre war das her, kurz darauf war Annie wieder freigekommen… Das bedeutete, sie musste jetzt einundzwanzig sein. Sie biss sich auf die Unterlippe, wog die Frage ab, bevor sie sie langsam und zittrig stellte: »Was … ist denn aus dem Kind geworden?« Annie versuchte sichtlich, weiterhin gute Laune vorzutäuschen, scheiterte jedoch. Ihr Blick verdunkelte sich deutlich. »Ich hab den Kleinen hier zur Welt gebracht. Timothy durfte ich ihn noch nennen. Dann hat Acer ihn genommen.« Sam fluchte so laut, dass eins der Kinder am Boden wach wurde. »’tschuldigung«, nuschelte sie. »Er hat mir versprochen, ihn nicht umzubringen«, fügte Annie leiser hinzu. »Aber gesehen hab ich ihn trotzdem nicht mehr. Seit drei Jahren.« »Scheiße, Annie, das tut mir so leid… Dieser… Dieser Bastard… Du bist seit drei Jahren schon wieder hier?« Annie nickte. »Ich hab Tage gezählt. Die ganze Zeit durch. Wegen Timothy; konnte nicht aufhören. Jetzt sind es ziemlich genau drei Jahre und ein paar gequetschte. Aber die Zeit vergeht schneller als früher. Hier ist viel los. Die haben unglaublichen Stress hier unten.« »Man hat’s oben entfernt mitgekriegt… In der Schule war urplötzlich Blutregen. Was ist denn mit Ihm los?« Endlich schlich sich ein ehrliches Grinsen auf Annies Gesicht. Sie lehnte sich etwas näher zu Sammy, senkte die Stimme. »Es ist ratsamer, nicht allzu laut darüber zu reden… Den anderen gefällt es natürlich ganz und gar nicht… Aber Es merkt, dass es sich mit Ihm dem Ende zuneigt. Und Es braucht einen Nachfolger.« »Einen Nachfolger?« Sam bemühte sich, ihre Stimme leise zu halten. »Aber wie… Wie kann es mit Ihm denn zu Ende gehen?« Ein Lächeln huschte über Annies Gesicht, sie musterte sie mit aller Erwachsenheit, die sie hatte. »Du weißt nicht, was Es genau ist, oder? Es ist kein großes, schleimiges Monster. Es ist nicht einfach nur die Dunkelheit. Es ist mal ein Mensch gewesen. Wie du und ich. Wie … Acer, wie der Kutscher, wie das Sandkind, selbst der Schatten war mal ein Mensch. Das weißt du. Das hier unten sind alles Dämonen und Geister, Existenzen, die früher menschlich waren. Und jeder Mensch stirbt irgendwann.« »Aber… Es ist doch kein Mensch mehr, oder?« »Nicht direkt, nein. Es… Na ja, soweit ich das verstanden habe, ist Es so eine Art Zwischending. Also kein sterblicher Mensch, aber auch kein unsterblicher Dämon oder Geist. Die Macht, die Es zu dem gemacht hat, was Es ist, hat aus irgendwelchen Gründen nicht vorhergesehen, dass Es ewig lebt. Es lebt länger als ein normaler Mensch, aber eben nicht für immer. Und Sein Todesdatum liegt in naher Zukunft, deshalb … sucht Es quasi ein neues Es. Und dieses Extrem, was im Moment hier unten und oben in der Stadt abgeht, das … ist sozusagen der Wettstreit zwischen den Wesen hier. Die wollen alle das neue Es werden. Und der Beste, der… Der Grausamste gewinnt.« Fast sichtbar bildete sich in Sammy-Joes Kopf Verständnis. »Annie… Woher weißt du denn das alles?« Annie zuckte mit den Schultern. »Bin jetzt lang genug hier gewesen um das aufzuschnappen. Schieb’s nur nicht auf mich, wenn das am Ende alles gar nicht stimmt.« »Würd’ ich nie«, murmelte Sam. In Überlegungen vertieft spielte sie an der dreckigen Plastikflasche herum. »Komische Vorstellung, dass Es stirbt…« Erneut lehnte Annie sich etwas weiter vor. »Im Grunde ist das unsere Chance, etwas zu tun… Zu versuchen, das nächste Es zu verhindern.« Sammy-Joe hob den Kopf und sah die Frau skeptisch an, ließ dann den Blick schweifen zu den feuchten, kalten Wänden, den Kindern am Boden, die im Schlaf leise die Melodien summten, die sie selbst noch kannte; seufzte. »Wird wohl Zeit, mir mal wieder Hoffnung anzutrainieren.« Kapitel 10: Auswege ------------------- »Mein Gott, Jet. Du fährst ja wie der letzte Terrorist.« »Irgendwas muss man eben gegen das Alter tun«, murmelte Jeathrow und warf einen erneuten Blick auf den Stadtplan. »Sind gleich da; hast du das Tagebuch?« »Zum sechsten Mal – ja, hab ich. Seh’ ich denn so senil aus?« Jet rieb sich mit einer Hand die Augen und blickte Billy entschuldigend an. »Ich find das hier unglaublich stressig. Tut mir leid.« »Ich merk’s. Ist schon in Ordnung, solang du gegen keine Bäume fährst.« Kommentarlos bog Jet in eine Einfahrt. Er stoppte den Motor, schnallte sich ab, atmete tief durch. Zweifelnd musterte er seinen Freund. »Was machen wir denn jetzt, wenn ihre Eltern da sind?« »Das überlegen wir uns dann. Mach dir doch nicht so ’nen Kopf. Wir wollen eben ihre Söhne sprechen, vielleicht haben sie einen Fußball durch meine Scheibe gekickt, was weiß ich. Ist doch egal. Jetzt komm schon, bringen wir’s hinter uns.« Und Billy stieg aus. Einen Moment lang sah Jet ihm fassungslos nach, rätselte, wie er nach diesen ganzen Jahren noch so sehr seine Kindheit hatte behalten können, seufzte dann achselzuckend und zog die Handbremse an. Nebeneinander blieben sie vor der Haustür stehen. Billy hob eine Augenbraue. »Klingelst du jetzt auch mal oder ist dein Arm da nur eine Prothese?« Jet lachte leise, klingelte. Auf Billys eigenen Humor hatte er nie Antworten gefunden. Die Tür öffnete sich einen Spalt, Camille Spencer kam darin zum Vorschein. Stirnrunzelnd musterte sie erst Jet, dann Billy, zog die Tür etwas weiter auf. »Bitte?« Ihre Stimme klang heiser, verweint, schwach. »Jeathrow Peters«, sagte Jet rasch. »Vielleicht erinnerst du dich, Matt war bei mir. Das hier ist William –« »Billy.« »Billy Kidney. Bist … du bei den beiden zu Besuch?« Camilles gerötete Augen verloren ihren Fokus. »Bei Matt«, antwortete sie leise. »Nur bei Matt. Jan ist … nicht da. Jan ist seit gestern früh verschwunden.« Ihre Stimme brach in ein Flüstern. »Seit fast genau sechsunddreißig Stunden.« Der Blick, den Jet und Billy austauschen, grenzte an Telepathie. »Sind seine Eltern hier?«, fragten sie synchron. »Nein.« Das Mädchen lächelte schwach und trocken. »Sie können reinkommen.« Sie führte die beiden Männer hoch in ein Kinderzimmer, Matt saß auf seinem Teppichboden und stupste mit dem Zeigefinger ein Playmobilmännchen an. Als er Jet wiedererkannte, lächelte er. Über seiner noch verfärbten Nase klebte ein dünnes Pflaster. »Hallo«, sagte er leise. »Jet, der Schatten hat Jan mitgenommen.« Camille fuhr sich mit einer zitternden Hand durchs ungekämmte Haar, ließ sich auf dem Boden nieder und legte sanft einen Arm um Matt. »Setzen … Sie sich irgendwo, wo Sie Platz finden… Jans Eltern wollten noch mal durch die Stadt fahren und suchen. Weshalb sind Sie hier?« Mit einem tiefen Luftholen ergriff Billy das Wort. »Wir wollten mit euch über Möglichkeiten sprechen.« Er nickte Matt zu, lächelte fest. »Ich bin übrigens Billy, ich hab damals mit Jet und noch einem Freund den Blutsauger geärgert.« Matt nickte. »Aber sie haben sich an euch gerächt.« »Jet jammert viel, wenn der Tag lang ist. Wie auch immer, wir haben euch das Tagebuch von einem gewissen Pavel Maximovitsch mitgebracht. Den Kerl muss man nicht kennen, aber er hat vor, ich glaube, über hundert Jahren mal Experimente gemacht und dokumentiert, wie man diesen ekelhaften Viechern von unten zusetzen kann. Die hat er aufgeschrieben und diese Schriften haben wir als Kinder gefunden. Und wir haben das gleiche versucht wie er, wir haben Acer gebannt. Wir wussten damals nämlich noch gar nicht von den ganzen anderen. Wir dachten, wir hätten es einfach nur mit einem Vampir zu tun, der irgendwas mit der Dunkelheit am Hut hat. Und bannen, das heißt, wir haben ihn einen Sarg gesteckt und dann verflucht, dass er da ohne Hilfe nicht mehr raus kann. Leider hat er Hilfe bekommen, und zwar vom Schatten. Jahrzehnte später. Und da kam dann die Rache. Das fanden die beiden nämlich nicht nett.« Billy hob das Tagebuch in seinen Schoß, schlug es vorsichtig auf und zog die vergilbte Seite heraus, auf der die Flüche notiert waren. »Worauf wir hinauswollen, ist, dass wir das irgendwie noch mal versuchen müssen. Am besten mit euch. Wir werden nämlich langsam so alt, dass wir uns nicht mehr bewegen können.« »Wenn Jan jetzt weg ist, ist das Ganze noch dringender«, sagte Jet langsam. »Wir können ihn da rausholen.« »Falls er noch lebt«, sagte Matt, ganz sachlich. Camille erzitterte, wandte den Blick ab und hielt sichtlich Tränen zurück. »Natürlich lebt er noch, Matt. Und wir prügeln ihn da raus… S-Sammy-Joe vielleicht auch…« Sie schniefte, versuchte die Männer auf Matts Bettkante entschlossen anzublicken, scheiterte jedoch. »Habt ihr… Haben Sie … einen Plan?« »Duz’ uns. Bitte.« Jet warf Billy einen zweifelnden Blick zu, er seufzte. »Zu… Zu euch beiden kommen sie nachts doch noch einfach so, oder? Ohne anzugreifen… Bloß um Angst zu machen.« Camille und Matt nickten. »Das… Das wäre der Plan.« »Vielleicht sollten wir erst mal Maximovitschs Erkenntnisse durchgehen«, sagte Billy und ließ sich samt Tagebuch auf den Boden rutschen. »Er hat nämlich die einzige Methode gefunden, die Viecher festzuhalten.« »Bannen«, sagte Matt, freudig etwas verstanden zu haben. Billy lächelte, schüttelte jedoch den Kopf. »Das kommt später. Richtig, durch einen Bann kann man sie ein für alle Mal festhalten. Aber man kann sie auch fesseln. Aus normalen Seilen können sie sich befreien, ohne Probleme. Aber Maximovitsch hat Fesseln aus weißem Garn geflochten.« »Das ist schon unser erstes Problem«, fuhr Jet fort. »Garn ist dünn, wir brauchen sehr, sehr viel davon, um das zu schaffen. Zum Flechten wär’s praktisch, wenn ihr mithelfen könntet; den Kauf übernehmen wir, sind schon dabei so viele Rollen Garn aufzutreiben wie möglich. Aber es wird einige Zeit in Anspruch nehmen…« »Was Besseres fällt uns nur leider nicht ein.« Billy musterte die Kinder vor ihm eindringlich. »Jan wird sich gedulden müssen. Wir beeilen uns trotzdem.« »Wenn uns nichts anderes übrig bleibt«, murmelte Camille. Jans Verschwinden hatte sie sichtlich mitgenommen; noch nie hatte sie sich überwinden können, einen Sieg über Es in Erwägung zu ziehen. »Was … genau machen wir dann mit Fesseln und Bann?« Jet lehnte sich zurück, rieb die müden Augen. »Es geht darum, zu überrumpeln, wenn einer von Ihnen wieder nachts bei euch im Zimmer ist. Tun, was er nicht erwartet: Aus dem Bett springen und ihn mit dem Seil überwältigen. Es reicht, es ihm einfach um den Hals oder Arm zu legen, die Erfahrung haben wir selbst gemacht, was ihr eben in dem Moment zu fassen bekommt. Er wird sich nicht bewegen können, nichts. Dann ruft uns an, ich lass meine Nummer gleich hier. Wir kommen dann mit dem Auto; seht zu, dass eure Eltern nichts mitbekommen.« »Das mach am besten ich«, sagte Camille leise. »Deine Eltern werden dich in den nächsten Nächten kaum alleine lassen, Matt.« Billy nickte. »Wir laden den Kerl dann in den Kofferraum und bunkern ihn bei uns – bei Jet. Was uns dann bleibt, ist zu hoffen, dass die anderen irgendwann kommen um nach ihm zu suchen. Das wäre dann unsere Chance. Es existiert ein sogenannter Gruppenbann, damit lassen sich mehrere Personen gleichzeitig in einen Gegenstand sperren. Das … wäre soweit unsere Überlegung.« Matt musterte Billy mit gerunzelter Stirn, er hielt sein Playmobilmännchen nun fest in einer Hand. »Könnt ihr das? Gruppenbann?« »Wir üben es.« Jet beugte sich wieder vor und legte dem Jungen mitleidig eine Hand auf die Schulter. »Wenn es soweit ist, können wir es. Sobald das Garn fertig ist, sind wir es auch. Damit wir deinen Bruder retten können. Versprochen.« Mit glitzernden Augen blickte Matt hoch zu dem Mann, der ihm so ganz und gar sympathisch war, der ihn vor dem großen Jungen gerettet hatte (der jetzt tot war), den Sie auch geholt hatten, der Sie einmal bezwungen und danach Ihre Rache einfach ausgehalten hatte – natürlich würden sie Jan mit ihm retten können. Bestimmt brachten Sie ihn davor nicht um. Bestimmt nicht. Camille massierte mit je zwei Fingern ihre Schläfen, sie nickte. »Es klingt nach ’ner vernünftigen Lösung.« Sie war heiser, man merkte ihr die Müdigkeit und Angst so sehr an, dass es fast schmerzte. »Woher habt ihr denn diese Erfahrungen mit Ihnen?« Jet und Billy sahen sich an. »Willst du erzählen«, fragte Billy, »oder soll ich?« »Mach du mal«, antwortete Jet. »Du kannst das besser; bei mir klingt’s nur wieder nach Schauermärchen von einem alten, lahmen Sack.« »Immer so selbstkritisch«, grinste Billy langgezogen, der Ernst der vorigen Besprechung schien bereits verflogen. »Also gut, dann erzähl ich. Früher waren wir ja zu dritt, Jet, ich und Groar. Unser Löwe. Er war der Jüngste und ist trotzdem als Erster gestorben, ist ein paar Wochen oder Monate her. Herzstillstand, sagt man – wir wissen es alle besser. Jedenfalls hatten wir also unser Dreiergespann. Wir waren richtig gute Freunde… Ich weiß gar nicht mehr, wo wir uns kennen gelernt haben, aber das tut ja auch nichts zur Sache. Groar hat irgendwann angefangen uns obskure Vampirgeschichten zu erzählen, angeblich aus seinem eigenen Zimmer. Jet und ich haben natürlich die großen Jungs gespielt und ihm was von Phantasie erzählt, aber in Wahrheit haben auch wir diese komische Person nachts an unser Bett schleichen sehen. Hat nicht lang gedauert, bis wir das doch zugegeben haben. Irgendwann hat Jet sich tatsächlich getraut in einem dieser Momente einfach das Licht anzumachen. Da hat der Kleine also Acer gesehen. Ein paar Nächte später ist er mit Hauern im Hals aufgewacht; da hat’s uns gereicht. Wir sind losgezogen und haben uns informiert. Na ja, aber versucht ihr mal in den fünfziger Jahren ein Buch zu finden, das sich ernsthaft mit Vampiren beschäftigt. Findet ihr wahrscheinlich nicht einmal heute irgendwo. Pavel Maximovitschs Tagebuch hab ich in der Sitzfläche eines Bibliothekstuhls gefunden. Und wir haben es sofort ernst genommen. Es war einfach ganz anders geschrieben, dokumentiert – teilweise war auch der Schreibstil so schlecht, dass es einfach keine Fiktion sein konnte. Wir hatten damals keine Ahnung, dass Maximovitsch sich tatsächlich mit Ihnen, mit den Wesen aus der Obscuritas beschäftigt hat, wir haben nur von einem Vampir gelesen, das hat uns gereicht. Unser Plan sah dann ähnlich aus wie heute. Der Fehler war bloß, dass wir Acer allein erwartet haben. Wir konnten nicht erwarten, dass andere nachkommen und wir die alle nacheinander auch noch bannen müssen, weil wir die anderen einfach nicht kannten. Wir haben also Acer gebannt. Haben diesen Fluch geübt, geübt und geübt, haben Garn geflochten wie die Irren; wir haben einen Sarg gebastelt. Groar konnte den Fluch gegen Ende am besten, somit waren wir vorbereitet. Tja, es hat geklappt. Acer war gebannt in unseren Sperrholzsarg und der wiederum war tief verbuddelt unter ’nem leerstehenden Haus. Den Blutsauger waren wir los, aber ansonsten ist alles schlimmer geworden. In der Stadt sind Leute verschwunden, wir sind in der Nacht von allen möglichen Viechern heimgesucht worden; kurz nachdem Groars Eltern ihn zum Umzug genötigt haben, hat es aufgehört.« An diesem Punkt erst verdunkelte sich Billys Blick, er senkte die Stimme. »Mir hat das zugesetzt. Ziemlich. Hatte Wahnvorstellungen, Panikattacken. Am Ende haben wir Jet allein gelassen. Meine Eltern haben mich einliefern lassen, in die Anstalt.« Einen Moment lang war es still; Matt hatte aufgehorcht. »Hast du da auch eine Therapie gemacht? Ich mach eine.« »Das ist gut«, sagte Billy, mit einem Lächeln, das offen Schwäche zeigte. »Auch, wenn sie dir Ihre Existenz in so einer Therapie ausreden wollen, wenn du dich richtig drauf einlässt, dann mindert sie wenigstens ein bisschen deine Angst vor Ihnen. In so einer Anstalt an eine gute Therapie zu kommen, ist leider etwas schwerer. Da bist du nicht alleine, weißt du. Da sind noch hundert andere Leute, die gern vom Wahnsinn erlöst werden wollen. Und die Psychiater da suchen immer nach der Ursache deiner Psychosen. Kindheitstraumas und so. Und da war bei mir nicht wirklich was zu finden, weil meine Ursache einfach dort war, dass nachts Leute an meinem Bett standen – tatsächlich.« »Wie ist das mit der Rache gelaufen?«, fragte Camille. Der erzählerische Themawechsel tat ihr gut. Nun erhob Jet wieder das Wort. »Wie gesagt, die kam dreißig Jahre später. Ich weiß nicht, warum sie sich so viel Zeit gelassen haben. Irgendwie kann ich nicht glauben, dass es so lange dauerte, bis der Schatten Acer gefunden und den Bann gelöst hat. Vielleicht war es Taktik. Es ist doch etwas beklemmend, mit vierzig plötzlich wieder von den buchstäblichen Dämonen der Kindheit heimgesucht zu werden. Wir … drei haben einander nicht gesehen während dieser Rache.« »Sondern gehört«, murmelte Billy. Jet nickte ernst. »Das war das Brutale. Groar haben sie dafür aus seiner neuen Heimat geholt, Billy aus der Anstalt, mich einfach runter. Ihr kennt ja diese … zellenartigen Räume, in denen sie quälen. Wir hatten wohl drei nebeneinander. Wir mussten ständig die Schreie der anderen ertragen. Wir wussten, dass unsere Freunde von früher dort nebenan waren, weil sie gehört haben. Ich meine, wir hatten uns seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen oder gehört, aber wir haben sie einfach erkannt. Vielleicht war da etwas Übernatürliches drin. Vielleicht nicht. Jedenfalls war es unschön.« Mit einem Seufzen rieb er über seinen Unterarm. »Unsere Male haben wir übrigens von dort. Früher haben wir die nie bekommen. Wir wurden ja immer nur am Bett heimgesucht.« »War schon ein Schock, plötzlich zu sehen, dass eine Menge mehr hinter dem Blutsaugerchen steckt«, sagte Billy leise. »Die Rache ist ihnen jedenfalls gelungen.« Matts kleine Stirn kräuselte sich, er verzog nachdenklich die Mundwinkel. »Sie haben euch leben lassen?« Jet und Billy blickten einander an, zuckten mit den Schultern. »Ja«, sagte Billy. »Wir wussten auch nie, warum. Wir sind nicht geflohen oder so. Sie haben uns einfach … gehörig gefoltert und dann wieder gehen lassen.« Er gab ein spöttisches Lachen von sich. »Das war ein Aufruhr in der Anstalt, als ich einen Tag lang verschwunden war und dann völlig durcheinander wieder mitten im Schlafsaal aufkreuzte.« Jeathrow klopfte seinem alten Freund auf den Rücken. »Jetzt sind wir zwei alte Männer und erzählen unsere Geschichten jungem Gemüse. Man fühlt sich fast richtig groß hier. Ihr tretet immerhin sozusagen unser Erbe an.« Billy grinste. »Wir können nur alle hoffen, dass ihr das schlauer anstellt als wir.« »Das werden wir«, sagte Camille leise, nun endlich entschlossen. »Danke euch beiden. Ich finde, das war groß von euch, hierher zu kommen. Wir schaffen das bestimmt. Wir holen Jan da wieder raus.« Matt legte behutsam sein Playmobilmännchen in Camilles Schoß, lächelte zu ihr hoch. Die Szene bedurfte keiner weiteren Worte. Dunkel. Es ist verflucht dunkel. Ich kann überhaupt nichts sehen, nicht den geringsten Umriss. Obwohl, ich glaube, da hinten sind irgendwo Wände. Ich liege. Ich sollte aufstehen, nach den Wänden gucken. Ich stehe auf. Meine Beine sind ganz wackelig, ich kann mich kaum aufrecht halten. Was ist überhaupt passiert? Was – was war das denn? Da ist etwas an mir vorbeigehuscht, direkt an mir vorbei, es hat meinen Arm gestreift, meinen Hals. Ich rufe irgendetwas in die Schwärze hinein. Ob jemand hier ist. Wieder streift mich etwas, ich kann spüren, dass es näher kommt. Ich habe Angst, ich will weglaufen. Ich will hier weg… Ich stolpere rückwärts, taste um mich, finde schließlich eine Wand an meinem Rücken. Drücke mich dagegen, atme schnell. Ich brauche Hil Ich höre Schritte. Laute, hallende Schritte. Und sie kommen auf mich zu. Sie kommen mir immer näher. Ich will wieder rufen, ich will um Hilfe rufen, doch die Stimme bleibt mir im Hals stecken. Ich wage nicht mehr mich zu bewegen. Jetzt weiß ich, was Camille damit meinte. Ich piss mir gleich in die Hosen vor Angst. Ich kann zwar nichts sehen, aber da ist doch etwas vor mir! Da ist doch etwas. Oder jemand. Ich spüre das einfach, ich spüre, dass jemand vor mir steht, unmittelbar vor mir steht, Hände ausstreckt –? Da sind Hände! Ich spüre mich selbst zusammenzucken, keuchen, die Temperatur um mich herum muss plötzlich unter Null gesunken sein, mein Atem bildet hektische Wölkchen, ich seh es doch ganz genau, das ist keine Einbildung, das ist mein purer Ernst, es ist eiskalt und dunkel hier und jemand steht vor mir Ich hatte noch nie solche Angst Ich will weglaufen Ich will weglaufen Jemand packt mich, hält mich fest, beugt sich runter, atmet mir mitten ins Gesicht, ich müsste ihn doch jetzt sehen können, ich müsste ihn sehen, aber da ist nichts. Jetzt kannst du nicht mehr fliehen, mein Junge, jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Du bist in meinen Händen und du bist in meiner Welt, in der Welt ohne Licht und hier gibt es keinen Ausgang. Hier wird es nie einen Ausgang geben, so sehr du es dir auch wünschst, so sehr du auch zitterst und wimmerst, so sehr du auch fürchtest - es wird nie einen geben. Du kannst nicht weglaufen, es ist endgültig der Moment gekommen, in dem du nicht mehr abhauen kannst. Du kannst dich ja kaum bewegen vor Angst. Du traust dich nicht - und das ist dein Tod. Das bedeutet dein Aus. Du kannst nicht fliehen, du kannst hier nicht weg und nicht raus, das ist wahr. Aber wäre es dann für diesen Augenblick nicht ratsam sich zu wehren? Sich zu widersetzen? Immerhin bin ich dabei dich umzubringen. Meine Hand in deiner Brust wirst du doch sicher bereits bemerkt haben. Ich werde dich töten, mein Junge. Und du willst nichts dagegen tun? Er will mich überzeugen ihm etwas zu tun? Aber er hat doch Recht. Ich weiß nicht. Ich kann nichts sehen. Es ist so furchtbar dunkel und diese Stimme… Diese Stimme… Stimme? Mach dir keine Sorgen um die Stimme und darum, wie gruselig sie ist. Du hast da etwas verflucht Kaltes mitten in deiner Brust (Herz ich sterbe) und dieses – Ding da sagt, es ist seine Hand. Zeit, sich ums Überleben zu kümmern, mein Lieber. Ich habe Angst. Ich habe furchtbare Angst. Ich will nicht sterben, ich will nicht, ich will nicht! So dunkel… So dunkel… Hilfe… Ich höre Geräusche, ich… Was ist das? Da schreien Menschen. Was ist das? Geräusche… Hilfe, bitte… Hilfe, irgendwas muss doch passieren… Ich schreie. Etwas hat sich direkt um mein Herz geschlossen. Ich spüre es. Haargenau. Jeden Zentimeter, wie er mein Herz zusammenpresst, mein Leben – Ich trete. Ich trete, ich schlage, ich beiße. Er soll aufhören damit, er soll mich loslassen, er soll mich loslassen, ich will leben! Aber es geht alles ins Leere, es geht alles ins Leere, ich treff ihn nicht, ich hab Panik, ich muss etwas tun, ich muss doch etwas tun können, ich strample und winde mich, er soll sterben, eher soll er verrecken als ich! Jetzt habe ich dich soweit. Komm mit. Ich zeig dir etwas. Kapitel 11: Macht ----------------- Krrrk Camille schlug die Augen auf. Krrrrrk Das Geräusch bereitete ihr Gänsehaut. Wo war sie? Krrrrrk Sie schluckte. Die Frage erübrigte sich, als ihre Erinnerung zurückkehrte. Sie war aufgewacht, mitten in der Nacht, durch ein Schaben. Krrrrrk Ein wiederholtes Schaben, eine Gestalt – Schwärze. Krrrrrrk Camille spürte Zittern, Herzflattern, sie schloss die Augen wieder und versuchte klar zu denken. Sie brauchte eine Bestandsaufnahme. Wo (unten) war sie? Warum Krrrrrrrk war sie dort und wie konnte sie von dort aus zurück in ihr Bett? Sie hörte sich selbst tief und hörbar durchatmen, öffnete die Augen, zuckte nervös mit den Mundwinkeln. Diese Fragen beantworteten sich doch alle selbst. Krrrrk Sie saß am Boden, lehnte mit dem Rücken an einer Wand. Das konnte sie erfühlen, doch Sehen war unmöglich. Vergeblich versuchte sie sich zu ordnen, seit Jans Verschwinden waren erst wenige Tage vergangen, die Garnfesseln waren noch nicht einmal annähernd fertig – Jan… Vorsichtig zog sie sich an der Wand auf die Beine, wankte, stützte sich. Sie musste weg. Irgendwie. Krrrrrrk Ihr Kopf schnellte zur Seite, sie unterdrückte den starken Wunsch einfach irgendetwas zu rufen; dort war etwas, dort war eindeutig etwas mit ihr hier. Doch sie durfte sich keinen Laut erlauben, keinen einzigen, denn das war ihre letzte Chance, noch irgendwie unentdeckt zu bleiben (das glaubst du doch nicht wirklich sie können dich sehen). Camille stand vollkommen still, atmete flach, wagte kaum zu blinzeln. Was sollte sie tun (sterben), wo sollte sie hin (runter noch weiter runter)? Dunkelheit, halt deine Angst bereit Camilles Atem stockte. Langsam, ganz langsam drehte sie sich um hundertachtzig Grad, ihre Kleider raschelten; sie biss sich auf die Unterlippe. Das war es… Das war das Lied panischer Nächte, das war die Melodie quälender Dunkelheit, das war der Text des gepeinigten Kinderchors… Sie sangen – für sie. Wenn sie über dich bricht, und der Schatten zu dir spricht Mit einem ohrenbetäubend lauten Schlag entfachte sich einige Meter vor ihr ein hohes Quadrat aus grellem Licht, es blendete sie und hielt den Raum dennoch im Dunkel. Camilles Herz hämmerte mit schwindelerregender Schnelligkeit gegen ihre Kehle, Panik schwächte ihre Glieder, sie kämpfte dagegen an geradewegs auf die Knie zu kippen, wollte um Hilfe schreien oder einfach nur weglaufen. Sie wusste nicht was dort vor ihr war, sie wollte es auch nicht wissen, sie wollte fliehen, sie wollte zu Matt und ihn warnen; ihre Füße trugen sie rückwärts, sie stolperte, fing sich – Camille… Ihre Beherrschung bröckelte. Ihrer Kehle entwich ein erschrockenes Fiepen, reflexartig schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Das war er, das war er, das war der Schatten, das war die Grundlage aller Geschehnisse in der Nacht, das war das meistgefürchtete Geschöpf in der gesamten unteren Welt, das war der Peiniger, das war der Rachsüchtige, das war der Endgültige, der Körperlose, der Geräuschvolle, das war der Schatten. Und wenn seine Stimme den Weg in ihren Kopf gefunden hatte, dann war alles zu spät. Camille verlor die Beherrschung über ihre Beine, über ihren Körper. Sie taumelte vorwärts, rückwärts, spürte dann wie sie sich zielstrebiger in eine Richtung bewegte. Camille… Finsternis, in der du verloren bist Sie gab einen gedämpften Aufschrei von sich, die Angst nahm ihr jede Chance auf klares Denken, sie wimmerte und keuchte, begann blind und unwillkürlich sich zu winden, zu wehren, zu strampeln – Lauf… Lauf, Camille… Lauf in das Licht… Ohne dass sie es wollte, ohne dass sie es nicht wollte, ohne dass sie es im Entferntesten kontrollieren konnte, hob sich ihr Blick, direkt ins Grelle, und sie lehnte, stemmte sich zurück, hielt mit aller Macht gegen die Bewegung, die sie unweigerlich vollführte. Lass dich ziehn zu uns hinab Immer näher kam sie diesem Licht, und je deutlicher sie es vor sich sah, desto dunkler schien es zu werden. Ihre Stimme überschlug sich, schrill geschriene Wortfetzen drangen aus ihrem Mund, Panik verdrängte jedes andere Gefühl, immer bedrohlicher rückte das helle Viereck heran – verschlang sie. In dein schwarzes Grab Der Moment war Stille. Sie drückte wie Gewichte auf ihre Ohren, auf ihre Glieder, selbst ihre Augäpfel schienen eingedrückt zu werden durch dieses unnatürliche Schweigen – Sie war umgeben von weißer Materie, doch ihr Verstand sagte ihr entgegen jeder Logik, dass es dunkel war, dass es furchtbar dunkel war in dieser Helligkeit – Camille schwebte in ihr, spürte keinen Boden, keine Decke und keine Wände, und dennoch schien der Raum endlich, eng, bedrohlich klein – Vorbei. Ihre Füße schlugen hart auf dem Boden auf, sie kippte auf die Knie. Ihr Blick ging starr geradeaus auf den kalten Stein, Augen und Mund weit aufgerissen, sie atmete schwer, ihr Herz klopfte wild, Blut pochte rasend schnell in ihren Adern, bescherte ihr Schwindel. Langsam, sehr langsam kehrte Klarheit zurück in ihr Denken, ihr Blick fokussierte sich, sie schluckte schwer. Als das Zittern einsetzte, bemerkte sie das Paar Füße, das vor ihr stand. Mühsam schloss sie den Mund, hob den Kopf, um ihr Gegenüber sehen zu können: »Jan?« So fest sie auch zog, die Fesseln wollten sich nicht lösen. Annies Handgelenke schmerzen furchtbar, an manchen Stellen waren sie bereits blutig gerieben, doch sie hörte nicht auf. Acer schien das zu amüsieren; sie wollte ihm trotzdem nicht den Triumph geben, sie aufgeben zu sehen. Ihr rationales Denken wusste natürlich längst, dass ihre Chancen minimal waren. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken an einen schweren Metallring gebunden, sie saß am Boden und war quasi unbeweglich an die Wand befestigt. Dennoch… Sie hatte Sam geschworen, sich zu wehren. Acer saß ihr gegenüber auf einem Vorsprung in der Steinwand und baumelte mit den Beinen. Er beobachtete sie lächelnd. Annie stiegen Fluchwörter über Fluchwörter in den Kopf, sie knurrte und schimpfte leise, funkelte Acer wütend an. »Wenn du mich jetzt unbedingt umbringen musst, dann komm doch endlich zur Sache.« Sie versuchte deutlich zu sprechen, doch ihre Stimme verlor sich in Angst und Zorn. Der Vampir lachte. »Immer mit der Ruhe, Ann. Wir haben alle Zeit der Welt. Außerdem warten wir ja auf jemanden.« Wie auf Kommando ertönten mehrere dumpfe Schläge von einer Wand rechts von ihnen. Mit einem erfreuten »Ah« rutschte Acer vom Vorsprung und winkte Annie zu. »Jetzt kommen wir zur Sache. Ich werde mich etwas entfernen… Damit du in Ruhe das Wunder der künstlichen Alterung erleben kannst.« Annie verstand nicht, stirnrunzelnd sah sie ihm nach, Verwirrung und Furcht raubten ihr klares Denken. *** Timothy spürte ein merkwürdiges Gefühl in seiner Magengegend, er ahnte nicht, dass es Zweifel war. Acer hatte ihm gegenüber nur kurz erwähnt, dass die Frau in diesem Raum seine Mutter war, es schien nicht wichtig gewesen zu sein. Nun saß sie dort und starrte ihn aus geweiteten Augen an, sie zeigten eine seltsame Mischung aus Zuneigung und Angst; Verwunderung musste auch dabei sein. Acer hatte erklärt, was mit ihm passiert war: Obwohl er erst vor drei Jahren auf die Welt gekommen war, hatte man ihn altern lassen, sodass er jetzt auf dem Stand eines Fünf- oder Sechsjährigen war. Timothy konnte sich nicht ganz erklären, weshalb das nötig gewesen war, aber offenbar war es vor allem wichtig, dass sein Körper älter sein konnte. Wenige Meter vor ihm suchte Ann offenbar nach Worten. Sie erinnerte ihn ein wenig an einen Fisch, wie sie ihren Mund öffnete und wieder schloss, ohne dass ein Wort herauskam. »Hallo«, grüßte Timothy, er hob eine Hand und winkte ihr kurz. »Ich bin Timothy. Ich glaube, du kennst mich.« Jetzt sah er, dass Tränen in ihre Augen traten, sie zog geräuschvoll die Nase hoch und wand sich in ihren Fesseln, um ihm näher zu kommen. In Timothy rührte sich die anerzogene Schadenfreude, als sie begann zu stammeln: »Ich… I-Ich… Ja – ich bin… Ich bin deine Mutter, du bist … mein Sohn…!« Timothy nickte sachlich. »Genau«, sagte er. »Deshalb weißt du ja schon, wer ich bin.« Er lächelte. »Dann muss ich mich nicht vorstellen.« Scheinbar fehlten seiner Mutter nun wieder die Worte. Sie starrte ihn an, ihre Augen waren groß und wässrig, ihr Mund geöffnet, sie holte immer wieder Luft, brachte jedoch keinen Laut heraus. Ist das nicht ein herrlicher Anblick? Acers Stimme in seinem Kopf bereitete Timothy längst keine Sorgen mehr. Er und der Schatten hatten ihm erklärt, dass das ganz normal war. Präge ihn dir gut ein. Sieh sie dir nur an, Tim. Ist das nicht wunderbar? Genieße es. Genieße es, wie sie dort sitzt, hilflos, verzweifelnd, in Angst, in Todesangst… Geh ruhig näher ran. Ein Lächeln spielte um Timothys Lippen, er trat einige Schritte weiter in die Richtung seiner Mutter, im Laufen griff er links von sich auf einen Tisch und nahm die große Brennholzaxt in beide Hände. Spätestens jetzt gewann die Panik in Ann Überhand. Sie wusste, was da vor ihr stand war nicht mehr ihr Sohn, Acer hatte ihn ihr genommen und für immer getötet – seinen eigenen Sohn daraus gemacht… Schwerfällig schluckte Annie einen dicken Kloß samt Tränen hinunter, sie wusste, es war verloren. Vorbei. Ihr Sohn war verloren, ihr Leben war vorbei. »Bitte«, hauchte sie, mit dem letzten irrationalen Flehen einer Mutter, »tu das nicht.« Und schon hast du sie soweit, dass sie bettelt… Acers Stimme war auf ein Flüstern herabgesunken. Das hast du gut gemacht, mein Kleiner, Kompliment. Nun sieh ihr in die Augen… Sieh in diese aufgerissenen, nach Hilfe gierenden Augen… Und fühle… Timothy blickte sie lange an, Sekunden verstrichen wie gefühlte Stunden, und er spürte unterbewusst, wie es in ihm wuchs, wie es seine Bauchgegend, seinen Hals, seinen Kopf erklomm, es, das dunkle Gefühl, der rabenschwarze Nebel voll mit Verlangen, mit dem Drang, mit dem Willen, ja fast dem Zwang, die Axt in seinen kleinen Händen immer wieder niedersausen zu lassen, zu peinigen, zu wüten, zu zerstören. Du fühlst es… Du weißt es… Du weißt, es ist soweit, du hast nun schließlich die endgültige Möglichkeit, das zu tun, was du willst – und du willst, dass sie schreit… Du willst sehen, wie sie leidet… Du willst ihr Qualen bereiten, wie sie sich noch nie ausmalen konnte… Du willst sie töten… Du willst mit ansehen, wie sie stirbt… Wie sie langsam dahinsiecht… In Schmerzen… In Qualen… In Folter… Du willst es… Und du hast die Macht… Dir wurde die Macht gegeben, es zu tun… Das zu tun, was du so sehr willst… Das zu tun, wonach du so sehr lechzt… Tu es… Tu es… Still saß Jan am Boden an der Wand, das blutige Messer ruhte zwischen seinen Fingern, die rote Lache neben ihm lag ohne Bewegung, doch wie ein Freund. Sein Blick war verklärt, ging senkrecht hinauf, dorthin, wo bis vor Kurzem noch die Decke gewesen war. Sie war einfach verschwunden, ohne einen Ton, um den Ausblick zu entblößen auf einen pechschwarzen Nachthimmel. Wolken schoben sich träge durch ihn hindurch, dämpften das Licht des Vollmondes und schienen es gleichzeitig zu verschönern. Jans Brauen verzogen sich etwas, seine Gedanken waren wie in Watte gepackt, unklar, aber doch angenehm… Er hatte gerade seine Freundin getötet. Zugegeben, zu Anfang hatte er gezögert. Da war etwas gewesen, eine merkwürdige fremde Hand, die ihn davon hatte abhalten wollen, doch der Schatten hatte nicht aufgehört mit ihm zu sprechen. Hatte es ihn erst noch abgeschreckt, wie sehr Camille gezittert hatte, so hatte er es kurze Zeit später genießen können. Ja, diese Macht war eine Gabe, das wusste er jetzt. Und es war nur vernünftig, sie auszunutzen. Eine dicke Wolke schob sich vor den Mond, der Raum verdunkelte sich. Für einen kurzen Moment schloss Jan die Augen, genoss die Schwärze um ihn herum, in seinem Inneren – überall. »Sie gefällt dir?« Eine Gänsehaut überzog Jans Arme, er öffnete die Augen wieder und blickte in die Richtung der Stimme. Nur langsam trat der Vampir aus der Dunkelheit an der Wand. Er deutete eine kleine Verbeugung an, grinste flüchtig. Jan erkannte lange Fänge, blütenweiß und pfeilspitz – er neigte den Kopf etwas zur Seite, überlegte. Acer grinste breiter, beantwortete die ungestellte Frage: »Ja, du kennst mich bereits, aus Erzählungen. Dein junger Bruder Matthew hatte einige nächtliche Begegnungen mit mir. Mein Name ist Acer; ich habe dir ein Angebot zu machen.« Jan nickte knapp, wandte den Kopf wieder dem Nachthimmel zu. »Sie gefällt mir sehr«, sagte er leise. »Das freut mich, das freut uns alle hier.« Langsam näherte sich Acer dem Jungen, er musterte ihn bedächtig. »Du hast Potenzial. Das hast du uns eindeutig bewiesen. Der Schatten und ich waren auf der Suche nach einem bestimmten Posten- dafür haben wir nun jemand Besseres gefunden, aber ganz verlieren möchten wir dich auch nicht. Also biete ich dir hiermit an, bei der Obscuritas einzusteigen. Für einen bestimmten Preis, versteht sich…« »Kein Licht mehr«, sagte Jan mechanisch. Acer schmunzelte. »Tatsächlich, Jan. Allerdings besteht noch eine weitere Einschränkung.« Er warf einen kurzen Blick zur Tür, ging dann vor ihm in die Hocke und legte ein Knie auf den Steinboden. »Vielleicht mag dir aufgefallen sein, dass die Gesamtheit unserer Arbeiter aus Untoten besteht – Dämonen, Geister, Rastlose, et cetera. Nur wollen wir dich nicht töten. Du sollst nicht sterben, bloß um wieder untot gemacht zu werden und beitreten zu können. Deshalb … bieten wir dir die gleiche Möglichkeit wie mir damals.« Jan runzelte die Stirn, blickte ihn einen Moment lang verständnislos an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder - »Vampir?«, war das einzige, was ihm über die Lippen kam. Acer lachte leise, nickte. Er senkte die Stimme. »Von der Sonne hast du dich bereits verabschiedet, ebenso von deinem alten Leben. Lass mich dir ein neues schenken…« Er verließ den Raum wenige Zeit später. Für Jan war alles vorbereitet, er und der Schatten würden sich um ihn kümmern, in naher Zusammenarbeit mit Timothy würde ein ganz neues Zeitalter für Obscuritas beginnen. Der Schatten holte auf halbem Weg zu ihren Zimmern zu ihm auf. Einige Momente gingen sie schweigend nebeneinander her, schließlich sagte er: »Er wird das jüngste Es aller Zeiten sein.« Acer hob die Schultern. »Womöglich auch das beste.« »Du bist zuversichtlich.« »Selbstverständlich. Er hat gelacht wie nie zuvor, als seine Mutter litt; und ihr letztendlicher Tod ließ ihn völlig kalt. Er war fähig seine Vorgehensweise selbst zu entscheiden. Er denkt klar und strukturiert. Gäbe es noch bessere Voraussetzungen?« »Mag sein. Wir können nur hoffen, dass die anderen uns dafür nicht an die Kehle springen. Der Kutscher war ziemlich scharf auf den Posten.« Acer gab ein schnaubendes Lachen von sich. »Das sind sie alle. Aber selbst der Kutscher ist realistisch. Sie wissen es, und wir wissen es auch. Nur zwei kamen als das neue Es in Frage, und zwar du und ich.« »Wäre von Vorteil, wenn sie das verstanden haben. Hast du ihnen unseren Standpunkt eigentlich erklärt?« »Ich habe ihnen gesagt, dass wir keinen Wert darauf legen, wieder altersschwach werden zu können, nachdem man uns einst doch Unsterblichkeit geschenkt hat – deutlich genug, denke ich.« Sie bogen um eine Ecke, der steinerne Gang wurde wohnlicher, statt Fackeln zierten nun Teppiche die Wände, der Boden war mit rotem Samt überzogen, am Ende des Korridors tauchten langsam die Türen der beiden gefragtesten Obscuren auf. Acer blieb vor seinem Zimmer stehen, musterte den Schatten kurz. »Bist du noch unsicher?« »War ich. Aber jetzt nicht mehr. Ich hatte Zweifel, ob Es Timothy wirklich als Nachfolger annehmen würde, aber es wird keine andere Wahl haben. Er ist wirklich am besten geeignet. Und du hattest ja die ganze Zeit Recht. Wir können mit Timothy auf Seinem Posten selbst noch genügend kontrollieren, es ist nicht nötig, Es selbst zu werden. Sterblichkeit liegt mir nicht wirklich am Herzen.« Acer grinste. »Gut«, sagte er, legte eine Hand auf die Türklinke. »Dann sind wir uns einig. Ich werd’ in der nächsten Zeit den Rest beseitigen müssen. Kann ich Tim und Jan solange dir überlassen?« »Sicherlich. Wer kommt als nächstes dran?« Acer drückte seine Tür auf, Vor- und Schadenfreude zogen seine Mundwinkel weiter in die Höhe. »Peters und Kidney. Die Alten.« Kapitel 12: Saisonende ---------------------- Nichts. Nichts regte sich. So sehr Jet auch auf diese so viel zu nahen Wände einhämmerte und –drückte, nichts wollte sich bewegen. Egal, er wollte nicht aufhören. Es war stockdunkel und er hatte zu seinen Seiten kaum zwei Zentimeter Platz, über seiner Nasenspitze mussten es gute zehn sein; er war in dieser Finsternis aufgewacht und wich seitdem der quälenden Antwort auf die Frage aus, worin genau er sich befand. Es ist ein Sarg!, flötete durchgängig eine boshafte Stimme in seinem Hinterkopf, doch mit seinen Tritten und Schlägen gegen die Wände um sich versuchte er, sie zu verdrängen. Camille war seit gestern verschwunden, der arme kleine Matthew war nun vollkommen allein, aber er und Billy waren so gut mit der Garnflechterei vorangekommen – es konnte bald funktionieren, es konnte nicht mehr lange dauern… Wenn er nur hier heraus kam. Mit beiden Fäusten hämmerte er auf die hölzerne Decke ein, doch mehr als einige dumpfe Laute erzeugte er damit nicht. Er biss die Zähne knirschend aufeinander, fest entschlossen der Panik in ihm keine Chance zu gönnen. Erneut stemmte er Arme und Beine gegen die Wände an seinen Seiten, drückte mit aller Kraft dagegen, doch sein dunkles Gefängnis hielt ihm stand. Das Holz um ihn herum bewegte sich nicht einen Millimeter, und das seit wie langer Zeit? Wie lange lag er nun bereits (in meinem Sarg im Sterben) hier drin? Waren es erst Minuten oder bereits Stunden? »Verfluchte Scheiße«, flüsterte er und versetzte der Decke einen kräftigen Tritt, was ihm aber bloß Schmerzen in seinen Zehen bescherte. Ich muss hier doch raus…, dachte er fieberhaft, jedoch gewann gleichzeitig die schadenfrohe Stimme seiner Resignation immer mehr an Lautstärke. Ich muss hier raus (du kannst hier nicht raus), wir müssen doch weiter planen (das hat gar keinen Sinn), wir haben schon genügend Garn, wir müssen es nur noch flechten, Matt wird (geholt werden) schon den Köder spielen können, nachdem Camille jetzt auch weg ist (Sie kriegen euch alle), ich muss es nur schaffen hier herauszukommen (es ist unmöglich Jet), ich hab es doch schon einmal geschafft (da haben Sie dich bloß freigelassen)! Das hier ist (ein Sarg) eindeutig aus Holz… Es muss entweder mit Stiften zusammengehalten sein oder mit Nägeln (jetzt fang bloß nicht damit an), im ersten Fall müsste sich das alles einfach auseinander heben können (was du auf deine gebrechlichen Jahre natürlich auch schaffst), im zweiten Fall müsste ich diese Nägel finden (und dann?) und dann… Jet schloss die Augen. Nichts und dann. Er trug seinen Schlafanzug und hatte nichts bei sich, er hatte absolut keine Chance hier irgendwelche Nägel aus Holz zu ziehen. Es ließ sich nichts bewegen… Absolut nichts… Hoffnungslosigkeit ließ seine Glieder erschlaffen, er öffnete die Lider nur halb und starrte ins Schwarz. Er war gefangen. Er war gefangen in einem Sarg (Acer) und es gab keinen Ausweg (Sarg Acer Bann) – Jets Augen flatterten weit auf. Warum war ihm das nicht früher eingefallen? Er musste da draußen sein, das war eindeutig auf seinem Mist gewachsen (er wird dich bannen), das war die logischste Erklärung für seinen hiesigen Aufenthalt. Er atmete tief durch, räusperte sich, holte Luft. »Acer!«, rief er. »Acer! Blutsauger! Lass mich hier sofort wieder raus, verdammt, und verpiss dich!« Er wunderte sich noch über seine Wortwahl, als von außen ein Lachen ertönte, so leise und hämisch, dass es sofort unverwechselbar für ihn war. »Nicht doch, Jeathrow… Blutsauger ist so ein böses Wort.« Die Stimme entfachte sowohl Aggressionen als auch Angst in ihm, erneut stemmte er die Unterarme gegen die Decke und die Beine gegen die Wände, ein Knurren entwich seiner Kehle. »Lass mich hier raus!« Acer klopfte mit der flachen Hand gegen den Sargdeckel, während er etwas lauter lachte. »Gib mir doch einen Grund, Jeathrow. Eine Drohung, meinetwegen. Warum in aller Welt sollte ich dich befreien?« »Es hat keinen Sinn!« Jets Stimme hob sich immer weiter, er zitterte vor Wut und Furcht, sein Herz schlug ihm bis zum Hals, doch der Drang sich zu befreien war stärker als der Instinkt, einfach in Panik zu verfallen und haltlos zu brüllen. »Du kannst mich nicht bannen, ich bin ein Mensch!« »Maximovitsch war ein Dilettant. Du solltest nicht alles glauben, was du in seinem Tagebuch gelesen hast. Jeder kann gebannt werden, das ist nicht das geringste Problem.« Jets Mundwinkel zuckten unweigerlich, er stierte verbissen provokant ins Dunkel. »Nicht alles glauben, hm… Er hat auch geschrieben, dass du verletzlicher bist als du zugeben möchtest.« Ein humorloses Glucksen war zu hören, im nächsten Moment klang Acers Stimme näher als zuvor. »Nun, da du bald Abschied vom aktiven Leben nehmen wirst, kann ich es dir ja anvertrauen, Düsenjet Peters… Ich bin ein unheimlich verletzbares Muttersöhnchen und meine Kindheit war so schlimm, dass ich die daraus entstandenen Aggressionen nun an hilflosen Kindern in der Dunkelheit ausüben muss, dort, wo mich niemand sieht. Und nachdem ich mich damals von meinen Fesseln befreit hatte, habe ich Pavel Maximovitsch so langsam sterben lassen wie nur möglich, aus dem simplen Grund, dass ich eine von Rache vollkommen zerfressene Persönlichkeit bin – wenn man das überhaupt noch Persönlichkeit nennen kann; meine arme Psyche ist so zerstört von diesem langen Leben voller Blutrünstigkeit und Gewalt, dass man eigentlich Mitleid mit mir haben müsste. Aber niemand hat das, niemand hat Mitleid mit dem verkommenen kleinen Vampir, der jede Nacht töten muss um zu überleben, der seit Jahrhunderten keinen Sonnenaufgang mehr gesehen hat, niemand bemitleidet ihn um sein so grauenhaft verschwendetes Leben und das macht für mich alles noch schlimmer, das verfährt mich in immer tieferen Sadismus, das zerstört mich so krampfhaft von innen, dass es mir fast physische Schmerzen bereitet.« Acers Stimme triefte vor Sarkasmus. Allein an seinem Tonfall war das breite Grinsen zu hören, das in seinem Gesicht triumphierte, er gab ein kurzes, schnaubendes Lachen von sich. »Wäre das nicht ein schöner Gedanke für dich, wenigstens mit dem Wissen, dass ich bloß ein kümmerliches Häufchen Elend bin, aus dieser Welt gebannt zu werden? Leider muss ich dir sagen, dass es mir kein bisschen leid tut, dich nun enttäuschen zu müssen. Du solltest die Wahrheit kennen. Mein Leben war durchgängig erfüllt, ich bin so zufrieden wie noch nie und ich genieße jetzt in diesem Moment die Angst, die du da so jämmerlich zu unterdrücken versuchst.« Darauf wusste Jet keine Antwort. Stumm lag er auf dem harten Sargboden, noch etwas perplex löste sich sein Verstand aus der Starre, wagte langsam, Schlüsse zu ziehen. Jets Hände hatten sich zu Fäusten geballt und an seine Hosenbeine geklammert, seine Gedanken drehten sich im Kreis, wollten sich nicht klären, sein gesamter Körper schien sich von seinen Funktionen verabschiedet zu haben. Ich werde gleich nicht mehr sein. Sein Denken ging langsam, wie gelähmt. Ich werde gleich weg sein… Nicht tot… Schlimmer als tot… Ich werde nicht mehr sein… Acer strich von außen über das Holz, nur wenige Sekunden später drangen Worte an Jets Ohren, Teile waren ihm bekannt, doch einige Passagen des langen Fluches waren anders als die, die er und Billy eingeübt hatten – »Billy…« Mit diesem Wort schlossen sich seine Lider. Arme und Beine wurden schwer, sein Verstand verlahmte – Jeathrow Peters lag still in tiefem Schlaf. Zufrieden grinsend strich Acer über das Holz, auf dem er saß. Er hob den Blick zum Fenster, musterte den klaren, tiefschwarzen Nachthimmel. »Eine wunderschöne Nacht für einen Bann, nicht wahr, William?« Billy, der seit wenigen Sekunden mit der Überzeugung, dass er von dort aus ungesehen bleiben konnte, im Türrahmen gestanden hatte, blinzelte perplex. Er versuchte etwas zu sagen, scheiterte jedoch an einer furchtbar trockenen Kehle. Sein Mund öffnete und schloss sich ohne Ton, seine Haltung verkrampfte sich mit jeder Sekunde mehr, er hatte seine Hände auf Hüfthöhe gehoben, rührte sich nicht. Nach einem fast röchelnden Räuspern fand er seine Stimme wieder. »Was… Was hast du getan…?« Nur langsam erhob sich Acer, musterte Billy kurz und wies dann auf den Sarg, der still und unbewegt auf dem Boden lag. »Rate doch mal…« Ein Keuchen krümmte Billys Haltung – »Jet«, hauchte er, stürzte nach vorne – Mit einer erschreckend schnellen Reaktion machte Acer einen Satz nach vorne, er stoppte Billy noch im Ansatz der Bewegung und trat ihm im Bruchteil einer Sekunde die Beine vom Boden. Er schlug hart auf dem Parkett auf. Seiner Kehle entwich ein gedämpfter Laut, ein Schnaufen; er rang nach Atem. Ein hämisches Grinsen zog sich über Acers Gesicht, als er auf ihn hinabblickte. »Das Alter…«, sagte er leise. »Ein Fall auf den Rücken und schon kann man sich nicht mehr bewegen… Das führt mir doch jedes Mal vor Augen, welche Nachteile ich Untoter doch ständig mit mir herumtrage…« Billy biss die Zähne zusammen. »Mach dich nicht über mich lustig, Arschloch… Ganz groß, einen alten Mann anzugreifen. Was soll das hier, was hast du mit Jet gemacht?« »Das ist die Rache eines noch viel älteren Mannes… Auge um Auge, William. Bann um Bann.« »Verfluchter Blutsauger…« Billy verengte die Augen. »Das hält nicht lange. Wir haben die Kinder auf unserer Seite. Sie werden uns helfen.« Acer lachte und schüttelte den Kopf. Er nahm Billy unter den Armen, schleifte ihn über den Boden zu einem weiteren Sarg. »Wir haben die Kinder. Sie sind unten, alle außer Matthew. Und – du wirst mir nicht glauben…« Er sprach beiläufig, fast im Plauderton, während er den Mann in den kahlen Sarg hievte. »Camille ist tot. Jan ist zu uns übergelaufen. Samantha hat durch diese erneuten Verluste vermutlich alle Hoffnungen wieder fahren lassen. Euch bleibt nur der kleine Matthew. Und wollt ihr wirklich einen Sechsjährigen in die Verteidigung schicken?« Billy schloss die Augen, schüttelte den Kopf. »Ihr werdet das nicht gewinnen«, sagte er heiser. »Ihr werdet das nie gewinnen können… Nicht noch mal…« Der flache, hölzerne Deckel schloss sich über ihm, vertrieb jedes Licht, dämpfte Acers Stimme: »So starke letzte Worte, und doch so wenig Sinn. Dieser Bann bedeutet euren Tod. Die Särge werden nicht hier bleiben. Sollte euch je jemand finden, wird das erst in einigen Jahrzehnten sein. In dem Moment, in dem diese Sargdeckel wieder geöffnet werden, werdet ihr, du und Jeathrow, augenblicklich gebührend altern. Und das überlebt ihr nicht.« Billy startete einen ersten und letzten Versuch sich zu befreien, doch der Deckel wurde durch Acers Fuß unbeweglich gehalten. Gedämpfte Worte drangen an sein Ohr, augenblicklich spürte er, wie seine Glieder sich erschwerten, eine sanfte, aber gewaltige Kraft drückte auf seinen gesamten Körper, schloss seine Lider, verlangsamte seinen Atem, sein Denken, seine Existenz löste sich in zerstörerische Lethargie auf. Noch einige Minuten lang blieb Acer in dem Zimmer, behielt die Särge im Auge, doch nichts regte sich mehr. Mit einem Schnipsen seiner Finger erschienen lange, knochige Hände aus dem Boden und der Luft und trugen sie geradewegs durch die Wände davon. Der Vampir sah ihnen nach. Seine rechte Hand ruhte seit William Kidneys Bann unbemerkt auf seiner Brust, dort, wo sein Herz so regelmäßig und zuverlässig arbeitete. »Bann um Bann«, wiederholte er leise. »Wie schade, dass ich jetzt nicht miterleben kann, wie euch klar wird welche monströsen Ausmaße solch ein Schlaf annimmt… Aber glaubt mir, meine Erfahrung und ich fühlen mit euch… Und das mit größter Schadenfreude.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, er schüttelte den Kopf; »Mit wem rede ich hier eigentlich?«, murmelte er, dann schlug er seinen Weg zurück ein. Er kam erst vor Samantha Parkers Zelle zum Stehen. Das war sein letzter Gang für diese Saison. Wie jede Nacht saß das Mädchen hellwach inmitten von schnarchenden Kleinkindern. Acer musterte sie lange schweigend, dann öffnete er die Tür. »Komm mit.« Samantha hob den Kopf, zog die Brauen zusammen, sah ihn prüfend an. Angst und Trotz ließen ihren Blick unstetig wirken, sie rührte sich nicht. »Wohin? Wo ist Annie?« »Das erzähl ich dir auf dem Weg. Los, komm.« Er hatte genügend Nachdruck in seine Stimme gelegt, um sie zum Aufstehen zu bringen. Ihre Augen ruhten argwöhnisch auf den seinen, während sie langsam aus der Zelle trat und die schmutzigen Hände in die Hosentaschen schob. »Auf dem Weg wohin?« »Hoch. Das war’s für dich, du bist frei. Juliet Lager wird in kurzer Zeit nachkommen, und wenn ihr euch keinen allzu großen Ärger mehr einhandelt, müsst ihr uns nie mehr sehen.« Acer war rasch losgegangen, Sammy-Joe bemühte sich mit ihm Schritt zu halten. »Was… Wa-Was ist denn passiert, dass ihr uns… Was ist los?« »Eine Menge ist passiert…« Er senkte den Blick zu ihr, musterte sie mit einer Mischung aus Verachtung und Freude. »Seit wir Ann aus eurer Zelle geholt haben, hat sich hier genug verändert, dass wir getrost die jetzige Saison beenden können. Ann ist tot, ebenso wie Camille, Jan hat nicht nur auf unsere Seite, sondern auch zu meiner Rasse gewechselt, Jeathrow Peters und William Kidney sind nachhaltig aus dem Weg geräumt, das alte Es setzt sich für seine letzten Wochen zur Ruhe und das neue ist bereits so gut wie ausgewählt.« »Annie ist… Was? Und wer… Wer soll das neue… das neue Es sein?« »Timothy, ihr Sohn. Der, der sie letztendlich ja auch umgebracht hat; Jan hat mit Camille deutlich länger gebraucht.« Samantha blieb mitten in gräulicher Materie stehen. »Moment«, sagte sie, leise und ungläubig. »Du wirst gleich genügend Zeit haben, das alles aufnehmen zu können.« Ein Stück vor ihr drehte Acer sich zu ihr um und deutete eine einladende Handbewegung an. »Jetzt komm bitte noch die nächsten Meter mit, zwing mich nicht dazu, dich wieder mit runter zu nehmen. Ich will dich genauso loswerden wie du mich.« In ihrem Kopf rasten die Gedanken und schienen doch träge, hatten eindeutige Informationen und kamen doch zu keinem Schluss. Sammy-Joe warf einen Blick über die Schulter, zu der letzten Stufe der steinernen Treppe, die aus der Obscuritas heraus zurück in die helle Welt führte – vorausgesetzt man verirrte sich nicht im Grauen – und sah wieder nach vorn zu Acer, hinter dessen Schultern bereits die Umrisse eines Tors zu sehen waren. Was auch immer vor sich gegangen war, es wollte sich ihr einfach nicht erschließen, sie bekam die Chance endgültig nach Hause zurückzukehren. Selbst wenn sie dort nicht sonderlich viel erwarten würde – sollte sie je etwas von Annie gelernt haben, dann, dass es immer eine Perspektive geben würde. Sie holte etwas auf, um Acer weiter zu folgen. Erst, als seine Hand bereits auf der Klinke ruhte, drängte sich ihr die Frage auf: »Warum darf ich überhaupt gehen?« Acer zuckte mit den Schultern. »Wir schicken nach jeder Saison ein paar Überlebende wieder hoch. Welche, die bescheid wissen, denen aber niemand glauben wird. Ist gut fürs Image. Peters, Durst und Kidney waren ein gutes Beispiel; da die jetzt aber beseitigt werden mussten und sowieso allmählich in die Jahre kamen, mussten neue her. Juliet Lager und Matthew Remy – und, wie gesagt, ich hab von dir ziemlich die Schnauze voll. Wir haben uns mit Freuden für dich als dritte entschieden.« Er musterte sie kurz, sein Gesichtsausdruck war mittlerweile wieder völlig gleichgültig, und zog das hölzerne Tor auf. »Los, raus mit dir.« Mit dem nächsten Schritt stand Sammy-Joe zwischen zwei Bäumen in ihrer Straße. Um ihre Lippen spielte ein winziges Grinsen. Der Vampir hatte also die Schnauze voll von ihr… »Immerhin habe ich etwas erreicht«, murmelte sie, dann trat sie auf den Asphalt. Während sie die Einfahrt hinaufschlenderte, musterte sie den Himmel. Es musste schon Morgen sein, die Sonne hielt sich zwar hinter Wolken versteckt, doch das Licht der Straßenlaternen war bereits völlig unnötig. Sie fischte den Hausschlüssel unter einem Stein hervor, schloss die Tür auf und trat ein. »Mama?«, rief sie, ohne große Erwartungen. »Ich… Bist du hier? Ich bin wieder da…« Aus der Küche ertönte lautes Klirren, ihre Mutter schoss durch den Flur, blieb nur für eine winzige Sekunde stehen um sie zu mustern, und flog ihr wieder entgegen. »Oh mein Gott«, hauchte sie, schlang die Arme fest um sie, drückte ihre Tochter an sich. »Oh mein Gott, du bist es… Du bist es, danke… Ich hab mir solche Sorgen gemacht…« Perplex hob Sammy-Joe die Arme, legte sie instinktiv um ihre Mutter, öffnete ohne Ton den Mund. Diese Worte hatte sie schon so oft hören müssen, aber nie hatte sie… Mit einem Lächeln beschloss sie, sie dieses eine Mal zu glauben. Epilog: Jahre später -------------------- Lionel Durst Es – eine Stadt in Schweigen Mit einem Seufzen schlug Sammy-Joe das in Leder gebundene Tagebuch zu. Sie fuhr sich mit einer Hand durchs ungekämmte Haar und drehte sich auf dem Bürostuhl ihrem Bett zu. Zwischen den zerwühlten Laken lagen Bücher und Ordner, Radiergummis, Textmarker, Füller und Tintenkiller. Die Gewissheit, dass sie erst eine halbe Stunde für ihre Abiturvorbereitungen aufgebracht hatte, quälte sie, doch Lionel Dursts Dokumentationen schienen doch immer wieder wichtiger. Für einen Moment schloss sie die Augen, schüttelte den Kopf. Sie erhob sich und trat auf ihren Balkon. Auf dem Geländer lag die Schachtel mit ihrer letzten Zigarette; sie zündete sie an und nahm einige tiefe Züge. Als sie den Rücken ans Geländer lehnte, um durch den leichten Nebel des Abends in ihr Zimmer zu sehen, fiel ihr Blick auf ein Foto von ihr, Matt und Juliet. Trotz der Altersunterschiede verstanden sie sich meist blendend. Sam war wohl so etwas wie eine große Schwester für sie geworden – hatten doch beide ihre liebsten Geschwister verloren. Bei diesem Gedanken verzog sie das Gesicht, stieß durch die Nase eine lange Rauchwolke aus. Mittlerweile waren sehr viele Vorkehrungen getroffen… Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher am Boden aus und trat zurück in ihr kühles Zimmer. Nachdem sie sich auf ein kleines freies Quadrat am Boden gesetzt hatte – der Rest war voll von Notizen und Büchern –, zog sie einen Karton unter ihrem Bett hervor und nahm die Wolldecke von seiner Oberseite. Und da waren sie… Allesamt brandneu, teilweise eigens gefertigt, nach Anweisungen von verschiedensten Kennern. Tatsächlich gingen ihre Quellen von Pavel Maximovitsch und Lionel Durst bis hin zu Bram Stoker und Stephen King. Zusammen mit den beiden Kleinen hatte sie Präventionen geschaffen, sowohl Angriffs- als auch Verteidigungsmittel. Für Juliet und Matt waren es Beruhigungen, Versicherungen nie mehr geholt werden zu müssen. Für Samantha Josephine Parker waren es die Waffen, die ihr endlich ihren gebührenden Rachefeldzug gönnen würden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)