Brennendes Wasser von Sennyo (Engel der vergessenen Zeit) ================================================================================ Kapitel 2: Engel der vergessenen Zeit - 2 ----------------------------------------- Der Raum war dunkel und leer. Als Lydia wieder zu sich kam, war das erste, das sie spürte die eisige Kälte, die die kahlen und fensterlosen Wände um sie herum erzeugten. Jede Bewegung tat ihr weh, mühsam versuchte sie sich aufzurichten, jedoch ohne Erfolg. Sie fiel sofort wieder hin, egal wie oft sie es versuchte. Ihre Beine wollten sie einfach nicht tragen und so blieb sie zitternd am Boden sitzen. Die Schmerzen ignorierte sie. Lenya war nicht hier, wie sie beruhigt feststellte. Es war noch nichts verloren, solange das kleine Mädchen mit dem rotbraunen Haar frei war. Alles hing nun von Lenya ab, solange sie sich an das Gelübde hielt, war alles in Ordnung. Ein plötzliches Geräusch von der anderen Seite des Raumes riss Lydia aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum, ohne auf ihre Verletzungen zu achten. Die sich öffnende Tür knarrte fürchterlich. Zu einer anderen Zeit hätte es sie gestört, nun jedoch machte sie sich mehr Sorgen um das, was durch die Tür kam. „Du bist wach, gut“, eine dunkle und ölige Stimme durchschnitt die Stille. Der Mann, der sie so zugerichtet hatte, kam auf sie zu und zog sie auf die Beine. Lydia biss die Zähne zusammen und kämpfte dagegen an, gleich wieder zu Boden zu sinken. Diesen Triumph würde sie ihm nicht gönnen, egal wie schmerzhaft es auch war. Sie sah ihn nur stumm und herausfordernd an. Er lächelte sie finster an, legte seinen Arm um ihre Hüfte und brachte sie so dazu, ihm zu folgen. Sie hätte sich gerne gewehrt, hätte ihn weggeschubst, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Und so ließ sie sich von ihm führen, heraus aus diesem finsteren Raum. Draußen erkannte sie, dass es längst Tag geworden war, doch viel heller war es auch dort nicht. Schwere Wolken hingen am Himmel und versperrten den Blick zur Sonne. Das himmlische Feuer, das über sie wachte, war nicht zu sehen. Lydia wurde das Herz schwer. Sie hatte die Hoffnung gesucht hier draußen, doch nur Schatten gefunden. Und noch immer wusste sie nicht, ob Lenya entkommen war. Im Moment jedoch hatte sie andere Sorgen. Sie wurde einen schmalen Gang entlang geführt, stickig und eng. Die Luft war abgestanden und alt. Lydia verspürte den Drang sich zu übergeben, riss sich jedoch mit aller Kraft zusammen. Endlose Minuten schienen zu vergehen, ehe sie diesen Gang wieder verließen. Vor ihnen baute sich ein hoher Turm auf. Der Mann schob sie vor sich her, dem Turm entgegen. Sie wollte weglaufen, doch noch immer konnte sie sich kaum selbst auf den Beinen halten. Nur mühsam gelang es ihr, weiterzugehen. „Dort!“, befahl er und zeigte auf die Tür, die in den Turm führte, „die Treppe rauf, aber schnell!“ Lydia sah nach oben, zur Spitze des Turmes. Sie konnte keine Fenster erkennen. Doch nicht das, sondern der lange Aufstieg machte ihr Angst, sie wusste nicht, wie sie da hinauf kommen sollte. Der Mann schien ihre Gedanken zu lesen, und sah sie finster an. „Du kennst den Weg, den du nutzen musst, tu nicht so unwissend!“ Er schubste sie durch die Tür. Sie fiel auf die untersten Stufen einer langen Wendeltreppe; die plötzliche, ruckartige Bewegung hatte sie nicht kommen sehen und dementsprechend auch nicht reagieren können. Nun war sie also doch vor ihm auf den Boden gefallen, sie hatte so sehr dagegen angekämpft. Doch es nützte nichts, es war geschehen. Die Tür fiel mit einem lauten Knallen ins Schloss. Er hatte sie zugeschmissen und Lydia im Turm zurückgelassen. Den kalten Stein an ihren Wangen spürend, schlossen sich ihre Augen. Sie fiel sofort in einen unruhigen Schlaf, so erschöpft war sie. Lenya war sich bewusst, dass sie einen großen Fehler begehen könnte, doch sie konnte ihre Schwester nicht einfach so im Stich lassen. Sie musste etwas tun, doch die Angst das Gelübde zu brechen nahm ihr Beinahe die Luft zum Atmen. Nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen hatte sie so etwas kommen sehen. Sich zwischen dem Gelübde und ihrer Schwester entscheiden – das konnte sie nicht. Sie war für die geheime Aufgabe geboren worden, doch Lydia war ihr ein und alles. Die beiden Dinge, die ihr Leben bestimmten, standen sich nun gegenüber. Unentschlossen lief sie hin und her. Sie konnte Lydia nicht ihrem Schicksal überlassen, doch sie konnte auch das Gelübde nicht brechen. Ihre Aufgabe war klar: Sie musste Lydia vergessen und fliehen, damit ihr Geheimnis weiterbestehen könnte. Ihr Verstand sagte ihr, dass dies die einzige Möglichkeit war, damit sie noch eine Chance hatten, doch ihr Herz hing an Lydia und sagte ihr etwas anderes. Lenya war von Zweifeln und Gewissensbissen geplagt. Sie wusste, was sie tun musste, doch sie wollte es einfach nicht akzeptieren. Andererseits hatte Lydia alles riskiert um ihr diese Flucht zu ermöglichen, um das Geheimnis in Sicherheit zu wiegen. Lydia handelte im Sinne des Gelübdes, nicht im Sinne ihres Herzens. Sie hatte das getan, was von ihr verlangt worden war. Und nun lag es an Lenya, die Aufgabe zu erfüllen, die ihnen vor vielen Jahren auferlegt worden war. Sie musste das geheime Feuer hüten, solange sie am Leben war. Alles dafür aufgeben, das war ihre Aufgabe und nichts anderes. Schmerzhaft wurde ihr klar, was sie längst wusste. Sie musste Lydia vergessen und sich auf die Suche nach zwei neuen Wächtern machen. Nur auf diese Weise wäre das Opfer ihrer Schwester nicht umsonst gewesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)